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EINFÜHRUNG

Detlev Vogel

«Man muss trotz der vielen Menschen, der vielen Fragen, des vielseitigen Studiums immer eine grosse Stille in sich mitnehmen, wohin man sich immer zurückziehen kann, auch inmitten des schlimmsten Gewühls und mitten im tiefsten Gespräch. [… Das] ist eigentlich unsere einzige moralische Aufgabe: in uns selber grosse Flächen urbar [zu] machen für die Ruhe, für immer mehr Ruhe. So kann man die Ruhe auf andere ausstrahlen. … Je mehr Ruhe in den Menschen ist, desto ruhiger wird es auch in dieser aufgeregten Welt.»

Diese Sentenz von Etty Hillesum, einer jungen jüdischen Psychologin in Amsterdam von 1943 zeigt, dass die Themen «innere Stille» und «Achtsamkeit» keine kurzlebige Mode sind, sondern dass dahinter ein tiefes Bedürfnis, ja eine menschliche Notwendigkeit steht – gerade in schwierigen Zeiten und auch unter widrigsten Umständen.

Vor etwa sechs Jahren gründete eine Handvoll am Thema interessierte Kolleginnen und Kollegen aus der Volksschule und von Pädagogischen Hochschulen der Schweiz das Netzwerk Achtsamkeit in der Schule. Die ersten Treffen fanden an der PH Zürich statt. Es entstand ein lockerer Verbund, in dem halbjährlich Praxis- und Forschungsideen und -projekte vorgestellt wurden. Seit einigen Jahren finden diese Treffen meist an der PH Luzern statt. Aus diesem Netzwerk ist die Arbeitsgruppe «Achtsamkeit in Schule und Bildung» der Schweizer Gesellschaft für Lehrerinnen- und Lehrerbildung (SGL) hervorgegangen und es bildete sich ein Organisationskomitee zur Vorbereitung der Tagung am 10. März 2018 an der PH Luzern. Die Resonanz auf die Tagung war unerwartet gross – es nahmen 300 Personen teil.

In der Schweiz gibt es viele Kolleginnen und Kollegen, die Achtsamkeit nutzen, um nach einem turbulenten Tag «runterzukommen», d. h. nach einem Tag mit unzähligen, z. T. nicht nur einfachen Interaktionen wieder «zu sich» zu kommen, sich selbst wahrzunehmen. Andere bereiten sich mit einer Achtsamkeitsmeditation auf den Schultag vor. In MBSR-Kursen (Mindfulness-based Stress Reduction) ist der Anteil von Lehrpersonen unter den Teilnehmerinnen und Teilnehmern besonders hoch. Es gibt auch Kolleginnen und Kollegen, die mit ihren Schülerinnen und Schülern Achtsamkeitsübungen im Unterricht machen, um deren Konzentrationsfähigkeit und Impulskontrolle zu stärken – zu den Wirkungen solcher Übungen siehe die Beiträge von Harald Walach und Susanne Krämer. Als Teil der Gesundheitsvorsorge werden an vielen Orten Achtsamkeitskurse im Rahmen der Weiterbildung für Lehrpersonen angeboten. An mehreren Pädagogischen Hochschulen werden Module für Studierende ausgeschrieben, in denen sie Achtsamkeit kennenlernen, auch um besser mit dem z. T. erheblichen Studienstress umzugehen. Verschiedene dieser Module wurden auch evaluiert. Im Weiteren entstehen mehr und mehr offene Angebote wie «Achtsamkeit am Mittag» für Mitarbeitende und Studierende, um gemeinsam zu meditieren und zur Ruhe zu kommen. Schliesslich steigt die Zahl von Studierenden, die ihre Bachelor- und Masterarbeiten zum Thema Achtsamkeit in der Schule schreiben.

Welches Potenzial Achtsamkeit in der Lehrerinnen- und Lehrerbildung hat, zeigen zwei Aussagen von Studierenden:

«Die Achtsamkeitsübungen halfen mir sehr und meine Praxislehrperson meinte sogar, ich unterrichte nun mit einer ruhigen und fokussieren Art, was mich sehr freute.»

«Seitdem ich angefangen habe, die Achtsamkeitsübungen regelmässig durchzuführen, fühle ich mich gelassener und entspannter, ich schlafe besser und erledige Dinge gewissenhafter. Mir wurde klar, wie viel Lebensqualität ich durch dieses bewusstere Leben zurückgewonnen habe. Auch habe ich mich besser kennengelernt. All diese Erkenntnisse machen mich sehr glücklich.»

