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2 Damian

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»Damian?«, rief Stephanie vom Treppenabsatz herunter. »Weißt du, wo das violette Spannbettlaken ist?«

Damian war in der Küche, trug seinen Schlafanzug und Morgenmantel, in dessen Tasche eine einzelne schüttere Marlboro Light steckte, die er vor etwa einer Viertelstunde mit nichtraucheruntypischer Begeisterung ganz hinten in dem Schrank mit den Vasen über dem Kühlschrank entdeckt hatte. Er war kurz davor, sie zu rauchen, nachdem er sich davon überzeugt hatte, dass es nach elfmonatiger Abstinenz in Ordnung sei. Noch immer bereute er zutiefst, dass er damals, als er am Silvesterabend das Rauchen aufgegeben hatte, nicht bewusst DIE ENDGÜLTIG LETZTE geraucht hatte. Er war zu betrunken gewesen. Die einzige Art, sich von dieser schlechten und teuren Angewohnheit zu befreien, sah er darin, tonnenweise Zigaretten zu rauchen, bis einem schlecht wurde, was er getan hatte, und dann feierlich die Letzte zu rauchen, mit würdevoller, wehklagender Konzentration, daraus Kraft und Entschlossenheit zu schöpfen, um mit dem letzten Zug einen abschließenden Punkt zu setzen, was er nicht getan hatte. Es hatte keinen Abschied gegeben, keine Verbeugung, keinen finalen Nikotin-Vorhang, und das stand seinem Leben als Nichtraucher im Weg. Also würde er sich jetzt diese Allerletzte genehmigen. Es war so vorherbestimmt. Sie hatte die ganze Zeit hinter den Vasen auf ihn gewartet, auf einen Morgen wie diesen, an dem er verzweifelt, bedürftig, schwach und deprimiert aufwachen würde. Das einzige Problem bestand darin, dass er nichts zum Anzünden hatte. Nach ausgiebiger, gieriger und gereizter Suche hatte er beschlossen, dass er sie am Herd entzünden würde (riskant), und gerade die Hintertür geöffnet, damit seiner Flucht in den Garten nichts im Wege stand. Draußen regnete es, aber das konnte ihn nicht abschrecken.

»Damian?«

Äußerst widerwillig ging er in die entgegengesetzte Richtung zum Flur, steckte die Marlboro zurück in die Tasche, tätschelte sie aber weiterhin. Warum musste Stephanie ausgerechnet in diesem Moment nach einem Bettlaken fragen? Warum hatte er sie geheiratet? Warum wohnte er am Stadtrand von Dorking?

»Was?«, blaffte er.

Stephanie stand in ihrem Samstagvormittags-Putz-Outfit oben an der Treppe: Jogginghose, ein I LOVE MADRID-T-Shirt ohne BH darunter, ein marineblau-weißes Kopftuch, aus dem schüttere kastanienbraune Strähnen herausragten, Mokassins und kein Make-up. In Momenten wie diesem fiel ihm häufig auf, wie bereitwillig sie ihrem eigenen Verfall in die Hände spielte, und kurz durchzuckte ihn aus einem unerfindlichen Grund der Gedanke, überrumpelte ihn geradezu, dass Melissa beim Putzen ihres Hauses vermutlich Lipgloss trug, vielleicht hübsche Ohrringe oder ein nettes Top, und sollte Michael ihr in derartiger Aufmachung begegnen, verspürte er wahrscheinlich eine köstliche, anhaltende Genugtuung.

»Ich habe letzte Woche bei BHS ein violettes Bettlaken gekauft und es in die Truhe geräumt, und jetzt ist es weg«, sagte sie. »Es war ein Spannbettlaken. Es passt sich den Ecken der Matratze dank eines cleveren Gummibandsystems an, damit ich mir beim Umschlagen der Lakenenden nicht den Rücken brechen muss.« Ihr verdrießlicher Tonfall war mehreren Faktoren geschuldet: Erstens missfiel ihr sein Ton, und es ärgerte sie, dass er ihr das Gefühl gab, ein Quälgeist zu sein, während sie der allgemeinen und notwendigen Instandhaltung ihres häuslichen Lebens nachging. Zweitens war dieser Ton bezeichnend für sein generelles Verhalten ihr gegenüber – Gereiztheit, Gleichgültigkeit, beinahe Missachtung –, was, so gestand sie sich ein, vermutlich mit dem kürzlichen Tod seines Vaters zusammenhing. Die Beerdigung war erst einen Monat her. Sie versuchte, geduldig und verständnisvoll zu sein, aber allmählich zerrte es an ihren Nerven, wie er im Haus Trübsal blies, die Kinder kaum beachtete und absichtlich viel früher als sie ins Bett ging und früher aufstand, wie beispielsweise letzten Abend und heute Morgen, um jeglicher Kommunikation aus dem Weg zu gehen, und dass er, wenn sie ihn fragte, was los sei und ob er darüber reden wolle, nur sagte, es ginge ihm gut, obwohl das ganz offensichtlich nicht der Fall war. Drittens hasste sie es, wenn jemand Sachen woandershin räumte, ohne es ihr zu sagen. Und viertens hasste sie es wirklich, Bettlakenenden umzuschlagen, insbesondere unter ihre übertrieben schwere Matratze, die Damian unbedingt hatte kaufen wollen, weil sie billiger gewesen war als die viskoelastische, die sie lieber gehabt hätte. Sie tauschte derzeit schrittweise sämtliche Bettlaken aus; bald würden alle Matratzen im Haus nur noch mit Spannbettlaken bezogen sein, und wenn sie sich in dem Bemühen, diese kleine Utopie zu verwirklichen, anblaffen lassen musste, dann hatte sie, so leid es ihr tat, kein Mitgefühl mit ihm, vaterlos hin oder her.

»Ich habe kein violettes Laken gesehen«, sagte er. »Ich weiß nicht einmal, wovon du sprichst.«

»Dieses Haus«, sagte Stephanie bissig, hob den Arm und deutete mit einer ausladenden Geste auf ihre Zimmerdecken, Wände, Schränke, chemikalienfreien PVC-Fenster, die großzügige Rasenfläche und die Surrey Hills dahinter, »ist ein gemeinsamer Wohnraum, Damian. Weißt du, was das bedeutet? Das heißt: Wir wohnen hier alle zusammen, du und ich und unsere Kinder. Du hast drei davon. Sie heißen Jerry, Avril und Summer. Mein Name ist Stephanie, und wir sind verheiratet, und Ehepaare reden miteinander und erzählen sich gegenseitig von ihren Problemen, wenn sie etwas bedrückt.« Während sie mit ihrer Rede fortfuhr, spürte Stephanie, wie aufgebracht sie war. Ihren Sarkasmus hatte sie sich bei ihrer älteren Schwester Charlotte abgeguckt, die sich während der Pubertät hitzige Wortgefechte mit ihrer Mutter geliefert hatte, und erst nach der Hochzeit mit Damian, war ihr klar geworden, dass sie selbst einen ausgeprägteren Hang dazu besaß als gedacht. Aber es war nicht der passende Tonfall für ihn. Es klang zu boshaft. Damian blickte mit traurigem, feindseligem, leicht verdattertem Gesichtsausdruck zu ihr auf. Er tat ihr leid, doch sie fuhr trotzdem fort: »Und sollte dich etwas bedrücken, und ich weiß, dass dem so ist, dann ist jetzt der Zeitpunkt gekommen, es auszuspucken und dich an meiner Schulter auszuweinen, werter Herr, denn wenn du weiterhin so trübsinnig durchs Haus schlurfst, werde ich wahnsinnig. Es ist hart, einen Elternteil zu verlieren. Ich weiß das. Ich weiß, dass ich mich genauso fühlen werde, wenn mein Dad … also, ich will nicht einmal darüber nachdenken, aber … Ach, Damian, ich wünschte einfach, du würdest mit mir reden!«

