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Drittes Kapitel

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Heinrich Randulke. Das Namensschild unter den Klingelknöpfen des Sechsfamilienhauses sah neu aus. Wahrscheinlich erst frisch eingezogen, dachte Katenkamp. Er drückte auf den Klingelknopf über dem Namensschild. Mit einem unangenehmen Schnarrton sprang die Tür auf.

Wenigstens ist die Familie schon benachrichtigt worden. Gut, dass ich nicht dabei war. Ich werde trotzdem mein Beileid aussprechen müssen, überlegte er.

Im ersten Stock stand eine Wohnungstür offen. Katenkamp trat in den Flur.

Es sah ungefähr so aus, wie er es sich vorgestellt hatte. Geblümte Tapete und ein gemusterter Teppich; rechts hinter der Tür vier Garderobenhaken aus geschwärztem Eisen. Es sollte wie handgeschmiedet aussehen. An den Haken hingen drei Bügel mit gelbem Plastiküberzug.

Ein Junge trat aus der Wohnzimmertür. »Was wollen Sie denn?«, fragte er. Es klang trotzig.

»Kriminalpolizei.«

Vor kurzem hast du noch geweint, dachte Katenkamp. Du bist höchstens siebzehn. In deinem Alter weint man noch, auch wenn man mit dem Alten sonst Krach hatte. Jetzt willst du mutig sein und Mutti vor zudringlichen Besuchern schützen. Im Augenblick fühlst du dich ein bisschen wie Vatis Nachfolger als Familienoberhaupt. Recht so.

»Kriminalpolizei«, wiederholte er. »Ich muss Ihre Mutter sprechen.«

Spätestens jetzt willst du gesiezt werden. Ich tu’s gern. In deinem Alter sollte man den Vater noch nicht verlieren. Entweder früher oder später. In deinem Alter gewöhnt man sich nicht mehr an einen Stiefvater.

»Können Sie sich ausweisen?«

»Selbstverständlich.« Katenkamp hielt dem Jungen seinen Dienstausweis hin.

Der Junge nickte und trat in das Wohnzimmer zurück.

Du wirst wahrscheinlich nie einen Stiefvater haben, dachte Katenkamp, als er die Frau in dem hochbeinigen Lehnstuhl sitzen sah. Über ihre Knie war eine großkarierte Decke gebreitet. Neben ihr lehnte ein schwarzer Stock mit breiter Krücke an dem Lehnstuhl. Die Frau saß vornübergebeugt und starrte apathisch vor sich hin. Dabei vollführte ihr Kopf leichte Pendelbewegungen.

»Hier ist wieder jemand von der Kriminalpolizei«, sagte der Junge.

Die Frau wandte den Kopf nur leicht. Ihre grauen Haare waren unordentlich zusammengesteckt. Aus dem blassen Gesicht sahen ihn müde Augen teilnahmslos an.

»Wir wissen schon Bescheid«, sagte die Frau. Dann senkte sie den Kopf wieder.

»Leider muss ich Ihnen noch ein paar Fragen stellen.« Er schaffte es nicht, irgendetwas von Beileid zu murmeln. Stattdessen fragte er: »Darf ich mich setzen?« Neben dieser kranken Frau auf gesunden Beinen dazustehen, das kam ihm unpassend vor.

Die Frau reagierte nicht.

Der Junge nickte ihm zu.

Katenkamp schob sich in eine Ecke der niedrigen Couch und war froh, niedriger als die Frau zu sitzen.

»Wie ist es passiert?«, fragte sie.

»Wir wissen es noch nicht. Versuchen Sie, meine Fragen zu beantworten, nur damit können Sie uns im Augenblick helfen.«

Die Frau nickte.

Er zog sein Notizbuch hervor. Es enthielt noch keine anderen Eintragungen. Bei dem Fall Wagenknecht war er nur am Rande beteiligt gewesen. Martin Wagenknecht hatte seinen Arbeitgeber umgebracht, einen Bauunternehmer. Die Tat war im Zustand der Volltrunkenheit verübt worden, weil sich Wagenknecht um Überstundenzuschläge betrogen fühlte. Einer der Fälle, die sich innerhalb weniger Stunden aufklären. Sie machen keine Eintragungen in ein Notizbuch erforderlich, sondern nur ein Vernehmungsprotokoll.

