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ОглавлениеYOGA ALS ERKENNTNISWEG
Was genau ist Hatha-Yoga?
Laut dem Philosophen und Yoga-Historiker Georg Feuerstein, gibt es mindestens 40 Formen des Yoga, 39 davon haben aber nichts mit Körperübungen zu tun. So stellt sich die Frage, was der eigentliche Sinn von der Yogaform, die hauptsächlich aus Körperübungen besteht, nämlich Hatha-Yoga, wirklich ist.
In einem der klassischen Texte zu Hatha-Yoga, der Hathapradīpikā (manchmal auch Hathayoga Pradīpikā genannt), (datiert ca. 1350 -1550), schreibt der Autor und Yogi Svātmārāma, dass der Körper systematisch vorbereitet wird, indem er durch diverse Techniken (Pranayama, Kriyas, Mudras, Bandhas) gereinigt und vorbereitet wird. Dazu gehören auch Körperhaltungen (sogenannte Asanas). Ziel dieser Asanas ist aber nach Svātmārāma die Vorbereitung auf die Ausübung des Raja-Yoga (der Königsweg).
Raja-Yoga ist laut Svātmārāma der Weg nach innen durch die Meditation und die Vereinigung mit dem Universellen Geist - aus yogischer Sicht unsere wahre Natur, unser Selbst.
In den Worten von Svātmārāma:
„Weder Hatha (Yoga) kann ohne Rajayoga vervollkommnet werden, noch kann Rajayoga erreicht werden, ohne Hatha (Yoga) zu praktizieren. Daher sollte man beide praktizieren, bis das Stadium von Nispatti (erreicht ist).“1
Er geht noch weiter und sagt:
„Diejenigen, die keinen Erfolg in Rajayoga anstreben, sind reine Hatha-Praktizierende. Ich halte die Arbeit dieser strebsamen Aspiranten für fruchtlos.“2
Hatha-Yoga ist also ein spiritueller Weg und reiht sich in die abertausende spirituellen Wegen ein, die die Menschheit in ihrer langen Geschichte entwickelt hat, um sich wieder mit dem Universellen Geist zu vereinen. Er eignet sich insbesondere für Menschen, die Körperbewegung als eine Möglichkeit der Hingabe an den Universellen Geist begreifen und als solches praktizieren wollen.
Wie zeitgemäß ist Hatha-Yoga?
Um diese Frage zu beantworten, müssen wir zwischen Hatha-Yoga als Ausgleichssport und Hatha-Yoga als spirituelle Disziplin unterscheiden.
In unserer modernen, lauten und hektischen Welt eignet sich Hatha-Yoga ausgezeichnet als ein willkommener Ausgleich. Er hilft, müde Glieder zu straffen, das Herz-Kreislauf-System in Schwung zu bringen, sorgt für Entspannung und Erholung. Für fast jede Person ist inzwischen eine eigene Stilrichtung vorhanden, von Power-Yoga über Kundalini-Yoga bis hin zu Aerial-Yoga. Die Vielfalt des Angebots steigt beinahe täglich.
Dies hat aber recht wenig mit Hatha-Yoga zu tun, wie es sich über die Jahrhunderte entwickelt hat. Dank neuester Recherchen durch Mark Singleton in seinem Buch, „Yoga Body - The Origins of Modern Posture Practice“, wissen wir, dass es keine ununterbrochene Tradition von den mythischen Anfängen des Hatha-Yoga mit Gorakṣa Nātha und seinem Lehrer Matsyendra Nātha (9. oder 10. Jahrhundert) bis zum heutigen Tag gibt. Ganz im Gegenteil. Hatha-Yoga wurde über die Jahrhunderte immer wieder neuen Einflüssen ausgesetzt und hat sich ständig verändert. Vor allem im 19. und 20. Jahrhundert wurde es sehr stark von der aus den USA und Deutschland nach Indien importierten Fitnesskultur, vom Bodybuilding und von europäischen militärischen Programmen der Körperertüchtigung beeinflusst.