Wenn Achtsamkeit zunehmend in der Schule genutzt wird, scheint es besonders wichtig, dass sie nicht als Mittel «missbraucht» wird, um unkonzentrierte und verhaltensauffällige Kinder zu beruhigen. Wenn die Übungen dazu beitragen, dass sie ihre Impulse besser steuern können und sich besser konzentrieren können, ist das gut, aber im Grunde eher eine «Nebenwirkung».

Im Kern geht es darum, dass Kinder in sich einen Raum finden und pflegen, in dem sie in jeder Situation Stille, Frieden und Zuversicht erleben können. Wenn sie diesen inneren Ort als Kind kennenlernen, wird er ihnen ein Leben lang helfen – besonders dann, wenn äusserlich nicht alles rund läuft. Achtsamkeit leistet insofern auch einen wichtigen Beitrag zu einer gesunden Persönlichkeitsentwicklung.

In einem Schulsystem, das zu einem Grossteil auf Leistung ausgerichtet ist, ist die Vermittlung von menschlichen Werten und sozial-emotionaler Kompetenz essenziell. Dieser Aspekt erhält durch den neuen Lehrplan 21 (ein derzeit in der Einführung begriffener, verbindlicher Lehrplan für alle 21 Deutschschweizer Kantone) einen grösseren Stellenwert, aber die Umsetzung erfordert im Grunde eine wirkliche Transformation unserer Schulkultur. Gebraucht wird der Mut, wirklich neu zu denken und die gewohnten Bahnen zu verlassen. Die Probleme von heute können nicht durch Optimierung der Methoden und Strukturen gelöst werden, die genau diese Probleme verursacht haben. Hier kann Schulentwicklung auf Grundlage von Achtsamkeit ein Weg sein.

Voraussetzung für einen Wandel im Grossen ist die Entscheidung jedes Einzelnen, etwas zu ändern, seine Haltung dem Leben gegenüber zu verändern. Die folgende kleine Geschichte bringt dies in schönen Worten zum Ausdruck:

Ein alter Tscherokese sass mit seinem Enkelsohn am Lagerfeuer. Es war schon dunkel geworden und das Feuer knackte, während die Flammen in den Himmel züngelten. Da sprach der Alte nach einer Weile des Schweigens: «Weisst du, wie ich mich manchmal fühle? Es ist, als ob da zwei Wölfe in meinem Herzen miteinander kämpfen würden. Einer der beiden ist ungeduldig, aufbrausend und aggressiv. Der andere dagegen ist liebevoll, sanft und mitfühlend.» Und dann fügte er hinzu: «Derselbe Kampf tobt auch in deinem Inneren – und im Inneren aller anderen Menschen.». Der Enkel dachte eine Weile darüber nach. Dann fragte er: «Grossvater, welcher der beiden aber wird den Kampf um dein Herz gewinnen?» Da antwortete ihm der alte Tscherokese: «Der Wolf, den ich füttere.»

Die Tagung wäre nicht möglich gewesen ohne die Unterstützung von verschiedenen Seiten. Folgende Institutionen haben einen massgeblichen Beitrag zum Gelingen dieser Veranstaltung beigetragen:

Stiftung Suzanne und Hans Biäsch zur Förderung der Angewandten Psychologie, Zürich.

Schweizer Gesellschaft für Lehrerinnen- und Lehrerbildung (SGL)

MBSR-Dachverband Schweiz

Pädagogische Hochschule Luzern

Ganz besonders ist dem Organisationskomitee zu danken, das die Tagung initiiert und konzeptionell und inhaltlich gestaltet hat: Adriana Büchler, Pädagogische Hochschule St. Gallen; Toni Bieri, MBSR-Lehrer, Willisau; Ingrid Busch, Pädagogische Hochschule Schwyz; Regula Nussbaumer, Pädagogische Hochschule Zürich; Claudia Suter, Pädagogische Hochschule der FHNW sowie Ursula Frischknecht-Tobler, Co-Präsidentin des MBSR-Verbandes, ehemals Pädagogische Hochschule St. Gallen. Organisatorisch hatte Janine Wigger alle Fäden in der Hand, sie leitet das Zentrum für Event- und Publikationsmanagement an der Pädagogischen Hochschule Luzern – ihr gebührt ein ganz besonderes Dankeschön!

Achtsamkeit in Schule und Bildung (E-Book)

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