Jetzt weinte sie, nicht laut schluchzend, das hätte nicht zu ihr gepasst, aber ihr standen die Tränen in den Augen, und ihre Schultern hingen flehend herab. Damian spürte, dass er sie trösten sollte, was ihn noch wütender machte. Er dachte immer noch an die Marlboro, konnte den Augenblick, in dem er sie fast geraucht hätte, immer noch nicht loslassen. Er hörte den Regen draußen vor der Eingangstür und stellte sich vor, wie er auch vor der Hintertür herabfiel, wo sie auf ihn wartete, die Allerletzte. Er würde zum Himmel hinaufblicken und den Rauch zum Wasser hinaufpusten und sich für eine kurze Weile von allen Gefühlen reinwaschen, von jeglicher Verpflichtung und Leere, zur Verkörperung der Leere selbst werden. In dem Versuch, zu seinem kurzlebigen, in Wartestellung verharrenden Paradies zurückzukehren, setzte er als Geste seines Mitgefühls einen Fuß auf die unterste Stufe, woraufhin Stephanie zwei Stufen herunterkam, großzügiger als er, dank ihrer vergleichsweise guten psychischen Gesundheit. Er sollte etwas sagen.

»Hör mal, Steph, mir geht es gut.« (Ihre spitze Zunge regte sich wieder, aber sie hörte ihm geduldig zu.) »Sei nicht traurig. Es tut mir leid. Ich schätze, ich bin ein bisschen distanziert. Es liegt bloß an der Arbeit, lästige Angelegenheiten, du weißt schon. Was Laurence angeht, komme ich damit klar, ganz ehrlich. Es ist wirklich keine große Sache.«

»Ist dir klar, wie verrückt das klingt? Wie kann es denn keine große Sache sein?«

Stephanie erschien es immer noch seltsam und verstörend, dass Damian seinen Vater beim Vornamen nannte. Sie hatte nicht ein Mal gehört, dass er von ihm, wie allgemein üblich, als Vater gesprochen hätte. Sie war »Laurence« nur zweimal begegnet, einmal im Southbank Centre in London bei einem Abendessen mit Damian, als sie erst kurz zusammen gewesen waren, ein weiteres Mal auf ihrer Hochzeit. Er war ihr ziemlich steif und schroff vorgekommen, etwas herablassend, kein glücklicher Mensch.

»Es ist einfach keine große Sache. Wir standen uns nicht nahe. Ich bin nicht am Boden zerstört. Du weißt, dass wir uns nicht sehr nahestanden.«

»Ja, ich weiß, dass ihr euch nicht sehr nahegestanden habt, aber er war dein Dad.«

Stephanie starrte ihren Mann eine Sekunde lang an, als betrachtete sie ein Lebewesen in einem Aquarium und als würde ihr gerade klar, dass diese Diskussion keinen emotional intelligenten Abschluss finden würde. Sie musste ihm einfach Zeit geben. Sie hatte gesagt, was gesagt werden musste, und fühlte sich etwas erleichtert, und jetzt würde sie mit ihrem Samstag fortfahren, den sie nach dem Putzen in der energiegeladenen und vereinnahmenden Gesellschaft ihrer Kinder verbringen würde. Es galt, ein Sahnebonbon-Schiff zu basteln, ein Buckingham-Palace-Puzzle fertigzustellen, an einer Schwimmstunde teilzunehmen, und – oh, das fiel ihr gerade wieder ein – abends waren sie zum Essen bei Michael und Melissa eingeladen, um das neue Baby zu begrüßen. Die Vorstellung einer spannungsgeladenen Fahrt nach London an Damians Seite erfüllte sie nicht gerade mit Vorfreude. Sie hatte schon ein Geschenk gekauft, ein Paket Strampler, 6–9 Monate, 100 % Baumwolle, aber vielleicht sollten sie ihren Besuch besser verschieben.

»Bist du sicher, dass dir danach ist, später zu dem Abendessen zu fahren?«, fragte sie. »Sollen wir es absagen?«

»Nein.«

»Nein, dir ist nicht danach, oder nein, du willst es nicht absagen? Es sind deine Freunde, mir macht das nichts aus.«

»Nein, wir fahren hin«, sagte er. »Mir geht es gut.«

»Es geht dir gut.«

»Ja, mir geht es gut.«

»Okay. Wie du meinst.« Stephanie wandte sich um, zog entnervt die Augenbrauen hoch, reckte die Hände in die Luft und stieg die Stufen wieder hinauf. Sie würde sich von ihm nicht den Tag vermiesen lassen. Glück war ein menschliches Grundrecht. »Und denk dran, ich bin für dich da, falls du mich brauchst, schließ mich nicht aus, bla, bla, bla. Ich werde dieses Laken finden. Und bitte vergiss nicht, heute das Bad zu putzen.«

Damian blickte ihr hinterher, als sie verschwand, und fühlte sich miserabel. Die Freude über die Marlboro hatte einen kleinen Dämpfer erlitten, aber er würde sie trotzdem rauchen. Er ging zurück in die Küche und zündete den Herd an, doch als er die Zigarette aus seiner Tasche herauszog, stellte er fest, dass er sie mit seinem Getätschel zerbrochen hatte. Direkt unterhalb des Filters, an der denkbar schlechtesten und irreparabelsten Stelle. Er hatte nicht einmal ein Blättchen, um sie zu flicken. Der Schrank mit den Vasen war von allem Raucherzubehör befreit worden, von jeglicher Versuchung, abgesehen von diesem einen versehentlichen Überbleibsel. Die Chance auf einen feierlichen Nikotin-Abschied war dahin. Er machte Stephanie persönlich dafür verantwortlich.

