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3 Mrs Jackson

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In Bell Green wurde ebenfalls geputzt. Die Fensterbänke, die Regale, die Abstelltische, die Fußböden. Dieser lebenszeitverzehrende, mühsame Akt der Knechtschaft und Vergeblichkeit, der Woche um Woche wiederkehrte, um einem seine nie enden wollenden häuslichen Pflichten und unnützen Alltäglichkeiten in Erinnerung zu rufen. Melissa hasste Putzen. Es war weder therapeutisch wertvoll noch erfrischend, noch regte es ihre Kreativität an, wie manche Leute gern behaupteten. Es war bloß Staub im Gesicht, und sie ging die Sache mit großem Widerwillen und Missmut an, trug dabei eine ausgeblichene Latzhose mit Farbspritzern und ein durchlöchertes Oberteil, und ihr Gesichtsausdruck vermittelte eine lebhafte Vorstellung davon, wie sie einmal als alte Frau aussehen würde. Jetzt, da es ein ganzes Haus zu putzen galt, war ihr Elend umso größer, und während sie ihren Putzlappen durch das Wohnzimmer, die Flure und das Schlafzimmer zog, hörte sie, wie Millionen winziger Staubpartikel sie auslachten, wie sie in ihrer schwirrenden mikroskopischen Freiheit vergnügt feixten, während sie sich der elektrisch aufgeladenen, schwarz schimmernden Fernsehkommode näherte, auf der sich der Staub schon beim Wischen wieder absetzte, und als sie mit dem Staubsauger über die Stufen ratterte, tanzten und kicherten sie im Licht des Dachfensters. Usher und Beres Hammond boten einen gewissen Trost – Musik war Energie –, doch nichts konnte sie wirklich besänftigen, bis der Frondienst vorbei war.

Unglücklicherweise handelte es sich bei Paradise Row Nummer 13 um ein besonders staubiges Haus. Es war etwa 1900 auf einem leicht abschüssigen Grundstück mit einem Untergrund aus schrumpfender Tonerde erbaut worden, der für den Großteil von Londons Süden typisch war und Hausbesitzer nötigte, ihre Immobilien gegen Bodenabsenkung zu versichern. Aufgrund dieser abschüssigen Lage, des möglichen Schrumpfens und Sinkens wirkte das Haus schief und war in Bodennähe feucht, weshalb man fast das Gefühl hatte, auf See zu sein. Die Fußböden neigten sich leicht gen Osten. Die Ecken waren nicht gerade, die Fußleisten nicht plan, versuchten vergeblich, rechte Winkel zu bilden und sich an der Wand festzukrallen. Der Staub setzte sich mühelos in die Ritzen dieses zwecklosen Versuchs. Er landete auf den Zierleisten am Treppenaufgang. Durch die Feuchtigkeit und die klamme Luft klebte er in den Rillen der hölzernen Wandverkleidung im Essbereich, wo an einer Reihe kinderhoher Kleiderhaken die Mäntel ihrer Sprösslinge hingen. Staub überzog die Türrahmen, die Bilderrahmen, die Lampenschirme. Im größten Schlafzimmer war es am schlimmsten: Staub sammelte sich auf dem Kopfteil des Camden-Betts und dem oberen Rand der Tänzer in der Dämmerung. Die Schränke waren von Schimmel befallen, der einen muffigen, altertümlichen Geruch abgab, und als Melissa sich bückte, um die Schuhe ordentlich aufzureihen, die zwischen den zwei Schränken standen, entdeckte sie auf den Sohlen bereits zum zweiten Mal einen klebrigen weißen Belag, der an ihrer Fingerspitze haften blieb.