In den beiden klassischen Texten des Hatha-Yoga, Hathayoga Pradīpikā und Gheraṇḍa Saṁhitā, werden nur 16 bzw. 32 Asanas erwähnt. Die Idee, dass Hatha-Yoga Hunderte, wenn nicht gar Tausende Asanas hatte, ist genauso unschlüssig wie die absurde Behauptung, dass der Sonnengruß (sūryanamaskār) vor Tausenden von Jahren in den vedischen Schriften erwähnt wird. Der Sonnengruß ist laut den Recherchen von Mark Singleton3 eine Erfindung um den Anfang des 20. Jahrhunderts herum durch den Rajah von Aundh, Pratinidhi Pant, der selber passionierter Bodybuilder war. Die allermeisten Asanas, die heutzutage praktiziert werden, sind höchstwahrscheinlich 100 bis 150 Jahre alt und stammen weitest gehend aus einer Verschmelzung mit den oben erwähnten Systemen der Fitness und der Körperertüchtigung.
Auch wenn der moderne körperorientierte Hatha-Yoga eher eine eklektische Ansammlung von diversen Quellen darstellt, ist er als entspannender und wohltuender Ausgleich zu unserer leistungsorientierten Gesellschaft des 21. Jahrhunderts eindeutig sehr hilfreich.
Wenn man aber im Hatha-Yoga eine spirituelle Disziplin sucht, steht man vor vielen Fragen. Wie wurde Hatha-Yoga zum Beispiel früher praktiziert? Was genau ist Kundalini, und wie wird sie genau aktiviert? Wieso unterscheiden sich die Schulen in der Anzahl und Ortung der Chakren? Wie wird Pranayama richtig ausgeführt? Diese und ähnlichen Fragen werden wir wahrscheinlich nie richtig beantworten können, da die überlieferten Hatha-yogischen Schriften in einer sehr verschlüsselten und teilweise rätselhaften Sprache verfasst wurden. Sie lassen unzählige Interpretationsmöglichkeiten zu. Außerdem, wie schon erwähnt, gibt es heutzutage keine ununterbrochene Tradition aus jenem Zeitalter, die uns die Schriften in ihrer wahren Bedeutung aufschlüsseln könnte.
Auch wenn wir keinen unmittelbaren Zugang zur ursprünglichen Ausführung des Hatha-Yoga haben, können wir jedoch aus den Schriften indirekt herauslesen, wie intensiv die Praxis gewesen sein muss. Allein das Üben von pañcadhāraṇā, wie es in der Gheraņḍa Saṁhitā4 beschrieben wird, würde zum Beispiel 10 Stunden in Anspruch nehmen. Hinzu kommen die diätetischen und vielfältigen asketischen Vorschriften. Die Yogis von damals hatten keine Kinder zu versorgen, keinem Beruf nachzugehen, keine alternden Eltern zu pflegen. Sie waren Vollzeit-Yogis, die sich zum Ziel gesetzt hatten, in dieser Inkarnation den Durchbruch zur göttlichen Urnatur zu schaffen, komme, was wolle. Nicht umsonst kann das Sanskrit Wort „hatha“ als „kraftvoll“, „energetisch“, „aggressiv“ bis hin zu „gewaltsam“ übersetzt werden.5
Wenn man dies alles im Hinblick auf unsere moderne Welt berücksichtigt, kommt man schnell zum Ergebnis, dass Hatha-Yoga mehr Fragen aufwirft als Antworten liefert und als praktikable spirituelle Disziplin für einen Menschen des 21. Jahrhunderts eher ungeeignet ist.
Dies muss aber nicht bedeuten, dass die Hatha-yogischen Praktiken, maßvoll ausgeführt, komplett aus unserer spirituellen Disziplin verschwinden müssen. Es geht eher darum, dass diese Praktiken, insbesondere die Körper- und Atemarbeit, dem ursprünglichen Sinn dienen, nämlich der Öffnung des Körpers von innen als Vorbereitung auf die Meditation. Dabei können wir uns zusätzlich auf die Erkenntnisse westlicher Pioniere wie z.B. Wilhelm Reich, Gerda Boysen und Paul Brunton sehr gut stützen, um unsere spirituelle Praxis zu ergänzen und zu vertiefen.
Bevor wir uns jedoch dem Thema Praxis und diesen Pionieren widmen, lohnt es sich, einen kurzen Überblick über das Thema Spiritualität aus yogischer Sicht zu geben, damit wir den Gesamtkontext besser verstehen, in dem sich unsere körperliche Praxis abspielt.