Читать книгу Geschwisterliebe - Detlef Wolf - Страница 7

2. Einzug

Оглавление

Nicole wachte auf, weil das Tageslicht durch die Ritzen der Jalousien in den Raum fiel. Erschrocken stellte sie fest, daß es bereits nach acht war. Schnell sprang sie aus dem Bett. Die Schmerzen in ihrem Unterleib waren schlimmer geworden. Sie merkte es besonders beim Abtrocknen nach dem Duschen. Blutspuren blieben im Badetuch zurück. Sie versuchte, die Flecken auszuwaschen so gut es ging. Dann zog sie sich an, räumte das Bettzeug in den dafür vorgesehenen Kasten unter dem Bett und packte ihre Sachen. Noch einmal sah sie sich im Zimmer um. Alles war so wie tags zuvor, als sie das Zimmer zum erstenmal betreten hatte. Ein wehmütiges Gefühl befiel sie, als sie ihre Tasche nahm, hinunter in die Eingangshalle ging und die Tasche vor der Haustür stellte. Das also war ihre Nacht im Paradies. Vorbei. Nun würde es wieder in die Wirklichkeit zurückgehen.

Stephan war nirgends zu sehen. Die Küche war aufgeräumt wie am Abend zuvor. Die Türen zum Wohnzimmer, zum Eßzimmer und zum Arbeitszimmer waren geschlossen. Sollte er vielleicht noch im Bett liegen? Auf keinen Fall würde sie nach oben gehen und nachsehen. Was, wenn er dort doch noch auf sie wartete? Sie entschloß sich, im Arbeitszimmer nachzusehen. Sollte sie ihn dort nicht finden, würde sie sich einfach davonmachen. Vielleicht rechnete er ja auch damit, hatte sich alles noch einmal überlegt und hielt es so für die einfachste Möglichkeit, sie loszuwerden. Einfach unsichtbar machen, bis sie verschwunden war. Damit wäre er aus dem ganzen Schlamassel heraus.

Zaghaft klopfte sie an die schwere Eichenholztür zum Arbeitszimmer. Es kam keine Antwort. Vorsichtig öffnete sie die Tür einen Spalt weit und sah hinein. Stephan saß hinter seinem Schreibtisch. Offenbar war er so in seine Arbeit vertieft, daß er ihr Klopfen nicht gehört hatte. Auch jetzt schien er sie nicht zu bemerken. Sie wollte die Tür schon wieder zuziehen, da sah er auf.

„Ah, Nicole“, sagte er und lächelte sie an. „Gut geschlafen?“

Sie nickte und räusperte sich verlegen. „Ich geh dann mal“, sagte sie leise.

Stephan sah sie verständnislos an. „Wie, Du gehst dann mal? Wohin willst Du denn gehen?“

Nicole zuckte ratlos mit den Schultern. „Weiß nicht. Nach Hause wahrscheinlich.“

Stephan kam hinter seinem Schreibtisch hervor. Er schüttelte energisch den Kopf.

„Du gehst überhaupt nirgendwo hin. Zuallererst frühstücken wir jetzt mal. Und dann sehen wir weiter.“

Er ging an ihr vorbei Richtung Küche. In der Halle sah er die gepackte Tasche vor der Tür stehen. Er deutete mit der Hand darauf.

„Die trägst Du schön wieder nach oben. Und dann erzählst Du mir, was Du zum Frühstück haben willst.“

Gehorsam nahm sie die Tasche und stieg die Treppe hinauf. Kopfschüttelnd verschwand Stephan in der Küche.

„Komm mal her und guck Dir das an“, forderte er sie auf, als sie in die Küche kam. „Und dann sag mir, was Du magst.“

Sie entschied sich für Brot mit Marmelade und Käse. Und für Kakao.

„Warm oder kalt?“ fragte Stephan.

„Warm, bitte.“

Er nickte, schüttete Milch in einem Becher, gab Kakaopulver dazu und stellte den Becher in die Mikrowelle. Für sich selber schaltete er die Kaffeemaschine ein.

„So, Mädchen“, sagte er später, als sie zusammen am Tisch saßen, „jetzt mal ernsthaft. Ich hab Dir gesagt, Du kannst hierbleiben solange Du willst. Wenn Du gleich wieder abhauen willst, kann ich Dich nicht daran hindern. Aber das mußt Du nicht. Damit das mal ganz klar ist. Ich hab Dich mit hierher genommen, damit Du aus dem Dreckloch rauskommst, in dem Du und Dein Bruder bisher hausen mußtet. Ihr könnt bei mir wohnen solange Ihr wollt. Wenn Ihr wollt. Klar?“

Nicole sah ihn lange an. „Du meinst es wirklich ernst, ja?“ fragte sie schließlich.

Stephan hob die Hände. „Ja, na sicher, was hast Du denn gedacht?“

Sie zuckte die Achseln. „Ich weiß nicht. Ich weiß überhaupt nichts mehr.“ Sie fing an zu weinen.

Stephan wollte nach ihrer Hand greifen, überlegte es sich dann aber anders. „Hör zu, Nicole. Ich hab das jetzt angefangen, jetzt zieh ich das auch durch. Wenn Ihr mitmacht, Du und Dein Bruder. Gleich fahren wir in die Stadt. Du gehst ins Krankenhaus zu Deinem Bruder, und ich geh zur Polizei und mach meine Aussage. Ich hatte überlegt, auch zum Jugendamt zu gehen, aber ich weiß nicht, ob das so ’ne gute Idee ist.“

„Den Weg kannst Du Dir sparen“, winkte sie ab. „Das haben wir schon versucht, die machen nix. Einmal waren wir da. Wir haben mit einer Frau geredet. Die war eigentlich ganz freundlich und hat versprochen, was zu unternehmen. Aber dann haben wir nie mehr was von der gehört. Statt dessen hat der Alte rausgekriegt, daß wir auf dem Jugendamt waren. Frag mich nicht wie, aber auf einmal wußte er es. Du kannst Dir nicht vorstellen, was daraufhin zu Hause los war. Kevin hat er mit seinem Lederriemen den ganzen Rücken blutig geschlagen. Der konnte tagelang nur auf dem Bauch liegen. Na, und mich hat er…“ Sie konnte nicht mehr weitersprechen. Leise schluchzte sie vor sich hin.

Stephan war erschüttert. Er wußte nicht, was er sagen sollte. „Und Eure Lehrer? Gibt’s da einen, mit dem man reden kann?“

Sie überlegte. „Lohner vielleicht. Unser Mathelehrer“, antwortete sie. „Der gibt bei mir in der Klasse Mathe und bei Kevin auch. Der ist ganz okay. Die anderen kannst Du vergessen.“

„Gut. Ich werd mit ihm reden. Nur, heute Nachmittag wird der nicht mehr in der Schule sein.“

„Der ist immer in der Schule. Der hat keine Familie und anscheinend auch sonst nichts.“

Stephan nickte. „Na prima. Dann geh ich da gleich mal vorbei, wenn ich bei der Polizei gewesen bin. Willst Du mitkommen, wenn ich mit ihm rede?“

Sie schüttelte den Kopf. „Lieber nicht. Das wäre mir peinlich. Ich geh lieber zu Kevin.“

Nach dem Frühstück überließ Stephan es Nicole, den Tisch abzuräumen. Er ging zurück in sein Arbeitszimmer. Nachdem Nicole die Küche aufgeräumt hatte, wußte sie nicht recht, was sie nun machen sollte. Also ging sie nach oben in das Zimmer, in dem sie geschlafen hatte und setzte sich in einen der Sessel. Sie sah ihre gepackte Taschen neben dem Bett auf dem Fußboden stehen. Sollte sie tatsächlich bleiben? Der Gedanke war verlockend. Aber obwohl Stephan ihr mehrfach versichert hatte, daß sie tatsächlich bleiben konnte, vermochte sie noch immer nicht so recht, daran zu glauben. Vielleicht noch eine Nacht, oder auch eine Woche, bis Kevin wieder auf dem Posten war?

Sie stand auf und fing an, die Sachen aus ihrer Tasche in die Schränke zu räumen. Ihre eigenen in diesem Zimmer und Kevins in das Zimmer auf der anderen Seite des Badezimmers. Viel war es nicht, was sie in der Eile zusammengepackt hatte. Die paar Kleidungsstücke nahmen sich in den geräumigen Schränken recht armselig aus. Weit würden sie damit nicht kommen. Aber bald mußten sie ohnehin wieder zurück nach Hause. Sie konnten schließlich nicht auf Dauer bei Stephan bleiben. Spätestens wenn der Alte wieder konnte, würde er kommen und sie zurückholen. Davon war sie fest überzeugt. Vielleicht konnten sie wenigstens bis dahin hierbleiben. Man würde sehen. Achselzuckend ging sie wieder hinaus.

Stephan saß vor seinem Computer, als sie ins Arbeitszimmer kam.

„Na, Langeweile?“ fragte er

Sie zuckte die Achseln. „Gibt’s was, das ich tun kann?“

„Nee, ich wüßte nicht. Du hast ja schon alles gemacht.“

Sie stellte sich vor seinen Schreibtisch. Verlegen sah sie zu Boden.

„Du hast mich ja wirklich letzte Nacht in Ruhe gelassen“, sagte sie.

Stephan lachte. „Du hast mir nicht geglaubt, was?“

Sie schüttelte den Kopf. „Danke“, sagte sie leise.

„Ich hab’ Dir doch gesagt, daß ich Dir nichts tue. Ich will Dir helfen, nicht Dich vergewaltigen.“

„Warum willst Du uns eigentlich helfen?“

Stephan sah sie lange an. Dann sagte er: „Keine Ahnung. Ihr seid mir einfach passiert.“

„Wie, passiert?“

Stephan deutete auf einen der Stühle vor dem Schreibtisch. Nicole setzte sich.

„Naja“, sagte er, „ich hab gesehen, wie sie Deinen Bruder zusammengeschlagen haben. Da hab ich gedacht, das kannst Du nicht zulassen. Also hab ich ihm geholfen. Dann hab ich Dich getroffen. Dann hab ich gesehen, wie Ihr wohnt. Dann hab ich mitgekriegt, was sie alles mit Euch machen. Da kann man doch nicht einfach drüber weggehen. Schönen Tag noch, das war’s, macht’s gut. Das geht doch nicht. Finde ich jedenfalls.“

„Hast Du eine Ahnung“, antwortete sie bitter.

Er kippte den Schreibtischstuhl zurück, verschränkte die Hände hinter dem Kopf und sah das Mädchen lange an.

„Also seid Ihr mir passiert“, sagte er schließlich. „Was sollte ich denn machen?“

„Und was willst Du jetzt machen?“

„Ja, das ist ’ne gute Frage. Keine Ahnung. Kann man wenigstens mit Deiner Mutter reden?“

„Wieso? Was willst Du denn mit der reden? Mit der kann man nicht reden. Jedenfalls nicht über sowas. Die hat keine Meinung. Die rennt jedesmal zum Alten. Der haut ihr dann eins in die Fresse, und dann ist sie wieder still.“

„Aber jetzt ist der Alte ja nicht da.“

Nicole zuckte mit den Schultern. „Du kannst es versuchen. Aber außer Gejammer wirst Du wahrscheinlich nicht viel aus ihr rauskriegen. Was willst Du überhaupt von der?“

Er lehnte sich wieder vor. „Erzähl ich Dir später. Jetzt laß mich bitte nochmal ’ne Weile in Ruhe. Ich muß noch ein paar Sachen erledigen. Dann können wir auch los.“

Er räumte ein paar Blätter zur Seite. Darunter kam eine Computertastatur zum Vorschein. Er begann wie ein Wilder darauf herumzutippen. Nicole stand auf, ging hinüber zu den Bücherregalen und sah sich die Buchrücken an. Sie zog ein Buch heraus und setzte sich an den kleinen Tisch zwischen den Regalen.

Stephan rief die Website der örtlichen Sparkasse auf, gab seine PIN ein und wählte die Seite mit den Kontoauszügen. “€ 258,65 H“ stand da. Er drückte ein paar Tasten. Auf dem anderen Bildschirm erschien die Website einer Bank in Singapore. Wieder loggte er sich mit seinem Nutzernamen und seinem Paßwort ein. Der Kontoauszug lautete auf: “USD 8,647,898.09 H“. Seine Finger glitten über die Tasten. Dann mußte er eine Weile warten, bis die Zahlen auf den beiden Monitoren sich veränderten. Die eine ging nach oben und lautete jetzt: “€ 200.258,65 H“, die andere verringerte sich auf: “USD 8,377,898.09 H“.

Stephan nickte zufrieden. „So, damit wäre die Kriegskasse gefüllt“, murmelte er.

„Was machst Du denn da?“ fragte Nicole und stand auf, um zu ihm hinüberzugehen.

Vor dem Schreibtisch blieb sie stehen. Stephan loggte sich aus. Die beiden Websites verschwanden von den Bildschirmen. Er stand auf. „Das war eine kleine Transaktion. Bist Du fertig, in die Stadt zu gehen?“

Sie nickte. Gemeinsam gingen sie hinaus in die Halle, und zogen sich Schuhe und Jacken an. „Dann komm“, sagte er.

Das Wetter war besser geworden. Es war zwar immer noch kühl, aber wenigstens regnete es nicht mehr. Schweigend liefen sie nebeneinander her zur Bushaltestelle. Sie hatten Glück. Der Bus kam zehn Minuten später. Sie stiegen im Stadtzentrum aus. Stephan ging zu einem Geldautomaten. Offensichtlich wollte er Geld abheben. Nicole hielt sich diskret im Hintergrund. Als er sich nach ihr umdrehte, hielt er ein Bündel Banknoten in der Hand. Er stopfte ihr das Geld in die Tasche.

„Damit gehst Du jetzt einkaufen“, sagte er. „Klamotten für Dich. Alles was Du so brauchst. Jeans, Blusen, Röcke, T-Shirts, Jacken, Unterwäsche, alles. Aber nur Sachen, die Dir auch wirklich gefallen. Laß es richtig krachen, hörst Du, von dem Geld soll nichts mehr übrigbleiben.“

Sie sah ihn mit großen Augen an. „Bist Du verrückt geworden?“

„Nee, bin ich nicht. Aber Du brauchst was Ordentliches zum Anziehen. Das bißchen, was Du mitgenommen hast, reicht ja kaum länger als ein paar Tage.“

„Aber ich kann doch nicht einfach…“

Er ließ sie nicht ausreden. „Doch, Du kannst. Wir treffen uns später im Krankenhaus. Und jetzt zieh ab.“ Er lächelte ihr aufmunternd zu. Zögernd ging sie davon. Er sah ihr nach, bis sie im Strom der Passanten verschwunden war. Dann machte er sich auf den Weg zur Polizeiwache.

Das Aufnehmen seiner Aussage nahm geraume Zeit in Anspruch. Er bemühte sich, alle Fragen sorgfältig und ausführlich zu beantworten. Mehrfach versicherte er den Beamten, er habe Zeit, und sie sollten es genau nehmen. Er wolle, daß man die Schlägertypen zur Verantwortung ziehe. Auch über den Hintergrund der Tat, die versuchte Vergewaltigung des Mädchens, ließ er sich aus. Er schilderte die häuslichen Umstände der Kinder und beschrieb die Gewalttätigkeiten des Vaters.

„Wollen Sie Anzeige erstatten?“ fragte der Polizist.

Stephan schüttelte den Kopf. „Ich denke, das brauche ich nicht. Nach dem, was ich ausgesagt habe, müßte die Staatsanwaltschaft von alleine tätig werden.“

Der Mann nickte. „Ich werde zusehen, daß sie es auch tut“, versicherte er.

Zum Schluß teilte er den Beamten mit, er werde jetzt mit den Lehrern reden.

„Warum tun Sie das eigentlich?“ fragte ihn der Beamte.

„Das hat mich das Mädchen vorhin auch gefragt“, antwortete Stephan.

***

Und dieselbe Frage stellte ihm auch der Mathematiklehrer der beiden Kinder, Herr Lohner, nachdem Stephan ihm die ganze Geschichte erzählt hatte. Und einmal mehr gab er die gleiche Antwort: „Die Beiden sind mir eben passiert.“

Der Lehrer musterte ihn kritisch. „Sie scheinen ein ernsthafter junger Mann zu sein.“

„Das ergibt sich so“, antwortete Stephan.

„Was wollen Sie jetzt unternehmen?“

„Das weiß ich nicht. Deshalb bin ich ja zu Ihnen gekommen. Vielleicht können Sie mir einen Rat geben.“

Lohner ging nachdenklich im Zimmer auf und ab. Schließlich blieb er vor Stephan stehen.

„Auf jeden Fall war es richtig, die beiden aus der Wohnung ihrer Eltern herauszuholen. Die Frage ist nur: Wohin sollen sie statt dessen?“

„Ich hab mir überlegt, ob ich sie zu mir nehmen kann. Platz genug hätte ich. Meine Eltern haben mir ein ziemlich großes Haus hinterlassen. Dort hätten sie beide auf jeden Fall ihr eigenes Zimmer. Leider liegt es ziemlich weit außerhalb. Zur Bushaltestelle ist es eine gute Viertelstunde zu laufen, und der Bus kommt auch nicht sehr häufig. Aber das dürfte sich irgendwie regeln lassen. Ich werde mit der Mutter reden, daß sie ihre Einwilligung gibt.“

„Verzeihen Sie die Frage, aber können Sie sich die beiden überhaupt leisten?“

Stephan machte eine wegwerfende Handbewegung. „Machen Sie sich darüber keine Gedanken, Herr Lohner. Das Geld ist kein Problem. Aber ich bräuchte Ihre Hilfe. Bei den Behörden möglicherweise. Was auch nicht schlecht wäre, wenn Sie mit zu der Mutter kämen. Dann könnten Sie sich auch gleich selbst ein Bild von den Verhältnissen machen.“

Lohner nickte. „Das hört sich vernünftig an.“ Er lehnte sich gegen einen der Tische. „Sind Sie motorisiert?“

„Ja, sicher“, antwortete Stephan. „Das heißt, nein. Ich besitze zwar ein Auto, aber das steht in der Garage. Ich bin mit dem Bus gekommen. Ich benutze lieber den Bus, ich fahre nicht gern mit dem Auto.“

„Naja, macht nichts. Dann gehen wir eben zu Fuß. So weit ist es ja nicht“

Sie machten sich auf den Weg. Als sie an Stephans Bank vorbeikamen, bat er Lohner, einen Moment zu warten. Er wolle in der Bank schnell etwas erledigen. Drinnen ließ er sich einen abgestempelten und vom Filialleiter unterschriebenen Kontoauszug geben. Den zeigte er Lohner.

„Hier, damit Sie sehen, daß ich Ihnen nichts vormache.“

Lohner pfiff leise durch die Zähne. „Mein lieber Scholli. Geerbt?“

Stephan schüttelte den Kopf.

„Woher haben Sie denn soviel Geld? Was machen Sie denn beruflich?“

„Internethandel“, antwortete Stephan knapp.

„Scheint sich zu lohnen.“

„Es reicht, das sehen Sie ja.“

Lohner nickte. Sie gingen weiter. Frau Zervatzky saß in ihrem schäbigen Wohnzimmer vor dem Fernseher. Auf dem Tisch stand eine halbvolle Schnapsflasche und ein von Kippen überquellender Aschenbecher. Sie war mittelgroß und übergewichtig. Sie trug einen Hausanzug aus knallgrünem Nickistoff, der bereits bessere Tage gesehen hatte. Er war aus der Form geraten und mit Flecken übersät. Ihre nackten Füße steckten in offenen Hauslatschen, die Haare waren fettig und hingen ihr in Strähnen vom Kopf. Ihre Fingernägel, ebenso wie ihre Fußnägel, waren lang und ungepflegt. Schmutz hatte sich darunter festgesetzt.

Es roch streng in dem Raum. Lohner und Stephan ignorierten ihre Aufforderung, Platz zu nehmen. Es hätte sich auch nicht gelohnt. Überraschend schnell erklärte sich die Frau mit dem Umzug ihrer Kinder einverstanden. Eine kurze Erläuterung von Stephan und die Bestätigung seitens des Lehrers genügten, ihre Zustimmung zu erhalten.

„Muß ich irgendwas unterschreiben?“ fragte sie.

Lohner schüttelte den Kopf. „Vorläufig nicht. Solange unsere Abmachung nicht bekannt wird, die Kinder ordnungsgemäß zur Schule gehen und nicht verwahrlost auf der Straße aufgegriffen werden, kümmert sich niemand darum.“

Er sah Stephan an, als er das sagte.

Ich werde mich um sie kümmern“, versprach er.

Über die Ereignisse des Vortags und den Zustand des Vaters wurde kein Wort gesprochen. Die Frau half ihnen, die Schulsachen und die Kleidung ihrer beiden Kinder zusammenzupacken. Lohner rief ein Taxi. Damit brachten sie die Sachen in die neue Wohnung der Kinder. Wo diese lag, hatten sie der Frau nicht gesagt. Der Abschied war kurz und emotionslos. Stephan hatte den Eindruck, sie war froh, daß sie die Kinder aus dem Haus hatte.

Lohner ließ sich das Haus zeigen. Er war beeindruckt. „Unglaublich“, meinte er. „Daß Sie so wohnen, hätte ich nicht gedacht. Wenn sich die Kinder hier nicht wohlfühlen, dann weiß ich’s auch nicht.

„Wollen Sie noch mitkommen ins Krankenhaus?“ fragte Stephan, als sie danach wieder in das wartende Taxi einstiegen.

Lohner schüttelte den Kopf. „Ein andermal vielleicht. Ich habe noch etwas vor.“ Er ließ das Taxi in der Innenstadt anhalten und reichte Stephan die Hand. „Wann sehen wir uns wieder?“

„In ein paar Tagen“, antwortete Stephan. „Geben Sie mir ein wenig Zeit mit beiden. Es wäre aber gut, wenn Sie gelegentlich vorbeikommen könnten. Erstens könnten Sie sich ein Bild machen, und zweitens wäre es eine Bestätigung für die beiden, daß ich mich tatsächlich an Sie gewandt habe. Im übrigen gedenke ich, Nicole morgen wieder in die Schule zu schicken. Selbstverständlich überlasse ich es Ihnen, wie Sie mit ihr umgehen.“

Lohner stieg aus und ging davon. Stephan ließ sich zum Krankenhaus fahren. Kevin lag noch immer allein in dem Dreibettzimmer. Seine Schwester saß schweigend neben seinem Bett. Sie war sichtlich erleichtert, als sie Stephan hereinkommen sah.

„Ich dachte schon, Du kommst nicht mehr“, sagte sie.

„Du dachtest, ich würde mich aus dem Staub machen.“ Er lachte. „Nee, keine Sorge. So schnell werdet Ihr mich nicht mehr los.“ Er deutete auf die Einkaufstüte, die neben ihrem Stuhl auf dem Boden stand. „Was hast Du denn eingekauft? Ist das etwa alles?“

Er nahm die Tüte vom Boden auf und sah hinein. Zwei Jeans, ein paar T-Shirts und eine Regenjacke war alles, was er darin fand.

„Und der Rest?“ fragte er.

„Welcher Rest?“ fragte sie zurück.

„Na, Du wirst doch noch mehr eingekauft haben als die paar Sachen hier.“

Sie schüttelte den Kopf.

„Och, Mädchen, ich hab’s Dir doch extra gesagt. Kauf ein was Dir gefällt.“

„Aber die Sachen gefallen mir ja“, erwiderte sie. Dann griff sie in ihre Hosentasche und zog den Rest des Geldes heraus, das er ihr gegeben hatte. Sie hielt es ihm hin. „Hier, das ist übriggeblieben“, sagte sie.

Kopfschüttelnd nahm Stephan ihr die Geldscheine ab. „Da reden wir noch drüber“, meinte er.

Kevin sah besser aus als am Tag zuvor. Er war nicht mehr ganz so blaß, und seine Augen hatten den fiebrigen Glanz verloren. Er sah Stephan freundlich an.

„Du hast ihr nichts getan“, stellte er zufrieden fest.

Einmal mehr war Stephan schockiert, daß der Junge, ebenso wie seine Schwester, wie selbstverständlich angenommen hatte, er würde sich an dem Mädchen vergriffen haben.

„Nein, ich habe Ihr nichts getan“, antwortete Stephan fest. „Und ich werde ihr auch nichts tun. Jedenfalls nichts, was sie nicht will. Ebensowenig wie Dir, wenn Du hier rauskommst.“

„Morgen“, antwortete Kevin. „Die Ärzte wollen mich morgen entlassen.“

Stephan und Nicole nahmen den Bus aus der Stadt hinaus. Wieder saßen sie sich schweigend gegenüber. Auf dem Weg zu seinem Haus, sagte Stephan: „Ich war übrigens bei Deinem Lehrer. Der scheint schwer in Ordnung zu sein. Er ist sogar mit mir zu Deiner Mutter gegangen.“

Nicole erschrak. „Ihr wart bei mir zu Hause?“

„Ja sicher. Wir mußten doch das Einverständnis Deiner Eltern holen, daß Ihr jetzt bei mir wohnen dürft. Sie hatte nichts dagegen.“

„Und der Alte?“

„Der war natürlich nicht da. Ich denke mal, der liegt für längere Zeit im Krankenhaus. Die werden ihre liebe Mühe mit ihm haben, ihn vom Schnaps runterzuholen. Aber das soll mein Problem nicht sein.“ Er sah das Mädchen an. „Und Eures auch nicht.“

„Aber unsere Sachen müssen wir noch holen“, meinte sie. „Die paar Klamotten, die ich gestern mitgenommen habe, reichen ja hinten und vorne nicht.“

„Deshalb hab ich Dich heute ja geschickt, welche zu kaufen. Aber Du konntest ja nicht hören“, erwiderte er grinsend.

Schuldbewußt sah sie zu Boden. Stephan stupste sie leicht gegen die Schulter. „Nun mach Dir mal keine Sorgen, Nicole. Lohner und ich haben Eure Sachen eingepackt und zu mir gebracht. Auch Eure Schulsachen übrigens. Dann konnte ich ihm gleich zeigen, wo Ihr untergekommen seid. Ich hielt das für wichtig, denn ich hätte den Mann gern als unseren Verbündeten, weißt Du.“

Nicole sah ihn an und lächelte. Es war das erstemal, daß er sie lächeln sah. Ermutigt dadurch griff er nach ihrer Hand. Aber das ließ sie nicht zu.