Michael ging draußen mit Blake eine Runde spazieren. Ria war nebenan mit einem Pappkarton beschäftigt und murmelte dabei etwas vor sich hin, wie sie es häufig tat. Das Murmeln verstummte, und sie rief mit schrillem Nachdruck: »Mama!« Dann waren Schritte zu hören. Sie tauchte in der Tür auf, die Hände in die Hüften gestemmt. »Mama, warum schmeißt du ständig meine Sachen weg?«

»Ich schmeiße nicht ständig deine Sachen weg.« Melissa wandte sich um und sah sie an. Ria war eine langgliedrige Siebenjährige mit großen Augen und Zähnen, die abwechselnd kamen und gingen. Der fehlende obere linke Schneidezahn verlieh ihr ein hexenartiges Grinsen, das sich gewöhnlich schnell auf ihrem Gesicht breitmachte, im Moment aber zurückgehalten wurde. Sie besaß Michaels volle, klar umrissene Lippen, seine langen, schmalen linkischen Füße, und ihre Nase hatte eine gewisse Ähnlichkeit mit der ihrer nigerianischen Großmutter mütterlicherseits. Sie pflegte einen einzelnen weißen Handschuh an der linken Hand zu tragen, so wie jetzt, und es war ihr immer noch nicht ganz einsichtig, warum es für manche Dinge zwei Bezeichnungen gab, wie Pasta und Spaghetti oder Schlafanzug und Pyjama. Es war einfach verwirrend.

»Tust du wohl«, erwiderte sie. »Immer wenn ich etwas suche, was ich irgendwo gefunden habe, dann ist es weg, weil du es weggeschmissen hast.«

»Und woher soll ich wissen, was in den Müll soll und was nicht? Wir können nicht alles aufbewahren, was du uns ins Haus schleppst.« Die Zweige, die Fahrscheine, die U-Bahn-Pläne von London, die Broschüren für Doppelverglasung, die Steine, die Blätter, die schmutzigen Haarspangen, die Münzen, die Plaketten, die Fahnen, die Fächer, die Lesezeichen, die ausgeleierten Haargummis, die Erde. Eine unerträgliche Lawine aus Krimskrams. »Ich versuche nur, das Haus in Ordnung zu halten.«

»Meine Lottoscheine, die wollte ich benutzen. Die sind kein Müll.«

»Aber du bist zu jung, um Lotto zu spielen. Dafür musst du sechzehn sein.«

»Ach so? Das hab ich nicht gewusst. Ist auch egal, ich hab sie nämlich gesammelt. Und es waren meine. Ich brauch sie. Ich schmeiß deine Sachen ja auch nicht weg. Wenn ich das machen würde, würdest du mich anbrüllen und sie konfuzieren …«

»Konfiszieren.«

»Ja, konfiszieren, also warum darfst du meine Sachen wegwerfen, aber ich darf deine nicht wegwerfen?« Ria wartete auf eine Antwort, und Melissa versuchte, sich etwas zurechtzulegen, das autoritär und zugleich diplomatisch klang, aber sie brauchte zu lange dafür. »Ach, vergiss es einfach«, rief Ria und stampfte zurück in ihr Zimmer.

Wir müssen uns in Erinnerung rufen, dass Kinder auch Menschen sind, riet die Autorin des Erziehungsratgebers Wie wir richtig erziehen, den Melissa eines Tages gekauft hatte, angetrieben vom Frust und von der Frage, wie sie es bewerkstelligen sollte, ein Kind zu erziehen, ohne auf körperliche Züchtigung zurückzugreifen, wovon sie überhaupt nichts hielt und was, davon abgesehen, sowieso nichts brachte. Ein einziges Mal war ihr die Hand ausgerutscht; Ria war drei Jahre alt gewesen und hatte sich mitten auf dem Zebrastreifen hingelegt, weil sie keine Lust mehr hatte zu laufen, aber der Klaps hatte nicht das Geringste bewirkt, sie hatte sich nicht vom Fleck gerührt, und Melissa musste sie über den Zebrastreifen schleifen. Kurz darauf hatte sie Wie wir richtig erziehen gekauft. Es ist destruktiv und lieblos, unseren Kindern unsere eigene Anspannung und Persönlichkeit aufzubürden, so das Buch, wo sie doch vor der schwierigen Aufgabe stehen, ihre eigene Identität herauszubilden. Sie verdienen Geduld. Sie verdienen den Freiraum, sie selbst zu sein. Vermeiden Sie Auseinandersetzungen. Loben Sie sie häufig. Diese Fragmente tiefgreifender Weisheit tauchten in Melissas Gehirn auf, unwillkommen und begleitet von einem generellen Groll, aber sie ging zu Ria im Zimmer nebenan, mit dem Vorsatz, Verständnis zu zeigen und Frieden zu schließen.