Damian hatte Stephanie vor fünfzehneinhalb Jahren auf einer Spendenveranstaltung in Islington kennengelernt, als sie beide noch in London gewohnt hatten. Er arbeitete damals als Wohnungsverwalter in Edgware, sein erster Job nach Studienabschluss, und sie in der Spendenabteilung der Kinderschutzorganisation NSPCC. Sie war hochgewachsen, kräftig und bescheiden und insofern nicht sein Typ, als sie keine Ähnlichkeit mit Lisa Bonet, Chilli von TLC oder Toni Braxton besaß, aber sie war umgänglich und durchaus attraktiv, irgendwo zwischen Kate Moss und Alison Moyet, und sie besaß etwas, was Damian fehlte: die Gabe der Zufriedenheit, was beruhigend auf ihn wirkte. Sie stammte aus Leatherhead, einer Kleinstadt im Norden von Surrey. Ihrem Vater Patrick, einem ehemaligen Transport-Manager, gehörte ein Blumen- und Gartenmöbelcenter an der A24 Richtung Horsham, das er mit seiner halbitalienischen Frau Verena, Stephanies Mutter, betrieb. Verena kümmerte sich um die Buchhaltung und Verwaltung, Patrick war für das Marketing und die Kundenpflege zuständig. Werbung wurde bei ihm ganz großgeschrieben. Etwa drei Minuten hinter dem Gartencenter verkündete ein riesiges Schild an der A24: SIE HABEN GERADE GROSSBRITANNIENS GRÖSSTES GARTENCENTER VERPASST – DIE GRÖSSTE AUSWAHL AN EINHEIMISCHEN UND EXOTISCHEN BLUMENSAMEN UND SETZLINGEN, KORB- UND GARTENMÖBELN. Ob es tatsächlich stimmte, dass Patricks Gartencenter das größte Großbritanniens war, schien für ihn zweitrangig, denn es war sehr groß, und vermutlich war es das größte unabhängige Gartencenter in diesem Land, das noch dazu an einer großen Bundesstraße lag. In der Werbung gibt es so viele rechtliche Schlupflöcher, dass man praktisch alles behaupten kann, so erzählte er den Leuten ständig. Patrick hatte als junger Mann in der Werbebranche gearbeitet, bevor er Transport-Manager wurde. Er gab die Geschichte gern zum Besten, angestachelt von dem schwächlichen, niedergeschlagenen Gesichtsausdruck seines Schwiegersohns, der in ihm das Verlangen weckte, ihn runterzuputzen und anzubrüllen, REISS DICH ZUSAMMEN, MANN!, doch stattdessen erzählte er seine Geschichte: »Ich habe jahrelang in der Werbung gearbeitet, habe direkt nach dem College damit angefangen, dachte erst, das ist ein – entschuldigt meine Ausdrucksweise – Haufen Schund. Aber dann hatte ich irgendwann den Dreh raus, wisst ihr? Man kann Menschen mit allem Möglichen beeinflussen. Wir sind überall von Zeichen und Symbolen umgeben. Wir werden ununterbrochen von ihnen beschwatzt, bedrängt und bezirzt, ohne es zu wissen. Wir halten uns für klug genug, um dem zu widerstehen, aber das sind wir nicht. Ich habe das schon viele Male zu Verena gesagt – nicht wahr, Verena? –, die Menschen sind deshalb so oft unglücklich, weil sie glauben, sie müssten ein außergewöhnliches Leben führen. Sie wollen ihr Los nicht akzeptieren und glauben, ihnen stünde etwas Besseres zu. Aber in Wahrheit gelangen wir genau dahin, wo wir sind, weil es unseren Fähigkeiten und unserem Potenzial entspricht. Ich war tatsächlich ein richtig guter Werbefachmann, so wie du bestimmt ein richtig guter Wohnungsverwalter bist …« Das war letzten Sonntag gewesen, in ihrem Wohnzimmer beim monatlichen Schwiegereltern-Sonntagsbraten. »Research Manager«, hatte Damian richtiggestellt, wie bereits etliche Male zuvor. »Ich untersuche die Auswirkungen von Solarwärme auf große Glasflächen in mehrstöckigen Wohngebäuden.« (Er konnte diese Beschreibung nie abkürzen, jedes Wort schien von entscheidender Bedeutung.) »Ich habe als Wohnungsverwalter angefangen.«

»Und dich hochgearbeitet. Gut. Ja. Das ist gut. Und es klingt sehr interessant, nicht wahr, Verena?«

»Sehr interessant. Umweltbewusst. Sinnvoll«, sagte Verena.

»Das ist es wirklich. Eine sehr sinnvolle Arbeit«, sagte Stephanie. »Das sage ich ihm auch immer.«

»Bestimmt ist sie das. Ganz bestimmt.« Patrick machte einen Knopf zu, der sich an seinem rosafarbenen Hemd gelöst hatte. »Und ich wette, du bist auch wirklich gut darin, so wie ich es in der Werbung war. Aber«, fuhr er fort, »mein Ziel war immer, einmal ein eigenes Geschäft zu haben, mein eigener Chef zu sein, mein Königreich selbst zu regieren und so weiter. Aber ohne all die Jahre in der Werbung und auch im Transportwesen – die waren durchaus nützlich –, also, um es mit einem Klischee auszudrücken, ohne diese Erfahrung wäre ich heute nicht da, wo ich jetzt bin. Habe ich recht, Verena?« »Ja, das hast du, meinst du nicht auch, Steph?« »Ja, Dad, da hast du recht.« »So ist es, meine Prinzessin.«

»Mum, Dad, kann ich euch noch etwas anbieten? Noch ein paar Chips? Oder Cashewnüsse? Das Lamm ist noch nicht ganz durch.«

»Ich hätte nichts gegen noch ein paar von den Chips einzuwenden. Was für eine Geschmacksrichtung war das?«

»Thai Sweet Chili mit Sour Cream.«

»Meine Güte – was man heutzutage alles mit Chips anstellt!«, sagte Patrick. »Als ich ein Kind war, gab es Chips nur gesalzen, mit Cheese-and-Onion-Geschmack oder Salt and Vinegar. Als damals Beef and Onion auf den Markt kam, war das fast wie Kaviar. Wie Satelliten- und Kabelfernsehen. Als Channel Four an den Start ging, war das eine Revolution, nicht wahr, Verena?«

»O ja, eine echte Revolution.« Verena war bei ihrem dritten Glas Wein angelangt. »Erinnerst du dich noch daran, Steph?«

»Mehr oder weniger … vage. Und du, Damian?«

»Ja.«

»Davor gab es ja nur drei Sender, BBC1, BBC2 und ITV. Erinnert ihr euch an Familien-Duell

»Ich habe Familien-Duell geliebt!«

»Das hast du, Steph. Auf ITV liefen die ganzen guten Sendungen – Die Benny Hill Show und Der Aufpasser. Seitdem hat die Qualität ziemlich nachgelassen.«

»Die Qualität hat überall nachgelassen, weil alle miteinander konkurrieren.«

»Richtig, Verena! Genau das meine ich. Was Chips angeht, ist das nicht unbedingt schlecht, wenn dabei solche Geschmacksrichtungen herauskommen wie – was war das noch mal für eine Sorte, Prinzessin?«

»Thai Sweet Chili mit Sour Cream.«

»Genau. Ein bisschen gesunder Konkurrenzkampf schadet nicht, wenn dabei so faszinierende Mischungen wie diese entstehen. Aber wenn es bedeutet, dass die Leute Fernsehsendungen machen, die sogar sie selbst für – entschuldigt meine Ausdrucksweise – den letzten Schund halten, führt das doch nur zu schlechter Unterhaltung, nicht wahr? Ich meine, was gab es denn an Grandstand auszusetzen? Erinnert ihr euch an diese Sportshow?«

»Wie könnte ich sie vergessen, Dad. Du hast uns schließlich jeden Samstag genötigt, sie zu gucken, ohne Ausnahme.«

»Ja, Damian, das hat er. Und wenn eine von uns ihn dabei gestört hat, ist er richtig, richtig wütend geworden.«

»Das bin ich, das bin ich. Ich habe diese Sendung geliebt. Und sie wurde abgesetzt. Kann ich einfach nicht nachvollziehen. Und jetzt läuft stattdessen Football Focus, das nicht vom selben Kaliber ist, wenn ihr mich fragt. Gary Lineker ist ein Schwachkopf, entschuldigt meine Ausdrucksweise. Bei ihm stehen nur seine lässigen Hemden und sein Milchbubi-Gesicht im Vordergrund, die Frauen lieben ihn, aber er ist kein Kommentator. Er kann Don Leatherman nicht das Wasser reichen. Mag sein, dass er besser aussieht, aber er hat nicht halb so viel Köpfchen wie Don.«

»Er hat sich aber sehr für Chips eingesetzt«, sagte Verena. »Mit den Werbespots, die er dafür gemacht hat …«

»Aber nur für Walkers. Und die haben nicht alle neuen Geschmacksrichtungen«, sagte Stephanie.