***

Zurück in Stephans Haus, zeigte er Nicole auch den Rest der weitläufigen Anlage. Einmal mehr blieb dem Mädchen dabei vor Staunen der Mund offenstehen. Zuerst führte er sie durch einen der gläsernen Gänge in die ehemalige Scheune. Die war jetzt zu einem großzügigen Schwimmbad umgebaut, mit einem etwa sechs mal zwölf Meter großen Schwimmbecken, einer Sauna, Tauchbecken, Duschen, Toiletten und allem was dazugehört. Mehrere Liegen standen auf der freien, gekachelten Fläche vor dem Becken, an der Wand war eine richtige Bar eingebaut. Die Wand zum Garten hin war vollständig verglast. Mehrere Schiebetüren befanden sich darin, so daß der Pool auch im Sommer vom Garten her nutzbar war. Tags zuvor hatte Nicole das nicht sehen können, weil die Jalousien heruntergelassen waren. Jetzt öffnete Stephan sie, ebenso wie eine der großen Schiebetüren.

„Wenn Ihr Lust zum Schwimmen habt, jederzeit und sooft Ihr wollt“, erklärte er. „Ich springe jeden Tag mindestens einmal kurz hier rein. Im Sommer ist es ganz besonders toll. Dann kann man draußen in der Sonne liegen, und wenn’s einem zu warm wird, kann man sich schön abkühlen.“

Sie gingen hinaus in den Garten. Eine riesige Rasenfläche erstreckte sich hinter den Häusern bis hin zu der Hecke, die das Grundstück begrenzte. Etliche große, alte Bäume standen darauf, die im Sommer als wunderbare Schattenspender dienten. Aufgelockert war die Wiese durch eine Reihe von Blumenbeeten. Nicole entdeckte eine Reihe von Tierfiguren aus Granit, die ‘Big Five‘ aus dem afrikanischen Busch, Elefant, Nashorn, Büffel, Löwe und Leopard.

„Meine Eltern hatten eine große Liebe zu Afrika“, erklärte Stephan. „Meine Mutter stammte aus Namibia. Ich habe noch immer Verwandte dort.“

Sie gingen über die Wiese zu einer Holzhütte im Hintergrund. Davor befand sich ein gepflasterter Platz mit bequemen Holzstühlen und Bänken. In der Mitte eine große Feuerstelle, in einem Halbkreis darum herum ein hölzerner Tisch, der sich als Eßtisch eignete. In der Hütte gab es eine fast vollständig eingerichtete Küche. Seitlich davon eine weitere Bar mit Tresen und hölzernen Barhockern.

„In Namibia nennt man das eine Lapa“, sagte Stephan. „Die Leute dort haben solche Plätze irgendwo auf ihren Farmen, wo sie abends oder am Wochenende hinfahren, um sich zu entspannen, mit Freunden zu grillen und zu feiern. Wenn’s wieder wärmer wird, machen wir das auch. Es ist ganz lustig, das kannst Du mir glauben.“

„Wir haben noch nie gegrillt“, antwortete Nicole leise.

Stephan lächelte sie an. „Na, dann wird’s ja langsam Zeit. Ich wette, es wird Euch gefallen.“

Sie gingen zurück zum Haus. Stephan zog die Tür zum Schwimmbad wieder zu.

„Was ist in dem anderen Gebäude?“ erkundigte Nicole sich.

„Garage, Werkstatt und der Raum für die Gartengeräte. Willst Du’s sehen?“

Nicole nickte.

Stephan führte sie vom Wohnhaus aus durch den zweiten Glasgang hinüber in das Gebäude. In der Garage standen zwei Autos. Eine große Mercedeslimousine älteren Baujahrs und ein VW-Golf der neuesten Baureihe. Der Platz für ein drittes Auto war leer.

Stephan wies auf den Mercedes. „Das war das Auto meines Vaters. Ich benutze es nie, aber irgendwie widerstrebt es mir auch, es zu verkaufen. Der Golf hier ist meiner. Mit dem fahr ich gelegentlich, aber auch nicht sehr oft. Eigentlich nehm ich lieber den Bus. Oder das Fahrrad, wenn das Wetter schön ist.“

Er öffnete die rechte der beiden Türen an der Rückwand der Garage. Dahinter befand sich eine vollständig eingerichtete Werkstatt mit Werkbank und allerlei Maschinen. Das Werkzeug war ordentlich in Reih und Glied an den Wänden aufgehängt. Schrauben und allerlei sonstiges Material und Zubehör befand sich in zahlreichen Schubladenschränkchen, die ebenfalls an den Wänden montiert waren.

„Das ist die Werkstatt. Ich benutze sie so gut wie nie. Die Schrauberei ist nicht so mein Ding“, erklärte Stephan. „Der Gärtner arbeitet oft hier drin. Manchmal auch mit einem Kollegen oder Kumpel zusammen. Mir ist das ganz recht. Dann werden die Sachen hier wenigstens benutzt.“

Durch die andere Tür an der Garagenrückwand gelangten sie in einen weiteren Raum, in dem allerlei Gartengeräte untergebracht waren, darunter auch ein kleiner Traktor, der im Sommer als Rasenmäher und Kehrmaschine und im Winter als Schneepflug eingesetzt werden konnte.

„Mit dem ganzen Zeug hier hab ich gar nichts zu machen“, sagte Stephan lachend. „Ich hasse Gartenarbeit aus tiefster Seele. Drum hab ich auch diesen tollen Gärtner, der den ganzen Laden hier in Ordnung hält.“

Nicole vermochte nur zu nicken. Schweigend gingen sie wieder zurück ins Haus. Stephan nahm sie mit ins Wohnzimmer.

„Setz Dich. Was möchtest Du trinken?“

Nicole setzte sich auf die Kante eines Sessels.

Stephan stellte sich vor sie hin. „Mein Gott, Mädchen, jetzt entspann Dich mal“, sagte er lächelnd. „Du bist ja völlig mit den Nerven runter. Das ist ja nicht mit anzusehen.“

Kopfschüttelnd ging er hinaus. Wenig später kam er zurück mit einer Piccoloflasche und zwei Gläsern. Er öffnete die Flasche, schenkte ein und gab ihr eins der Gläser in die Hand.

„Paß auf, das trinkst Du jetzt, das wird Dir guttun. Dann essen wir was, und dann räumen wir Deine Sachen ein. Und Kevins gleich mit. Damit er sofort weiß, daß er hier zu Hause ist, wenn er morgen aus dem Krankenhaus kommt. Okay?“

Er setzte sich ihr gegenüber auf eine Couch. Sie stießen miteinander an.

„Auf Euch beide, und daß es Euch hier gefällt“, sagte er.

Statt zu trinken, fing sie an zu weinen. Stephan nahm ihr das Glas aus der Hand und stellte es zusammen mit seinem eigenen auf den Tisch.

Er wollte sich neben sie setzen, aber sie sprang auf und lief davon. Erschrocken stand er ebenfalls auf. „Mein Gott, Nicole, ich tu Dir doch nichts.“ Er ging um den Tisch herum. „Komm her und setz Dich wieder.“

Zögernd kam sie zurück. Stephan achtete darauf, genügend Abstand zu dem Mädchen zu halten, als er ihr von Neuem das Glas hinhielt. Sie nahm es ihm aus der Hand und trank einen winzigen Schluck.

„Setz Dich, Mädchen, um Gottes Willen.“

Gehorsam ließ sie sich wieder auf der Couch nieder. Verlegen sah sie zu Boden und drehte das Glas in der Hand.

Stephan betrachtete sie nachdenklich. Was hatte er getan? Wen hatte er sich da ins Haus geholt? Im Moment war das Mädchen völlig verschüchtert. Aber das würde ja nicht immer so bleiben. Hoffte er zumindest. Und wie würde sie sich dann entwickeln? Unwillkürlich tauchte das Bild seiner Schwester in seinem Kopf auf. Sie war vierzehn als sie starb. Im Allgemeinen hatten sie sich gut verstanden. Nur manchmal, wenn sie zickig war, wurde der Ton zwischen ihnen etwas lauter. Aber oft kam das nicht vor. Einmal mehr wurde ihm bewußt, wie sehr er sie vermißte. Hatte er Nicole hierhergeholt, damit sie ihm die Schwester ersetzte? Nein, niemals. Niemand würde Carmen je ersetzen können. Nicole war Nicole und nicht Carmen. Aber was war das fremde Mädchen dann? Sein Schützling, vorerst jedenfalls. Solange sie sich entschloß, bei ihm zu bleiben. Aber ein Schützling war etwas wenig persönliches. Was also sonst? Seine Tochter bestimmt nicht. Schließlich war sie nur sechs Jahre jünger. Obwohl, ein bißchen hatte er schon das Gefühl. So hilflos, scheu und eingeschüchtert wie sie dasaß, überkam ihn schon der Drang, sie einfach in die Arme zu schließen, wie sein Vater es mit Carmen oft gemacht hatte, wenn sie irgendwelchen Kummer hatte.

Nicole riß ihn aus seinen Gedanken. „Was starrst Du mich so an?“ fragte sie aggressiv.

Stephan zuckte zusammen und lehnte sich zurück. Er versuchte ein Lächeln. „Du, entschuldige, tut mir leid, ich wollte das nicht, aber ich mußte gerade an jemand denken.“

„Aha, und an wen?“

Er winkte ab. „Vergiß es.“ Er nahm sein Glas in die Hand. „Trinken wir einen Schluck.“

„Was ist das eigentlich?“ fragte sie.

„Champagner“, antwortete Stephan. „Normalerweise gibt’s sowas nur zu besonderen Anlässen. Und heute ist so ein besonderer Anlaß, fand ich. Außerdem wirkt das Zeug anregend und macht fröhlich. Und das kannst Du ja gebrauchen, oder?“

Sie probierte einen weiteren kleinen Schluck. Lächelnd sah sie ihn an. „Schmeckt gut“, stellte sie fest.

Er stellte das Glas ab und nahm die Hände hoch. „Na siehst Du, es wirkt schon. Wenigstens lächelst Du.“

Sie entspannte sich ein wenig.

„Es ist schön hier“, stellte sie nach einer Weile fest. Und dann: „Ich hab Hunger.“

Stephan nickte. „Ich auch. Ist ja auch kein Wunder. Wir haben ja den ganzen Tag nichts gegessen.“ Er stand auf. „Dann wollen wir mal sehen, was da ist. Leider haben wir wieder vergessen, was einzukaufen. Aber ich denke, es wird schon reichen. Magst Du mit in die Küche kommen?“

Sie nickte.

In der Küche inspizierten sie zusammen den Inhalt des Kühlschranks.

„Hm“, meinte Stephan, „gibt nicht viel her. Aber ich hab eine Idee. Magst Du Bratkartoffeln?“

Nicole sah ihn an. „Ja, schon.“

„Na gut, dann mal los.“

Er schälte Kartoffeln, würfelte sie in eine Pfanne, gab Speck und Zwiebeln dazu und klein geschnittene Fleischwurst. Zum Schluß, als die Kartoffeln gar und knusprig gebraten waren, schlug er zwei Eier darüber und mischte sie unter.

„Fertig“, verkündete er. „Nicht gerade ein Festessen, aber ich eß das sehr gerne. Hoffentlich schmeckt’s Dir auch.“ Er füllte die Kartoffeln aus der Pfanne in eine Schüssel und stellte sie auf den Tisch.

„Wird schon“, meinte sie. „Milch?“

Stephan schüttelte den Kopf. „Nee, dazu möchte ich ‘n Bier.“

„Darf ich denn Milch trinken?“

„Och Mäuschen“, antwortete er, „natürlich darfst Du Milch trinken. Frag doch nicht sowas.“

Sie zuckte zusammen, als sie den Kosenamen hörte. Aber dann entspannte sie sich wieder, ging zum Kühlschrank und nahm die Milchtüte und eine Flasche Bier heraus. Stephan holte Gläser.

Sie setzten sich. Stephan füllte Kartoffeln auf ihren Teller. „Tut mir leid, das mit dem Mäuschen. Ist mir so rausgerutscht.“ Er stellte den Teller vor sie hin. „Laß es Dir schmecken.“

Sie sah ihn nachdenklich an. So als überlege sie angestrengt. Nach einer Weile schien sie zu einem Schluß gekommen zu sein. „Macht ja nix. Nur, so hat noch keiner zu mir gesagt.“

Stephan nahm einen großen Schluck von seinem Bier. „Ah, das tut gut“, sagte er. „Ich will’s auch nicht wieder tun.“

„Was?“

„Mäuschen zu Dir sagen.“

„Warum nicht? Es ist doch lieb.“ Sie sah vor sich auf den Teller.

„Ich finde auch, es paßt zu Dir. Du kommst mir vor wie ein kleines, süßes Mäuschen.“

„Jetzt machst Du mich aber verlegen“, sagte sie leise.

Er lachte. „Nur mußt Du aufpassen, daß Polo oder Katie Dich nicht kriegen. Die mögen nämlich auch kleine, süße Mäuschen. Sie haben sie zum Fressen gern.“

Nicole sah ihn an und lachte ebenfalls.

„Hey, das ist ja super“, rief Stephan. „Jetzt hast Du zum erstenmal seit wir uns kennen richtig gelacht. Da freu ich mich riesig.“

„Wenn Du auch solche Sachen sagst“, meinte sie.

„Schmeckt’s Dir denn?“ erkundigte er sich.

Sie nickte. „Sehr gut. Ganz prima.“ Sie hielt ihm den Teller hin. „Krieg ich noch welche?“

Stephan legte den Kopf schief. „Was glaubst Du? Denkst Du, ich eß die alle alleine auf?“ Er füllte ihr erneut den Teller voll.

„Bei uns gab’s meistens nur Bratkartoffeln ohne alles“, sagte sie. „Manchmal hatten wir Zwiebeln. Die hatte Kevin auf dem Markt gemopst. Und die hab ich dann da reingeschnitten. Aber Speck nie. Ganz selten mal etwas Fleischwurst.“

„Du meine Güte, was habt Ihr denn immer gegessen?“

Nicole zuckte die Achseln. „Nudeln mit Ketchup oder eben Bratkartoffeln mit Ketchup oder Tiefkühlpizza, sowas eben. Manchmal, aber ganz, ganz selten und nur wenn die Alten nicht da waren und ich ein bißchen Geld hatte, hab ich für Kevin Spaghetti mit Carbonarasauce gemacht. Das ißt er wahnsinnig gern. Aber es ist eben auch teuer. Und meistens hat’s dafür nicht gereicht.“

„Möchtest Du ihm das morgen kochen, wenn er kommt?“

Sie strahlte ihn an. „Dann freut er sich ‘n Loch in den Bauch.“

Stephan wollte nach ihrer Hand greifen. Aber das ließ sie nicht zu Er zog seine Hand zurück. „Dann machen wir das doch“, sagte er freundlich. „Paß auf, ich fahr Dich morgen früh zur Schule, und danach geh ich einkaufen, bevor ich Kevin aus dem Krankenhaus abhole. Wenn Du dann mittags kommst, kannst Du ihm die Spaghetti kochen. Einverstanden.“

Sie lächelte still vor sich hin.

Nach dem Essen bestand sie darauf, die Küche aufzuräumen. Stephan sagte ihr, daß das doch auch am nächsten Tag die Putzfrau machen könne, aber davon wollte sie nichts wissen.

„Das kann ich nicht leiden, morgens früh in eine dreckige, unaufgeräumte Küche zu kommen“, sagte sie leise aber energisch. „Da kriegt man ja schlechte Laune für den ganzen Tag. Es dauert ja auch nicht lange.“

Also ließ er sie gewähren. Als sie allerdings daran ging, Teller, Besteck und Gläser zu spülen, wurde es ihm doch zu bunt.

„Also, weißt Du, Nicole, für sowas gibt’s jetzt aber wirklich die Spülmaschine.“

Er nahm ihr die schmutzigen Teller aus der Hand und räumte sie in die Spülmaschine.

Danach gingen sie nach oben, um die Sachen einzuräumen, die er am Nachmittag mitgebracht hatte. Wahllos griff Stephan in eine der Taschen und zog ausgerechnet eines von Nicoles Unterhöschen heraus.

„Oh“, machte sie verlegen und nahm ihm das Höschen aus der Hand.

Stephan lachte. „Vielleicht kümmerst Du Dich um die Wäsche, und ich räume die Schulbücher ein“, schlug er vor.

Das Auspacken und Einräumen ihrer Sachen war schnell erledigt. Viel war es ja nicht. Zum Schluß packte Nicole ihre Schultasche für den nächsten Tag.

„So, das war’s wohl“, sagte sie. „Und jetzt?“

Stephan sah auf die Uhr. „Halb neun. Noch ziemlich früh. Wann geht Ihr denn für gewöhnlich schlafen?“

Nicole lachte bitter. „Kommt immer drauf an, was der Alte für den Abend geplant hat. Läßt er uns in Ruhe, so zwischen neun und zehn, je nachdem, wann wir in die Küche können, um zu essen. Wenn er uns mitschleppt, wird’s meistens zwei.“

„Und wann möchtest Du heute schlafen gehen?“

„Na, noch nicht. Ich bin noch gar nicht so richtig müde.“

„Wenn Du Lust hast, können wir uns ja unten noch ein bißchen hinsetzen und was trinken“, schlug er vor.

Nicole nickte.

Stephan schickte sie ins Wohnzimmer. Er selbst ging in die Küche und kam kurz darauf mit zwei Gläsern in der Hand zu ihr.

„Apfelschorle. Ist das okay?“

Nickend nahm sie ihm eines der Gläser ab. Beide tranken einen Schluck. Wieder saßen sie sich schweigend gegenüber. Stephan hatte sich in die Polster zurückgelehnt und die Augen geschlossen. Diesmal war es Nicole, die ihn anstarrte.

„Und wie soll das jetzt weitergehen?“ fragte sie nach einer Weile.

Stephan schlug die Augen auf und erwiderte ihren Blick. „Ich habe keine Ahnung“, sagte er achselzuckend. „Erstmal bist Du jetzt hier. Und morgen kommt Dein Bruder. Um den werden wir uns kümmern müssen. Er ist ja immer noch krank. Wenn er wieder gesund ist, sehen wir weiter.“

„Also so lange sollen wir hier wohnen?“

„Ja, sicher. Und wenn Ihr danach hierbleiben wollt auch noch länger.“

„Aber das geht doch gar nicht. Das kostet doch Geld. Außerdem kennen wir uns doch gar nicht richtig.“

„Och, ich denke, das wird sich von selbst ändern, wenn wir erstmal länger zusammen sind. Und um das Geld mach Dir mal keine Sorgen. Tu ich auch nicht.“

„Trotzdem, Du kannst doch nicht einfach zwei Wildfremde in Deinem Haus wohnen lassen.“

„Warum denn nicht? Das ist doch nicht verboten.“

„Aber die Leute werden darüber reden. ‚Die Zervatzky-Blagen, die wohnen jetzt anscheinend bei diesem Stephan’… Wie heißt Du eigentlich weiter?“

„Van Elst“, antwortete Stephan lächelnd.

„Also“, fuhr sie fort, „bei diesem van Elst, der den umgebauten Bauernhof hat, da draußen vor der Stadt. Ich möchte mal wissen, was den geritten hat, sich ausgerechnet mit diesen Asi-Bälgern abzugeben.’ Wirst sehen, sowas wird kommen.“

„Na und? Wenn die Leute reden wollen, sollen sie reden. Mir ist das egal. Außerdem seid Ihr keine Asi-Bälger, sondern zwei ziemlich nette Kinder, die in ziemlichen Schwierigkeiten stecken. Finde ich jedenfalls.“

Nicole wiegte den Kopf hin und her. „Naja, Kinder? Ich bin immerhin fünfzehn, und Kevin ist dreizehn.“

„Also gut, Kinder vielleicht nicht mehr ganz. Aber ein bißchen doch schon noch, oder?“

Sie zuckte die Achseln. „Wenn Du meinst.“

Stephan lachte. „Nun sind Sie mal nicht gleich beleidigt, junge Frau.“

„Bin ich ja gar nicht“, wehrte sie ab und grinste.

Stephan wurde wieder ernst. „Gut, damit haben wir das also geklärt. Ihr wohnt hier, und was die Leute davon halten, interessiert uns nicht. Mit der Zeit werden wir uns schon kennenlernen, und ich bin überzeugt, wir werden auch miteinander auskommen. Das Geld für Euer Essen habe ich auch. Noch was?“

Nicole schwieg. Sie war sich keineswegs sicher, daß das alles so einfach war. Aber es half ja nichts, jetzt darüber zu streiten. Denn das könnte bedeuten, daß Stephan sie kurzerhand wieder nach Hause schicken würde. Wenn sie nur wüßte, was er von ihnen wollte? Warum hatte er sie bloß hierhergebracht? Irgend etwas mußte er doch geplant haben? Sie konnte es sich nicht erklären. Jedenfalls würde sie auf der Hut sein. Zwar konnte es kaum schlimmer kommen, als es mit dem Alten war, aber möglicherweise kam es aufs selbe raus. Vielleicht war er gar nicht so harmlos, wie er tat? Und hier, in dieser Einsamkeit, weit ab von der Stadt, würde ihnen niemand helfen können. Obwohl, wer hatte ihnen eigentlich geholfen, als sie mitten in der Stadt wohnten? Auch niemand. Immerhin hatten sie hier ein eigenes Zimmer mit einem eigenen Bett darin. Und das Essen war auch besser. Sie beschloß, das alles einfach auf sich zukommen zu lassen. Wenn er anfing, sie zu schlagen oder andere Sachen zu verlangen, konnten sie immer noch weglaufen. Auch wenn das nichts bringen würde. Wohin sollten sie? Zu Hause wartete der Alte. Wahrscheinlich würden sie dann doch lieber bleiben. Und vielleicht kam es ja auch gar nicht so schlimm. Abwarten. Sie sah auf, weil sie glaubte, Stephan habe sie angesprochen. „Hast Du was gesagt?“

Er lachte. „Allerdings habe ich was gesagt. Ich habe Dich gefragt, was Du überlegst. Du siehst so nachdenklich aus.“

Nicole schüttelte den Kopf. „Och, nichts weiter“, meinte sie gleichgültig.“

„Das glaub ich Dir zwar nicht, aber was soll’s.“ Er wurde wieder ernst. „Aber mal was anderes. Ich möchte mit Dir mal über Dich reden.“

‚Aha, jetzt kommt’s’, dachte Nicole, und ihre Befürchtungen schienen sich zu bestätigen, denn Stephan fuhr fort:

„Gestern hab ich Dich ja nun zufällig, wenn auch nicht ganz freiwillig, mal ohne Klamotten gesehen. Und da hab ich mich doch ziemlich erschreckt. Du siehst ja schlimm aus. Ich finde, dagegen sollten wir schnellstens was unternehmen.“

„Und was gedenkst Du, dagegen zu tun?“ Der Ton ihrer Stimme hatte etwas Aggressives.

„Ich gar nichts“, antwortete er ruhig. „Ich bin ja kein Arzt. Aber zu einem hingehen solltest Du mal. Du mußt doch Schmerzen haben ohne Ende.“

„Alles halb so schlimm“, antwortete sie. „Das vergeht wieder. Außerdem gewöhnt man sich dran. Wegen sowas braucht man nicht gleich zum Arzt zu rennen. Davon mal ganz abgesehen, ginge das auch gar nicht. Wir sind nämlich nicht krankenversichert.“

„Na, das wär ja nun überhaupt kein Grund, nicht zum Arzt zu gehen. Und ich finde schon, daß es schlimm ist. Und nach dem, was Du erzählt hast, dürftest Du vermutlich auch noch an anderen Stellen verletzt sein. Hab ich recht?“

Sie nickte.

„Also werden wir uns morgen einen Arzt suchen, und zu dem gehst Du dann. Möglichst zu einem Gynäkologen.“

Nicole erschrak. „Nein, das kann ich nicht. Das geht auf keinen Fall.“ Sie schüttelte heftig den Kopf und fing an zu weinen.

Stephan streckte seine Hand nach ihr aus, aber sie sprang auf und lief weg.

„Aber warum denn nicht, Mäuschen?“ versuchte er, sie zu beruhigen. „Jemand muß Dir doch helfen. Das kann doch nicht einfach so bleiben.“

„Doch, kann es“, rief sie von der Tür her. Ihr Ton war noch immer gereizt. „Bist jetzt ist es ja auch immer von selber wieder weggegangen.“

Sie lief hinaus und schlug die Tür hinter sich zu. Stephan ließ sie. Er blieb sitzen und dachte nach. Natürlich würde er sie zu einem Arzt bringen, etwas anderes kam ja gar nicht in Frage. Hoffentlich würde es nicht allzu schwer werden, sie zu überreden. Er nahm sich vor, eine Ärztin ausfindig zu machen, die das Mädchen untersuchen konnte. Das mochte Nicole die Entscheidung leichter machen.

Stephan stand auf, brachte die Gläser in die Küche und ging nach oben. Zaghaft klopfte er an Nicoles Zimmertür. „Nicole, liegst Du schon im Bett?“ fragte er vorsichtig.

Sie öffnete die Tür. „Noch nicht, aber ich wollte gerade gehen“, sagte sie.

Erleichtert stellte Stephan fest, daß sie noch vollständig angezogen war. Er lächelte sie an. „Schön. Ich wollte nur fragen, wie das morgen früh mit dem Wecken ist. Wirst Du alleine wach? Wann fängt die Schule überhaupt an?“

„Um viertel nach acht“, antwortete sie. „Und ja, ich werd allein wach. Also brauchst Du mich nicht zu wecken. Zu Hause hat uns ja auch keiner geweckt. Wann muß ich denn aufstehen?“

„Je nachdem, wie lange Du im Bad brauchst, aber ich würde sagen, viertel vor sieben reicht.“

Sie nickte und machte einen Schritt zurück in ihr Zimmer. „Also dann, Gute Nacht.“

„Gute Nacht“, antwortete Stephan. „Und schlaf schön.“

Er wartete, bis sie die Zimmertür geschlossen hatte. Dann ging er hinüber in sein Schlafzimmer. Dabei hörte er, wie sich der Schlüssel in ihrer Tür drehte.

***

Nicole war gerade aufgewacht, als sie Schritte auf dem Flur hörte. Ängstlich krallten sich ihre Hände in die Bettdecke. Kam er jetzt etwa doch noch, nachdem er sie die ganze Nacht über in Ruhe gelassen hatte? Sie hatte zwar die Zimmertür abgeschlossen, aber die Tür zum Badezimmer hatte sie vergessen. Das fiel ihr jetzt siedend heiß ein. Sie lauschte angespannt.