»Ihr Mann hieß mit Vornamen?« Hätte er nicht besser heißt sagen sollen?

»Heinrich.«

»Er war wie alt?«

»Zweiundfünfzig.«

Wie er da tot in dem Hauseingang lag, sah er älter aus, dachte Katenkamp. Macht der Tod den Menschen älter? Oder war Heinrich Randulke an der Seite dieser kranken Frau nur schnell gealtert? Sie muss schon länger leidend sein. Eine kranke Frau zu haben, das kann einem Mann Sorgen machen und ihn altern lassen... Wenn Erika chronisch krank wäre, oder Jonathan? Er schob den Gedanken beiseite.

»Seit wann ist er bei der Post beschäftigt?«

»Von Anfang an. Gleich nachdem er aus Ostpreußen gekommen ist. Aus Polen«, verbesserte sie sich. »Er war Spätaussiedler und konnte damals gleich bei der Post anfangen.«

»Hatte Ihr Mann Feinde?« Er musste die Frage stellen, obwohl er sich nicht denken konnte, warum ein Briefträger Feinde haben sollte. Noch dazu welche, die ihn am hellen Sonnabendvormittag erschossen.

Die Frau schüttelte den Kopf. Ihre rechte Hand tastete nach dem Stock. »Nein«, sagte sie. »Er war überall beliebt. Hier bei den Nachbarn und auch bei den Kollegen.«

»Bitte denken Sie genau nach.« Es war eine Verlegenheitsfrage. Die Frau verließ die Wohnung vermutlich kaum noch und wusste über ihren Mann nur, was er ihr erzählte. Das brauchte nicht viel zu sein. »Gehörte Ihr Mann einem Verein oder dergleichen an?« Auch keine vielversprechende Frage, aber er brauchte Menschen, die mehr über Heinrich Randulke wussten als diese Frau.

»Er war in der Postgewerkschaft. Sonst hat er sich um nichts gekümmert.«

»Kam er manchmal außergewöhnlich spät vom Dienst zurück, oder verließ er das Haus zu ungewöhnlichen Zeiten?«

»Er war immer pünktlich und ging dann auch nie wieder fort. Er wusste ja, dass ich ihn brauche.« Die Frau holte ein Taschentuch unter dem Plaid hervor. Sie benutzte es nicht, sondern zerknüllte es in der Hand.

»Hat er getrunken?« Katenkamp bereute die Frage. Wenn Heinrich Randulke ein Trinker gewesen war, dann wussten seine Kollegen das besser als diese bedauernswerte Frau.

»Nie. Dazu neigte er nicht. Dazu hätte das Geld bei uns auch nicht gereicht.«

»Frau Randulke, Sie haben sich sicher Gedanken darüber gemacht, wie das passieren konnte. Wenn Sie irgendeine Vermutung haben, dann sprechen Sie sie bitte aus. Sie brauchen nicht zu befürchten...«

»Ich habe keine Erklärung dafür.« Sie presste die Lippen aufeinander und wandte den Kopf ab.

Er glaubte ihr.

Ob der Täter weiß, was er mit diesem Mord angerichtet hat?

Warum muss ich auch bei der Tötung landen? Wir werden immer mit dem größten menschlichen Elend konfrontiert. Gegen Einbruch kann man sich versichern, und manchmal tauchen die gestohlenen Gegenstände auch wieder auf. Ein Toter wird nie wieder lebendig. Wir können nur verhindern, dass der Täter wieder tötet. Und auch das nicht immer.

Der Sohn stand an dem Wohnzimmertisch mit der unechten Kristallschale darauf. Er sah Katenkamp nicht mehr so feindselig an wie zu Beginn der Befragung.