»Da hast du es«, sagte Patrick und nahm sich noch ein paar Chips, »ein Fußballspieler, der Werbeträger wird und danach Kommentator. Was mich wieder zu meinem ursprünglichen Thema zurückbringt. Damian«, sagte er, »vergiss nicht: Du kannst alles erreichen, was du erreichen willst, aber es ist wichtig, die Posten, auf denen wir gelandet sind, wertzuschätzen und daraus zu lernen. Falls dir die Solarwärme eines Tages zu heiß wird, solltest du die Küche – frei nach Truman – vielleicht verlassen. Aber vorerst trägst du die Verantwortung für eine ausgesprochen wertvolle Frau und zwei wertvolle Prinzessinnen, und auch für diesen kleinen Prinzen hier – komm her, du! Du musst die Brötchen verdienen, und darauf sollte momentan dein Fokus liegen – ha! Fokus, Football Focus, da wären wir wieder! Wer weiß, was sich daraus noch entwickelt, hm? Alles ist möglich.«

Die Frauen warfen Damian mitfühlende Blicke zu und waren gleichzeitig gebührend beeindruckt von Patricks Sturzbach aus geistreichen Wortspielen.

»Okay … danke, Patrick«, sagte Damian.

»Du bist ein hervorragender Erforscher der Auswirkungen von Solarwärme auf große Glasflächen in mehrstöckigen Wohngebäuden«, sagte Stephanie.

»Ganz bestimmt ist er das«, sagte Verena. »Steph, kann ich dir in der Küche helfen?«

»Nein danke, Mum. Alles unter Kontrolle. Bleib du nur sitzen und entspann dich. Möchtest du noch etwas Wein?«

Vermutlich lag es unter anderem an den langfristigen Auswirkungen des monatlichen Schwiegereltern-Sonntagsbratens, dass sich Damian an jenem Morgen beim Aufwachen schwach, bedürftig und deprimiert fühlte. Er hatte nach diesen Treffen immer das Gefühl, dass er im falschen Leben gefangen war, dass Stephanie falsch war, dieses Haus falsch war, alles falsch war. In Gegenwart ihrer Familie schien Stephanie immer in eine frühere, provinziellere, behütetere Version von sich selbst zu verfallen, eine Version, die mit Reitstunden aufgewachsen war, mit Wanderungen durchs Grüne und der unerschütterlichen Ehe ihrer Eltern, einem Spielzimmer mit Blick auf die Surrey Hills, das Ähnlichkeit mit dem besaß, das sie in ihrem Haus eingerichtet hatte. Tatsächlich fiel es ihm schwer, Daddys angepasste Prinzessin mit der aufrechten, forschen und irgendwie cooleren Frau in Einklang zu bringen, in die er sich verliebt und die er geheiratet hatte. Oder hatte er sich nie wirklich in sie verliebt? Hatte sie ihm vielleicht einfach nur das Gefühl gegeben, klug und tatkräftig zu sein, weil sie ihre Lebenspläne fokussiert und forsch verfolgte – im Gegensatz zu ihm –, und hatte er sich einfach von ihr mitziehen lassen? Alles, was sie wirklich wollte, das hatte sie ihm schon ganz zu Anfang in einem Pub eröffnet, war eine Familie. »Ich möchte eine Familie und ein Zuhause und einen Ehemann. Ich werde auch arbeiten, aber meine Arbeit ist zweitrangig. Mein Job werden die Kinder sein. Ich möchte mich um sie kümmern. Ich werde sie nicht in eine Kita abschieben, sobald sie drei Monate alt sind. Ich werde ihnen das Alphabet beibringen, mit ihnen in den Park gehen und mit ihnen Bilder malen. Ich werde sie stillen. Ja, ich bin altmodisch. Aber es steht mir frei, diese Dinge zu wollen.«

Und so wurde es gemacht. Eine einladende Doppelhaushälfte mit Kiesauffahrt in einer sicheren, ruhigen Straße. Schaukeln im Garten. Ein in Streifen gemähter Rasen. Eine Gartenlaube aus Bambus – ein Geschenk von Patrick –, aus der an Sommerabenden die Kinder mit seidigen Wangen und weichem Haar herausliefen. Sie liebten ihre Mutter so heiß und innig wie die aufgehende Sonne, sie füllten sie aus. Stephanie brachte ihnen bei, Baumarten zu bestimmen, das Gute aneinander zu sehen und Verantwortung für ihr Handeln zu übernehmen. Sie besuchten eine anspruchsvolle, vom Staat stark geförderte Schule. Jerry ging an drei Vormittagen in der Woche in eine freundliche, helle Kindertagesstätte, wenn Stephanie bei einer lokalen Wohltätigkeitsorganisation arbeitete. In der Nähe gab es einen Landschaftspark und zwei Freizeitanlagen, und sie hatten die Qual der Wahl zwischen verschiedenen großflächigen Baumärkten, Kaufhäusern mit günstigen internationalen Kleidermarken und Restaurantketten, die mit dem Auto schnell zu erreichen waren, und sie kehrten immer zu diesem großen, einladenden und robusten Haus zurück, mit der hellblauen Eingangstür und dem hellblauen Kattunsofa im Wohnzimmer, von dem man durch die Fenster auf das Licht und die Blätter der Traubeneichen gegenüber blickte. Stephanie liebte dieses Haus. Sie liebte die Ordnung, die dicken Teppiche im Obergeschoss und die alten Holzböden. Sie liebte das Chaos der Kinder innerhalb dieser Ordnung – ihre Schuhe, ihre Filzstifte, ihre Plastik-Mikrophone, ihre Puppen, ihre Tierpuzzles, ihr Lego –, doch das Chaos gewann nie die Oberhand, denn sie hatte im Haus ein effizientes Aufbewahrungssystem entwickelt, damit jedes Teil seinen festen Platz hatte, auch wenn es dort nicht immer anzutreffen war. Die Teddys, Puppen und Stofftiere hausten auf dem Treppenabsatz in einem orangefarbenen IKEA-Hängeregal mit verschiedenen Fächern, dessen Haken Damian aufgrund seiner begrenzten Heimwerkerfähigkeiten unter gewissen Schwierigkeiten montiert hatte (ein weiterer Grund, weshalb Patrick wenig von ihm hielt). Die anderen, kleineren Objekte in Menschen- oder Tierform wurden im Spielzimmer in einer Plastikschublade mit der Aufschrift LEBEWESEN aufbewahrt, die aus einer wuchtigen Kiefernkommode herausgezogen werden konnte, die noch weitere Schubladen enthielt – BASTELZEUG: für Papier, Malbücher, Aufkleber und Postkarten; KRACHMACHER: für Rasseln, Musikinstrumente; Trillerpfeifen etc.; GEGENSTÄNDE: für Spielzeuge, die keine Lebe- wesen darstellten, Miniaturmöbel, Muscheln, Murmeln usw. Stephanie hatte diese Etiketten während der freien Zeit angebracht, die ihr zwischen den Fahrten zur Schule, dem Job, der Hausarbeit und der allgemeinen Organisation des Haushalts blieb, und zudem Fotos von Damian, den Kindern und ihr in den Zimmern verteilt. Das Haus besaß tatsächlich große Ähnlichkeit mit dem, in dem sie selbst aufgewachsen war. Sie hatte eine relativ glückliche Kindheit verlebt, und es war ihr leichtgefallen, sie zu reproduzieren. Sie war hier zufrieden. Zufriedenheit war einfach.