Die Schritte wurden lauter und verklangen dann wieder. Er war an ihrer Tür vorbeigegangen. Sie hörte, wie er die Treppe hinunterlief. Erleichtert atmete sie auf. Anscheinend wollte er also doch nichts von ihr. Eine Weile noch blieb sie liegen, dann stand sie auf und ließ die Rolläden nach oben fahren. Das Wetter hatte sich weiter gebessert, am Himmel waren nur noch wenige Wolken zu sehen. Erwartungsvoll öffnete sie die Balkontür und trat hinaus. Von drinnen hatte es wärmer ausgesehen als es sich jetzt anfühlte. Sie fror entsetzlich in ihrem dünnen T-Shirt und den nackten Füßen. Es war eben noch früh im Jahr. Der Frühling hatte sich noch nicht durchsetzen können. Trotz der Kälte sah sie sich einen Moment lang um.

Sie entdeckte ihn im Schwimmbad, gerade als er aus dem Wasser stieg. Schnell trat sie einen Schritt zurück, damit er sie nicht sehen konnte. Aber er sah gar nicht hinaus. Als sie wieder vortrat, stand er mit dem Rücken zur Fensterwand und trocknete sich ab. Sie sah, daß er nackt war. Er ließ das Badetuch fallen und stand eine Weile unbeweglich da. Dann begann er, seltsame Verrenkungen zu machen. Es sah aus, als ob er sich in Zeitlupe bewegen würde. Eine Zeitlang sah sie ihm zu, dann wurde es ihr wirklich zu kalt. Schnell kehrte sie zurück in ihr Zimmer, zog sich eilig aus und sprang unter die Dusche. Das heiße Wasser verursachte Schmerzen auf ihrer geschundenen Haut, aber sie biß die Zähne zusammen. Als sie sich vorsichtig zwischen den Beinen wusch, fing es wieder an zu bluten. Vielleicht sollte sie doch zum Arzt gehen, wie Stephan es verlangt hatte.

Sie war gerade dabei, sich anzuziehen, als es an der Tür klopfte.

„Bist Du schon wach?“ rief Stephan von draußen.

Nicole beobachtete die Türklinke. Sie bewegte sich nicht. Also machte er erst gar keinen Versuch, ins Zimmer zu kommen. Zufrieden antwortete sie: „Nein, ich schlafe noch. Hörst Du das nicht?“

„Na, dann schlaf mal weiter“, tönte er lachend durch die geschlossene Tür. „Frühstück gibt’s in einer Viertelstunde. Wenn Du dann in die Küche schlafwandeln möchtest.“

Sie lauschte seinen Schritten, die sich leise entfernten. Während sie sich weiter anzog, überlegte sie, ob er wohl auch nackt durchs Haus gelaufen war. Sie konnte es sich vorstellen. Schließlich wohnte er sonst alleine hier. Da brauchte er ja auf niemanden Rücksicht zu nehmen. Was nur, wenn sie ihm dabei über den Weg lief? Nachdenklich sah sie noch einmal nach ihren Schulsachen, dann ging sie hinunter in die Küche.

Stephan mußte sich unheimlich beeilt haben. Als sie hereinkam war er bereits da, vollständig angezogen.

„Na, gut geschlafen?“ fragte er, ohne sich zu ihr umzudrehen.

„Sehr.“

„Bin gleich fertig. Setz Dich schon mal. Du möchtest doch Kakao, oder?“

„Ja gerne“, sagte sie und setzte sich an den Tisch.

Sie sah ihm zu, wie er den Tisch deckte. „Soll ich Dir was helfen?“

„Nee, laß mal. Ich bin ja gleich fertig.“

Sie aßen schweigend.

„Möchtest Du was zu essen mitnehmen in die Schule? Ein Butterbrot, oder ‘n Apfel?“

„Wie kommst Du denn auf sowas?“ fragte sie erstaunt. „Das hat’s ja noch nie gegeben.“

„Also ich hab früher von meiner Mutter immer was mitgekriegt“, antwortete er.

„Ich noch nie. Aber schaden kann’s ja nicht.“

Stephan machte ihr zwei Brote zurecht und packte sie, zusammen mit einem Apfel, in eine Tupperdose.

„Hier, steck das ein. Aber vergiß nicht, es auch zu essen.“

Nicole sah ihn kopfschüttelnd an. „An was Du alles denkst.“

Er lächelte sie an. „Muß ich ja. Ich hab ja keinen, der für mich mitdenkt.“ Dann wurde er wieder ernst. „Paß mal auf, ich fahr Dich gleich mit dem Auto in die Schule. Das werden sie dort mitkriegen, und sie werden Fragen stellen. Neuer Freund und so, das kannst Du Dir sicher vorstellen.“

Nicole nickte.

„Am besten sagst Du gar nichts dazu. Auf keinen Fall solltest Du aber erzählen, wer ich bin, und wo ich wohne, und daß Du und Dein Bruder jetzt bei mir wohnt. Das kann nur Ärger geben.“

„Keine Sorge. Mit mir redet sowieso kaum einer. Mit mir will ja keiner was zu tun haben. Sie wissen, wo ich herkomme und daß mein Vater arbeitslos ist und säuft und all das. Wahrscheinlich werden sie sich das Maul zerreißen und blöde Bemerkungen machen, aber das war’s dann auch schon. Am besten setzt Du mich ein Stück vor der Schule ab, dann kriegt’s erst gar keiner mit.“

Stephan sah sie an. „Hast Du denn überhaupt keine Freunde?“

Sie schüttelte den Kopf. Tränen schossen ihr in die Augen. „Ich hab nur Kevin“, sagte sie leise.

Er mußte sich zusammennehmen, sie nicht doch einfach in die Arme zu nehmen. Sie tat ihm so unendlich leid.

Während der Autofahrt schwieg sie. Stephan setzte sie in der Nähe der Schule ab. „Ich hol Dich heut Mittag hier wieder ab. Wann habt Ihr denn Schluß?“

„Um eins“, antwortete sie. Dann sah sie ihn noch einmal kurz an, stieg aus und lief eilig davon.

Stephan fuhr weiter zum Krankenhaus. Kevin wartete schon auf ihn. Er hatte die schmutzigen, blutbefleckten Sachen wieder angezogen, die er bei der Einlieferung ins Krankenhaus getragen hatte. Stephan ärgerte sich, daß er vergessen hatte, dem Jungen saubere Kleidung mitzubringen. Andererseits würden sie ja ohnehin sofort nach Hause fahren. Dann konnte er sich ja umziehen.

Der Arzt und die Krankenschwester waren gekommen, um Kevin und auch Stephan noch einmal eindringlich die Verhaltensmaßnahmen für die kommenden Wochen ans Herz zu legen. Zumindest in den ersten beiden Wochen sollte Kevin ständig liegen, wenig lesen, wenig fernsehen. Danach könne er dann langsam stundenweise aufstehen. Trotzdem sei möglichst viel Ruhe die beste Therapie. Stephan versprach, sich darum zu kümmern, daß Kevin diese Ratschläge auch befolgte.

„Es wäre gut, wenn Sie in den nächsten Tagen noch einmal vorbeischauen könnten“, sagte der Arzt zu Stephan, als er sich von den beiden verabschiedete. Er sah ihn eindringlich dabei an. Stephan nickte. Er hatte verstanden. Der Arzt reichte ihm die Hand und ging weg.

Die Krankenschwester gab Stephan ein Rezept. „Hier, das ist eine Salbe. Die soll der Junge auf die wunden Stellen auftragen. Zweimal am Tag, morgens und abends. Und sorgen Sie bitte dafür, daß er sich immer ordentlich sauber hält, damit sich nichts entzündet. Baden wäre gut, einmal am Tag. Besorgen sie ihm einen milden Badezusatz, möglichst ohne Parfüm. Am besten sowas, was man für Babys nimmt.“

Kevin stand dabei und hörte sich das alles teilnahmslos an. Er sah blaß und krank aus. Stephan wollte ihm den Arm um die Schultern legen, aber der Junge wehrte ab. Also ließ Stephan ihn. „Geht’s denn?“

Er nickte. Stumm gingen sie nebeneinander her zum Auto.

„Geiles Auto“, meinte Kevin, als sie einstiegen. „Is ’n GTI, oder?“

Stephan nickte. „Eigentlich brauch ich sowas gar nicht. Ich fahr ja kaum damit. Meistens nehm ich den Bus oder das Fahrrad.“

Auf der Fahrt zu Stephans Haus gaben sich beide schweigsam. Stephan hatte die Lehne des Beifahrersitzes so weit wie möglich nach unten verstellt, so daß Kevin beinahe auf dem Sitz lag. Daher bekam der Junge kaum mit, wohin die Fahrt ging. Stephan fuhr gleich in die Garage, deren Tor sich automatisch hinter dem Auto schloß. Er führte Kevin durch den gläsernen Gang ins Haus. Kevin wunderte sich, als sie in die große Eingangshalle kamen.

„Wo sind wir denn hier?“ fragte er.

„Bei mir zu Hause“, antwortete Stephan knapp und ging die Treppe hinauf. Langsam folgte Kevin ihm.

Stephan öffnete die dritte Tür auf der linken Seite. „Das hier ist Dein Zimmer“, erklärte er. „Zieh Dich schon mal aus und leg Dich ins Bett. Frische Sachen findest Du im Schrank. Ich komm gleich wieder nach Dir sehen.“

Kevin sah sich staunend um, sagte aber nichts. Gehorsam begann er, sein Hemd aufzuknöpfen. Stephan nickte zufrieden und ging hinaus. In der Küche goß er Milch in ein Glas und legte ein paar Plätzchen auf einen Teller. Damit ging er wieder nach oben.

Kevin hatte sich tatsächlich ausgezogen. Er lag im Bett und trug nun ein sauberes T-Shirt. Stephan stellte das Glas und den Teller auf den kleinen Tisch neben dem Bett.

„Hier, ich hab Dir was zu trinken und ein bißchen was zu knabbern mitgebracht“, sagte er. „Nicole hat mir erzählt, daß Du gerne Milch trinkst. Wenn Du noch mehr möchtest, sagst Du mir Bescheid, okay?“

Kevin sah verwundert zwischen dem Tischchen und Stephan hin und her. „Ist heute Sonntag, oder was? Milch und Plätzchen, wo gibt’s denn sowas?“

Stephan lachte. „Hier bei mir, das siehst Du doch. Und nicht nur sonntags, sondern auch am Werktag. Also laß es Dir schmecken. Und dann schläfst Du vielleicht ein bißchen. Nachher hol ich Nicole von der Schule ab. Dann laß ich Dich mal eine Zeitlang allein. Das ist doch kein Problem, oder?“

Aber damit gab sich Kevin nicht zufrieden. „Willst Du mir vielleicht mal erklären, was das alles soll?“

Stephan setzte sich auf die Bettkante. „Na klar. Ich bin Dir wohl tatsächlich ein paar Antworten schuldig. Also, Du weißt ja, daß Nicole und ich mit Eurem Lehrer bei Deiner Mutter waren. Die hat eingewilligt, daß Ihr ab jetzt bei mir wohnt. Für wie lange, das haben wir nicht besprochen, aber ich geh mal davon aus, für ziemlich lange. Und bei mir zu Hause, da bist Du jetzt. Das Zimmer hier war früher mal meins, und in dem Bett, in dem Du liegst, hab ich früher geschlafen. Jetzt wohne ich alleine hier, also zumindest hab ich das bis Anfang der Woche getan, jetzt seid Ihr ja bei mir. Jedenfalls bin ich ins große Schlafzimmer umgezogen, in dem früher meine Eltern geschlafen haben. Und Nicoles Zimmer war früher das meiner Schwester. Zwischen ihrem und Deinem Zimmer ist Euer Badezimmer, falls Du mal zum Klo mußt oder Dich waschen willst oder so. Das Bad müßt Ihr Euch teilen, aber das macht Dir ja sicher nichts aus, oder?“

„Nee, bestimmt nicht“, versicherte Kevin. „Zu Hause hatten wir ja auch nur ein Badezimmer. Aber wo sind denn Deine Eltern und Deine Schwester jetzt?“

„Die gibt’s nicht mehr, die sind tot“, antwortete Stephan und stand auf, zum Zeichen, daß er darüber nicht reden wollte.

Kevin sah ihn erschrocken an. Aber er fragte nicht weiter.

Stephan kniff lächelnd die Augen zu. „Also, jetzt ruh Dich schön aus. Ich bin vorerst mal unten im Arbeitszimmer. Bevor ich wegfahre, komm ich nochmal vorbei. Brauchst Du noch irgendwas?“

Kevin schüttelte den Kopf. „Danke für die Milch und die Plätzchen“, sagte er.

„Kein Problem“, antwortete Stephan und ging hinaus. Die Tür ließ er offen.

Stephan setzte sich an seinen Schreibtisch und dachte nach. Dann griff er zum Telephon.

„Hallo Patrizia“, sagte er, als sich die andere Seite meldete. „Hast Du nachher mal ‘n Moment Zeit für mich? Ich müßte was mit Dir besprechen?“

Sie verabredeten sich für zwölf Uhr im Stadtcafé. Zufrieden legte Stephan auf. Er wußte, er würde juristische Hilfe brauchen. Und Patrizia war Anwältin. Außerdem waren sie befreundet. Sie würde Zeit für ihn haben, auch wenn sie sonst ziemlich beschäftigt war.

***

Als es Zeit wurde, in die Stadt zu fahren, ging er noch einmal nach oben, um nach dem Jungen zu sehen. Kevin schlief. Er hatte die Milch ausgetrunken und die Plätzchen aufgegessen. Lächelnd betrachtete Stephan ihn. Er legte ihm einen Zettel hin und machte sich auf den Weg.

Er besorgte Kevins Medikamente aus der Apotheke und kaufte Lebensmittel ein, bevor er pünktlich zur verabredeten Zeit ins Stadtcafé ging. Patrizia wartete bereits auf ihn. Sie saß allein an einem Tisch im hinteren Bereich des Lokals und hatte ein Kännchen Kaffee vor sich stehen. Wie immer sah sie umwerfend aus. Stephan verkniff sich allerdings eine Bemerkung dazu, weil er wußte, daß sie diese Art von Komplimenten nicht besonders schätzte. Er gab ihr einen Kuß auf die Wange und setzte sich zu ihr.

„Schön, daß Du Zeit für mich hast“, sagte er.

Sie tätschelte seine Hand. „Mußte ich ja wohl. Du hast Dich angehört, als seist Du in Schwierigkeiten. Was hast Du denn angestellt?“

„Ich hab zwei Kinder gekriegt“, antwortete er.

Patrizia sah ihn völlig konsterniert an. „Du hast was?“

Stephan erzählte ihr die ganze Geschichte. Sprachlos schüttelte sie den Kopf, als er zu Ende war. Nach einer Weile meinte sie: „Du bist ja total durchgeknallt.“

„Das brauchst Du mir nicht zu sagen. Das wußte ich schon. Sag mir lieber, was ich jetzt machen soll. Ich hab die Kinder jetzt, und sie tun mir unendlich leid.“

Patrizia lehnte sich zurück und dachte nach. „Als erstes mußt Du Dir eine Vollmacht von den Eltern geben lassen“, antwortete sie schließlich. „Du kannst in Teufels Küche kommen, wenn Du die beiden einfach so bei Dir behältst. Dann mußt Du damit rechnen, daß der Alte Dich anzeigt. Körperverletzung und so. Du hast ihn ja anscheinend ziemlich übel zugerichtet. Auch die beiden Burschen, denen Du die Knochen gebrochen hast, können Dir noch ziemlichen Ärger machen. Aber das kriegen wir schon hin. Da mach Dir mal keine Sorgen. Mit den Kindern wird das schon schwieriger. Gut jedenfalls, daß Du mit diesem Lehrer gesprochen hast. Der kann uns notfalls auch helfen. Wenn es stimmt, was die Kinder Dir erzählt haben, von wegen Mißbrauch und so weiter, dann kann es gut sein, daß sich das Jugendamt einschaltet. Die Ärzte haben ja die Verletzungen festgestellt, bei dem Jungen zumindest. Das müssen sie melden. Und dann kann alles Mögliche passieren. Schlimmstenfalls werden die beiden in ein Heim eingewiesen. Wir müssen also dafür sorgen, daß sie bei Dir bleiben können. Hast Du die Putzfrau noch und den Gärtner?“

„Na klar“, antwortete Stephan. „Ohne die käme ich doch in dem großen Haus gar nicht zurecht.“

„Das ist sehr gut. Das bedeutet nämlich, daß Du nachweisen kannst, daß Du in geordneten Verhältnissen lebst und regelmäßig Kontakt zu anderen hast. Genug Geld hast Du ja auch. Ich hab gesehen, daß Du Zweihunderttausend aus Singapore geholt hast. Ich hab mich schon gewundert, warum. Jetzt kann ich mir das auch erklären. Trotzdem, es wird nicht so einfach werden. Aber das schaffen wir schon.

„Du willst mir also helfen?“

Patrizia sah ihn überrascht an. „Was hast Du denn gedacht? Stephan, nach allem, was wir beide schon zusammen gemacht haben, werd ich Dich doch jetzt nicht hängen lassen. Wie lange kennen wir uns jetzt schon?“

„Etwas über drei Jahre. Ich dachte nur, weil ich Dich doch…“

„Überlaß das Denken gefälligst mir“, unterbrach sie ihn. „auch wenn wir beide jetzt nicht mehr zusammen sind, bin ich doch immer noch Deine Freundin. Wir arbeiten zusammen, und wir mögen uns.“ Sie legte ihre Hand auf seine. „Also, auf mich kannst Du zählen.“

Er drückte ihre Hand. „Patrizia, ich weiß gar nicht, wie ich Dir danken soll.“

„Och, Dir wird schon was einfallen“, sagte sie und grinste. „War’s das jetzt?“

Er schüttelte den Kopf. „Nee, eine Sache hätt ich noch.“

„Was denn nun noch? Noch so ’ne Katastrophe?“

„Ich hab Dir ja erzählt, was passiert ist, als ich das Mädchen am ersten Tag mit zu mir genommen habe. Als sie auf einmal nackt in der Küche stand, hab ich sie mir angesehen. Sie sieht ziemlich übel aus und müßte dringend mal zum Arzt. Ich vermute auch, wegen der Verletzungen an den Stellen, die ich nicht so gut sehen konnte. Also zu einem Gynäkologen am besten. Aber sie will nicht. Wärst Du eventuell bereit, mit Ihr dahinzugehen?“

„Ja natürlich“, antwortete Patrizia sofort. „Am besten zu meiner Gynäkologin, Frau Doktor Mälzer. Wenn Du willst, mach ich gleich nachher einen Termin aus.“

„Nee, laß erst mal. Ich will vorher nochmal mit Nicole reden. Ich muß unheimlich vorsichtig sein mit ihr. Sie hat eine Wahnsinnsangst, vor allem und jedem. Ich sag Dir dann Bescheid.“

„Tu das“, sagte Patrizia und sah auf die Uhr. „Du, sei mir nicht böse, aber ich muß jetzt wieder. Ich hab den ganzen Nachmittag voller Termine. Aber ich werd mich auf jeden Fall um Dich kümmern. Kannst Dich drauf verlassen. Und bitte ruf mich an, wenn was ist.“

Sie standen beide auf. Patrizia umarmte ihn. „Du bist einfach die Größte“, sagte er.

Sie gab ihm einen Kuß auf die Stirn. „Papperlapapp“, lachte sie und ging hinaus. Nicht nur Stephan sah ihr nach. So manch anderer Gast des Stadtcafés wandte den Kopf nach ihr um. Sie war einfach eine Schönheit. Groß, schlank, gepflegt und selbstbewußt. Stephan fragte sich, warum er sie je hatte gehen lassen. Energisch schlug er sich den Gedanken aus dem Kopf. Es war Zeit, Nicole von der Schule abzuholen.

***

Sie wartete schon auf ihn, als er an der verabredeten Stelle ankam.

„Tut mir leid, ich hab mich ein bißchen verspätet“, entschuldigte er sich. „Aber ich hatte noch zu tun, und es hat länger gedauert als ich dachte.“

„Macht ja nix, ich steh ja kaum fünf Minuten hier“, antwortete das Mädchen. Unterwegs fragte sie: „Was macht Kevin?“

„Der liegt bei uns zu Hause in seinem Bett und pennt.“

„Wie sich das anhört, ‚bei uns zu Hause’ und ‚sein Bett’. Irgendwie komisch.“

„Aber es ist jetzt unser zu Hause, meins und Euers. Und dort liegt er eben auch in seinem Bett. Gewöhn Dich ruhig dran. Es geht ihm übrigens besser, aber noch lange nicht gut. Du mußt mit darauf achten, daß er Ruhe hält und nicht rumturnt.“

„Versprochen“, sagte sie. „Ich will ja auch, daß er wieder in Ordnung kommt.“

Zu Hause lief sie gleich in Kevins Zimmer. Stephan ließ die beiden allein. Er holte derweil seine Einkäufe aus dem Auto und brachte sie in der Küche unter. Danach setzte er sich in sein Arbeitszimmer und blätterte in seinen Zeitungen.

Es dauerte eine Weile, bis Nicole wieder herunterkam. „So, alles klar. Kevin hat ausgeschlafen und brav seine Milch getrunken und die Plätzchen aufgefuttert. Ich hab ihm erklärt, was das alles hier ist. Jetzt ist er ziemlich von der Rolle. Er will’s gar nicht glauben. Aber das geht mir ja genauso.“

Stephan sah sie an. Dann deutete er auf den Sessel neben seinem. „Setz Dich mal dahin.“

Gehorsam setzte sie sich.

„So, meine Süße, jetzt erkläre ich Dir das nochmal. Also, Ihr beide seid mir am Montag passiert. Einfach so. Ihr wart in Schwierigkeiten, und da fand ich es richtig, Euch zu helfen. Dabei hab ich festgestellt, daß Ihr beiden richtig in der Tinte steckt. Und da wollte ich Euch rausholen. Bis jetzt hat das ja auch geklappt. Und jetzt wohnt Ihr bei mir, und ich mag Euch. So einfach ist die Sache. Klaro?“

Nicole hob zu einer Erwiderung an. Aber Stephan schnitt ihr das Wort ab.

„Keine Widerworte. So ist das, und so bleibt das. Solange Ihr beiden wollt, und solange man uns läßt. Klaro?“

Nicole hob resignierend die Arme. „Was soll ich dazu sagen?“ Sie lächelte.

„Garnix.“ Stephan klopfte ihr auf den Oberschenkel. „Und jetzt sieh zu, daß Du in die Küche kommst. Der junge Mann da oben braucht seine Spaghetti. Der hat bestimmt schon Kohldampf.“

Sie lief hinaus. Stephan widmete sich wieder seinen Zeitungen.

Zum Essen durfte Kevin aufstehen. Nicole zog ihn ein bißchen damit auf, daß er in T-Shirt und Unterhose am Tisch saß, aber er nahm ihr das nicht krumm. Mit Heißhunger stürzte er sich auf die Nudeln mit der Carbonarasauce, die wirklich sehr lecker waren. Das mußte Stephan zugestehen.

Nachdem der erste Hunger gestillt war, sah Kevin sich in der Küche um. „Was ist das hier, ’n Hotel, oder was?“

Stephan lachte. „Wie kommst Du denn darauf?“

„Na, alles ist so riesig hier.“ Er sah aus dem Fenster. „Und der tolle Garten. Irre!“

„Nein, das ist mein Haus“, antwortete Stephan. „Bis Ihr kamt, hab ich hier allein gewohnt. Jetzt wohnen wir hier zu dritt.“

„Aber das ist doch viel zu groß. Da verläuft man sich ja.“

„Keine Sorge. Du wirst Dich schon zurechtfinden. Wenn Du erst mal wieder auf dem Damm bist, kannst Du Dir in Ruhe alles ansehen. Nicole kennt sich schon aus. Die hat sich auch noch nie verlaufen, oder?“ Er sah das Mädchen an.

Nicole schüttelte den Kopf. „Nee, verlaufen nicht. Aber riesig ist es schon.“

„Gut“, sagte Stephan. „Dann schlag ich vor, wir gehen jetzt mal nach oben, damit Kevin wieder ins Bett kommt. Und dann hätt ich noch was mit Euch zu besprechen.“

Er wartete, bis Kevin sich wieder hingelegt hatte. „Setz Dich“, sagte er zu Nicole und deutete auf den Sessel. Er selbst setzte sich auf den Schreibtischstuhl. „Paßt auf, Ihr beiden. Als erstes müssen wir mal über Kevin sprechen.“ Er sah den Jungen an. „Du hast ja gehört, was die Schwester heute morgen im Krankenhaus gesagt hat. Du mußt Dich regelmäßig mit der Salbe einschmieren und Du sollst in die Badewanne. Allein wirst Du das aber nicht können. Hättest Du was dagegen, wenn Deine Schwester Dir dabei hilft?“

Kevin schüttelte den Kopf. „Nee, überhaupt nicht. Wir haben uns doch immer gegenseitig verarztet. So gut’s ging, jedenfalls“, fügte er leise hinzu.

„Dann macht das hier mal genauso. Die Medikamente hab ich mitgebracht. Ich nehme an, es ist Dir lieber, wenn Nicole Dich verarztet, als wenn ich das mache, oder?“

Kevin zuckte mit den Achseln.

„Na schön. Und jetzt zu Dir.“ Er wandte sich an Nicole. „Ich habe heute Mittag mit einer Freundin gesprochen. Die ist Anwältin, und sie will uns helfen, damit wir keinen Ärger bekommen und ihr hier bei mir bleiben könnt. Außerdem hat sie gesagt, sie würde mit Dir zum Arzt gehen, wenn Du das willst. Und Du sollst ja unbedingt zu einem Arzt. Sie hat mir ihre Frauenärztin empfohlen, Frau Doktor Mälzer. Kennst Du die?“

„Nein“, antwortete Nicole kopfschüttelnd. „Ich war noch nie beim Arzt. Und bei einer Frauenärztin schon gar nicht. Ich will auch gar nicht dahin. Warum kann Kevin mich nicht auch mit der Salbe einschmieren, und dann ist es doch gut.“

„Ich fürchte, nicht“, widersprach Stephan. „Ich fürchte nämlich, Du bist auch noch an anderen Stellen verletzt, und deshalb solltest Du Dich unbedingt behandeln lassen. Patrizia, das ist die Anwältin, meine Freundin, meint das auch.“

„Und ich auch“, stimmte Kevin zu. „Warum willst Du da nicht hingehen? Die tun Dir doch nix. Im Gegenteil. Dann kann Dir endlich mal jemand richtig helfen. Ich konnte das ja nie. Und Du bist so kaputt da unten, das ist ja schlimm.“

„Weißt Du denn, wie das aussieht bei ihr?“ erkundigte Stephan sich.