»Kannst du etwas dazu sagen?« Katenkamp hatte bei dem Sie bleiben wollen; das Du war ihm herausgerutscht. Er bedauerte es. »Wie heißt du?«

»Jochen. Nein, ich weiß auch nichts.« Es klang etwas trotzig. Aber wahrscheinlich riss der Junge sich nur zusammen, um nicht weinen zu müssen.

»Ja, dann...« Katenkamp klappte das Notizbuch mit den wenigen Eintragungen zu. Was hatte er auch erwartet? Dass man ihm wenigstens einen Verdächtigen lieferte? Er wusste es nicht. »Sollte Ihnen noch etwas einfallen...« Eine Floskel. »Wir werden unser Möglichstes tun.« Auch eine Floskel. Natürlich würde er sein Möglichstes tun. Dazu war er verpflichtet. Und außerdem wollte er nicht, dass sein erster Fall unaufgeklärt blieb. Teamarbeit oder nicht - intern ist für einen Fall doch immer jemand federführend; bei einem laufen die Fäden zusammen... Diesmal bei ihm. Aber wenn es nun keine Fäden gab? Katenkamp erhob sich. Er deutete eine Verneigung an. Hier ist kein Trost zu spenden, dachte er.

»Ich bringe Sie nach draußen«, sagte Jochen Randulke.

»Danke.«

Der Sohn zog die Wohnungstür hinter sich ins Schloss. »Vater...« Er zögerte. Mit der Schuhspitze bohrte er in den Borsten der Fußmatte vor der Wohnungstür. Sein Blick schien sich nicht von Katenkamps Schlipsknoten lösen zu können. »Es hat bestimmt nichts damit zu tun.« Jochen Randulke brach wieder ab.

Ich muss es ihm leicht machen, dachte Katenkamp. Er weiß etwas über seinen Vater, aber er will seine kranke Mutter schonen. Wir dürfen hier nicht zu lange stehen, sonst wird sie misstrauisch. »Kannst du in zehn Minuten unten an der Ecke sein? Ich warte dort auf dich.«

Jochen Randulke nickte. Er strich sich die Haare aus dem Gesicht. Die Andeutung eines Lächelns hob seine Mundwinkel. »Das geht«, sagte er. »Ich muss sowieso einkaufen.«

»Gut. Ich warte.«

An der Ecke befand sich ein Edeka-Laden. Katenkamp wartete vor dem Geschäft. Die Schaufensterscheibe war mit Plakaten für Sonderangebote fast völlig zugeklebt. Viel wird der Junge nicht wissen, dachte er. Was wissen Söhne schon über ihre Väter? Aber er weiß bestimmt mehr als die Frau. Zumindest ist sie nun eine Beamtenwitwe. Irgendwann wird sie das als schwachen Trost empfinden. Viele Frauen in ihrer Lage wären jetzt auf das Sozialamt angewiesen. Ist das nun zynisch gedacht oder nur realistisch?

Er sah auf die Uhr. Der Fall wird mit viel Lauferei verbunden sein. Später werde ich mich mit Randulkes Vorgesetzten und Kollegen unterhalten müssen. Himmel, warum erschießt jemand einen Briefträger? Oder hat die ganze Geschichte gar nichts mit Randulkes Beruf zu tun? Möglich ist alles. Ein eifersüchtiger Mann vermutet, dass seine Frau ein Verhältnis mit dem Postboten hat, und legt ihn einfach um. Dann wäre der Täter im Zustellbezirk Randulkes zu suchen. Oder es bekommt jemand laufend Mahnungen und macht Randulke dafür verantwortlich. Ein Verrückter, der für sein Unglück den Überbringer der schlechten Nachrichten verantwortlich macht. Wie in der Antike, als Könige die Unglücksboten hinrichten ließen. Auch dann müsste der Täter in Randulkes Zustellbezirk zu suchen sein... Es wird darauf hinauslaufen, dass wir alle Häuser durchkämmen, die Randulke zu bedienen hatte. Also muss ich auch mich befragen. Ich wohne in seinem Zustellbezirk... Idiotisch. Jochen Randulke hatte das schwarze Einkaufsnetz wie einen Boxhandschuh um die linke Hand gewickelt. Er führte einen wütenden Schlag in die Luft aus.