Das war ein himmelweiter Unterschied zu Damians Start ins Leben. Er kam nicht aus Surrey, sondern aus London, Südlondon, er war ein Kind der Sozialbauten von Stockwell. Der Rasen war zur gemeinschaftlichen Nutzung bestimmt, und es war fraglich, ob er jemals gestreift gewesen war. Die Treppenaufgänge verliefen außen statt innen. Vier Stockwerke waren es bis zur Eingangstür, die in einer der staatlich finanzierten Farben gestrichen war – Rot, Schwarz, Blau oder Grün (Laurence hatte Schwarz gewählt). Zwar gab es auch Aufzüge, doch diese dienten regelmäßig Hunden oder Betrunkenen als Toilette – nur die Schuldigen kannten die Wahrheit. War man auf seiner Etage angelangt, hielt man seinen Plastikschlüsselanhänger vor den Sensor, woraufhin sich eine schwere Tür mit Metallverschlägen öffnete und einen kalten, schmalen Korridor freigab. In jeder Wohnung gab es ein kleines Badezimmer, eine kleine fensterlose Toilette, eine kleine Küche, ein mittelgroßes Wohnzimmer und ein, zwei oder drei Schlafzimmer, je nach Anzahl der Familienmitglieder (ihre Wohnung hatte zwei Schlafzimmer gehabt). Außerdem gab es einen Balkon, den die Bewohner nach Belieben dekorieren konnten. Einige blieben kahl oder dienten nur dazu, die Wäsche aufzuhängen, aber einige Leute gaben alles und präsentierten Blumenampeln, Gartentische, bepflanzte Blumenkübel und Laternen, waren mächtig stolz auf ihren Außenbereich und zeigten echten Ehrgeiz bei dessen Gestaltung, indem sie ein bisschen Flora einbrachten und damit einen Hauch von Chelsea schufen. Laurence’ und Damians Balkon war so gut wie kahl, abgesehen von einer Bank und einem Aschenbecher auf dem Fenstersims, und über das rechteckige Stück Himmel war ein großmaschiges grünes, staatlich gefördertes Netz gespannt, damit die Tauben ihre Exkremente nicht auf ihrer Freifläche fallen ließen. Dort hing Laurence meist seinen Gedanken nach – abends, nachts, morgens und nachmittags. Er besaß keinen grünen Daumen und war auch nicht häuslich veranlagt. Denken war alles.

Laurence Hope war politischer Aktivist und Autor, der als Jugendlicher von Trinidad nach England gekommen war und seine Entrüstung zum Beruf gemacht hatte. Er war einer von jenen Gerechtigkeitskämpfern, die selbst miterlebt hatten, dass die Wohnungsbesitzer ihnen keine Zimmer vermieten wollten, dass die Polizei sie nicht freilassen wollte und dass die Schlägertypen sie nicht in Ruhe lassen wollten, und er schlug zurück. Er nahm an Aufständen teil und engagierte sich politisch. Er schrieb Artikel über das Übel rassistisch motivierter Gewalttaten, hielt in düsteren Gemeindesälen Vorträge über die Notwenigkeit, zu handeln und sich als geschlossene schwarze Einheit zu organisieren. »Wenn wir uns nicht zusammentun, sind wir verloren«, hatte er immer wieder zu Damian gesagt, beim Frühstück oder während sie die Nachrichten schauten oder an einem Samstagabend im verrauchten Wohnzimmer in Gesellschaft anderer Aktivisten. Von den Gemeindesälen war er irgendwann in die Hörsäle vorgedrungen, und seine Artikel wurden in Zeitungen abgedruckt. Laurence Hopes Essay-Sammlung über den Kampf gegen Rassismus in Großbritannien galt in akademischen Kreisen als beachtliches Werk und gehörte in manchen Studiengängen immer noch zur Standardlektüre. Er hatte nie ein weiteres Buch veröffentlicht und nie einen festen Posten an einer Universität erlangt, aber er hatte weitergeschrieben, in der Ecke seines Schlafzimmers, das ihm als Arbeitszimmer diente, selbst dann noch, als die Honorare sanken und die Nachfrage nach Vorträgen abnahm, als die Bewegung, so wie er sie verstand, zerbrach und die Welt sich abwandte, sich nur noch um sich selbst drehte und Thatchers Vermächtnis die Menschen egoistisch werden ließ. Er fuhr mit seiner Arbeit und mit dem Denken fort, bis seine Entrüstung das Einzige war, was ihm blieb, und sie ließ ihn schrumpfen, er wurde mager und einsam. »Wir sind immer noch nicht frei«, sagte er zu Damian. »Sie glauben, sie wären frei, aber sie sind es nicht. Es gibt immer noch eine Menge Arbeit zu tun.« Damian fühlte sich verfolgt, geplagt von dieser Arbeit, die noch getan werden musste. Er blickte zu den Bücherregalen hinüber, die das Zimmer seines Vaters säumten, mit Schriften von Frantz Fanon, James Baldwin, Richard Nathaniel Wright und W.E. B. Du Bois, jenen verehrten, mutigen Männern, die ihr Leben dieser unheimlich wichtigen Arbeit gewidmet hatten, und fragte sich, wie er diese unheimlich wichtige Arbeit fortführen sollte, wo ihm an manchen Tagen, wenn er von der Schule nach Hause kam, nur der Sinn danach stand, Nachbarn zu gucken, ohne sich darüber Gedanken zu machen, warum in Nachbarn kein Schwarzer mitspielte, und Sheperd’s Pie oder Lasagne zu essen oder irgendetwas anderes, das Menschen in einem glücklichen Zuhause aßen, wo es jemanden gab, der kochte.

Eine weibliche Note. Etwas in der Richtung. Ein fröhliches, liebevolles und buntes Etwas. Die Gegenwart einer Frau. Der Mangel daran ließ ihn sexistisch werden. Er wünschte sich, dass eine Frau in ihr Leben trat und Blumen auf die Fensterbank stellte und dem Balkon einen Hauch von Chelsea verlieh. Die Vorhänge wusch, die Betten frisch bezog. Während er die Treppen zum vierten Stock hochstieg, stellte er sich vor, wie es wäre, statt des unpersönlichen Miefs im Sozialbautreppenaufgang den Duft von Gewürzen, Marinaden, Tomaten und Hühnchen wahrzunehmen, der unter der schwarzen Tür herausdrang, das Schmoren seines Abendessens, die warmen Speisen ihrer Liebe. Die Frau, nach der sich Damian sehnte, war nicht seine Mutter. Seine Mutter hatte sie verlassen und sich nach Kanada abgesetzt, als Damian fünf Jahre war, sie war nie zurückgekehrt; er hatte sie so gut wie vergessen. Die Frau, nach der er sich sehnte, die später ebenfalls gegangen war, hieß Joyce und war die Exfreundin seines Vaters; sie war für eine Weile zu ihnen gezogen und hatte es ihnen nett gemacht.