„Na klar. Ich hab Ihr doch immer das Blut abgewaschen, wenn sie vor Schmerzen kaum noch Luft gekriegt hat. Ich weiß genau wie das aussieht.“

Zusammengesunken saß Nicole in ihrem Sessel und starrte auf den Boden. Tränen liefen ihr übers Gesicht. Kevin sprang aus dem Bett und umarmte sie. „Nicht weinen, Nicci“, versuchte er sie zu trösten. „Guck mal, die wollen Dir doch alle nur helfen. Geh doch einfach hin zu der Ärztin.“

Nicole sah ihren Bruder an. „Meinst Du wirklich?“

Er nickte und drückte sie an sich. Leise stand Stephan auf und schlich aus dem Zimmer. Kurz darauf kam Nicole in sein Arbeitszimmer. Verlegen blieb sie vor seinem Schreibtisch stehen. Stephan sah sie abwartend an.

„Also gut, ich mach’s“, sagte sie. „Aber Du sollst mitkommen, nicht Deine Freundin.“

„Na klar, bring ich Dich dahin. Gar keine Frage.“ Stephan griff zum Telephon und schaltete den Lautsprecher ein. „Patrizia? Ich hab mit Nicole gesprochen. Sie ist einverstanden. Könntest Du bitte einen Termin bei Deiner Ärztin ausmachen?“

„Hab ich schon“, antwortete Patrizia. „Ich dachte mir, daß Du sie überzeugen konntest.“

„Ich gar nicht. Ihr Bruder hat das gemacht.“

„Um so besser. Sie soll morgen Mittag gleich nach der Schule hingehen. Soll ich mitkommen?“

„Nicht nötig. Sie will, daß ich mitkomme.“

„Auch gut. Wenn sie nur überhaupt geht.“

„Macht sie. Und Dir vielen Dank. Du bist wirklich prima.“

Patrizia schmatzte einen Kuß durchs Telephon und legte dann auf.

„So, Mäuschen, das hätten wir“, meinte Stephan erleichtert.

Nicole kicherte. „Das ist immer so süß, wenn Du das sagst.“

Stephan zwinkerte ihr zu.

Sie stand auf. „Darf ich jetzt meine Hausaufgaben machen?“

Stephan sah sie schief an. „Was ist das für eine Frage? Natürlich darfst Du Deine Hausaufgaben machen.“

„Und die Küche?“

„Also da mach Du Dir mal gar keine Sorgen drum, meine Süße“, sagte Stephan lachend. „Um die kümmere ich mich schon. Mach Du mal schön Deine Schularbeiten, und wenn Kevin aufgewacht ist, dann kannst Du ihm ja beim Baden helfen. Das ist mir viel wichtiger, als daß Du unbedingt die Küche aufräumst.“

***

Nicole nickte und ging hinaus. Kevin schlief tatsächlich, als sie nach oben kam. Sie ließ die Badezimmertüren offen und setzte sich an ihren Schreibtisch. Ein bißchen mußte sie weinen, weil sie ihr Glück gar nicht begreifen konnte. Aber dann wischte sie sich energisch die Tränen weg und machte sich an ihre Hausaufgaben.

Danach ging sie wieder zu Kevin hinüber. Er war wach und lächelte sie an. „Na Du“, sagte er.

„Willst Du jetzt mal in die Badewanne?“ fragte sie ihn.

Er nickte und schlug die Decke zurück. Gemeinsam gingen sie ins Badezimmer. Nicole drehte das Wasser auf, während Kevin sich auszog. „Ich weiß gar nicht, wie ich Dir da helfen soll. Die Wanne ist ja riesig, da komm ich ja gar nicht an Dich ran.“

„Komm doch einfach mit rein“, schlug er vor.

Sie sah ihn skeptisch an. „Meinst Du?“

„Warum denn nicht? Die Wanne ist doch groß genug. Hast Du selber gesagt. Also haben wir auch beide Platz darin.“ Er stieg in die Wanne und legte sich behaglich in das warme Wasser. „Also, was ist jetzt?“ fragte er sie, als sie zögernd davorstand. „Kommst Du jetzt rein oder nicht?“

Nicole nickte und zog sich ebenfalls aus. Kevin sah sie an. „Gut, daß Du jetzt doch zum Arzt gehst“, meinte er. „Du siehst wirklich schlimm aus.“

Die Wanne war groß genug, daß sie sich neben ihren Bruder setzen konnte. Kevin legte ihr den Arm um die Schultern. Sie lehnte ihren Kopf an den seinen.

„Sieht so aus, als hätten wir diesmal Glück gehabt“, meinte er.

„Ich hoff’s“, gab sie zurück.

„Stephan scheint ja wirklich in Ordnung zu sein. Trotzdem frag ich mich, warum er das macht. Heute morgen, im Krankenhaus, hat er die ganze Rechnung bezahlt. Ich möchte nicht wissen, wieviel das war.“

„Er scheint ziemlich reich zu sein. Du hättest mal sehen sollen, wieviel Geld er mir gestern in die Tasche gesteckt hat. Ich sollte mir Klamotten kaufen. Aber so richtig hab ich mich nicht getraut.“

„Du dachtest, in Gegenzug wollte er was von Dir, oder?“

Nicole nickte. „Aber er hat gar nichts gewollt. Im Gegenteil, er war unheimlich vorsichtig mit mir. Jedesmal, wenn er mich aus Versehen berührt hat, hat er sich gleich entschuldigt. Wahrscheinlich war ich aber auch ziemlich zickig. Aber ich konnte gar nichts dafür. Ich hatte immer Angst, daß er mich trotzdem rannimmt.“

„Aber er hat’s nicht getan?“

„Nee. Überhaupt nicht. Und was er sich für eine Mühe gibt. Als ich ihm erzählte, daß Du gern Spaghetti Carbonara ißt, wollte er unbedingt, daß ich Dir die koche, wenn Du aus dem Krankenhaus kommst. Damit Du Dich gleich hier wohlfühlst, hat er gesagt.“

Gegen halb fünf kam Stephan nach oben. Er streckte seinen Kopf in Kevins Zimmer. Als er sah, daß der Junge nicht in seinem Bett lag, rief er: „Seid Ihr im Badezimmer?“

„Komm ruhig rein“, rief Kevin zurück. „Wir liegen in der Badewanne.“

„Na, dann will ich Euch mal nicht stören. Wenn Ihr fertig seid, könnt Ihr ja runterkommen. Ich bin im Wohnzimmer.“

Sie hörten, wie er die Tür zumachte und wegging.

„Siehst Du, das hab ich gemeint“, sagte Nicole. „Er ist wirklich unheimlich vorsichtig. Er ist nicht reingekommen, weil wir in der Badewanne liegen. Wahrscheinlich dachte er, daß uns das nicht recht wäre.“

„Und, wär’s Dir nicht recht gewesen?“ fragte Kevin.

„Ich weiß nicht. Wahrscheinlich hätt’s mir gar nichts ausgemacht. Aber ich fand’s trotzdem lieb von ihm, daß er draußen geblieben ist.“

„Mir wär’s egal gewesen. Schließlich sieht er ja genauso aus wie ich.“

Nicole lachte. „Tut er nicht. Er sieht besser aus als Du.“ Sie erzählte ihm, was sie am Morgen vom Balkon herunter beobachtet hatte. „Er sieht wirklich toll aus“, schwärmte sie. „Und er hat überhaupt keine Haare da unten. Genau wie Du.“

Kevin nickte. „Sie haben sie mir im Krankenhaus abrasiert“, sagte er. „Bevor sie mich untersucht haben. Es war mir ein bißchen peinlich, vor allem, weil’s eine Schwester gemacht hat. Keine Ahnung, warum das sein mußte, sie haben’s einfach gemacht. Jetzt seh ich wieder aus wie ein kleiner Junge.“

„Macht doch nichts. Es sieht Dich ja keiner.“

„Doch, Du siehst mich.“

Nicole zuckte die Achseln. „Und wenn schon. Ich find’s gar nicht schlimm. Vorsichtig strich sie mit den Fingerspitzen über seine glatt rasierte Scham. „Tut Dir Dein Po eigentlich sehr weh?“

„Ziemlich. Aber es ist auszuhalten. Eincremen soll ich den aber auch.“

„Wenn Du willst, kann ich das ja machen. Wenn’s Dir nichts ausmacht.“

„Was soll mir das schon ausmachen? Ist ja nicht das erste Mal. Und bei Dir hab ich sowas ja auch schon gemacht. Und Du hattest ja auch nichts dagegen.“

„Also gut, dann laß uns mal langsam“, sagte sie und stand auf. Unwillkürlich sah er zwischen ihre Beine. „Schlimm sieht das aus“, meinte er. „Ich bin gespannt, was die Ärztin morgen dazu sagt. Tut bestimmt auch weh, oder?“

Nicole winkte ab. „Das tut’s doch immer. Aber das warme Wasser hat jetzt ganz gut getan.“

„Siehste“, antwortete Kevin zufrieden. „War schon richtig, daß Du mit reingekommen bist.“ Er stand ebenfalls auf, stieg aus der Wanne und hielt ihr die Hand hin. „Komm, ich trockne Dich ab.“

Vorsichtig tropfte er ihre verletzte Haut mit dem Badetuch trocken. Manchmal zuckte sie zusammen und zog zischend die Luft ein, wenn er eine ihrer wunden Stellen berührte.

„Tut mir leid, Nicci“, sagte er leise, „aber ich kann nichts dafür. Du bist überall so kaputt.“ Er fing an zu weinen.

Nicole nahm ihn in die Arme. „Ist doch gut, Kevin. Es ist ja hoffentlich vorbei.“

Er machte sich los und lachte unter Tränen. „Jetzt bist Du wieder ganz naß.“

Sie nahm seine Hand. „Ich weiß was“, sagte sie, ebenfalls lachend. „Wir legen uns zusammen in Dein Bett bis wir wieder trocken sind.“

Kichernd schlüpften sie beide unter seine Decke. Kevin nahm sie in die Arme. „Bißchen eng, aber es geht“, meinte er.

Später cremten sie sich gegenseitig mit der Salbe ein.

„Was gut für mich ist, ist auch gut für Dich“, behauptete Kevin dabei. „Guck mal, da hängen Bademäntel. Die ziehen wir jetzt an und sonst garnix drunter.“

„Meinst Du, das dürfen wir?“

„Warum denn nicht? Wofür hängen die sonst da. Galant half der Junge seiner Schwester in den Bademantel hinein. „Paßt genau und sieht ganz schick aus“, meinte er, als er den Gürtel zuband. Er schlüpfte in den zweiten Bademantel und nahm ihre Hand. „Komm, laß uns runter gehen.“

***

„Na, Ihr beiden“, begrüßte Stephan sie, als sie in ihren Bademänteln ins Wohnzimmer kamen. „Ihr habt’s Euch bequem gemacht. Das ist gut so. Und jetzt habt Ihr doch sicher Durst.“ Er stand aus seinem Sessel auf. „Setzt Euch mal hin, ich hol Euch was.“

Kevin leerte das Glas, das Stephan ihm gereicht hatte, in einem Zug. „Mmh, lecker“, machte er. „Was ist denn das?“

„Apfelschorle“, klärte Stephan ihn auf. „Magst Du noch mehr?“

Kevin hielt ihm das Glas hin. „Oh ja, bitte.“

Stephan winkte ab. „Behalt mal Dein Glas. Ich hol gleich die ganze Karaffe“, sagte er lachend.

Nachdem Kevin ein zweites Glas getrunken hatte, meinte er: „Das war toll in der Badewanne. Richtig klasse. Dürfen wir das öfter machen?“

„Das sollt Ihr sogar“, antwortete Stephan. „Du hast doch gehört, was die Schwester gesagt hat. Jeden Tag einmal baden. Und ich nehme an, das gilt auch für Deine Schwester. Wenn Ihr dann zusammen in die Wanne steigen mögt, um so besser. Aber Du leg Dich mal besser wieder hin. Du hast jetzt lange genug rumgeturnt. Und das sollst Du doch nicht. Hast Du eigentlich Kopfschmerzen?“

Kevin zuckte mit den Schultern. „Mir tut so ziemlich alles weh. Da kommt’s auf das bißchen Kopfschmerzen auch nicht mehr an.“

„Aber das ist sehr gefährlich“, wies Stephan ihn zurecht. „Du weißt, daß Du eine Gehirnerschütterung hast. Da sind Kopfschmerzen ein schlimmes Zeichen. Also schön hinlegen und Ruhe halten.“

Gehorsam streckte Kevin sich auf der Couch aus. Nicole setzte sich zu ihm und nahm seinen Kopf in ihren Schoß. Stephan lächelte, als er das sah. Aber er sagte nichts dazu.

Zum Abendessen durfte Kevin wieder aufstehen, aber danach schickte Stephan ihn sofort ins Bett. Nicole begleitete ihren Bruder nach oben. Es dauerte eine ganze Weile, bis sie zurückkam.

„So, jetzt schläft er“, sagte sie. „Meinst Du, er kommt wieder in Ordnung?“

„Du machst Dir Sorgen um ihn, was?“

Sie nickte. „Er ist doch mein Bruder.“

„Magst Du Dich zu mir setzen?“

Nicole zögerte einen Moment. Dann schüttelte sie den Kopf. „Ich glaub, ich geh lieber auch nach oben.“

Stephan lächelte sie an. „Mach das. Und schlaf gut. Machen wir’s morgen früh wieder so wie heute?“

Nicole nickte. „Hat doch ganz gut geklappt, oder?“

„Eben. Vielleicht gefällt’s Euch ja bald hier.“

„Aber das tut’s doch jetzt schon“, platzte sie heraus. „Du weißt gar nicht, wie froh wir sind.“

Schnell drehte sie sich um und lief hinaus. Stephan sah ihr nachdenklich hinterher. „Träum was Schönes“, murmelte er.

***

Wieder wurde Nicole wach, als Stephan am nächsten Morgen über den Flur ging. Diesmal erschrak sie nicht. Sie hatte auch ihre Zimmertür nicht abgeschlossen. Sie stand auf und ließ die Rolläden nach oben fahren. Vom Fenster aus sah sie, wie Stephan in die Schwimmhalle kam. Er hatte nichts an. Also war er tatsächlich völlig nackt durchs Haus gelaufen. Kopfüber sprang er ins Schwimmbecken, schwamm ein paar Bahnen und stieg dann wieder hinaus. Wieder stellte er sich an den Beckenrand und machte seine seltsamen Turnübungen. Es sah recht elegant aus, wie er sich bewegte. Gerne hätte sie ihn gefragt, was er da machte. Aber das ging natürlich nicht. Dann hätte sie ja zugeben müssen, daß sie ihn beobachtet hatte. Und das wollte sie auf keinen Fall. Das wäre ihm mit Sicherheit gar nicht recht gewesen. Ebensowenig wie sie das gut gefunden hätte. Ein wenig schäbig kam sie sich deshalb schon vor. Aber sie mußte zugeben, daß ihr der Anblick gefiel. Doch sie riß sich los und ging ins Badezimmer.

Während sie unter der Dusche stand, kam Kevin herein. Schlaftrunken hielt er sich am Türpfosten fest.

„Was machst Du denn schon so früh hier?“

„Du hast mich geweckt“, antwortete er. „Und da wollte ich mal sehen, ob’s Dir gut geht.“

Nicole lachte. „Es geht mir wunderbar. Und Dir?“

„Einigermaßen“, gab er zu. „Ziemlich schlapp eben.“

„Dann leg Dich doch einfach wieder ins Bett. Ich komm gleich nochmal bei Dir vorbei.“

Kevin brummte etwas Unverständliches und trollte sich. Er schlief wieder, als sie in sein Zimmer kam, nachdem sie sich angezogen hatte. Sie bedachte ihn mit einem liebevollen Blick und schlich hinaus.

Beim Frühstück schwiegen sie und Stephan sich an. Wieder machte er ihr ein Schulbrot zurecht und schälte und schnitt einen Apfel.

„Wie kann man nur so lieb sein?“ fragte sie lächelnd.

„Was heißt hier: lieb sein?“ gab er zurück. „Du brauchst das doch. Und wenn Du jetzt schon mal bei mir zu Hause bist, dann muß ich mich doch auch um Dich kümmern. Findest Du nicht?“

Sie schüttelte den Kopf. „Unsere Eltern haben sich nie so um uns gekümmert. Und Du bist ein völlig Fremder und machst auf einmal solche Sachen. Da kommt man sich ja vor wie im Paradies.“

„Na, jetzt übertreib aber mal nicht“, wehrte er ab. „Nur weil ich Dir ein Schulbrot mache, bist Du ja noch lange nicht im Paradies.“

„Und alles andere? Wir dürfen hier wohnen und in einem richtigen Bett schlafen, Du gibst mir ’n Haufen Geld für Klamotten, Du sorgst dafür, daß ich zum Arzt gehe, Du holst Kevin aus dem Krankenhaus und bezahlst sogar die Rechnung für ihn, Du kochst für uns und fragst ständig, ob’s uns auch gutgeht und ob wir was brauchen. Du redest mit meinem Lehrer, mit Deiner Anwältin und sogar mit meiner Mutter. Alles für uns. Das ist alles so unglaublich, ich versteh das alles nicht.“

„Ich auch nicht. Aber das ist ja auch gar nicht nötig. Sag Dir einfach, daß ich einen Narren an Euch beiden gefressen habe. Das reicht schon.“ Er schob ihr die Tupperdose mit dem Schulbrot über den Tisch. „So, und nun steck das ein und mach Dich fertig. Wir müssen los. Sonst kommst Du mir am Ende noch zu spät in die Schule. Und das geht ja gar nicht.“

„Siehst Du, das ist auch wieder sowas“, gab sie zurück, während sie aufstand und die Dose in ihre Schultasche packte. „Unsere Eltern haben sich einen Dreck darum gekümmert, ob wir pünktlich in die Schule kommen. Denen war das scheißegal.“

„Aber mir nicht“, antwortete Stephan. „Und jetzt komm.“

„Kann ich nochmal kurz nach Kevin gucken?“

Stephan sah auf seine Uhr. „Aber nur ‘n Moment.“

Eilig lief Nicole die Treppe hinauf. Kevin war inzwischen wieder aufgewacht. Er strahlte seine Schwester an, als sie hereinkam. „Hallo Nicci“, sagte er und setzte sich auf. „Ist das eine von Deinen neuen Jeans?“

Nicole nickte.

„Steht Dir gut“, meinte er. „Du siehst überhaupt gut aus.“

Sie lachte. „Aber Du nicht. Also leg Dich schön wieder hin. Und mach keinen Scheiß.“

Kevin ließ sich zurück in die Kissen fallen. „Mach ich nicht. Und Dir alles Gute nachher beim Arzt.“

„Wird schon. Stephan kommt ja mit.“

„Na dann ist ja alles gut.“

***

Aber nichts war mehr gut, als Stephan sie mittags in der Nähe der Schule abholte. Den ganzen Morgen hatte sie nur an ihren Arzttermin gedacht. Und je näher das Unterrichtsende kam, desto nervöser war sie geworden. Jetzt zitterte sie sogar ein wenig, als sie zu ihm ins Auto stieg.

„Dann wollen wir mal“, meinte er und fuhr los. „Keine Panik, Mäuschen. Alles halb so schlimm.“

Sie gab ihm keine Antwort. ‚Wenn Du wüßtest’, dachte sie nur.

Vor der Praxis der Frauenärztin hielt er an, um sie aussteigen zu lassen. Aber sie blieb sitzen. „Kommst Du mit?“ bat sie.

Stephan sah sie an. Ihre Angst schien noch größer geworden zu sein. Sie war nahe daran, in Panik zu geraten.

„Na klar“, sagte er.

Die Ärztin wartete schon auf sie. Während der Mittagspause war sie allein in der Praxis. Das Wartezimmer war leer, die Helferinnen waren weggegangen.

Die Ärztin begrüßte die beiden. „Komm gleich mit ins Sprechzimmer“, sagte sie zu Nicole. „Wir können sofort anfangen.“

„Ich setz mich derweil ins Wartezimmer“, sagte Stephan.

Nicole klammerte sich an seinen Arm. „Kommst Du nicht mit?“ Es war das erstemal, daß sie ihn anfaßte.

„Aber Mäuschen, das geht doch nicht. Ich kann doch nicht mitkommen, wenn Du von der Frauenärztin untersucht wirst.“

„Doch, bitte, komm mit Stephan, bitte“, flehte sie.

Stephan sah die Ärztin ratlos an.

Die Frau zögerte einen Moment. Sie sah die Panik in Nicols Augen. „Ich glaube, es ist besser, wenn Sie tatsächlich mitkommen“, sagte sie schließlich.

Sie schickte Nicole in eine Umkleidekabine. „Du mußt Dir die Hose und die Unterhose ausziehen“, wies sie das Mädchen an. „Alles andere kannst Du anbehalten.“

„Was ist denn los mit dem Kind?“ fragte sie leise, als sie mit Stephan ins Sprechzimmer ging. „Das Mädchen ist ja völlig außer sich.“

„Ich weiß nicht“, antwortete Stephan. „Ich denke mal, sie hat panische Angst davor, daß sie jemand anfaßt und ihr wehtut.“

„Aber vor Ihnen scheint sie keine Angst zu haben.“

„Sieht so aus. Aber warum weiß ich auch nicht. Vielleicht, weil ich’s bis jetzt vermieden habe, sie überhaupt auch nur zu berühren. Vielleicht vertraut sie mir ja.“

Die Ärztin nickte. „Am besten halten Sie ihre Hand und reden mit ihr. Ich weiß natürlich nicht, was mit Ihr los ist. Kann schon sein, daß die Untersuchung nicht ganz schmerzlos ist. Aber ich werde es rechtzeitig sagen.“

Nicole kam aus der Umkleidekabine. Sie hatte bis auf ihr T-Shirt alles ausgezogen. Aber sie gab sich keine Mühe, ihre Blöße zu verbergen. Stephan griff nach ihrer Hand und führte sie zu dem Untersuchungsstuhl in der Mitte des Raumes.

„So, da setzt Dich bitte drauf“, sagte die Ärztin. „Warst Du schon mal beim Frauenarzt?“

Nicole schüttelte den Kopf.

„Na gut, dann erklär ich Dir jetzt, was passiert. Du mußt die Beine hier auf die Stützen legen, damit ich Dich richtig untersuchen kann. Das ist ein wenig unangenehm, aber normalerweise tut es nicht weh. Auf jeden Fall sag ich Dir immer, was ich mache. Meinst Du, Du schaffst das?“

„Stephan“, sagte Nicole flehend.

Stephan stellte sich neben den Stuhl, so daß er ihr ins Gesicht sah. Vorsichtig nahm er ihre Hand, so wie die Ärztin es gesagt hatte. Sie ließ es geschehen. Mit angstgeweiteten Augen sah sie Stephan an.

Die Ärztin legte Nicoles Beine in die gepolsterten Stützen. Sie erschrak, als sie das Mädchen ansah. „Das sieht nicht so gut aus“, sagte sie, während sie sich die dünnen Latexhandschuhe überstreifte, die sie immer bei Untersuchungen trug. „Wenn ich Dich jetzt untersuche, kann es doch sein, daß es wehtut. Du bist ziemlich schlimm verletzt. Aber ich versuche, ganz vorsichtig zu sein.“

Nicole zuckte zusammen, als sie die Hände der Ärztin zwischen ihren Beinen spürte. Stephan strich ihr beruhigend über die Stirn. „Ganz ruhig, Mäuschen. Sie tut Dir nichts. Sie will Dir nur helfen.“

Nicole schossen die Tränen in die Augen.

„Tut’s so weh?“ fragte Stephan.

Sie schüttelte den Kopf. „Nicht mehr als sonst. Es tut ja immer weh.“

„Das kann ich mir vorstellen“, sagte die Ärztin. „Du hast sicher auch Schmerzen, wenn Du zur Toilette gehst, stimmt’s?“

„Es ist auszuhalten“, antwortete Nicole. „Aber es tut schon ziemlich weh.“

„Kein Wunder. Hier ist ja alles total wund. Teilweise sogar aufgeplatzt. Es sieht schlimm aus. Was haben sie bloß mit Dir gemacht?“

Sie sah Stephan an. „Ich muß das dokumentieren“, sagte sie.

„Ja bitte“, stimmte Stephan zu. „Ich denke auch, daß das wichtig ist.“

Die Ärztin nahm einen Photoapparat aus der Schreibtischschublade. Sorgfältig photographierte sie Nicoles Verletzungen.

„Eigentlich müßte ich auch nachsehen, wie’s innen in ihrem Körper aussieht. Aber das wird ihr wohl ziemliche Schmerzen bereiten. Am besten ist es, wenn ich sie lokal betäube.“

Stephan nickte. Er beugte sich über Nicole und streichelte ihr Gesicht. Er stellte sich so, daß sie nicht sehen konnte, wie die Ärztin eine Spritze aufzog.

„Nicole, es wird jetzt ein paarmal ein wenig piksen“, erklärte die Ärztin. „Aber das muß sein.“

Sie atmete scharf ein, als sie den ersten Stich spürte. Stephan hielt ihr Gesicht in beiden Händen, bis es vorbei war. Die Ärztin entsorgte die leere Spritze und wandte sich dann wieder an das Mädchen.

„So, jetzt müssen wir einen Moment warten, bis die Betäubung wirkt. Dann wirst Du nichts mehr spüren.“

Sie gab Stephan ein Papiertaschentuch. Er wischte Nicole damit die Tränen ab.

„Tapferes Mäuschen“, sagte er.

Sie versuchte ein Lächeln.

„Sie mögen sie sehr“, stellte die Ärztin fest.

Stephan sah sie an. „Das auch. Und sie tut mir furchtbar leid. Ihren Bruder haben sie, Gott sei Dank, schon im Krankenhaus gut versorgt. Wahrscheinlich sieht er genauso schlimm aus. Und eine Gehirnerschütterung hat er auch. Jetzt liegt er bei mir zu Hause im Bett. Hoffe ich wenigstens. Zumindest lag er drin, als wir wegfuhren.“

„Er hat mir immer geholfen“, sagte Nicole. „Manchmal hatten wir so ’ne Salbe, die er mir draufgeschmiert hat, wenn’s ganz schlimm war. Aber viel genützt hat die auch nicht.“

Die Ärztin schüttelte den Kopf. „Armes Kind.“ Dann stellte sie sich wieder zwischen Nicoles Beine. „So, ich glaube, jetzt können wir. Spürst Du noch was?“ Sie zwickte Nicole in den Unterleib.