Hoffentlich hat er es sich nicht anders überlegt, dachte Katenkamp. Niemand kann ihn zwingen, Nachteiliges über seinen Vater zu sagen. Ich hätte mich auf das Treffen vor diesem Laden nicht einlassen sollen. In solchen Situationen muss man am Ball bleiben.

»Was liegt denn nun an?«, fragte er viel zu aggressiv, als Jochen Randulke vor ihm stand.

»Es hat bestimmt nichts damit zu tun. Nur...«

»Das entscheiden wir.« Schon wieder reagierte er zu heftig. So schüchterte er den Jungen nur ein. Wo war sein Verständnis für die Trauer des Jungen geblieben? Hatte sich vor diesem Laden der Gedanke in ihm eingenistet, unter Erfolgszwang zu stehen? Wahrscheinlich. »Du wolltest mir was sagen.« Das hörte sich etwas versöhnlicher an. »Ich werde gegebenenfalls verhindern, dass deine Mutter etwas davon erfährt.« Ein leichtsinniges Versprechen. Schließlich wusste er noch nicht, worum es sich handelte.

Jochen Randulke wickelte das Einkaufsnetz von der Faust. »Mutter ist schon lange krank. Ich meine...« Das Einkaufsnetz wurde jetzt zusammengeknüllt.

Katenkamp zwang sich zu geduldigem Zuhören.

»Sie werden verstehen«, sagte Jochen Randulke. »Vater hatte eine Freundin.«

Und ob er das verstand. Der Mann hatte jahrelang neben einer kranken Frau gelebt. Und überhaupt. Auch gesunde Frauen werden von ihren Männern betrogen. Und schließlich ging es hier nicht um eine moralische Wertung. »So«, sagte er. Verständlich, dass der Junge ihm diese Mitteilung nicht im Beisein der Mutter machen wollte. »Kannst du mir die Adresse geben? Ich werde mit der Frau reden müssen.«

Jochen Randulke senkte den Kopf. »Ich weiß nicht, wie sie heißt.«

»Bitte?« Katenkamp sah den Jungen misstrauisch an. »Immerhin handelt es sich um eine wichtige Mitteilung.«

Stimmte das wirklich? War die Mitteilung so wichtig? Jedenfalls war sie nicht unwichtig. Denkbar, dass Randulke mit dieser Freundin Probleme besprochen hatte, die er seiner Frau nicht zumuten wollte. Aber wenn sein Sohn den Namen der Freundin nicht kannte, dann spielte das nicht die entscheidende Rolle. Randulkes Kollegen würden den Namen schon wissen. Der Sohn hatte die Grundinformation geliefert. Alles andere würde sich finden.

»Wie bist du darauf gekommen?«

»Ach, das merkt man. Ich meine, Vater war manchmal so anders.«

»Du meinst, er hatte ein schlechtes Gewissen.«

»Ja.« Jochen Randulke nickte eifrig.

»Das ist doch kein Beweis.«

»Nein. Nur... Er kam einmal mit einer neuen Krawatte nach Hause. Die hätte er sich nie selbst gekauft. Und dann hatte er nach seinem Geburtstag eine neue Armbanduhr.«

»Das besagt wenig. Warum soll er sich keine neue Armbanduhr kaufen?«

»Das hat er auch gesagt. Ein Händler in seinem Zustellbezirk hat ihm einen unheimlich hohen Rabatt eingeräumt.«

»Da hätten wir die Lösung schon.« Eine neue Armbanduhr besagte gar nichts. Der Junge machte sich jetzt wahrscheinlich alle möglichen Gedanken über seinen Vater und bauschte die geringfügigsten Beobachtungen zu Verdachtsmomenten auf. Oder er stand völlig auf Seiten der Mutter und hatte den Vater voll Misstrauen beobachtet. Jede Mark, die er ausgab, konnte der Mutter nicht mehr zugutekommen.