Joyce kam ebenfalls aus Trinidad, lebte aber noch nicht so lange in England. Sie war leichter, unbeschwerter. Sie barg noch das Rauschen der Insel in sich. Sie trug farbenfrohe schwingende Röcke und im Winter einen lila Cardigan mit Goldknöpfen auf der Vorderseite, und sie hatte wunderbar weiche Hände. Sie kochte das beste Essen, das Damian je gekostet hatte, besser als das vom Take-away auf der Brixton Road, bei dem sein Vater und er Stammkunden waren. Ihre Marinaden waren großzügig gepfeffert, ihr Reis mit Erbsen fluffig. Sie backte Ingwerkuchen und kaufte Ananas, entfernte den Strunk und schnitt sie in Stücke. Sie aßen alle gemeinsam am Klapptisch im Wohnzimmer, der zuvor als staubige Ablage für verirrte Aktenordner und leere Gläser gedient hatte und der jetzt permanent ausgeklappt war, darauf eine Obstschale und, ja, Blumen. Sie sagte, Männer seien Jungs, und Jungs seien Männer, und beide bräuchten Frauen, die ihnen das Leben erleichterten. »Damian«, sagte sie, »wenn du bist fertig, wisch dir Mund mit Serviette ab.« »Damian«, sagte sie, »ich sehe, du trägst selbes Hemd wie gestern, du musst neues anziehen.« Und während sie gemeinsam am Tisch saßen, sprachen sie darüber, wie ihr Tag verlaufen war, erzählten sich von ihrem Leben. Laurence wirkte gelöst, er lachte. Damian erfuhr Dinge über ihn, von denen er vorher nichts gewusst hatte, Sachen aus seiner Kindheit in Trinidad, über die er so gut wie nie sprach, als wäre sie nicht von Bedeutung, als hätte ausschließlich England ihn zu dem Menschen gemacht, der er war, als hätte es ihn gar nicht gegeben, bevor er wütend geworden war. Sein politischer Aktivismus trat in Joyce’ strahlender Gegenwart in den Schatten, und auch Laurence wurde für gewisse Zeit von einem Strahlen erfüllt.

Doch die Beziehung war nicht von Dauer. Laurence wurde es irgendwann leid, sein Zimmer mit einer anderen Person zu teilen, und klagte, er könne so nicht nachdenken. Joyce begann, ihm dieselben Dinge vorzuwerfen, die Damians Mutter ihm einst vorgeworfen hatte – er sei kalt, engstirnig, egoistisch, arrogant, er ginge nicht mit ihr aus, er gebe ihr kein gutes Gefühl mehr, er würde sie nicht mehr wertschätzen. Der Duft nach Marinade wehte Damian beim Erklimmen der vier Stockwerke seltener entgegen, und als er eines Abends die Eingangstür aufschloss, hörte er, wie sie sich stritten. Joyce warf seinem Vater vor, er wisse nicht, wie man mit einer schwarzen Frau zusammen sei. Sie sagte, er könne nur mit weißen Frauen zusammen sein, weil weiße Frauen nicht auf die gleiche Art respektiert werden müssten wie schwarze. Laurence sagte, sie solle verschwinden. So wütend hatte Damian ihn noch nie erlebt. Später am Abend spürte Damian in der Dunkelheit seines Zimmers ihre weichen Umrisse an seinem Bett sitzen, eine weiche Hand strich ihm über die Wange. Er machte die Augen nicht auf, denn ihm war klar, dass sie gehen würde, und er wollte ihr nicht Lebewohl sagen. Das Schwingen ihres Rocks beim Aufstehen, das Tapsen ihrer Füße auf dem Boden und dann vollkommene Stille, als sie an der Tür stehen blieb. Am nächsten Morgen war sie verschwunden. Die Wohnung kehrte zu ihrer ursprünglichen Nüchternheit zurück, Laurence kehrte verbissener als je zuvor zu seinem düsteren Schreibtisch zurück, zum Umgang der Polizei mit den Schwarzen, zur Niederschlagung der Aufstände in Brixton, zur unverhältnismäßig hohen Zahl schwarzer Insassen in psychiatrischen Anstalten und Gefängnissen.

All das hatte dazu geführt, dass Damian sich verpflichtet fühlte, etwas Bedeutsames mit seinem Leben anzufangen, wie ein Nachkomme von Bob Marley oder Fela Kuti die Arbeit seines Vaters fortzuführen, seine Position in der Gesellschaft zu akzeptieren und als Vehikel für weitreichende Veränderungen zu nutzen. Doch als er zu entscheiden versuchte, welches Studium er zugunsten dieser Berufung an der Universität aufnehmen sollte, war er vollkommen blockiert. In seinem tiefsten Inneren wollte er Anglistik studieren, hielt es aber für sinnvoller, Politik oder Soziologie zu wählen. Um sich gegen dieses Pflichtgefühl aufzulehnen, entschied er sich stattdessen für Philosophie und verbrachte drei Jahre damit, der gewaltigen Frage nach der Bedeutung aller Dinge einen zweifelhaften theoretischen und literarischen Überbau hinzuzufügen. Warum existieren wir? Existieren wir tatsächlich? Was ist die Bedeutung menschlichen Lebens? Wozu dient Religion? Er verließ die Universität mit einer noch schwammigeren Vorstellung von der Zukunft und übernahm zunächst Auftragsarbeiten, die ihm Laurence vermittelte: gelegentliche Buchbesprechungen und Recherchearbeiten für einen Dokumentarfilm über das Vermächtnis des Sklavenhandels, an dem er bereits seit zwölf Jahren arbeitete. Währenddessen überlegte er, ein Aufbaustudium in Anglistik zu machen, um seinem ursprünglichen Impuls zu folgen, doch zu jenem Zeitpunkt hatte sich bei ihm bereits das Gefühl eingeschlichen, dass es dafür zu spät war. Er wandte sich dem Arbeitsmarkt zu, den STELLENANZEIGEN, der sicheren Sackgasse für riskante Träume, und nach mehreren Vorstellungsgesprächen landete er beim kommunalen Wohnungsamt in Edgware, wo er Mietverträge aufsetzte, Kündigungsschreiben verfasste und Anträge auf Wohnbeihilfe bearbeitete. Es war nicht das, was er sich erträumt hatte, aber er sah es als Zwischenlösung an, bis er herausfinden würde, was er wirklich wollte. Er las Bücher. Er las Shakespeare, Kafka und Flannery O’Connor. Er las Raymond Carver und sehnte sich danach, die einschneidenden Erfahrungen des Lebens einzufangen. Und er begann, abends in seinem Zimmer in Kennington einen Roman zu schreiben, an einem alten Schulpult, das er in einem Trödelladen entdeckt hatte (mit hochklappbarer Schreibfläche, unter der ein Ablagefach zum Vorschein kam). Es war ein Entwicklungsroman über einen Mann um die zwanzig, der versuchte, zu sich selbst zu finden. Ein Jahr arbeitete er daran, rauchte eine Zigarette nach der anderen, trug kurze Socken und Bermudas, sodass nur seine Waden hervorguckten – das war ausgesprochen wichtig, der Luftzug um die Schienbeine förderte seine Konzentration. Er machte sich umfangreiche Notizen und las maßgeblich relevante Bücher über Psychologie und Identitätsfindung. Doch irgendwann gelangte er wieder an den Punkt, an dem er sich blockiert fühlte. Er war verwirrt. Die Wörter stolperten durcheinander. Jedes Mal wenn er einen Satz zu schreiben begann, verschrumpelte der Gedanke in seinem Kopf und zerfiel zu Asche; er verspürte ein Gefühl der Ohnmacht, das ihm das Weiterschreiben unmöglich machte. Etwa zu diesem Zeitpunkt lernte er Stephanie kennen.