Das Mädchen schüttelte den Kopf. Stephan nahm wieder Nicoles Hand. Die Ärztin fuhr mit ihrer Untersuchung fort.

„Wie ich vermutet hatte“, sagte sie danach. „In ihrer Scheide sieht es genauso schlimm aus. Es wird eine Weile dauern, bis das abgeheilt ist. Viel kann man da nicht machen. Ich werde Dir eine Salbe aufschreiben, die Du regelmäßig auftragen solltest. Am besten rasierst Du Dir erstmal alle Haare weg, damit die Salbe auch richtig auf die Haut draufkommt. Und baden solltest Du auch. In der Apotheke gibt es Badezusätze mit Kamille, die solltest Du nehmen. Aber achte darauf, daß kein Parfüm darin ist. Du solltest es machen, sobald Du nach Hause kommst und die Betäubung noch wirkt. Vor allem mit der Rasiererei. Und wasch Dich bitte sehr sorgfältig. Nicht bloß so oberflächlich, sondern wirklich überall. Und danach solltest Du ein Sitzbad machen, jedesmal wenn Du auf der Toilette warst, damit Dein Po und Deine Scheide immer schön sauber sind. Das ist ganz wichtig. Die Haut ist nämlich ziemlich entzündet. Aber das ist ja auch kein Wunder, wenn die Verletzungen nicht ausheilen können. Am besten auch, Du ziehst Dir nur Unterhosen aus reiner Baumwolle an, die man kochen kann, also ganz ohne Kunstfasern. Und mindestens einmal am Tag eine frische. Wenn’s geht, ziehst Du zu Hause möglichst Röcke an und läßt die Unterhose sogar ganz weg, damit Du zwischen den Beinen nicht schwitzt. Das tut nämlich auch weh. In etwa zwei Wochen kommst Du dann wieder her. Dann werde ich mir die Sache nochmal ansehen.“

Nicole nickte. Sie hatte aufmerksam zugehört. Die Ärztin half ihr von dem Untersuchungsstuhl herunter. „Das war’s dann erstmal“, sagte sie.

„Könnten Sie sich Nicole vielleicht auch nochmal ganz ansehen?“ bat Stephan. „Sie sieht nämlich nicht nur untenrum schlimm aus.“ Er nickte Nicole zu.

Gehorsam zog sie ihr T-Shirt aus. Die Ärztin erschrak, als sie den nackten Oberkörper des Mädchens sah. Die Striemen auf Brust und Rücken waren noch immer deutlich zu sehen. Einige Stellen waren rot und hatten sich sogar entzündet. Die Ärztin griff wieder nach dem Photoapparat. „Hier gilt das gleiche“, sagte sie, während sie die Photos machte. „Gut sauberhalten und einreiben. Am besten weit geschnittene Baumwoll-T-Shirts anziehen. Es schadet nicht, wenn die eine Nummer zu groß sind. Das sieht zwar nicht besonders schick aus, aber für Deine Wunden ist es besser so. Und zieh keinen BH an.“

Stephan hatte sich hinter Nicole gestellt. Sie sollte nicht das Gefühl haben, daß er sie anstarrte. Die Ärztin bemerkte es zufrieden. „Achten Sie bitte darauf, daß Nicole sorgfältig mit sich umgeht. Sie ist ziemlich schlimm dran.“

„Sie können sich darauf verlassen“, sagte Stephan.

Sie wandte sich an Nicole. „Du kannst Dich jetzt wieder anziehen, mein Kind.“

Nicole nahm ihr T-Shirt und verschwand in der Umkleidekabine.

„Die Betäubung hält noch etwa zwei bis drei Stunden“, sagte die Ärztin. Sorgen Sie bitte dafür, daß sie bis dahin gebadet und sich rasiert hat. Schaffen Sie das?“

„Natürlich“, antwortete Stephan. „Wir gehen nur kurz in der Apotheke vorbei und kaufen ein paar Sachen. Baumwolle, wie Sie gesagt haben. Ich nehme an, für ihren Bruder gilt das gleiche?“

Die Ärztin nickte. „Davon gehe ich aus.“

„Dann kaufen wir auch gleich ein paar Sachen für ihn. Und dann fahren wir sofort nach Hause. Vielen Dank jedenfalls, daß Sie sich so gut um sie gekümmert haben. Ich nehme an, Sie müssen die Verletzungen auch melden?“

„Ja, das sollte ich.“

„Können Sie mir einen Gefallen tun? Melden Sie es auf jeden Fall. Aber bitte warten Sie damit, bis die Kinder wieder in Ordnung sind. Wenn sie wieder zu sich nach Hause zurückmüssen, möchte ich auf jeden Fall, daß sie dann wenigstens ganz gesund sind. So lange würde ich sie gerne bei mir behalten.“

„Das dürfte sich machen lassen. Wenn Sie gestatten, würde ich auch gerne mal bei Ihnen vorbeikommen und nach dem Mädchen sehen.“

„Selbstverständlich. Jederzeit. Das wäre mir sogar ganz recht. Mit einem ihrer Lehrer habe ich auch schon gesprochen. Der will gelegentlich auch immer mal wieder vorbeikommen. Hoffentlich macht er’s auch.“

Nicole kam wieder zurück ins Sprechzimmer. Jetzt wieder vollständig angezogen, sah sie sichtlich erleichtert aus. Wieder griff sie nach Stephans Hand.

Die Ärztin lächelte, als sie es sah. „So, alles überstanden“, sagte sie. „Fürs erste jedenfalls. Also, gute Besserung.“

Zurück auf der Straße, blieb Nicole stehen und griff nach Stephans Hand. „Danke, Stephan“, sagte sie. „Du hast mir so geholfen.“

Er strich ihr sanft mit dem Finger über die Wange. „Aber nicht doch, Mäuschen. Ich bin so froh, daß Du überhaupt gegangen bist. Jetzt hoffen wir mal, daß alles wieder in Ordnung kommt.“

Sie beeilten sich mit ihren Einkäufen. Die Salbe und den Badezusatz bekamen sie ohne Probleme in der Apotheke. In einem Wäschegeschäft kaufte Stephan den Vorrat an weißen Baumwollunterhöschen und T-Shirts auf. Fünfzehn Stück für jedes der Kinder. Und er achtete darauf, daß die Sachen nicht nur praktisch waren, sondern auch einigermaßen hübsch aussahen.

„Damit kommt Ihr eine ganze Woche aus, wenn Ihr jeden Tag zweimal was Sauberes anzieht. Das sollte genügen.“

Nicole strahlte. „So schöne Wäsche haben wir noch nie gehabt.“

„Dann wird’s ja langsam Zeit“, meinte Stephan.

***

Kevin lag in seinem Bett und starrte gegen die Decke, als sie nach Hause kamen.

„Na, Kevin, alles klar?“ begrüßte Stephan ihn.

„Langweilig halt“, antwortete Kevin.

„Tja, Du, da kann ich leider nix dran machen.“

„Was ist denn mit Nicole?“

„Die Ärztin meint, sie wäre ziemlich schlimm dran. Aber viel konnte sie nicht machen. Sie hat ihr eine Salbe aufgeschrieben. Sowas Ähnliches wie Deine auch. Jetzt soll sie erstmal baden und sich unten alle Haare abrasieren, damit sie die Creme auf die Haut schmieren kann.“

Kevin grinste. „Die haben sie mir im Krankenhaus auch schon wegrasiert. Jetzt seh ich wieder aus wie so ‘n kleiner Junge.“

„Stephan, kommst Du?“ rief Nicole aus dem Badezimmer.

„Sie will, daß ich ihr helfe“, erklärte Stephan. „Aber mir wär’s lieber, wenn Du das machen könntest. Sie sagt, Du hättest Ihr schon oft geholfen.“

Kevin nickte. „Hab ich. Aber tut ihr das denn nicht weh?“

„Keine Angst. Die Ärztin hat ihr eine Betäubungsspritze gegeben. Im Moment spürt sie da unten gar nichts.“

Kevin ging hinüber zu seiner Schwester. Die hatte sich inzwischen ausgezogen und Wasser in die Badewanne eingelassen. „Am besten machen wir’s so wie gestern“, schlug sie vor.

„Na klar“, sagte Kevin und zog sich ebenfalls aus. Sie stiegen zusammen in die Wanne.

„Ich hab Euch das Rasierzeug hingelegt“, rief Stephan vom Nachbarzimmer aus.

„Kannst Du’s uns nicht bringen?“ rief Kevin zurück. „Wir liegen hier zusammen in der Wanne, und wenn ich die Sachen hole, mach ich ja alles naß.“

Als Stephan ins Badezimmer kam, mußte er unwillkürlich lachen. „Ihr beide seht ja vielleicht niedlich aus da drin.“ Er legte das Rasierzeug auf die Ablage neben der Badewanne. Dann sah er Kevin eindringlich an. „Sei schön vorsichtig mit ihr. Tu ihr nicht weh und vor allem, schneide sie nicht. Sie hat, weiß Gott, schon genug Wunden am Körper.“

Kevin nickte. „Ich mach das schon“, sagte er ernsthaft.

Tatsächlich war er unendlich vorsichtig, als er ihr die Haare abrasierte.

„Mach ruhig, ich spür überhaupt nix“, versicherte Nicole.

„Und sonst? Unangenehm?“

Sie schüttelte den Kopf. „Auch nicht. Du hast mich jetzt schon so oft angefaßt, da macht’s mir langsam gar nichts mehr aus. Also mach ruhig zu und denk nicht drüber nach.“

Trotzdem beeilte er sich, so gut er konnte. Er wußte, daß es ihr doch unangenehm war, auch wenn sie es nicht zugab. Welches fünfzehnjährige Mädchen ließ sich schon gerne von seinem Bruder derart intensiv zwischen den Beinen anfassen. Und das nicht nur einmal kurz, sondern ziemlich lange und wirklich überall.

Sie atmete auch erleichtert auf, als er endlich fertig war. Sie trat vor den großen Türspiegel und betrachtete sich. „Wie ’n kleines Mädchen“, stellte sie fest.

Kevin stellte sich hinter sie und legte ihr die Arme über die Brust. „Ich finde, es sieht irre aufregend aus“, flüsterte er. „Und wenn Deine Striemen erstmal weg sind, wahrscheinlich noch viel mehr.“

Sie machte sich los und sah ihn an.“ Was redest Du denn da? Du hörst Dich glatt so an, als würde ich Dich anmachen.“

Er sah an sich herunter und bekam einen roten Kopf, als er sah, daß sein Glied sich ein wenig aufgerichtet hatte. „Tust Du auch“, gab er zu.

„Hey, Kevin, ich bin Deine Schwester“, rief sie.

„Weiß ich doch“, sagte er kleinlaut. „Ich kann doch auch nichts dafür.“

Sie atmete einmal tief durch. Dann ging sie zu ihm und nahm ihn in die Arme. „Aber ein schönes Kompliment ist es trotzdem.“

„Du bist mir nicht böse?“ fragte er zaghaft.

„Gar nicht“, antwortete sie. „Ich hab Dich doch auch lieb.“ Sie ließ ihn wieder los. „Aber jetzt sollten wir uns vielleicht doch lieber wieder was anziehen, bevor das hier noch schlimmer wird. Und Du mußt außerdem auch wieder ins Bett.“

„Aber vorher noch die Salbe“, wandte er ein.

Nicole seufzte. „Na klar. Die hätt ich jetzt fast vergessen. Geht’s denn noch?“

„Na klar. Mir ist nur ‘n bißchen schwindelig.“

„Dann beeil Dich, damit Du Dich wieder hinlegen kannst.“

Trotzdem nahm er sich Zeit, sie sorgfältig mit der Salbe einzureiben.

„Am besten ziehst Du jetzt gar nichts an, wenn Du Dich ins Bett legst“, schlug Nicole ihm vor, nachdem sie das gleiche bei ihm gemacht hatte. „Die Ärztin hat gesagt, wir sollten alle Sachen so oft es geht auslassen. Dann würde es besser abheilen.“

Grinsend marschierte der nackte Junge in sein Zimmer und legte sich ins Bett. „Mir soll’s recht sein“, meinte er.

„Ich werd wohl wieder den Bademantel anziehen“, entgegnete Nicole. „Stephan hat uns zwar neue Sachen gekauft, aber die müßten erst gewaschen werden, sagte er.“

„Wie kommt er denn dazu?“

„Die Ärztin hat gesagt, wir sollen vorerst nur Sachen aus reiner Baumwolle anziehen und weite T-Shirts. Alles was man kochen kann. Und da ist er gleich mit mir losgezogen und hat solche Sachen gekauft.“ Sie kicherte. „Stell Dir vor, dreißig T-Shirts für uns beide und für jeden von uns noch fünfzehn Unterhosen. Und richtig schicke, sag ich Dir. Ich hab gedacht, ich seh nicht richtig. Sind alle schon in der Waschmaschine.“

„Stephan ist schon okay“, stellte Kevin fest.

„Er ist super“, erwiderte Nicole. „Und er ist ganz schrecklich lieb. Es wär wirklich schön, wenn wir bei ihm bleiben könnten. Was meinst Du?“

„Ich fänd’s auch klasse. Vor allem in dem tollen Haus hier.“

„Ach, Du hast ja noch fast nichts davon gesehen. Das Wohnzimmer, mein Gott, das ist größer als unsere ganze Wohnung. Und dann hat er ein richtiges Schwimmbad. Und den Riesen-Garten. Das ist ein richtiger Palast hier. Und was er alles für uns macht.“

„Ich möchte mal wissen, warum bloß“, rätselte Kevin.

Nicole zuckte die Achseln. „Keine Ahnung. Ich hab ihn das heute morgen auch gefragt, aber er sagt, er wisse es selbst nicht. Ich solle mir jedenfalls deshalb keine Gedanken machen Aber ich tu’s natürlich doch. Vielleicht ist es ja, weil er sonst niemanden hat? Seine ganze Familie ist ja wohl tot. Ich weiß es nicht genau, er spricht ja nicht drüber.“

„Sie sind tot. Mir hat er’s gesagt. Er ist anscheinend jetzt ganz alleine.“

„Eine Freundin hat er noch. Patrizia. Das ist seine Rechtsanwältin. Die hat er auch schon angerufen. Die kümmert sich jetzt um unsere Papiere und so. Er denkt wirklich an alles.“

Kevin schwieg nachdenklich.

„Das können wir ihm nie wieder gutmachen“, sagte Nicole in die Stille hinein. „Jetzt schon nicht. Und wir sind noch nicht mal ’ne Woche bei ihm. Wer weiß, was ihm noch alles einfällt.“

„Vielleicht will er’s ja auch gar nicht. Vielleicht ist er ja selber froh, daß er uns aufgegabelt hat. Und uns kann’s doch nur recht sein, daß er sich so um uns kümmert. Am besten, wir warten einfach ab, wie’s weitergeht. Solange wie’s dauert, ist es doch super.“

Nicole nickte. Stumm sahen sie sich an. Kevin lächelte und griff nach ihrer Hand. Nicole lächelte zurück. Sie waren beide sehr glücklich.

Stephan kam herein. „Na, Du liegst ja schon wieder“, sagte er zu Kevin.

„Ja, Ich hab Nicci die Haare abrasiert und sie mit der Salbe eingerieben. Dann hat sie mich eingeschmiert.“

„Es geht ihm nicht gut“, sagte Nicole. „Er sagt, ihm ist schwindelig.“

„Kein Wunder. War ja vielleicht auch ‘n bißchen viel“, antwortete Stephan. „Aber Kopfschmerzen hast Du keine?“

Kevin schüttelte den Kopf.

„Halt die Birne still“, mahnte ihn Stephan. „Sonst wirst Dir nur noch mehr schwindelig. Ich geh uns mal Abendbrot machen. Bleibst Du bei ihm?“

Nicole nickte.

„Irgendwas Spezielles, was Ihr essen möchtet?“

„Wir wissen ja gar nicht, was Du hast“, antwortete sie.

„Mögt Ihr Krabben?“

„Keine Ahnung. Haben wir noch nie gegessen“, gab sie zurück.

„Na gut, dann probiert Ihr mal welche.“ Er wandte sich zur Tür. „Ich ruf Euch, wenn das Essen fertig ist.“

Er ging in die Küche und bereitete Rührei mit Krabben und Bratkartoffeln zu. Dazu machte er einen Salat.

„Essen ist fertig!“ rief er durch die offene Küchentür.

Nicole und Kevin kamen herunter. Nicole trug immer noch Stephans Bademantel, Kevin hatte ein T-Shirt und einen Slip übergezogen. Sie setzten sich an den Tisch. Stephan legte ihnen vor. Skeptisch musterten sie die kleinen, rosafarbenen Würmer in dem Rührei. Aber sobald sie davon probiert hatten, hellten sich ihre Gesichter auf.

„Das schmeckt ja super“, rief Kevin mit vollem Mund.

Stephan lachte. „Dann hau rein, Junge. Es ist genug da.“

Am Ende war Stephan sich dessen nicht mehr so sicher. Sie hatten alles aufgegessen. Auch von dem Salat war nicht ein Blättchen übrig.

„Seid Ihr satt geworden?“ fragte er besorgt.

„Ich platze gleich“, meinte Kevin und hielt sich den Bauch.

„Und Du?“

„Auch“, antwortete Nicole.

„Na, das freut mich ja. Sollen wir ins Wohnzimmer gehen? Da kann Kevin sich hinlegen.“ Er holte ihm Kissen und Decke aus seinem Zimmer.

Nachdem der Junge es sich bequem gemacht und zugedeckt hatte, fragte er: „Spielst Du Klavier?“

Stephan sah hinüber zu dem großen Instrument. „Nein. Meine Mutter und meine Schwester haben darauf gespielt. Jetzt benutzt es keiner mehr.“

Nicole, die sich neben ihn gesetzt hatte, nahm seine Hand. „Erzählst Du uns von ihnen?“

Stephan sah sie lange schweigend an. „Meine Schwester und ich, wir waren so alt wie Ihr, damals. Nur umgekehrt. Ich war fünfzehn und meine Schwester dreizehn. Wir waren in Namibia bei den Großeltern. Die wohnen in Tsumeb. Das ist eine kleine Stadt im Norden. Mein Vater mußte von dort nach Windhoek. Das ist die Hauptstadt von Namibia, etwa vierhundertfünfzig Kilometer weit weg von Tsumeb. Er hatte keine Lust, die lange Strecke mit dem Auto zu fahren. Es gab ja auch Flüge von Tsumeb nach Windhoek. Also ist er geflogen. Meine Mutter und meine Schwester wollten mitkommen, um ein bißchen einkaufen zu gehen, während er zu tun hatte. Ich hatte keine Lust. Einkaufen war nicht so mein Ding. Also blieb ich bei meinen Großeltern. Das Flugzeug mit Carmen und meinen Eltern ist abgestürzt. Sie waren alle sofort tot.“

Er machte eine Pause und wischte sich über die Augen. Nicole hielt noch immer seine Hand.

„Wir haben sie in Tsumeb begraben. Ich bin dann zurück nach Deutschland. Ich mußte ja weiter zur Schule gehen. Ich hatte hier noch eine Großmutter, die Mutter meines Vaters. Die hat sich um mich gekümmert. Vor zwei Jahren ist sie auch gestorben. Seitdem wohne ich alleine hier.“

Er stand auf und ging zu einem Wagen, auf dem Gläser und Flaschen mit allerlei Getränken standen. Dort schüttete er sich einen großen Whisky ein. Er nahm einen Schluck. Dann setzte er sich wieder zu den Kindern. Das Glas stellte er vor sich auf den Tisch.

„Tja, so war das.“, sagte er. „Mein Vater war Finanzmakler. Er hatte sehr viel Geld. Ich hab das alles geerbt. Jetzt versuche ich, seine Geschäfte weiterzuführen. Es klappt ganz gut. Ich kann mich nicht beklagen. Das seht Ihr ja. Aber hier in Deutschland habe ich jetzt niemanden mehr. Mein Vater hatte noch einen Bruder. Aber mit dem hatten wir so gut wie nie was zu tun. Ich weiß gar nicht, ob er überhaupt noch lebt, und wo. Als meine Oma noch da war, hieß es, er sei nach Australien abgehauen. Weil er Schwierigkeiten mit der Steuer hatte. Aber ob das stimmt, weiß ich nicht. Die Eltern meiner Mutter wohnen noch immer in Tsumeb. Sie hatte auch zwei Brüder. Der eine hat eine große Farm in der Nähe von Okahandja, und der andere ist Rechtsanwalt und wohnt in Windhoek. Ich besuche sie ein- oder zweimal im Jahr. Sie sind alle sehr nett. Aber dort hinziehen möchte ich nicht. Ich möchte in diesem Haus wohnen bleiben. Auch wenn ich hier allein bin.“

Er sah die beiden Kinder an.

„Oder allein war“, sagte er lächelnd. „Jetzt seid Ihr ja da.“

„Hast Du uns deshalb hergebracht? Damit Du nicht mehr allein bist?“ fragte Kevin.

Stephan schüttelte den Kopf. „Nein, Kevin. Ganz bestimmt nicht. Ich bin allein sehr gut klargekommen. Außerdem hab ich auch noch ’ne sehr gute Freundin, die mich gelegentlich besucht. Die werdet Ihr bestimmt auch bald kennenlernen.“

Er lachte und drückte Nicoles Hand. „Nee, Ihr beide, Ihr seid mir passiert. Das hab ich ja schon gesagt. Und jetzt bin ich froh, daß ich Euch ’n bißchen helfen kann.“

„’N bißchen ist gut“, meinte Nicole. „Was Du machst, ist schon mehr als ’n bißchen.“

„Naja, seh’n wir mal, wie’s weitergeht. Erstmal werde ich mich jedenfalls jetzt um Euch kümmern. Wenn Ihr wollt, heißt das.“

„Na klar wollen wir“, sagte Kevin. „Wir wären ja blöde, wenn nicht.“

„Na also, dann hätten wir das ja geklärt. Eure Mutter ist damit einverstanden, und Euer Vater kann in der nächsten Zeit erstmal gar nichts machen. Und in Eurer Schule wissen sie auch Bescheid.“

Zufrieden nahm er sein Glas und trank einen weiteren Schluck.

„Mögt Ihr auch was?“ fragte er.

„Davon?“ Nicole zeigte auf Stephans Glas. „Nee danke, ganz bestimmt nicht.“

Stephan lachte. „Nee, davon hättet Ihr auch ganz bestimmt nix gekriegt. Aber ’n Glas Saft vielleicht. Oder Milch?“

„Was hast Du denn für Saft?“ erkundigte Kevin sich.

„Eigentlich alles. Sag mir nur, was Du willst.“

„Dann Apfelsaft, bitte.“

„Und Du?“ Er wandte sich an Nicole.

„Auch, bitte.“

Stephan ging in die Küche, um den Saft für die Kinder zu holen.

„Schlimm, nicht?“ meinte Kevin zu seiner Schwester, als Stephan draußen war.

Sie nickte. „Gleich die ganze Familie tot. Eltern und Schwester. Und die waren anscheinend eine gute Familie. Sehr traurig.“

Stephan kam zurück mit den Gläsern. „Na, was guckt Ihr so bedröppelt? Tut Euch was weh, oder was? Wie ist das überhaupt bei Dir, Nicole? Die Betäubung dürfte ja jetzt langsam nachgelassen haben.“

„Ja, und es tut auch wieder weh, aber man kann’s aushalten. Es war schon schlimmer.“

Sie tranken einen Schluck.

„Wie seid Ihr eigentlich in der Schule?“ erkundigte Stephan sich.

„Och, ganz gut“, antwortete Nicole. „Wir geben uns Mühe. Wenigstens da kann uns der Alte ja nicht dazwischenfunken. Nur blöd, daß wir morgens immer so müde sind, wenn er uns abends vorher mitgenommen hat.“

„Na, das kommt ja nun nicht mehr vor“, versicherte Stephan. „Und ich werde schon dafür sorgen, daß Ihr rechtzeitig ins Bett kommt.“ Er wandte sich an Kevin. „Nur leider wirst Du ja jetzt ’ne ganze Menge verpassen.“

Aber Kevin winkte ab. „Halb so schlimm. Das hol ich schon wieder auf. So schwer ist das ja nicht, was wir da machen.“

„Er ist der beste in seiner Klasse“, sagte Nicole stolz.

„Und Du?“

Sie sah verlegen zu Boden. „Ich auch“, gab sie leise zu.

„Konntet Ihr da nicht zum Gymnasium gehen?“

Nicole sah ihn böse an. „Du bist gut“, schnappte sie. „Wer hätte uns denn da wohl hinschicken sollen?“

„Aber Ihr wärt gerne gegangen?“

Nicole zuckte die Achseln. „Ja sicher. Die Lehrer wollten auch, daß wir gehen. Aber der Alte wollte nichts davon wissen. Und unsere Mutter hatte sowieso nichts zu sagen.“

Stephan sagte nichts mehr dazu. Er nahm sich vor, mit Lohner, dem Mathematiklehrer, zu reden. Es mußte doch eine Möglichkeit geben, die Kinder auch jetzt noch auf die höhere Schule zu schicken.

Kevin stand auf. „Ich glaub, ich leg mich mal wieder ins Bett.“

Stephan sah ihn an. Das Gespräch schien den Jungen deprimiert zu haben. „Mach das“, sagte er. „Soll ich gleich nochmal nach Dir sehen?“

„Wenn Du willst“, antwortete Kevin.

Er nahm seine Decke und sein Kissen und schlich davon. Nicole stand ebenfalls auf. „Ich glaub, ich geh dann auch mal“, sagte sie.

Stephan nickte nur. Er räumte die leeren Gläser weg und schaltete das Licht im Wohnzimmer aus. In seinem Arbeitszimmer setzte er sich in einen Sessel und verschränkte die Hände hinter dem Kopf. Er dachte über die beiden Kinder nach. Was für eine Schande, soviel Talent so zu verschleudern. Es war wieder eine neue Aufgabe für ihn. Er lachte leise in sich hinein. Bei den beiden kam wirklich eins zum anderen. Aber es war auch eine Herausforderung. Er würde sie auf keinen Fall im Stich lassen, nahm er sich vor. Gleich am Wochenende wollte er noch einmal mit Patrizia reden. Es mußte einen Weg geben, damit die Kinder bei ihm bleiben konnten. Sie sollte sich darum kümmern. Wozu war sie Anwältin?