»In seinem Zustellbezirk gibt es gar kein Uhrengeschäft. Ich hab das nachgeprüft.« Jochen Randulke strich sich verlegen die Haare aus der Stirn. »Ich habe ihm nicht richtig nachspioniert. Ich wollt’s einfach nur wissen.«

Natürlich hatte der Junge seinem Vater nachspioniert. Aus welchen Gründen auch immer. Fest stand jedenfalls, dass Heinrich Randulke sich keine neue Armbanduhr kaufen durfte, ohne die Anschaffung umständlich begründen zu müssen und ohne, dass man seine Angaben auch noch nachprüfte.

»Was hast du denn sonst noch herausgefunden?« Katenkamp trat näher an den Jungen heran. »Oder willst du behaupten, dass ich hier nur wegen dieser Krawatte und der Geschichte mit der Armbanduhr herumstehen musste?«

Er spürte, wie sich sein Respekt vor der Trauer des Jungen in Aversionen verwandelte. Die Liebe zur Mutter entschuldigte doch nicht dieses Verhalten gegenüber dem Vater. Später würde Jochen Randulke sich dafür vielleicht einmal schämen. Aber das musste er mit sich ausmachen. Im Augenblick kam es darauf an, in dem Mordfall Randulke einen roten Faden in die Hand zu bekommen. Einen roten Faden, der möglicherweise zu einem Täter führte.

»Nun komm mal mit der Hauptsache über.« Katenkamp hielt diesen typischen Verhörton jetzt für gerechtfertigt. »Es bleibt auch alles unter uns«, behauptete er. Ob sich das Versprechen dann enthalten ließ, würde sich zeigen.

Jochen Randulke hielt das Einkaufsnetz locker an dem Ledergriff und ließ es vor seinen Knien pendeln. Dann knüllte er es wieder heftig zusammen. »Mein Vater hatte eine Freundin«, stieß er heftig hervor.

»Das weiß ich ja nun schon«, entfuhr es Katenkamp. Mehr schien den Jungen wohl nicht zu interessieren. Psychologisch verständlich. »Wie heißt die Frau?« Eine Unterhaltung mit ihr führte möglicherweise auch keinen Schritt weiter. Wie die Dinge lagen, hatte Heinrich Randulke bestimmt nicht viel Zeit für die Frau erübrigen können. Ein Wunder, dass er es geschafft hatte, noch eine Beziehung anzuknüpfen. Sicher ein Bumsverhältnis mit einer einfachen Frau seines Alters. »Wie heißt die Frau?«, wiederholte Katenkamp.

»Ich weiß es nicht.«

»Das kannst du mir nicht einreden.«

»Ich weiß es wirklich nicht.«

»Dann sag mir, wo sie wohnt.«

»Das weiß ich auch nicht.«

»Und wie kommst du darauf, dass dein Vater eine Freundin hatte?« Vielleicht existierte die Frau nur in der Phantasie des Jungen.

»Ich hab sie zusammen gesehen.«

»Mehrfach?« Der Junge war imstande, aus einer zufälligen Beobachtung eine ganze Geschichte zu konstruieren. Enttäuschte Liebe kann die Phantasie intensiv beschäftigen. Auch enttäuschte Liebe zum Vater.

»Ja. Ich weiß, es war nicht schön. Ich... Ich hatte nur Angst, dass Mutter etwas davon erfährt. Deshalb... Wenn er zu Versammlungen von der Postgewerkschaft ging... Da bin ich einige Male hinterher. Zweimal hat er sich bestimmt mit ihr getroffen... Ich hab Mutter immer erzählt, dass er wirklich zu den Versammlungen gegangen ist. Sie war immer so eifersüchtig. Deshalb hab ich mich auch bloß darauf eingelassen. Ich konnte ihn ja verstehen.«

Ich habe dem Jungen Unrecht getan, dachte Katenkamp. »Wann fand das letzte Treffen statt?«

»Vor zwei Wochen.«

Jedenfalls handelte es sich da nicht um eine uralte Geschichte, die überhaupt nichts mehr versprach. »Wo haben sie sich denn getroffen?«

»Vater ist mit der S-Bahn bis Farmsen gefahren und da zu ihr ins Auto gestiegen.«

»Du hast dir nicht zufällig die Autonummer gemerkt?«

»Nein. Ich bin nicht nah genug rangekommen. Er sollte ja nicht merken, dass ich...«Jochen Randulke fuhr sich mit der Hand über die Augen.