Sie stand in ihren roten Schuhen neben ihm im Gang 3 des Islington Business Design Centre – rotbraunes Haar, reine, helle Haut, ein bisschen größer als er, aufrichtige braune Augen und ein sanfter Blick – und fragte ihn, ob er wisse, wo sie dem übertrieben komplizierten Konferenzplan zufolge ihren Seminarraum finden würde, und sie begaben sich zusammen auf freundschaftliche Mission, um ihn ausfindig zu machen. Von Anfang an war klar, dass er ihr gefiel. Sie war sehr direkt, was das anging, fokussiert. Er sah genauso aus wie ein Mann, der ihr kürzlich in einem Traum erschienen war, so offenbarte sie ihm später: stämmig mit Tendenz zur Dickleibigkeit, große Hände, dunkle dichte Locken und hellbraune Haut; er war ganz plötzlich in ihrem Traum aufgetaucht, als wäre er auf der Suche nach etwas. »Vielleicht«, sagte er zu ihr, »habe ich nach dir gesucht.« »Ja, vielleicht«, sagte sie, als sie in seinem Zimmer lagen, während sich Bobby McFerrin auf dem Plattenteller drehte, Schallplattenhüllen den Boden bedeckten; ihre roten Schuhe ruhten Spitze an Spitze unter dem Schulpult. Mit diesen roten Schuhen an ihren Füßen durchkreuzten sie gemeinsam die ganze Stadt – Konzerte, Pubs, Restaurants, Kinofilme, Glühwein an einem Straßenstand in Camden, das Flussufer in Hammersmith; für Stephanie war die Stadt eine Zwischenstation, sie würde zurück in die Surrey Hills ziehen, sagte sie, mit der Familie, den Kindern, die sie haben würden, davon war sie überzeugt, und sie würden durch die Felder laufen, die Arme zu Flugzeugflügeln ausgebreitet, würden Drachen steigen lassen, auf Pferden reiten, die Wälder und Wiesen erkunden. »Es gibt auch in London Wälder und Wiesen«, hatte Damian gesagt. »Nein, das ist nicht das Gleiche«, gab sie zurück, »dort hört man immer noch den Verkehr, die Sirenen und die kreisenden Hubschrauber, ich hasse kreisende Hubschrauber, dabei muss ich immer an Luftangriffe denken.« Sie führten die Diskussion weiter, als sie bereits in einer gemeinsamen Mietwohnung in Dulwich wohnten, wo sie häufig in den Wald gingen, heirateten und dann mit Summer in einer Mamas-&-Papas-Babytrage vor Stephanies Brust durch die Wälder spazierten. Und dann fuhr Stephanie eines Tages durch die Seitenstraßen von Forest Hill – Summer schlief friedlich in ihrem Mamas-&-Papas-Autositz –, als sie sah, wie drei Männer am helllichten Tage über den Bürgersteig auf den kleinen Kreisverkehr zuliefen: Der erste hielt einen Stein in der Größe von Summers Kopf in der Hand und zielte damit auf den Kopf des zweiten Mannes, während der dritte versuchte, ihn davon abzuhalten. Stephanie hielt nicht an, um zu sehen, ob der Mann den Stein tatsächlich schmiss, aber der mordlustige Ausdruck auf seinem Gesicht war furchteinflößend; sie fuhr nach Hause und eröffnete Damian noch am selben Abend, sie werde zurück nach Surrey ziehen, ob er wolle oder nicht, und stellte sich taub, als Damian argumentierte, auch in ländlichen Wohngebieten komme es vor, dass jemandem mit einem großen Stein der Schädel eingeschlagen wird.

Patrick und Verena waren erfreut. Sie griffen ihnen mit einer Anzahlung für das erste Haus in Dorking unter die Arme, drei Meilen östlich vom Stadtzentrum, und dann nochmals für das größere Haus, ihr endgültiges Zuhause auf der Rally Road, als Stephanie mit Avril schwanger war. Damian hatte darauf bestanden, ihren Eltern das Geld zurückzuzahlen, was ihnen bislang noch nicht gelungen war. Seitdem er Stephanie kennengelernt hatte, hatte er zweimal den Job gewechselt, den Ausstieg aus der Immobilienbranche aber immer noch nicht geschafft, nur eine weitere Sprosse auf der Karriereleiter erklommen und arbeitete nun für eine Immobilienberaterfirma in Croydon. Auf seinem Arbeitsweg konnte er Londons Zentrum fast vollständig umgehen. Er brauchte gar nicht mit der U-Bahn zu fahren, sondern schloss sich den anderen Pendlern an, die um 17.20 Uhr in die Station East Croydon strömten, über ihnen hoch aufragend die stählernen Bürogebäude und riesigen silbernen Hochhäuser der seltsamen Ufo-Stadt, und quetschte sich in einen überfüllten Zug, der auf geschmeidigen, effizienten Schienen aufs Land rausfuhr, während sich die Menschenmenge stetig ausdünnte, das Grün sich ausbreitete und die Stadt bald hinter ihm lag; so kam er rechtzeitig nach Hause, um gemeinsam mit Stephanie die Kinder ins Bett zu bringen. Manchmal war er früh genug zu Hause, um mit ihnen zu Abend zu essen, und sie erzählten ihm, wie sie den Tag verbracht hatten: von ihrem neuen Geschwindigkeitsrekord beim Aufgabenlösen, von ihrem Ausflug zum Bauernhof, von dem Weihnachtsliederkonzert, von bevorstehenden Jahrmärkten oder einem Zirkus in der Gegend, wo sie vielleicht hingehen würden, und Stephanie brachte ihn über verlängerte Versicherungslaufzeiten und Schwimmkursbuchungen auf den neuesten Stand. Bei all der Aktivität und Verantwortung gab es so viel zu bedenken und zu tun, dass ihm kaum Zeit blieb, wirklich darüber nachzudenken, wie sehr er London vermisste, die Geschäftigkeit, das sprudelnde Leben in Brixton, den geliebten Fluss, die indischen Take-aways, das Glitzern der Hochhäuser bei Nacht, die Handyläden, die Afrikaner in Peckham, die zuverlässige Verfügbarkeit von Kochbananen, die strenge Schönheit der Kirchgängerinnen am Sonntagmorgen, das West End, die Kunst, die in der Luft lag, die Musik, die in der Luft lag, den Hauch von Möglichkeiten. Er vermisste die U-Bahn, die Telefonzellen. Und in seinem tiefsten Inneren vermisste er sogar die böswilligen Politessen, die herzlosen Busfahrer, die aus purer Boshaftigkeit an Warteschlangen fröstelnder Fußgänger vorbeirasten. Er vermisste es, mit dem Rad von Loughborough bis Surrey Quays zu fahren, während die Platanen an ihm vorbeizischten, er vermisste den Anblick von Frauen mit angewebter Haarpracht in hautengen Jeans, mit Bauchnabelpiercing und Schau-her-Stiefeln, vielleicht mit einem kleinen Jungen an der Hand. Die Skyline, die Gassen und, ja, auch die Sirenen und Hubschrauber, das pralle Leben, all die Dinge, die ihm so vertraut waren. Und allem voran vermisste er das Gefühl der Zugehörigkeit, das er in Dorking niemals empfinden würde, weil er sich dort niemals zugehörig fühlen könnte. Er war außen vor, am falschen Ort. Er war nicht mehr Teil des Londoner Stadtplans. Er hatte das tiefgehende Gefühl, dass er außerhalb seines eigenen Lebens stand, außerhalb von sich selbst. Und das Problem war, wenn man es denn als Problem bezeichnen konnte – schließlich galt es, Rechnungen zu bezahlen und Kinder zu ernähren und ein Haus zu unterhalten –, das Problem war, dass er nicht wusste, was er dagegen unternehmen sollte, wie er dieses Gefühl loswerden konnte, wie er an einen Ort gelangen sollte, an dem er das Gefühl haben würde, dorthin zu gehören. Und da es kein wirklich ernsthaftes Problem war, im Grunde gar kein Problem, hatte er es unterdrückt und die Dinge so akzeptiert, wie sie waren. Morgens fuhr er mit dem Rad zum Bahnhof (wobei er das in letzter Zeit nicht mehr tat und, wie Stephanie vorausgesagt hatte, allmählich dick wurde). Er stieg in den Zug und drang in die Ufo-Stadt vor, tauchte wieder daraus auf, kam nach Hause und sprach über dringende Haushaltspflichten, während all seine Zweifel, Sorgen, Sehnsüchte und melancholischen Anwandlungen in einem Schrank verstaut waren, zusammen mit seinem unvollendeten Roman, wo sie ruhig, ordentlich und zumeist kontrollierbar ausgeharrt hatten – bis etwa zu diesem Zeitpunkt.