Seufzend griff er nach der Zeitung, die er noch immer nicht gelesen hatte. Eine Stunde später fielen ihm die Augen zu. Er beschloß, sich ebenfalls hinzulegen.

Als er nach oben kam, sah er, daß beide Zimmertüren einen Spalt offenstanden. Kevin schlief. Er hatte sich ausgezogen und lag nun nackt im Bett. Sein Rücken war nicht richtig zugedeckt. Stephan zog ihm die Bettdecke zurecht und strich ihm über den Kopf.

„Was ist denn?“ murmelte der Junge.

„Gar nichts“, antwortete Stephan leise. „Schlaf schön.“

Er ging hinaus und zog die Tür hinter sich zu. Auch in Nicoles Zimmer warf er einen kurzen Blick. Sie lag ganz ruhig in ihrem Bett. Er wollte schon wieder hinausgehen, da sagte sie: „Stephan?“

Er zuckte zusammen. „Mäuschen, warum schläfst Du denn nicht?“

„Ich hab auf Dich gewartet.“

„Aber ich bin doch morgen früh auch noch da.“

„Ich wollte Dir aber heute noch was sagen.“

Er setzte sich zu ihr auf die Bettkante. „Was gibt’s denn noch so Wichtiges?“

Sie nahm seine Hand. „Danke“, sagte sie leise.

Er strich ihr sanft über die Stirn. „Och Mäuschen. Das hab ich doch gern gemacht.“

Sie fing an zu weinen. Stephan beugte sich über sie und nahm sie vorsichtig in die Arme. Auch sie hatte weder Schlafanzug noch Nachthemd an. Er streichelte ihren nackten Rücken und hielt sie fest, bis sie sich beruhigt hatte. Dann legte er sie wieder hin und deckte sie zu. Noch einmal strich er ihr über die Stirn.

„Schlaf schön, mein Mäuschen.“

Er wollte aufstehen, aber sie griff schnell nach seiner Hand. Er setzte sich wieder. Sie sah ihn mit ihren großen, braunen Augen an. Ganz fest hielt sie seine Hand umklammert. Stephan lächelte sie an. Nach einer Weile spürte er, wie sie sich entspannte. Sie schloß die Augen. Trotzdem blieb Stephan bei ihr sitzen und hielt ihre Hand, bis sie eingeschlafen war. Erst als er ihre ruhigen und gleichmäßigen Atemzüge hörte, ließ er sie los und stand auf. Noch einmal zog er ihre Bettdecke zurecht. Ganz vorsichtig drückte er ihr einen kleinen Kuß auf die Schläfe, bevor er durchs Badezimmer hinüberging zu Kevin.

Der Junge hatte von alldem nichts mitbekommen. Er schlief tief und fest. Stephan betrachtete ihn. Er hatte sich in die beiden verliebt, gestand er sich ein. Sie waren dabei, ihm ans Herz zu wachsen. Ein angenehm warmes Gefühl der Zufriedenheit durchströmte ihn. Was immer jetzt daraus werden mochte, er war sich sicher, daß es gut ausgehen würde. Lächelnd schlich er hinaus und zog leise die Tür hinter sich zu.

***

Stephan hörte Geschirrklappern in der Küche, als er am nächsten Morgen aus dem Schwimmbad kam. Ohne Hineinzusehen lief er schnell an der offenen Küchentür vorbei nach oben, um sich anzuziehen.

„Guten Morgen, Nicole“, begrüßte er das Mädchen, als er wenig später zurückkam. „Du bist aber schon früh aufgestanden.“

Sie drehte sich zu ihm um. „Hallo Stephan. Ich dachte, ich mach schon mal Frühstück.“

Lächelnd sah sie ihn an. Etwas Erwartungsvolles lag in ihrem Blick, und dann schien sie ein wenig enttäuscht, daß die Erwartung nicht erfüllt wurde. Anscheinend hatte sie darauf gehofft, daß Stephan sie zur Begrüßung in den Arm nehmen würde, so wie er das am Abend zuvor getan hatte, als sie weinend im Bett lag. Aber er tat nichts dergleichen.

Möchtest Du was besonderes essen?“ fragte sie.

Stephan schüttelte den Kopf. „Nee. Brot, Wurst, Marmelade und Kaffee. Das genügt.“

„Den Kaffee mußt Du Dir aber selber machen. Mit Deiner Maschine kann ich nicht umgehen.“

„Komm her, ich zeig’s Dir.“

Sie standen dicht nebeneinander, als er die Kaffeemaschine fertigmachte. Aber sie berührten sich nicht. Nicole war enttäuscht. Stephan schaltete die Maschine ein.

„Alles klar?“ fragte er und sah sie lächelnd an.

Sie nickte.

„Dann setz Dich. Ich komm gleich, sobald die Höllenmaschine hier fertig ist.“

Das Gerät gab eine Reihe spuckender Geräusche von sich.

„Was ist mit der Salbe, Nicole?“ fragte er über die Schulter hinweg. „Hast Du Dich gründlich eingerieben?“

„Hat Kevin gemacht“, antwortete sie. „Und dann hab ich eins von den neuen Höschen angezogen, die Du uns gekauft hast.“

„Und, passen sie?“

„Super. Wie angegossen. Und gut ausseh’n tun sie auch noch.“

„Na, das ist doch prima“, meinte er und balancierte seinen Kaffee zum Tisch.

Er setzte sich auf den Stuhl neben sie.

„Darf ich heute wieder ein Schulbrot mitnehmen?“ fragte sie.

Stephan sah sie erstaunt an. „Ja, na sicher. Ich hätte Dir ohnehin eins gemacht. Ich finde, man braucht das. Schule schlaucht, da sollte man zwischendurch was essen. Hat meine Oma immer gesagt. Und das war eine ziemlich kluge Frau. Ich hab gestern auch solche kleinen Flaschen Apfelsaft mitgebracht. Davon kannst Du eine mitnehmen. Dann rutscht’s besser.“ Er lächelte sie an. „Ihr mögt doch gerne Apfelsaft, Du und Kevin, oder?“

Nicole schüttelte ungläubig den Kopf. „An was Du alles denkst.“

„Ich bemüh mich. Weißt Du, Nicole, ich hatte noch nie Kinder. Und jetzt hab ich Euch beide. Da muß man sich ganz schön was überlegen. Schließlich will ich ja, daß es Euch gutgeht.“

„Es geht uns wunderbar. So wie Du hat sich noch keiner um uns gekümmert.“

Stephan lachte und drückte einmal kurz ihre Hand. Wieder war seine Berührung wie ein kleiner elektrischer Schlag für sie. Diesmal allerdings nicht, weil sie sich erschreckte, sondern weil sie es schön fand.

„Sagst Du jetzt wieder Nicole zu mir?“ fragte sie leise.

„Naja, so heißt Du doch. Wie soll ich sonst zu Dir sagen?“

Verlegen sah sie vor sich auf die Tischplatte. „Ich fand das mit dem Mäuschen so schön. Das hört sich so lieb an.“

Stephan nahm wieder ihre Hand. „Das möchtest Du?“

Sie nickte ohne ihn anzusehen. „So wie Du war noch keiner zu mir. Kevin vielleicht, der ist ja immer da, und er ist immer lieb zu mir. Aber der ist ja auch mein Bruder. Und außerdem redet er nicht viel.“

„Aber Ihr habt Euch gern?“

Nicole zuckte die Achseln. „Ich weiß nicht. Vielleicht. Wir gehören eben zusammen, und wir haben ja sonst niemanden. Da haben wir uns eben immer gegenseitig geholfen. Weil wir ja auch die ganze Zeit zusammen waren. Es gibt keine Freunde. Er hat keine und ich auch nicht. Und wenn wir zusammen waren, dann waren wir eben nicht alleine. Deshalb.“

„Ich finde das schön, daß Ihr beide Euch so gut versteht. Ich hoffe nur, das bleibt auch so.“

Nicole sah ihn an. „Auf jeden Fall. Ich würde Kevin niemals im Stich lassen. Er ist der einzige, der immer gut zu mir war. Er war immer für mich da. Und man konnte gut mit ihm reden. Obwohl er doch zwei Jahre jünger ist als ich.“ Sie lachte. „Wenn er denn mal geredet hat, was nicht so oft vorkam. Aber zugehört hat er mir immer. Auf jeden Fall will ich ihn bei mir behalten. Und Du kümmerst Dich doch auch um ihn?“

„Aber klar doch. Was glaubst Du denn, Nicole?...“ Er unterbrach sich und stupste sie lachend mit dem Finger auf die Nasenspitze. „…Mäuschen?“

Sie strahlte ihn an und griff nach seiner Hand.

„Ich hab Euch doch beide eingesammelt. Dich und Kevin. Und jetzt wünsche ich mir, daß Ihr beide zusammen hierbleibt.“

„Wir wären ja schön blöd, wenn wir nicht bleiben wollten“, meinte sie.

Nach dem Frühstück ging Nicole nach oben, um ihre Schulsachen zu holen.

„Kevin schläft“, sagte sie, als sie zurück in die Küche kam.

„Das ist gut“, antwortete Stephan. „Ich bring Dich jetzt in die Schule, und dann kümmere ich mich um ihn. Heute kommt auch Frau Batitsch, die Putzfrau. Die werd ich Kevin gleich vorstellen. Damit sie weiß, daß Ihr beiden ab jetzt auch hier wohnt.“

„Du mußt mich aber heute Mittag nicht wieder von der Schule abholen“, sagte Nicole. „Ich kann genausogut mit dem Bus fahren und dann hierher laufen. Das Wetter ist ja ganz okay.“

Stephan sah sie fragend an. „Bist Du sicher? Ich meine, es ist doch ein ganz schönes Stück zu laufen von der Bushaltestelle bis hierher. Tut Dir das denn nicht weh?“

Nicole schüttelte den Kopf. „Laß mal. So empfindlich bin ich nicht. Aber Du würdest sonst doch furchtbar viel Zeit verlieren, wenn Du extra in die Stadt kommst, nur um mich von der Schule abzuholen. Das ist ja nicht nötig, wo Du immer so viel zu tun hast.“

Stephan strich dem Mädchen über die Wange. „Darüber mach Dir mal keine Gedanken, Mäuschen. Ich hol Dich gerne ab. Aber Du kannst natürlich auch mit dem Bus fahren, wenn Du das möchtest. Paß mal auf.“ Er nahm einen kleinen Zettel und schrieb eine Nummer darauf. „Das hier ist der Code fürs Tor unten und auch für die Haustür. Damit Du heute Mittag reinkommen kannst. Heb ihn Dir gut auf und zeig ihn möglichst niemandem.“

Nicole nickte und schob den Zettel in ihr Portemonnaie. „Danke.“

Stephan brachte das Mädchen zur Schule und nahm sich dann die Zeit, noch einige Lebensmittel und andere Kleinigkeiten einzukaufen, ehe er nach Hause zurückfuhr. Dort war unterdessen die Putzfrau angekommen.

„Herr van Elst, in ihrem Zimmer oben liegt ein Junge im Bett und schläft“, begrüßte sie ihn einigermaßen aufgeregt. „Es sieht so aus, als ob er sogar nackt ist.“

„Das ist richtig, Frau Batitsch“, antwortete Stephan. „Das ist Kevin, einer meiner beiden neuen Mitbewohner.“

Er erzählte ihr in groben Zügen, was sich zugetragen hatte.

„Da haben Sie sich aber was vorgenommen, wenn Sie die beiden hierbehalten wollen.“

„Was soll ich denn machen, Frau Batitsch? Ich kann sie doch schlecht wieder zurückschicken. Außerdem mag ich die beiden.“

„Na, hoffentlich erleben Sie keine Enttäuschung.“

Stephan lachte. „Jetzt seien Sie mal nicht so pessimistisch. Aber Sie werden die Kinder ja noch kennenlernen. Dann können Sie sich selber ein Bild machen. Kommen Sie. Wir sehen mal nach, ob Kevin inzwischen aufgewacht ist.“

Sie stiegen die Treppe hinauf zu Kevins Zimmer. Der Junge war wach, als Stephan zu ihm hineinschaute.

„Hallo Kevin. Wir geht’s Dir heute?“

Kevin lächelte ihn an. „Ganz gut eigentlich. Nur Hunger hab ich.“

Stephan lachte. „Kein Wunder. Du hast ja auch noch nichts gefrühstückt. Aber ich mach Dir gleich was. Vorher will ich Dir aber noch jemanden vorstellen.“

Er trat ins Zimmer und winkte der Putzfrau, ebenfalls hereinzukommen.

„Das ist Frau Batitsch. Sie hält das Haus in Ordnung.“ Er wandte sich an die Frau und deutete auf Kevin. „Und das hier ist mein Patient, Kevin Zervatzky. Er hat leider eine ziemlich schlimme Gehirnerschütterung und auch sonst noch einige Blessuren. Deshalb muß er am hellen Tag im Bett liegen.“

Frau Batitsch lächelte den Jungen freundlich an. „Hallo Kevin“, sagte sie.

„Guten Tag, Frau Batitsch“, sagte der Junge artig.

Eine kurze, verlegene Pause entstand, dann nickte die Frau Kevin zu und ging hinaus.

„Ich komm gleich nach Dir sehen“, versprach Stephan und folgte der Frau.

„Er scheint ein wenig schüchtern zu sein“, meinte sie draußen.

Stephan nickte. „Das sind sie beide, er und seine Schwester. Aber Sie werden sehen, die zwei sind sehr lieb.“

Sie zuckte die Achseln. „Naja, ich mach mich dann mal an die Arbeit. Ich fang bei Ihnen an.“

Sie wandte sich um und verschwand in Stephans Schlafzimmer. Stephan ging zu Kevin zurück. Der war inzwischen aufgestanden und stand unter der Dusche.

„Kommst Du zurecht, oder soll ich Dir helfen?“

„Kannst Du mich einschmieren?“

„Na klar.“

Stephan wartete bis der Junge mit Duschen fertig war und sich abgetrocknet hatte.

„Dann laß mal seh’n.“

Kevin beugte sich vor und stützte sich auf dem Rand der Badewanne ab. Stephan hockte sich hinter ihm auf den Boden und betrachtete prüfend seinen verletzten Po.

„Ich glaube, es wird schon besser“, meinte er und machte sich daran, die wunden Stellen sorgsam einzucremen. „Tut’s denn noch weh?“

„Kaum noch“, antwortete Kevin. „Nur wenn ich zum Klo muß.“

„Naja, lange wird’s hoffentlich nicht mehr dauern.“ Er gab dem Jungen einen zarten Klaps auf den Po. „Kannst Dich wieder gerade hinstellen.“ Vorsichtig cremte er die Striemen auf Kevins Rücken und auf seiner Brust ein. „Ob das besser geworden ist, kann ich gar nicht sagen.“

„Es tut auf jeden Fall nicht weh“, versicherte der Junge.

„Na schön. Dann zieh Dir mal was an und komm runter in die Küche“, forderte Stephan ihn auf. „Oder möchtest Du Dich lieber wieder hinlegen? Dann bring ich Dir was nach oben.“

„Ich glaub, ich leg mich besser wieder hin. Mir ist ein bißchen schwindelig.“

Stephan faßte ihn am Arm. „Dann komm. Ich bring Dich.“

Kevin wehrte sich ein wenig. „Also, das kann ich schon noch alleine.“

„Besser ist besser“, entgegnete Stephan. „Nicht, daß Du mir noch umkippst.“

„Du machst Dir viel zu viel Sorgen.“ Kevin lächelte Stephan an, während er sich auf die Bettkante setzte.

„Ja, ja, schon gut“, sagte Stephan. „Und jetzt leg Dich schön hin.“ Er wartete, bis der Junge sich im Bett ausgestreckt hatte und deckte ihn anschließend zu. „Alles bequem?“

Kevin nickte. „Alles bestens.“

Stephan strich ihm sanft über den Kopf. „Dann geh ich Dir mal was zu essen holen.“

„Warum machst Du das?“ fragte Kevin, als Stephan zehn Minuten später mit einem Teller voller verschieden belegter Brote und einem großen Glas Milch wiederkam.

„Weil Du noch nicht gefrühstückt hast und nicht aufstehen sollst“, antwortete Stephan.

„Das mein ich doch nicht.“

„Na gut. Sagen wir, weil Du so ein großartiger Kerl bist und weil Du Dich immer so lieb um Deine Schwester kümmerst. Und jetzt brauchst Du eben auch mal jemanden, der sich um Dich kümmert. Deswegen.“

„Aber das mußte ich doch. Sie hat doch sonst niemanden. Und sie haben ihr immer so furchtbar weh getan.“

Er brach in Tränen aus. Stephan setzte sich zu ihm aufs Bett und zog ihn an sich. Wortlos hielt er ihn im Arm. Der Junge schluchzte still vor sich hin. Stephan ließ ihn sich ausweinen. Das hatte der Junge ganz offensichtlich bitter nötig. Bislang mußte er immer der Starke sein. Und er hatte seine Rolle sehr gut gespielt. Aber natürlich war das auf die Dauer zu viel für einen Dreizehnjährigen. Jetzt kam der Zusammenbruch. Stephan war froh darüber. So war der Junge nicht allein, und er konnte ihm helfen. Zumindest konnte er ihm ein gewisses Gefühl der Geborgenheit geben.

Behutsam bettete Stephan ihn wieder auf die Kissen. „Na, geht’s wieder?“

Kevin wollte etwas sagen, aber Stephan legte ihm den Finger auf die Lippen.

„Psst, nichts sagen. Du brauchst Dich nicht zu verteidigen, Kevin. Es ist schon gut so. Es war richtig, daß Du Dich mal ausgeweint hast. Ich glaube, das hast Du schon lange mal gebraucht. Und mach Dir bitte keine Sorgen. Ihr seid jetzt bei mir, und ich seh zu, daß Ihr beide wieder in Ordnung kommt. Dann sehen wir weiter. Am liebsten wär’s mir ja, wenn Ihr bei mir bleiben würdet. Aber das müßt Ihr entscheiden, wenn’s soweit ist. Bis dahin sollt Ihr Euch hier wohlfühlen.“ Er griff nach Kevins Hand. „Und wenn Du wieder das Gefühl hast, Du kannst nicht mehr, dann kommst Du zu mir und weinst Dich aus. So wie eben. Du brauchst Dich wirklich nicht zu schämen dafür, und ich verspreche Dir, Dich niemals dafür auszulachen. Ich glaube, sowas brauchst Du jetzt einfach mal. Hörst Du, Großer, Du sollst immer zu mir kommen, wenn’s Dir nicht gutgeht. Jederzeit, Tag und Nacht. Es geht gar nicht, daß Du immer so unter Strom stehst.“

Kevin sah Stephan dankbar an. „Wirst Du Nicci davon erzählen?“

Stephan schüttelte den Kopf. „Nein. Wenn sie’s wissen soll, dann mußt Du’s ihr sagen. Von mir wird sie das nicht erfahren.“

Kevin drückte Stephans Hand. „Danke.“

Lächelnd strubbelte Stephan ihm durch die dunkelbraunen Locken. „Geht schon klar, mein Junge. Ich laß Dich nicht hängen. Ganz bestimmt nicht.“ Er stand auf. „So, und jetzt iß mal schön Dein Frühstück auf, sonst gibt’s bald schon wieder Mittagessen.“

Stephan zwinkerte ihm noch einmal zu und ließ ihn dann allein. Es wurde Zeit, daß er an seine Arbeit kam. Doch nicht lange, und er wurde schon wieder gestört, als Frau Batitsch hereinkam und das Arbeitszimmer saubermachen wollte. Klaglos räumte er das Feld und verzog sich mit seinen Zeitungen ins Wohnzimmer.

„Soll ich das Mittagessen machen?“ fragte die Putzfrau eine Weile später.

„Nee, lassen Sie mal, Frau Batitsch. Ich mach das schon. Nicole wird ziemlich spät aus der Schule kommen, und ich möchte nicht, daß sie was Aufgewärmtes kriegt. Sind Sie denn schon fertig?“

„Hier im Haus ja, aber ich wollte noch das Schwimmbad saubermachen. Da hab ich schon länger nicht mehr.“

„Gute Idee, Frau Batitsch. Machen Sie mal. Dann können Sie nachher mit uns mittagessen und Nicole auch gleich kennenlernen.“

„Wann kommt die Kleine denn?“

Stephan lachte. „Die Kleine ist gut. Sagen Sie das bloß nicht zu ihr. Nicole ist fünfzehn und fast schon eine junge Dame.“ Er sah auf seine Armbanduhr. „In einer guten Stunde, schätz ich mal.“

„Na, bis dahin bin ich ja locker fertig mit dem Schwimmbad.“

Tatsächlich tauchte Nicole schon eine halbe Stunde später in Stephans Küche auf. Sie schien bester Laune zu sein und strahlte ihn an.

„Hallo Stephan“, begrüßte sie ihn und stellte ihre Schultasche auf einen der Küchenstühle.

Stephan kam es so vor, als warte sie darauf, daß er sie in den Arm nahm. Er tat ihr den Gefallen und drückte sie kurz. „Na, mein Mäuschen, Du bist ja schon früh dran. Das Essen ist noch gar nicht fertig.“

„Macht ja nix. Ich bin ja auch viel zu früh. Die letzte Stunde ist ausgefallen, und da hab ich den Bus früher gekriegt. Wie geht’s Kevin? Soll ich Dir helfen?“

Er ließ sie wieder los und stupste sie lachend auf die Nasenspitze. „Kevin geht’s besser, aber Du solltest mal nach ihm sehen. Und ja, dann kannst Du mir helfen.“

Sie schnappte ihre Schultasche und lief hinaus. Eine Minute später war sie wieder da.

„Kevin schläft. Was kann ich denn machen?“

„Kartoffeln schälen und eine Zwiebel klein schneiden. Ich mach derweil das andere.“

„Was gibt’s denn?“

„Forellen, Kartoffeln und Spinat.“

„Aha. Haben wir noch nie gegessen.“

„Na, hoffentlich schmeckt‘s Euch.“

Sie zuckte die Achseln. „Wird schon. Kevin ißt sowieso alles, und ich bin mal gespannt.“

„Also dann mal los.“

Neugierig sah sie ihm zu, wie er die Forellen in der heißen Butter briet.

„Soviel Butter nimmst Du?“

„Fische müssen schwimmen, Mäuschen. Hast Du das noch nicht gewußt?“

Sie kicherte. Dann sah sie entsetzt zu, wie er den Spinat ebenfalls in eine gebutterte Pfanne warf. „Was machst Du denn mit dem Gemüse? Das wird ja ganz gammelig!“

„Wird es nicht, mein Schatz. Dafür schmeckt’s besonders gut, wenn Du es ein bißchen anbrätst. Deckst Du mal den Tisch? Wir sind zu viert. Frau Batitsch ißt auch mit.“

Nicole sah ihn fragend an.

„Unsere Putzfrau. Schon vergessen?“

„Und die ißt auch mit uns?“

„Ja, warum denn nicht? Das macht sie eigentlich immer, wenn sie hier arbeitet.“

„Also meine Mutter kriegt nie was zu essen, da, wo sie arbeitet. Aber die arbeitet ja auch meistens abends oder nachts. Ich find das ja prima, daß Deine hier dann auch mitißt.“

„Normalerweise kocht sie sogar. Nur heute hatte ich gesagt, daß ich’s mache, weil Du nicht allein essen solltest und dazu noch was Aufgewärmtes.“

„Das wär aber nicht schlimm gewesen.“

„Kann sein. Aber ich wollte das nicht. Gemeinsame Mahlzeiten sind wichtig, weil man dabei gut miteinander reden kann. Findest Du nicht?“

Nicole zuckte die Achseln. „Hab ich noch nie drüber nachgedacht. Bei uns zu Hause gab‘s sowas nicht. Wenn, dann hab ich mit Kevin zusammen gegessen. Und der redet ja nicht.“

„Der wird schon. Laß ihm einfach etwas Zeit. Holst Du ihn mal?“

Als Nicole mit ihrem Bruder zurückkam, war auch Frau Batitsch in der Küche. Sie war mit ihrer Arbeit inzwischen fertig und wurde von Nicole höflich begrüßt. Das Essen gestaltete sich ein wenig schwierig. Stephan mußte den Kindern zeigen, wie sie mit dem Fisch umgehen mußten. Schließlich hatten sie noch nie eine Forelle filetiert. Als sie es begriffen hatten, aßen sie mit gutem Appetit. Offensichtlich schmeckte es ihnen. Allerdings waren sie beim Essen recht schweigsam. Kevin sowieso, weil er nie viel redete, und Nicole hielt sich zurück, weil die fremde Frau Bartitsch mit am Tisch saß. Die wiederum konnte ihrerseits mit den Kindern nicht viel anfangen, die sie nicht kannte. Immerhin erzählte sie, daß sie selber drei Kinder hatte, jünger zwar als Nicole und Kevin, aber sie besuchten die gleiche Schule.

„Den Matija Batitsch, den kenn ich“, sagte Kevin. „Der geht in meine Klasse. Der ist ziemlich gut im Sport. Aber geredet hab ich noch nie mit dem.“

„Hätte mich auch gewundert“, meinte seine Schwester. „Du redest ja fast nie mit jemand.“

Kevin zuckte mit den Achseln und sah verlegen auf seinen Teller.

„Ich werd ihn mal fragen, ob er Dich auch kennt“, sagte Frau Batitsch.

„Bestimmt nicht“, antwortete Kevin. „Der hat so viele Freunde, der hat mich garantiert noch nie bemerkt.“

Nach dem Essen wollte Nicole beim Aufräumen helfen, aber Frau Batitsch schickte sie weg. „Das ist nicht nötig, Kind“, sagte sie freundlich. „Geh Du mal lieber, kümmer Dich drum, daß Dein Bruder wieder gut ins Bett kommt und mach Deine Schularbeiten. Das hier, das mach ich schon.“

Nicole nickte und lief Kevin hinterher, der langsam die Treppe hinaufstieg. Sie ging mit ihm in sein Zimmer und sah ihm zu, wie er sich wieder auszog.

„Tut mir leid wegen vorhin, Kevin. Ich hätte das nicht sagen sollen.“

„Was?“ erkundigte er sich.

„Na, daß Du nie mit jemandem redest. Das war nicht nett.“

„Wieso? Stimmt doch aber.“

„Trotzdem.“ Sie betrachtete ihren Bruder, der inzwischen nackt vor ihr stand. „Du bist immer so lieb, da muß das nicht sein.“

Sie griff nach seiner Hand und zog ihn zu sich auf ihren Schoß.