»Schon gut. An den fraglichen Abenden fanden wirklich keine Versammlungen statt?« Eine Kollegin nimmt Randulke in ihrem Wagen mit zu einer Versammlung, der Sohn lässt seine Phantasie spielen, und die Kripo startet eine mehr oder weniger große Suchaktion. Das fehlte gerade noch.

Jochen Randulke schüttelte den Kopf. »Nein. Bestimmt nicht.«

»Was für einen Wagen fuhr die Frau?«

»Einen Mercedes.«

Das sprach allerdings gegen eine Kollegin. In Postgewerkschaftskreisen fuhr man kaum einen Mercedes. Der Mercedes sprach aber auch gegen ein Verhältnis mit einer Frau aus Randulkes Kreisen. Briefzusteller führt Doppelleben... Das war vielleicht eine schöne Überschrift für die Boulevard-Presse, nur keine Arbeitshypothese. Oder etwa doch? Der Henker mochte wissen, welche Qualitäten Heinrich Randulke als Mann aufzuweisen hatte. Der Tote wirkte abgearbeitet und frühzeitig gealtert. Andererseits besagte ein Mercedes noch gar nichts. Nicht alle Mercedes-Fahrerinnen sind jung und hübsch. Zunächst galt es, die Frau zu finden.

»Kannst du die Frau beschreiben?«

Jochen Randulke antwortete schnell. »Sie sieht nach Geld aus. Ich meine, sie hatte einen Pelzmantel an. Sehr jung ist sie nicht mehr. Ja, sonst...« Er überlegte. Schließlich machte er eine vage Handbewegung. »Nicht gerade schlank.«

Eine erschöpfende Personenbeschreibung sah anders aus. Aber die Frau hatte in einem davonfahrenden Auto gesessen. Jedenfalls schien Heinrich Randulke keiner jungen, eleganten Frau verfallen gewesen zu sein. Warum auch? Was hätte er einer jungen Frau schon bieten können? Aber wie sonst war es zu diesem ungleichen Verhältnis gekommen? Der Briefträger und die Frau im Mercedes. Wer konnte da wem nützlich sein? Zunächst kam es darauf an, die Frau ausfindig zu machen. Unwahrscheinlich, dass es sich bei ihr um die Täterin handelte. Frauen neigen nicht zum Mord auf offener Straße. Und wenn man von der Ausnahme ausging? Dann kam als Tatmotiv Eifersucht in Frage. Ein höchst unwahrscheinliches Motiv. Heinrich Randulke hatte Schwierigkeiten genug gehabt, diese eine Freundin vor seiner Familie zu verheimlichen, geschweige denn eine zweite. Absurd, sich vorzustellen, dass Randulke dieser Frau versprochen haben könnte, sich scheiden zu lassen, und nicht bereit gewesen war, das Versprechen einzulösen. Einstweilen führten alle Überlegungen nicht zu dem ersten wesentlichen Punkt aller Mordfälle: zu einem Motiv.

»Kann ich jetzt einkaufen?«, fragte Jochen Randulke.

»Selbstverständlich. Sollte dir noch was einfallen...« Katenkamp rang sich nicht dazu durch, dem Jungen ein Lob auszusprechen. Die Art, wie Jochen Randulke zu seinem Wissen gekommen war, gefiel ihm nicht. Außerdem musste sich erst noch herausstellen, ob die Informationen auch nur den geringsten Wert besaßen. Falls es überhaupt möglich war, sie zu überprüfen.

KATENKAMP UND DER TOTE BRIEFTRÄGER

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