Laurence war in einem Hospiz an der Nordseite des Clapham-Common-Parks an Herzinsuffizienz gestorben. Er hatte sich an einen Ort ohne Wiederkehr zurückgezogen. Sein Atem ergab sich der Endlichkeit. Damian war während der letzten Tage an seiner Seite, als er in die Laken zurücksank, als seine Haut aschfahl, seine Augen gelb wurden, als er das Gesicht nach links wandte und in dieser Position plötzlich nicht mehr war, inmitten einer Septembernacht. Es war seltsam, als es geschah, denn Damian fühlte so gut wie gar nichts. Er sah ihm beim Sterben zu. Er war auf dem Stuhl neben dem Bett eingenickt und plötzlich aufgeschreckt, genau zur rechten Zeit, als hätte Laurence ihn gerufen, mit seinem gequetschten, entsetzlichen Husten, als wollte er nicht, dass er es verpasste. Sofort war ihm klar, dass sich etwas verändert hatte, dass sein Vater von ihm ging, dass der Moment gekommen war. Also sah er zu, wie dieser Mensch zu Staub wurde, in die jüngste Geschichte eintrat, wie er dahinschwand, dieser alte Mann, von dem er abstammte – doch abgesehen von einem vagen Ziehen, einem zaghaften Recken der Arme seines Herzens, spürte er nichts. Danach stand er eine Weile dort, blickte links an Laurence’ Gesicht vorbei auf das weiße Kissen, dann wieder zu seinem Gesicht. Dann verließ er das Hospiz und lief durch die umliegenden Straßen, ahnte, dass die Welt von nun an anders sein würde, ohne es wirklich zu spüren. Er hatte erwartet, sich auf neue Weise einsam zu fühlen, einen Prozess der Umstrukturierung zu beginnen, bei dem Laurence in eine Kammer seines Geistes eintreten würde, heilig, in weißer Robe, vom Schmerz veredelt, schimmernd vor jenseitiger Weisheit. Er hatte erwartet, zu weinen oder wütend zu werden oder sich auf irgendeine Weise ätherisch und mit dem Himmel verbunden zu fühlen, doch nichts passierte. Die Wolken veränderten sich nicht. Die Bäume bargen keine Nachricht. Er kehrte nach Hause zurück und befasste sich in den nächsten Tagen mit der geschäftigen Verwaltung des Todes. Laurence war am Donnerstag kurz nach Mitternacht gestorben. Am darauffolgenden Montag ging Damian wieder arbeiten.

Doch er spürte etwas anderes, etwas Konkretes und zugleich Vages, das am Morgen nach der Beerdigung in Form einer siebzehnwörtigen Frage zu ihm kam. Die Frage wurde von keiner Stimme begleitet. Sie war sehr schwach, eine Anhäufung von Sehnsüchten, und nachdem sie erst einmal gestellt worden war, wollte sie nicht mehr verschwinden. Die Frage lautete wie folgt: Wie lange willst du dein Leben noch so leben, als würdest du auf einem dünnen Seil balancieren? Er verstand nicht recht, was damit gemeint war. Sie war stichelnd, zurückhaltend und dringlich zugleich, wie eine Fangfrage. Sie verfolgte ihn auf Schritt und Tritt. Auch jetzt schwirrte sie ihm durch den Kopf, als er, immer noch im Morgenmantel, vom Putzen der Toilette im Erdgeschoss aus dem Badezimmer kam und durch die Küche ging, wo ein extragroßes Bügelbrett aus dem Baumarkt und ein Wäschestapel ihm fast den Durchgang versperrten, weiter ins Esszimmer, des Hauses überdrüssig, seiner Düsterkeit bei Tag, seiner erniedrigenden Ordnung, des kitschigen, um ehrlich zu sein: geschmacklosen Gartenpavillons, er hasste diesen Pavillon. Wie lange?, fragte es in ihm. Wie lange willst du dein Leben noch so leben, als würdest du auf einem dünnen Seil balancieren?

Ganz anders, als Stephanie annahm, freute sich Damian darauf, am Nachmittag zu Michael zu fahren. Die beiden verband eine lange Freundschaft. Sie waren zusammen auf der Universität gewesen. In der Bar der Studentenvereinigung hatten sie tiefschürfende Gespräche über Frantz Fanon, Rassismus und schwarze Musik geführt, wodurch Damian allmählich spürte, dass er selbst eine Verbindung zu diesen Dingen hatte, nicht bloß über seinen Vater. Nachdem Michael und Melissa ein Paar geworden waren, hatten sie sich bemüht, in Kontakt zu bleiben, waren gelegentlich gemeinsam ausgegangen oder hatten sich zu viert zum Abendessen getroffen. Damian hatte diese Abendessen genossen, das gemeinsame Essen, die Musik. Sie unterhielten sich immer über Musik, Filme und Bücher, und er kehrte stets glücklicher nach Hause zurück, fühlte sich seiner brachliegenden künstlerischen Seite wieder näher. Manchmal schlenderte er, nachdem Stephanie ins Bett gegangen und das Haus ruhig war, sogar noch zu dem Schrank im Esszimmer, in dem er seine alten Aktenordner und Papiere aufbewahrte, holte seinen unvollendeten Roman hervor und warf einen Blick hinein – es schien wieder möglich. Er las einige Sätze und überlegte, wie man sie verbessern könnte, wie die ganze Sache durchgeknetet und umgestaltet werden könnte, um ein überzeugendes Ganzes daraus zu machen. Dann legte er ihn zurück in den Schrank mit dem festen Vorsatz, am kommenden Abend daran zu arbeiten – was er aber nie tat. Auch dafür schob er Stephanie die Schuld in die Schuhe.

Im Esszimmer begegnete er einem Mädchen, das dort am Tisch saß. Sie hielt ein Stück Waffel in der Hand und tauchte es in einen Topf mit einer sämigen rostbraunen Flüssigkeit. Sie hatte kastanienbraunes Haar und war hoch konzentriert, blickte nicht auf; ein blasser, unerwarteter Sonnenstrahl fiel links von ihr herein, eine Verschnaufpause vom Regen, den sie anzuschauen schien, als enthielte er die Anleitung für ihre Beschäftigung. Damian traf seine Kinder häufig so an – als wären sie Tropfen aus Licht, die plötzlich auftauchten. Ihre Reinheit brach ihm immer wieder das Herz. Es erschreckte ihn, wie neu ihr Leben noch war, dass er die Verantwortung dafür trug, sie hindurchzugeleiten, dass er sie unweigerlich mit seinen Handlungen, seinem Wesen formen würde. Es war Avril, die Mittlere, sechs Jahre alt.

»Hallo, Liebes«, sagte er. »Was machst du da?«

»Ich bastele ein Sahnebonbon-Schiff.«

»Toll!«

»Und danach«, verkündete sie begeistert, »werden wir es essen!«

»Wer wird es essen?«

»Wir alle! Du, ich, Summer, Jerry und Mama! Die ganze Familie!«

Leute wie wir

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