„Was wird das denn jetzt?“ fragte er erstaunt. „Sowas hast Du ja noch nie gemacht.“

„Nee. Hab ich nicht. Aber ich wollte Dir auch mal sagen, daß ich unheimlich froh bin, daß ich Dich hab.“

„Naja, jetzt brauchst Du mich ja nicht mehr“, stellte er resigniert fest.

Nicole setzte sich mit einem Ruck auf. „Wer sagt das? Wieso das denn nicht?“

„Ich sag das“, antwortete Kevin ruhig. „Jetzt hast Du doch Stephan.“

„Aber der ist doch für uns beide da“, gab sie zurück. „Und außerdem ist er nicht mein Bruder. Das bist doch nur Du.“

„Na und? Ich kann Dir aber längst nicht so gut helfen wie Stephan. Allemal wenn ich jetzt auch noch krank bin.“

„Nee, aber Du hast mir bis jetzt immer geholfen. Denkst Du vielleicht, das vergeß ich einfach, und jetzt will ich von Dir nichts mehr wissen?“

Kevin zuckte ratlos mit den Schultern. „Keine Ahnung. Es wär ja auch nicht so schlimm. Aber ich hab Dich doch so lieb.“

Nicole schloß die Arme um seinen Leib und drückte ihn an sich. „Ich glaube, das weiß ich, auch wenn Du’s noch nie gesagt hast.“

„Das konnte ich nicht“, gab er zu.

„Aber gespürt hab ich’s trotzdem“, antwortete Nicole lachend. „Und ich hab Dich ja auch ganz furchtbar lieb. Und deshalb laß ich Dich auch nie, nie, nie im Stich, Kevin.“ Sie legte den Kopf an seine nackte Schulter. „Das mußt Du mir glauben.“

„Und ich dachte schon, jetzt wär ich ganz allein.“

„Was für ein Blödsinn!“ Nicole war jetzt richtig empört. „Ganz im Gegenteil. Jetzt hast Du nicht nur mich, jetzt hast Du doch auch noch Stephan. Oder ist er nicht nett zu Dir?“

„Doch, ist er, sehr sogar“, gab Kevin zu. „Heute morgen hat er mich ganz toll getröstet.“

„Wieso, was war denn?“

„Ach ich weiß auch nicht. Er hat sich richtig gut um mich gekümmert und mir das Frühstück hier hoch gebracht und so. Und auf einmal konnte ich nicht mehr. Ich weiß auch nicht wieso, aber auf einmal mußte ich so heulen und konnte gar nicht mehr aufhören. Er hat mich einfach festgehalten. Da hab ich mich richtig gut gefühlt. Er hat mich nicht mehr losgelassen, bis es wieder vorbei war.“

Nicole faßte ihn bei den Armen und drehte ihn so, daß er sie ansehen mußte. „Wird Zeit, daß Du wieder gesund wirst, Kevin. Die viele Rumliegerei bekommt Dir nicht. Du denkst zuviel nach, und dann kommt so ‘n Mist dabei raus.“

Kevin lachte. „Wahrscheinlich hast Du recht. Aber jetzt sollte ich trotzdem wieder ins Bett gehen. Ich fühl mich ziemlich schlapp.“

Sie nickte und half ihm ins Bett. Erschöpft schloß er die Augen. Sie streichelte sein Gesicht. Er lächelte.

„Du Kevin“, sagte sie leise, „darf ich Dir mal ‘n Küßchen geben?“

Er schlug die Augen auf. „Aber das hast Du doch noch nie gemacht.“

„Aber gewünscht hab ich mir’s immer.“

Erneut schloß Kevin die Augen. „Ich auch“, gab er zu.

Nicole beugte sich über ihn. Was er dann allerdings bekam, hatte mit einem Küßchen wenig zu tun. Vielmehr gab sie ihm einen richtigen, langen und ausführlichen Kuß.

„Danke für alles, Kevin“, sagte sie danach. „Ich hab Dich so, so, so, so lieb.“

Kevin schlang ihr die Arme um den Hals und gab ihr ihren Kuß zurück. Mit Zins und Zinseszins. Nicole strahlte ihren Bruder an. Sie küßten sich ein drittes Mal.

„Ich glaub, das war jetzt aber mal nötig“, sagte sie danach.

Kevin lachte. „Das glaub ich auch.“ Er nahm ihre Hände. „Uns kriegen sie nicht auseinander. Was meinst Du?“

Er schüttelte den Kopf. „Ganz bestimmt nicht. Nicht, wenn wir nicht wollen.“

Nicole stand auf und strich ihm über den Kopf. „So, und jetzt ruh Dich mal schön aus. Ich geh nach drüben, Hausaufgaben machen.“ Sie drückte noch einmal seine Hand. „Und daß Du mir nicht wieder auf so blöde Gedanken kommst.“

Kevin zwinkerte ihr zu. „Keine Sorge. Wir haben ja jetzt miteinander gesprochen.“

***

Weil Freitag war, hatte Nicole ihre Schularbeiten schnell erledigt. Sie hatte ohnedies keine Mühe damit. Sie packte die Schulsachen zusammen und ging hinüber zu ihrem Bruder. Kevin schlief. Sie setzte sich in den Sessel gegenüber seinem Bett und betrachtete ihn liebevoll. Wie hatte er nur denken können, sie würde ihn jetzt einfach fallenlassen, nachdem sie endlich aus dem Schlamassel heraus waren? Sicher, er hatte ihr weit mehr geholfen als sie ihm. Aber er hatte sich ja auch meistens nicht helfen lassen wollen. „Ach, das geht schon“, hatte er immer gesagt und nie zugegeben, daß er auch Schmerzen hatte. Bei ihr hatte er das nie zugelassen. „Du bist ein Mädchen, da ist das viel schlimmer“, hatte er behauptet und darauf bestanden, ihr zu helfen. Schon als er erst zehn Jahre alt war. Immer hatte er versucht, seine große Schwester zu beschützen so gut er konnte. Und nicht selten hatte er dafür die Prügel eingesteckt. Aber darüber hatte er sich nie beklagt. Er hatte sich schlagen lassen und sich im nächsten Moment trotzdem wieder um sie gekümmert. Sie mußte sich eingestehen, daß es ihr bedeutend schlechter gegangen wäre ohne ihn. Aber irgendwie hatte sie sich nie dafür bedanken können. Weil sie einfach nicht miteinander redeten. Jetzt hatten sie endlich wenigstens damit angefangen. Wahrscheinlich weil sie jetzt einmal keine Angst mehr zu haben brauchten. Vielleicht würden sie von jetzt an öfter miteinander reden. Sie wünschte es sich so sehr.

Kevin schlug die Augen auf. Er sah seine Schwester an und lächelte. „Was machst Du denn da?“ fragte er mit rauher Stimme.

„Ich seh Dir beim Schlafen zu.“

Kevin lachte. „Wahnsinnig spannend, was?“

„Nein. Aber sehr beruhigend. Wenn Du schläfst, siehst Du unheimlich lieb und friedlich aus.“

„Du willst mich veräppeln.“

„Nein, will ich nicht. Ich hab nur die ganze Zeit drüber nachgedacht, wie gut das war, daß wir endlich, endlich mal miteinander gesprochen haben. Versprichst Du mir, daß wir sowas jetzt öfter machen.“

Kevin grinste. „Versprochen. Wenn ich noch ‘n Küßchen kriege.“

Selbstverständlich bekam er es.

„Was meinst Du, ob ich wohl mal schwimmen geh’n kann?“ fragte sie ihn.

Kevin schüttelte den Kopf. „Also, ich würd’s nicht tun an Deiner Stelle. Solange Du da unten noch nicht wieder ganz heile bist. So sauber ist das Wasser im Pool bestimmt nicht. Am Ende entzündet sich’s wieder, und dann geht der ganze Zirkus von vorne los. Lieber solltest Du Dich nochmal eincremen. Und Dir vor allem ’n Rock anziehen. Dann könntest Du Dein Höschen weglassen. Das sollst Du doch, oder?“

Nicole nickte. „Das hat die Ärztin gesagt.“

„Na also. Dann mach das doch auch.“

Nicole ging hinüber in ihr Zimmer und zog sich um. „Machst Du das wieder?“ bat sie Kevin und hielt die Tube mit der Wundsalbe hoch, die sie aus dem Badezimmer mitgebracht hatte.

Kevin nickte, setzte sich auf die Bettkante und begann, die Salbe behutsam auf Nicoles Unterleib zu verteilen.

„Findest Du das eigentlich aufregend, wenn Du das machst?“ fragte sie ihn.

„Früher nie, aber jetzt schon ein bißchen“, gab er zu. „Früher hab ich immer nur Angst dabei gehabt. Erstens Dir wehzutun, zweitens, daß der Alte uns erwischt und drittens, weil das immer so schrecklich aussah und es nie was genützt hat, weil’s ja nie besser wurde. Jetzt sieht man, daß es besser wird und auch besser aussieht. Jetzt siehst Du schon ziemlich aufregend aus. Vor allem, weil Du auch die Haare abhast.“

„Findest Du das gut?“

„Ziemlich. Ich finde, es sieht toll aus.“

„Soll ich das jetzt immer so machen?“

„Wenn Du willst. Aber wenn Du wieder gesund bist, dann seh ich Dich ja nicht mehr.“

„Das liegt doch an uns, wie oft wir uns sehen. Schon allein dadurch, daß wir uns das Badezimmer teilen. Wenn wir uns nicht verstecken, dann sehen wir uns auch.“

„Meinst Du denn, wir sollten das machen?“

„Also ich würd schon, wenn Du mitmachst. Ich fänd’s nicht schlecht. Endlich mal einer, vor dem man keine Angst zu haben braucht, der gut aussieht und der einem nicht wehtut, wenn er einen anfaßt. Oder der einen auch gar nicht anfaßt, nur weil man gerade nichts anhat.“

„Und wenn ich dann einen Steifen kriege?“

„Na und, dann kriegst Du eben einen. Du meine Güte, wie oft hab ich das bei diesen widerwärtigen Kerlen schon gesehen. Nur bei Dir hab ich’s noch nie gesehen. Weil Du nämlich nie einen gekriegt hast. Da konnte man machen, was man wollte.“

Kevin schüttelte den Kopf. „Nee, so wie die das gewollt haben, ging das auch nicht. Zum Glück. Wer weiß, was die sonst alles mit mir angestellt hätten.“

Nicole nickte. „Da darf ich gar nicht dran denken.“ Sie streckte ihm die Hand hin. „Komm. Jetzt bist Du dran.“

Sie cremte ihn ein und gab ihm dann eine frische Unterhose und ein T-Shirt. „Hier. Das sind welche von den neuen Sachen. Zieh die mal an. Dann gehen wir Stephan besuchen. Ich hab nämlich Durst.“

Kevin schlüpfte in die Sachen hinein. „Sitzt prima, die Hose“, stellte er fest.

„Man sieht’s“, meinte Nicole. „Sieht ziemlich aufregend aus. Man sieht fast alles.“

Kevin nickte. „Genau wie bei Dir. Aber ich find’s nicht schlecht. Das T-Shirt ist allerdings einiges zu groß.“

„Das soll ja auch so sein, hat die Ärztin gesagt. Damit möglichst nichts scheuert und man nicht schwitzt.“

Sie gingen zusammen hinaus. Auf der Treppe griff Kevin nach Nicoles Hand. Sie sah ihn lächelnd an. Vorsichtig klopften sie an die Tür von Stephans Arbeitszimmer.

„Kommt rein!“ rief er.

Zögernd gingen sie hinein. Stephan lachte und winkte ihnen, näher zu kommen.

„Niedlich seht Ihr aus“, stellte er fest. „Die stehen Dir ganz toll diese kurzen Röckchen“, sagte er zu Nicole. Und zu Kevin: „Na, passen die neuen Sachen?“

„Die Hosen sehr gut“, antwortete Kevin und hob sein T-Shirt hoch, damit Stephan den Slip sehen konnte. „Die T-Shirts sind natürlich zu groß, aber das sollen sie ja wohl auch sein.“

„Hmhmm“, machte Stephan. „Was gibt’s denn?“

„Wir wollten fragen, ob wir uns ein Glas Apfelsaft nehmen dürfen“, sagte Nicole.

„Auf keinen Fall“, gab Stephan streng zurück. „Es steht doch nicht der halbe Kühlschrank voll mit Saft, damit ihn jemand trinkt.“ Er legte den Kopf schief und sah sie an. „Habt Ihr noch mehr so schlaue Fragen?“

Beide bekamen sie einen roten Kopf.

„Haut bloß ab und bringt mir auch ein Glas mit.“ Er grinste sie an.

Kichernd liefen sie hinaus.

„Setzt Euch, Ihr zwei Helden“, forderte Stephan sie auf, als sie mit dem Saft zurückkamen.

Gehorsam setzten sie sich auf die beiden Stühle vor seinem Schreibtisch. Nicoles Minirock rutschte gefährlich weit nach oben.

Stephan lachte. „Hast Du gar nichts drunter?“

Das Mädchen schüttelte den Kopf. „Soll ich doch nicht, hat die Ärztin gesagt. Und Kevin meinte, wenn ich ‘n Rock anziehe, kann ich das Höschen weglassen.“

„Ganz schön clever, Dein kleiner Bruder, was?“

Sie nickte.

„Habt Ihr Euch nochmal mit der Salbe eingerieben?“

„Ja, gerade eben.“

„Und jetzt habt Ihr Langeweile.“

„Kevin zuckte mit den Schultern. „Ein bißchen“, gab er zu.

Stephan faltete die Hände ineinander und stützte sein Kinn darauf. „Also, ich kann mich im Moment leider nicht um Euch kümmern. Ich hab noch ziemlich viel zu tun. Aber ich mach Euch einen Vorschlag. Ihr könnt Euch hier Bücher aussuchen und was lesen oder im Wohnzimmer eine DVD und Euch einen Film angucken. Musik gibt’s da auch, wenn Ihr lesen und Musik hören möchtet. Die Sessel im Wohnzimmer sind sehr bequem, da kann Kevin sicher auch eine Weile sitzen. Dann braucht er nicht dauernd im Bett zu liegen.“ Er sah Kevin an. „Aber wenn Dir wieder schwindelig wird oder sowas, dann legst Du Dich gleich wieder hin. Klar? Daß Du mir nur ja vorsichtig bist, hörst Du?“

Kevin nickte eifrig. „Mach ich“, versprach er.

„Na, dann mal los. Sucht Euch was zu lesen aus, und dann raus mit Euch. Und wenn Ihr das nächstemal was trinken wollt, dann geht Ihr in die Küche und nehmt Euch was. Klar? Ihr braucht doch nicht wegen jedem Glas Saft um Erlaubnis zu fragen. Wo gibt’s denn sowas?“

Lachend zwinkerte er ihnen zu. Sie machten sich daran, die Bücher in den Regalen anzusehen. Es gab eine ungeheure Menge davon, und die Auswahl fiel ihnen nicht leicht. Schließlich fanden sie aber doch etwas nach ihrem Geschmack. Wortlos gingen sie hinaus. Stephan hatte sich schon wieder in seine Arbeit vertieft und achtete nicht auf sie.

Im Wohnzimmer stöberten sie durch seine umfangreiche CD-Sammlung. Mit Musik kannten sie sich überhaupt nicht aus. Eine eigene Musikanlage hatten sie nie besessen und demzufolge natürlich auch keine Musik. Ratlos standen sie vor einer offenen von zahlreichen Schubladen, von denen jede Dutzende von CDs enthielt, schön übersichtlich aufgereiht.

„Hast Du eine Idee, was das alles ist?“ fragte Nicole verzweifelt.

Kevin schüttelte den Kopf. „Nee. Genausowenig wie Du.“

„Und jetzt?“

„Keine Ahnung. Wir könnten Stephan fragen, aber den möchte ich jetzt nicht schon wieder stören. Außerdem wüßte ich auch gar nicht, wie man das alles hier bedienen muß.“

Er zeigte auf die vielen Geräte, die sich in der Schrankwand verbargen.

„Fragen wir ihn heute Abend.“

Kevin nickte. Sie setzten sich in zwei der bequemen Drehsessel und vertieften sich in ihre Bücher. Dort saßen sie noch immer und lasen, als Stephan am frühen Abend zu ihnen hereinkam. Er setzte sich zu ihnen.

„Na, Ihr beiden Süßen, wie geht’s Euch?“

„Prima“, antwortete Nicole. „Endlich dürfen wir mal irgendwo sitzen und lesen. Zu Hause durften wir ja keine Bücher haben. Und wo hätten wir auch sitzen sollen?“

„Also hier dürft Ihr sitzen und lesen soviel Ihr wollt. Und wenn Euch die Bücher ausgehen, dann sagt rechtzeitig Bescheid, damit wir neue kaufen können. Musik wolltet Ihr keine hören?“

Kevin bekam einen roten Kopf. „Eigentlich schon“, gab er zu. „Aber wir wußten gar nicht, was das alles ist. Und wie man das abspielen kann schon gar nicht. Wir haben doch sowas noch nie gehabt.“

„Hm“, machte Stephan und strich dem Jungen über den Kopf. „Entschuldige. Daran hab ich gar nicht gedacht.“ Er überlegte einen Moment. „Paßt auf. Nach dem Abendessen, da hab ich Zeit für Euch. Dann erklär ich Euch alles. Einverstanden?“

Beide strahlten ihn an und nickten.

„Aber jetzt hab ich eine Bitte“, fuhr er fort. „Mäuschen, könntest Du Dich um das Abendessen kümmern? Ich müßte noch ein bißchen was machen, aber dann bin ich fertig.“

Sofort sprang Nicole auf. „Ja sicher. Was soll ich denn machen?“

Stephan blies die Backen auf. „Laß Dir was einfallen. Im Kühlschrank ist genug Auswahl. Da findest Du bestimmt was.“ Er sah Kevin an. „Und Du legst Dich am besten solange hin, mein Junge. Du bist jetzt schon ziemlich lange auf. Das ist bestimmt nicht so gut. Hm?“

Kevin lächelte Stephan an. Es gefiel ihm, wenn Stephan ‚mein Junge’ zu ihm sagte und es gefiel ihm auch, daß er so besorgt war. So etwas hatte er bis dahin nicht kennengelernt.

„Mach ich“, antwortete er, stand auf und ging hinaus. Auch Stephan ging zurück in sein Arbeitszimmer. Nicole blieb allein zurück. Seufzend klappte sie ihr Buch zu und legte es zur Seite. Das war ihr auch noch nicht passiert. Das Essen hatte sie schon oft genug zubereitet, für Kevin und sich selbst. Das war kein Problem. Aber da hatte sie immer gleich gewußt, was sie machen sollte. Sie mußte mit dem zurechtkommen, was sie hatte. Es gab ja keine Auswahl. Aber jetzt war das etwas anderes. Der ganze Kühlschrank war voll. Und eine Speisekammer gab es auch noch, mit allen möglichen Vorräten darin. Und Stephan war bestimmt anspruchsvoll. Obwohl, Bratkartoffeln hatte er auch gegessen.

Sie stand auf und ging hinüber in die Küche. Als sie sich den Inhalt des Kühlschranks ansah, wurde es nicht besser. Viele Sachen darin kannte sie nicht einmal. Verzweifelt klappte sie die Tür wieder zu. Dann fiel ihr Blick auf das Regal mit den Kochbüchern. Sie zog eines davon heraus, setzte sich an den Küchentisch und fing an zu blättern.

Wenige Minuten später war sie eifrig bei der Arbeit. Eine gemischte, kalte Platte für jeden wollte sie machen. Dazu noch Käse, von dem es eine ziemliche Auswahl gab und den sie auf einem Brett anrichtete und einen Obstsalat. Eine geschlagene Stunde lang werkelte sie in aller Ruhe. Dann kam Kevin herein.

„Du, Nicci, sag mal, wann gibt’s denn jetzt was zu essen? So langsam krieg ich Hunger.“

Sie lachte ihn an. „Ist doch prima. Du kommst gerade richtig, Kevin. Ich bin sofort fertig. Vielleicht kannst Du Stephan schon mal Bescheid sagen.“

Der Junge nickte und ging hinüber in Stephans Arbeitszimmer. Lachend kamen die beiden kurz darauf in die Küche. Stephan hatte den Arm um Kevins Schultern gelegt und der Junge schien sehr glücklich darüber zu sein.

„Sorgt Ihr bitte für die Getränke?“ bat Nicole, die dabei war, den Tisch zu decken. „Ich würde gerne Apfelschorle trinken, wenn’s geht.“

Stephan warf einen kurzen Blick auf den Tisch. „Ich glaub, ich geh mir ’ne Flasche Wein holen“, sagte er und verschwand.

Kevin machte für sich und seine Schwester ein Glas Apfelschorle zurecht.

„Das sieht aber gut aus“, sagte er, als er die Gläser auf den Tisch stellte. „Nur was das alles ist, weiß ich nicht.“

„Macht nix. Ich sag’s Euch gleich“, beruhigte sie ihn.

„Mäuschen, Du bist ein Genie“, lobte Stephan sie nach dem Essen. Alle Teller waren leer, es war nichts übrig geblieben. „Aus Dir könnte man einen fabelhaften Garde Manger machen.“

Sie sah ihn verständnislos an. „Garde Manger? Was ist das denn?“

„Das ist in der Küche der Chef für die kalten Sachen. Ein ziemlich wichtiger Posten“, erklärte Stephan. „Und was Du da gemacht hast, war einfach fabelhaft.“

Nicole wurde puterrot im Gesicht. „Sag doch nicht sowas“, wehrte sie ab.

„Wieso? Stimmt doch“, sagte Kevin. „Stephan hat doch recht. Es hat einfach super geschmeckt. Das meiste kannte ich zwar nicht, aber toll war’s trotzdem.“

„Ich kannte das auch nicht“, gab Nicole zu. „Aber das stand alles so im Buch, und die Sachen waren da, und da hab ich das einfach mal so gemacht.“

„Und woher hast Du gewußt, daß uns das schmecken würde?“ erkundigte sich Kevin.

Nicole zuckte die Achseln. „Das wußte ich gar nicht. Aber auf den Bildern hat’s so gut ausgesehen, da hab ich’s einfach nachgemacht.“

„Jedenfalls ist Dir das hundertprozentig gelungen, Mäuschen“, lobte Stephan sie noch einmal. „Wenn Du so weitermachst, ernenne ich Dich demnächst zum Chef de Cuisine in diesem Haus.“

„Du sollst mich nicht so veräppeln, Stephan.“

„Nee, nee, mein Schatz. Ich veräppel Dich nicht. Ich mein das richtig ernst. Deine Carbonarasauce gestern, die war einfach überirdisch. Ich hab zwar nichts gesagt, aber so eine gute hab ich noch nie gegessen. Und glaub mir, ich hab schon ’ne Menge Spaghetti Carbonara gegessen. Also, wenn’s Dir Spaß macht, kannst Du meinetwegen öfter kochen. Ich wär mal gespannt, was Du noch alles zaubern würdest.“

„Na, wenn man alles zur Verfügung hat, ist das ja auch nicht besonders schwer.“

„Da würdest Du Dich aber wundern“, gab Stephan zurück. „Und jetzt hör bloß auf, Deine Leistung kleinzureden. Das hast Du ganz wunderbar gemacht, das kannst Du Dir ruhig an den Hut stecken.“

***

Gemeinsam räumten sie die Küche auf. Nicole war jetzt doch ein wenig stolz, daß Stephan und Kevin sie so gelobt hatten. Man sah es ihr an. Kevin strich ihr im Vorbeigehen über den Rücken. Sie strahlte ihn an.

„Kommt, Ihr beiden, jetzt wollen wir mal nach der Musik sehen“, sagte Stephan, nachdem sie die Spuren ihres Festmahls beseitigt hatten.

Im Wohnzimmer zog er eine Schublade mit den CDs auf und nahm eine Scheibe heraus. „Ich nehm jetzt einfach mal eine. Was das alles ist, erzähl ich Euch nachher. Aber zuerst gucken wir uns mal die Geräte an. Geduldig erklärte er ihnen die Bedienung der verschiedenen Geräte.

„Ganz schön kompliziert“, meinte Nicole am Ende. „Aber ich glaub, wir haben’s kapiert. “Sie sah ihren Bruder an.

Kevin nickte.

„Natürlich“, meinte Stephan. „Ihr seid ja nicht blöd. Ganz im Gegenteil. Aber jetzt zu den CDs. Die DVDs mit den Filmen brauch ich ja nicht zu erklären. Was das für ein Film ist, steht ja drauf. Aber bei der Musik ist das was anderes. Da steht’s zwar auch drauf, aber man muß schon wissen, was für eine Art Musik das ist.“

Schublade für Schublade ging er mit ihnen durch, zeigte ihnen die verschiedenen Gattungen von Musik und spielte ihnen immer wieder Beispiele vor. Es war eine sehr gemütliche Runde. Selbst die Katzen kamen herein und machten es sich auf den Sesseln der anderen Sitzgruppe bequem. Stephan und die Kinder saßen derweil auf dem Fußboden und hatten eine ganze Reihe von CDs zwischen sich ausgebreitet. Gebannt hörten sie zu, was er ihnen erklärte. Sie waren wirklich interessiert, stellten Fragen und wollten immer noch mehr Beispiele hören. Irgendwann unterbrach Stephan allerdings seinen Vortrag. Er legte seine Hand auf Nicoles nackten Oberschenkel.

„Du, Mäuschen, kannst Du mir einen Gefallen tun? Sei doch so lieb und zieh Dir rasch ein Höschen an. Du siehst zwar ganz bezaubernd aus, aber irgendwie irritiert mich das doch, wenn Du so gar nichts anhast unter Deinem Röckchen.“

Sie bekam einen roten Kopf. „Tut mir leid, Stephan. Aber ich hab mir nichts dabei gedacht.“

Stephan nahm ihre Hand. „Das weiß ich doch, und es muß Dir auch nicht leid tun. Es ist nur so, daß Du ein ziemlich aufregendes Mädchen bist.“

„Aber Du darfst mich doch ruhig immer ansehen. Du tust mir doch nix.“

„Eben, mein Schatz. Und damit das auch so bleibt, ziehst Du Dir jetzt besser mal ein bißchen was an. Den Rock kannst Du ja meinetwegen weglassen. Mit der Zeit gewöhn ich mich sicher dran, wenn Du gar nichts anhast, aber im Moment macht mich das noch ziemlich nervös. Okay?“

Während Nicole in ihr Zimmer ging, um sich umzuziehen, sprach Stephan mit Kevin weiter über die Musik. Seltsamerweise interessierte sich der Junge sehr für die klassische Musik. Insbesondere die Klavierkonzerte hatten es ihm angetan.

„Darf ich mir das auch mal ganz anhören?“ fragte er vorsichtig.

Stephan strich ihm liebevoll über den Kopf. „Natürlich mein Junge. Wann Du willst und so oft Du willst. Hier oder oben in Deinem Zimmer. Da gibt’s nämlich auch eine Musikanlage. Hast Du sicher schon gesehen. Die funktioniert genauso wie die hier unten.“

„Weißt Du, das mit dem Klavier find ich so toll“, schwärmte er. „Das würd ich auch gern können.“

Stephan legte ihm den Arm um die Schultern. „Hör’s Dir erstmal an. Und wenn Du dann wirklich willst, dann sehen wir mal, ob Du Klavierstunden nehmen kannst. Das Instrument steht ja hier.“ Er deutete auf den großen Flügel, der im Wohnzimmer stand.

Nicole kam zurück und setzte sich wieder. Sie trug jetzt, wie ihr Bruder auch, einen Slip und ein T-Shirt. „Besser?“ fragte sie.

Stephan nickte. „Jetzt siehst Du immer noch ganz, ganz süß aus, Mäuschen, aber nicht mehr ganz so aufregend.“

Er tätschelte wieder ihren Oberschenkel. Sie lächelte ihn an. „Soll ich Dir sagen, was mir gefällt?“

„Ja, mach mal“, antwortete Stephan.

Nicoles Geschmack war etwas moderner. Obwohl das was ihr gefiel auch schon ein wenig in die Jahre gekommen war.

„Das ist so eine Richtung“, erklärte Stephan. „Glenn Miller, Count Baisey, Benny Goodman, und dann hier, Frank Sinatra, Sammy Davis Junior und Dean Martin. ‚The Rat Pack’ hat man die drei genannt, weil sie oft zusammen aufgetreten sind und wahnsinnig tolle Shows gemacht haben, so daß die Leute völlig aus dem Häuschen geraten sind. In Las Vegas war das, in den USA. Oder in New York, in der Radio City Music Hall.“

„Das ist der echte Wahnsinn“, sagte Nicole. „Da kann man überhaupt nicht mehr stillsitzen und kriegt echt gute Laune, wenn man das hört.“

Stephan lachte. „Dann solltest Du’s Dir vor allen Dingen anhören, wenn Du mal nicht so gut drauf bist.“

„Dann brauch ich mir’s nie anzuhören“, meinte sie. „Bei Dir ist man immer gut drauf.“

Stephan zog sie zu sich heran und nahm sie in den Arm. „Du bist so ’ne Süße, mein Mäuschen, weißt Du das?“ Dann sah er Kevin an und nahm ihn in den anderen Arm. „Und Du auch, Großer. Ihr beiden seid wohl so ziemlich das Beste, was mir passieren konnte.“

Er hielt sie eine Weile fest, bevor sie sich wieder der Musik zuwandten. Irgendwann merkte er, daß Kevin immer stiller wurde. Erschrocken stellte er fest, daß der Junge ganz blaß geworden war. Er zog ihn wieder zu sich heran. „Ich glaub, Du gehst jetzt mal besser ins Bett, mein Junge. Du siehst ja ganz blaß aus.“

Kevin nickte. „Kommst Du mit?“ bat er leise.

Stephan sah ihn an. „Na klar.“ Er legte ihm den Arm um die Schultern und brachte ihn in sein Zimmer. „War ’n bißchen viel für Dich heute, was?“ Er zog dem Jungen das T-Shirt aus. „Soll ich Dich noch schnell eincremen?“

Wieder nickte Kevin bloß. Er zog seine Unterhose aus und beugte sich nach vorne. Stephan cremte ihn mit der Wundsalbe ein.

„Das sieht aber schon gar nicht mehr so schlimm aus“, stellte er fest.

„Es tut auch kaum noch weh.“

„Und die Striemen hier?“ Stephan verteilte die Salbe auf dem Rücken und der Brust des Jungen.

„Die auch nicht.“

Als er im Bett lag, streckte er die Hand nach Stephan aus. Stephan nahm sie und setzte sich zu ihm aufs Bett. „Was gibt’s denn noch?“

„Danke, Stephan“, sagte der Junge. „Für alles.“

Stephan streichelte sein Gesicht. „Schon gut, mein Junge. Und jetzt schlaf mal schön, damit Du mir schnell wieder gesund wirst.“

Noch einmal strich er ihm über den Kopf, dann stand er auf und ging hinaus. Kevin schaltete das Licht aus und wickelte sich in seine Decke. Er weinte. Vor Glück.

Nicole hatte inzwischen aufgeräumt. „Ich glaub, ich geh jetzt auch ins Bett“, sagte sie, als Stephan ins Wohnzimmer zurückkam.

„Mach das, Mäuschen. Soll ich Dich auch bringen?“

Sie nickte. „Wenn’s Dir nichts ausmacht. Ich müßte auch noch eingecremt werden. Wenn Du das machen könntest, weil Kevin doch jetzt schon im Bett liegt.“

Stephan schüttelte den Kopf. „Wenn’s mir nichts ausmacht“, wiederholte er, was sie gesagt hatte. „Wie Du redest. Natürlich macht’s mir nichts aus. Jetzt komm schon, Du Maus, bevor die beiden Raubtiere da Dich kriegen.“

Nicole lachte. Stephan klatschte in die Hände. „Raus hier, Ihr beiden“, rief er. Die beiden Katzen stoben davon. Stephan nahm Nicoles Hand. Er schloß die Wohnzimmertür hinter sich und ging mit ihr die Treppe hinauf. Die Katzen saßen in der Halle und beobachteten sie.

„Was wird jetzt mit denen?“ fragte Nicole.

„Och die verziehen sich gleich, wenn’s hier nichts mehr zu sehen gibt“, antwortete Stephan. „Dann gehen sie raus und versuchen, richtige Mäuse zu fangen.“

Nicole zog sich gleich aus, als sie in ihrem Zimmer ankamen.

„Daß Du das so ohne weiteres machst“, wunderte sich Stephan.

Sie schüttelte den Kopf. „Weißt Du, es ist so ein tolles Gefühl, wenn mich endlich mal jemand anguckt, der mir gar nichts tut und immer nur lieb zu mir ist. Der mich anfaßt, weil er mir hilft und nicht, weil er mich vergewaltigen will. Deshalb macht mir das ja auch bei Kevin nichts aus. Kannst Du das verstehen?“

„Ehrlich gesagt, nicht so ganz. Ein bißchen vielleicht schon, aber so richtig nicht. Normalerweise schämt sich ein Mädchen doch zu Tode, wenn ein Fremder sie so ansieht und dann auch noch an ihr rumfummelt.“

„Aber Du bist ja gar kein Fremder mehr“, antwortete sie. „Weißt Du Stephan, ich hatte so eine Angst vor Dir, als ich zuerst mit Dir hierherkam. Ich hab ehrlich gedacht, Du wolltest auch nur, was die anderen alle wollten. Wenigstens warst Du nicht so widerlich wie die. Und Du hattest Kevin geholfen. Und den Alten außer Gefecht gesetzt. Da dachte ich, wenn’s denn sein muß, meinetwegen.“

„Mein Gott, Mäuschen, das ist ja schrecklich!“ Stephan war entsetzt. „Nur weil ich Deinem Bruder geholfen habe und Deinem Vater eine verpaßt habe warst Du dazu bereit?“

„Du hast ja keine Ahnung, was das für mich bedeutet hat. Keiner konnte Kevin mehr was tun, und der Alte würde uns für lange Zeit nicht mehr zu seinen fiesen Kerlen mitschleppen. Da wär so ’ne kurze Sache mit Dir doch gar nichts gewesen. Das hätt ich doch mit links überstanden. Und dann wär ich einfach weggelaufen. Daß das jetzt alles so ganz anders gekommen ist, das kann ich immer noch nicht glauben.“

Stephan hatte unterdessen all ihre zerschundenen Körperstellen eingecremt. Er gab ihr einen kleinen Klaps auf den Po. „So, mein Mäuschen. Jetzt aber schnell unter die Decke mit Dir. Wir stehen hier rum und quatschen und Du hast gar nichts an und frierst. Du holst Dir ja den Tod.“ Er schlug die Bettdecke zurück. „Los, rein da mit Dir.“

„Und Zähne putzen?“ protestierte sie.

„Kannst Du morgen machen.“ Kurzerhand hob er sie hoch, legte sie behutsam in ihr Bett und deckte sie zu. Dann beugte er sich über sie und drückte ihr ein Küßchen auf die Stirn. „Und jetzt schlaf gut, Du Süße.“

„Ach Stephan“, sagte sie und fing an zu weinen. „Ich bin so froh.“

„Das ist schön, Mäuschen, und eigentlich kein Grund zum Weinen. Aber wenn’s Dir guttut, dann wein ruhig.“

Er setzte sich auf ihr Bett, hielt ihre Hand und wartete, bis sie zu weinen aufgehört hatte und eingeschlafen war.

Nachdenklich ging Stephan aus dem Zimmer. Jetzt hatte er sie beide ins Bett gebracht, und beide hatten geweint. Sie waren offensichtlich völlig mit den Nerven am Ende. Er war ratlos, was er jetzt tun sollte. Langsam stieg er die Treppe hinunter. In der Küche sah er die Weinflasche, die er zum Abendessen aufgemacht hatte. Sie war noch mehr als halb voll. Er schenkte sich ein Glas ein und setzte sich damit ins Wohnzimmer. Beethovens viertes Klavierkonzert, von dem der Junge so begeistert gewesen war, das wäre jetzt gerade recht. Er suchte die Aufnahme heraus und schob sie in den CD-Spieler. Die Katzen kamen wieder herein, weil er die Tür einen Spalt hatte aufstehen lassen und machten es sich auf dem Nachbarsessel bequem. Er langte hinüber und kraulte sie.

„Was meint Ihr, was soll ich mit den beiden machen? Ich hab sie inzwischen richtig lieb, und ich will unbedingt, daß es ihnen gut geht. Und daß sie bei mir bleiben können.“

Aber die Katzen gaben ihm natürlich keine Antwort. Sie schnurrten nur, weil er sie kraulte.

„Das hab ich mir gedacht, daß Ihr beiden auch keine Ahnung habt.“

Stephan trank einen großen Schluck aus seinem Glas. „Mann, Mann, Mann, da hab ich mir was Schönes eingebrockt.“

„Was hast Du Dir eingebrockt?“ kam eine Stimme von hinten.

Erschrocken fuhr Stephan herum. Unbemerkt war Kevin hereingekommen und hatte offensichtlich den letzten Teil seines Selbstgespräches mit angehört.

„Junge, Du hast mich vielleicht erschreckt“, sagte Stephan. „Warum liegst Du denn nicht im Bett und schläfst?“

Der Junge zuckte die Achseln. „Keine Ahnung. Ich hab ja geschlafen. Aber auf einmal bin ich wach geworden und hab die tolle Musik gehört. Da bin ich aufgestanden und runtergekommen.“

„Ja, ohne Dir was anzuziehen. Bist Du noch zu retten, Du Held?“

„Schlimm?“

„Für mich nicht, aber Du holst Dir ’ne Erkältung. Guck mal, da unten in dem Schrank, da ist ’ne Wolldecke. Die nimmst Du jetzt und packst Dich darin ein. Du kannst doch in Deinem Zustand nicht so splitternackt durch die Gegend laufen. Was denkst Du Dir denn? Möchtest Du was zu trinken haben?“

Kevin nickte. „Ich hol’s mir schon.“

Stephan hielt ihn am Arm fest. „Du holst Dir garnix. Ich mach das. Du setzt Dich jetzt dahin und deckst Dich zu. Verstanden?“

Stephan stand auf und holte ihm ein Glas Apfelschorle aus der Küche.

Kevin trank einen Schluck. „Darf ich zu Dir kommen?“

„Natürlich darfst Du zu mir kommen, Du Quälgeist. Du willst kuscheln, stimmt’s?“

Schnell setzte sich der Junge auf Stephans Schoß. Stephan breitete die Decke über ihn.

„Du bist mir ’ne Schmusebacke“, sagte Stephan lachend. „Wie kommt das denn?“

„Ich hab das noch nie gemacht. Und ich hab’s mir immer so gewünscht. Bei Nicci hab ich mich nie getraut. Obwohl, heute Mittag, da haben wir uns richtig toll geküßt. Das war so toll.“

„Och Du“, sagte Stephan und drückte den Jungen fest an sich.

„Kannst Du das nochmal von vorn laufen lassen?“ bat Kevin. „Das gefällt mir richtig gut.“

Stephan tat ihm den Gefallen. Kevin schmiegte sich in Stephans Arme und schloß die Augen. Es war ziemlich unbequem für Stephan, aber er ließ den Jungen. Zärtlich streichelte er seinen Kopf. „Du bist mir einer“, sagte er leise.

Gemeinsam lauschten sie der Musik.

„War das schön“, flüsterte Kevin, als der dritte Satz zu Ende war. „Können wir noch was hören?“

„Ja, willst Du denn überhaupt nicht schlafen gehen?“ fragte Stephan.

„Och nee. Das ist so schön hier bei Dir.“

Stephan lachte. „Na schön. Eins noch. Aber diesmal was ohne Klavier. Vielleicht gefällt Dir das ja auch. Steh mal auf, Du Nacktfrosch.“

„Soll ich mir was anziehen?“

Stephan schüttelte den Kopf. „Ist nicht nötig. Wenn Du Dich schön in Deine Decke einwickelst, dann geht’s schon. Ich will nur nicht, daß Du Dir zusätzlich zu Deinem ramponierten Schädel noch ’ne andere Malaise einhandelst.“

Stephan nahm die CD aus dem Spieler und suchte statt dessen eine andere heraus. „Das hier ist jetzt von dem gleichen Komponisten, Ludwig van Beethoven, und es ist seine sechste Symphonie. ‚Pastorale’ heißt die, und ich finde, die paßt jetzt ganz gut.“

Er schob die Scheibe in den CD-Spieler und setzte sich wieder in seinen Sessel. Sofort saß Kevin wieder auf seinem Schoß und kuschelte sich an ihn. Lachend drückte Stephan den Jungen und startete die CD.

„Wow!“ machte Kevin, nachdem er die ersten Takte gehört hatte. „Das ist ja der Wahnsinn.“

„Gefällt’s Dir?“ fragte Stephan.

„Sehr“, antwortete Kevin.

„Na, dann hör mal gut zu.“

Irgendwann, in der Mitte des zweiten Satzes, stand Nicole neben ihnen. Wie ihr Bruder auch, hatte sie es nicht für nötig gehalten, sich etwas anzuziehen.

„Nicci!“ rief Kevin überrascht. „Was machst Du denn hier?“

„Und Ihr? Was macht Ihr hier?“ fragte sie zurück.

„Musik hören“, antwortete Kevin. „Ich bin auf einmal wach geworden und hab die Musik gehört. Da bin ich einfach aufgestanden und hier runtergegangen. Na, und jetzt sitz ich hier bei Stephan, und wir hören gemeinsam zu.“

„Ich bin auch von der Musik wachgeworden“, erklärte Nicole. „Und da wollte ich auch mal nachsehen, was hier unten los ist.“

Stephan blies die Backen auf und ließ die Luft zischend entweichen. „Ihr seid vollkommen meschugge, Ihr zwei, wißt Ihr das?“ sagte er lachend. Er nahm die Decke zur Seite und klatschte Kevin auf den Oberschenkel. „Hopp, steh mal auf, Du verrückter Kerl.“

Gehorsam rutschte Kevin von seinem Schoß herunter.

„Noch ’ne Decke hab ich jetzt nämlich nicht. Also setzt Euch mal dahin, Ihr beiden Nackedeis.“

Kichernd quetschten sich die beiden Kinder in den Sessel. Stephan breitete die Decke über ihnen aus. Behaglich kuschelten sie sich aneinander. Stephan schüttelte lachend den Kopf.

„Das glaub ich jetzt nicht“, stellte er fest. „Ich nehme an, Du willst auch was zu trinken?“ fragte er Nicole.

Sie richtete sich auf.

„Sitzenbleiben“, befahl Stephan. „Ich hol Dir was.“

Nachdem er das Mädchen mit Apfelschorle versorgt hatte, setzte er sich in den Sessel neben den beiden. „Und jetzt?“

„Nochmal von vorn“, bat Kevin.

Stephan stoppte die CD und startete sie erneut von Anfang an. Beim zweiten Satz waren sie beide eingeschlafen. Stephan ließ die Musik weiterlaufen. Er nippte von seinem Wein und betrachtete lächelnd die schlafenden Kinder, die eng umschlugen in dem Sessel saßen.

„Ihr seid so niedlich, Ihr zwei“, murmelte er. „Und morgen habt Ihr beide steife Knochen.“

Er kicherte leise in sich hinein.

Als die Musik zu Ende war, wachten sie auf.

„Ich glaub, ich bring Euch jetzt wieder ins Bett“, sagte er.

„Och schon?“ maulte Kevin.

„Laß uns doch noch ‘n bißchen hierbleiben“, bettelte Nicole.

Stephan hielt ihnen seine Armbanduhr vor die Nase. „Habt Ihr mal geguckt, wie spät es ist?“

„Au, Mensch, das ist ja schon halb zwei durch“, sagte Nicole erschrocken.

„Eben. Und das ist ja wohl wirklich spät genug, oder?“

Da gaben sie ihren Widerstand auf und krochen unter der Decke hervor aus dem Sessel. Stephan legte den beiden die Arme um die Schultern und ging mit ihnen sie nach oben. Dort brachte er zuerst Kevin ins Bett und danach Nicole. Diesmal ging es ohne Tränen ab. Er ließ sich von jedem noch einmal drücken, wartete darauf, daß sich jeder gut in seine Decke einwickelte und ging dann hinaus. Diesmal ging auch er in sein Schlafzimmer. Trotz allem war es doch ein schöner Abend gewesen, resümierte er.

Kevin wartete, bis er Stephans Schlafzimmertür zuklappen hörte. Dann schlüpfte er aus dem Bett und ging hinüber zu Nicole.

„Rutsch mal“, flüsterte er und kroch zu ihr unter die Decke.

Nicole machte ihm bereitwillig Platz. „Gute Idee“, flüsterte sie zurück.

Sie schmiegte sich an ihren Bruder. Kevin schloß sie in die Arme.

„Ich fand das ganz toll eben, unten im Sessel, so ganz dicht an Dich gekuschelt. Und da dachte ich, wir könnten ja ruhig auch mal so schlafen. Oder magst Du nicht?“

„Doch. Ich bin froh, daß Du gekommen bist. Nach der Musik ist einem richtig so zum Schmusen.“

„Vor allem, wenn man nix anhat.“

Nicole kicherte. „Ich kann das spüren bei Dir.“

„Schlimm?“

„Nee, gar nicht. Es fühlt sich irgendwie gut an.“

„Es ist mir ein bißchen peinlich.“

„Braucht es aber nicht. Du weißt ja wie oft ich das schon gesehen habe. Nur bei Dir noch nie. Darf ich mal gucken?“

Kevin schlug die Bettdecke zurück, so daß Nicole sein steifes Glied betrachten konnte.

„Ganz schön groß, der Kleine“, sagte sie. Vorsichtig legte sie ihre Hand darauf. „Und es fühlt sich ziemlich gut an.“

„Nicht, Nicci, nicht“, protestierte er, aber es war zu spät.

Nicole spürte, wie ihre Hand naß wurde. Trotzdem ließ sie ihre Hand auf seinem zuckenden Glied liegen. „Nicht bewegen“, sagte sie danach und kletterte über ihn hinweg aus dem Bett. Sie lief ins Badezimmer, um einen Waschlappen zu holen, mit dem sie seinen Unterleib abwischte.

„Tut mir so leid, Nicci, ich wollte das nicht, echt nicht, aber ich konnte nichts dafür.“ Kevin sah etwas unglücklich aus.

Nicole lächelte ihn an. „Ist doch nicht schlimm. Im Gegenteil. Ich fand’s aufregend. Das hab ich bei Dir noch nie gesehen. Darf ich ihn nochmal anfassen?“

Kevin nickte.

Vorsichtig nahm sie seinen Penis in die Hand. Sofort wurde er wieder steif.

Kevin stöhnte leise. „Wenn Du so weitermachst, passiert’s gleich nochmal.“

„Macht nichts, komm ruhig“, antwortete sie, beugte sich über ihn und nahm das steife Glied in den Mund. Das konnte er nicht aushalten. Heftig entlud er sich ein zweites Mal.

„Was machst Du denn da?“ fragte er, als es vorbei war.

Sie legte sich neben ihn und nahm ihn in den Arm. „Das war so toll, Kevin. Das war das erstemal, daß ich’s echt gern getan hab. Weil ich’s gerne wollte.“

„Ich dachte immer, Du fändst das so widerlich?“

„Tu ich ja auch. Bei den widerlichen, fetten, stinkenden Kerlen, wenn ich’s machen mußte. Aber nicht bei Dir. Da ist es was anderes. War’s denn für Dich auch schön?“

„Es war toll. So toll wie noch nie.“ Er gab ihr einen Kuß. „Wenn Du wieder gesund bist, darf ich Dich dann auch mal streicheln?“

„Aber das tust Du doch schon die ganze Zeit. Immer wenn Du mich eincremst. Hast Du das noch nie gemerkt? Du machst das immer so zart, das ist ganz schön aufregend.“

„Muß ich doch. Schließlich soll’s Dir ja nicht wehtun.“

„Tut’s auch gar nicht mehr. Am Anfang schon, aber jetzt ist es viel, viel besser geworden. Jetzt hab ich das richtig gern, wenn Du das machst.“

„Wir haben uns heute Abend übrigens noch gar nicht eingeschmiert“, stellte Kevin fest. „Möchtest Du, daß ich’s noch mache?“

Nicole nickte lachend. „Das fänd ich toll.“

Diesmal war es Kevin, der über seine Schwester hinweg aus dem Bett stieg. Er holte die Wundsalbe aus dem Badezimmer. Nicole drehte sich auf den Rücken und spreizte die Beine auseinander. Ganz behutsam und sehr sanft begann Kevin, sie einzureiben. „Tut nicht weh?“ erkundigte er sich fürsorglich.

„Ein ganz kleines bißchen, innen drin. Aber weiter oben gar nicht“, antwortete sie.

Kevin streichelte sie mehr, als daß er sie einrieb. Es schien ihr zu gefallen, denn sie lag ganz still und hatte die Augen geschlossen. Als er aufhören wollte, griff sie nach seiner Hand.

„Nicht aufhören“, bat sie. „Mach ruhig weiter. Das ist so schön.“

Vorsichtig fuhr er fort, sie zu streicheln, immer in der Angst, es könnte ihr vielleicht doch wehtun. Aber darauf deutete nichts hin, obwohl er sie genau beobachtete. Plötzlich hielt sie den Atem an. Ihr ganzer Körper versteifte sich. Mit einem Seufzer stieß sie die Luft wieder aus. Kevin merkte, wie es zwischen ihren Beinen pulsierte. Das mußte es sein, dachte er.

Dann hielt sie seine Hand fest und schlug die Augen auf.

Sie lächelte. „Danke“, flüsterte sie.

Kevin lächelte zurück. „Ist es Dir gekommen?“ fragte er schüchtern.

Sie nickte. „Und wie. Hast Du’s nicht gemerkt?“

Er schüttelte den Kopf. „Nee. Ich kenn mich ja mit sowas bei Mädchen nicht aus. War’s denn schön?“

Sie zog ihn zu sich herunter und drückte ihre Stirn gegen seine. „Du hast das ganz toll gemacht, Kevin. Das war das erste Mal, daß es mir überhaupt gekommen ist. Ich hätte nicht gedacht, daß das so schön sein kann.“

„Wenn Du willst, kann ich Dir’s ja dann öfter mal machen. Vor allem, wenn Du wieder ganz gesund bist. Dann wird’s bestimmt noch schöner. Mir hat’s nämlich auch gefallen. Mein kleiner Mann ist dabei wieder ganz steif geworden.“

Sie kicherte. „Das merk ich an meinem Bauch.“

Sofort rückte er ein Stückchen von ihr weg. Aber sie rutschte nach und kuschelte sich wieder an ihn. „Das ist doch schön, Kevin. Bleib ruhig bei mir“, sagte sie.

„Macht Dir das nichts?“

„Nee, überhaupt nicht. Ich hab das gern, wenn ich ihn so spüren kann.“

„Mir geht das so mit Deinen Brüsten. Wenn wir so zusammenliegen, dann spür ich die auch manchmal. Das ist ein irres Gefühl, weil die so schön weich sind. Ich hätt die ja gern schon mal angefaßt, aber das trau ich mich nicht.“

„Mach doch einfach“, sagte Nicole. „Wenn Du das machst, dann fühlt sich das bestimmt ganz toll an.“

„Meinst Du?“

„Na klar.“ Sie drehte sich um, so daß sie ihm den Rücken zuwandte. Sofort wußte Kevin, was sie vorhatte. Er rutschte ganz dicht an sie heran und umschloß sie von hinten mit den Armen.

„Löffelchen liegen, nennt man das“, sagte sie. „Ich hab das mal irgendwo gelesen, daß sich das ganz toll anfühlen soll.“

„Tut’s auch“, gab Kevin zu.

„Ich find das ganz gemütlich so“, stellte sie fest. „Und jetzt spür ich Deinen kleinen Mann an meinem Po.“ Sie nahm seine Hand und legte ihn auf ihre Brust. „Und Du kannst mich da streicheln, wenn Du möchtest.“

Sanft strich er mit den Fingern über ihre Brüste. „Das fühlt sich ja vielleicht super an. Ganz weich, wie ich mir’s gedacht hatte.“

„Find ich auch. Vor allem, weil Du so zärtliche Hände hast. Das macht mich ziemlich an.“

„Kommt’s Dir dann wieder?“ erkundigte er sich.

„Nein. Dabei nicht. Aber es kribbelt so schön. Und dann wünscht man sich, Du würdest auch noch was anderes machen.“

„Soll ich?“

Sie lachte leise. „Nee, Du, laß mal lieber. Sonst kommen wir nie zum Schlafen.“

„Meinst Du, wir können so schlafen?“

„Keine Ahnung. Aber wir können’s ja mal versuchen.“

Wenige Minuten später waren sie tatsächlich eingeschlafen.

Geschwisterliebe

Подняться наверх