Doch irgendetwas im Zimmer nebenan hatte bewirkt, dass Rias Unmut verflogen war, sie murmelte wieder vor sich hin, in geschäftigem, beschleunigtem Ton, und das Wegwerfen wichtiger Dinge war offenbar vergessen. Sie kniete auf dem leuchtend roten Teppich vor ihrem Pappkarton, um den sich weitere kleinere Pappkartons scharten, sowie Zettel, Tesafilm, eine Schere, Folie, Kordel, Stifte, eine alte Zahnbürste und Parkscheine. Das Zimmer erinnerte Melissa immer noch an Brigittes Tochter Lily, die dorthin ins Bett verbannt worden war, während Fremde das Haus besichtigt hatten. Manchmal fragte sie sich, ob mit dem Zimmer etwas nicht stimmte. Es war rechteckig, schattig, nach Norden ausgerichtet. Rias Bett stand an derselben Stelle, wo sich zuvor Lilys befunden hatte, an der Wand links neben dem Fenster, Blakes Gitterbett in der Ecke gegenüber.

»Was machst du da?«

»Ich baue ein Haus. Und wenn ich erst mal geschrumpft bin, ziehe ich dort ein. Ich muss es heute fertig kriegen, sonst klappt das mit dem Schrumpfen vielleicht nicht mehr. Nur heute ist Schrumpftag.« Ria sah beim Sprechen nicht auf, so vertieft war sie darin, die Klappen des Kartons zu einem Dach zu falten.

»Kannst du nicht an einem anderen Tag schrumpfen? Du weißt doch, dass wir gleich Besuch bekommen. Ich glaube nicht, dass sie es gut fänden, wenn du schrumpfst. Sie könnten dich für merkwürdig halten oder sogar für ungesellig. Willst du nicht mit den anderen Kindern spielen?«

»Mit welchen anderen Kindern?«

»Jerry, Summer und Avril. Sie kommen alle her.«

Ria hielt im Basteln inne und sann darüber nach. »In Ordnung«, sagte sie. »Sie können mit mir zusammen schrumpfen. Dafür wollte ich die Lottoscheine haben, damit andere Leute zu mir ins Haus können. Ich bin die Einzige, die keinen Schein braucht. Aber jetzt benutze ich eben diese Parkscheine.«

»Tut mir leid, dass ich deine Lottoscheine weggeschmissen habe.«

»Macht nichts, Mama.«

»Beim nächsten Mal frage ich dich vorher.«

»Danke.«

Als Nachgedanken fügte Melissa hinzu: »Frag aber vorher ihre Eltern, ob du sie schrumpfen darfst. Und frag sie, ob sie auch schrumpfen wollen.«

Damian und Stephanie trafen ein, als sich die Nachmittagssonne zurückzog und der Regen vom Morgen zurückkehrte, eiskalten Wind mit sich brachte, der gen Osten blies. Stephanie hatte die Fahrt ausgestanden, die genauso angespannt gewesen war wie befürchtet; Damian hatte sich hinter dem Literaturteil der Samstagsausgabe des Guardian verschanzt und so gut wie kein Wort mit jemandem gewechselt. Doch seine Stimmung schien sich zu heben, als sie sich aus dem riesigen marlinggrauen Kombi schälten und die Paradise Row hinunterliefen; Jerry, stets ein unruhiger Mitfahrer, rannte wie entfesselt voraus in den Wind, gefolgt von den Mädchen. In solchen Momenten, wenn sie ihre Familie draußen an einem neutralen Ort betrachtete, verspürte Stephanie das umfassende und befriedigende Gefühl, dass mit ihrem Leben alles in bester Ordnung war. Dort war ihre Gang, ihr Team. Gemeinsam würden sie alles durchstehen, und alles war nur halb so wild: die Launen, die Kümmernisse, die Bettlaken. Sie würden eine schöne Zeit miteinander verbringen.

Michael öffnete mit einem trällernden »Hallo!« die Tür, und sie drängten sich in den kleinen Flur, zogen sich Schuhe und Mäntel aus, stopften die Handschuhe in Mützen und Taschen. »Meine Güte«, sagte Stephanie und wickelte sich aus ihrem endlos langen Schal, »der Verkehr in dieser Stadt wird auch jedes Mal schlimmer! Wir haben ewig im Stau gesteckt, stimmt’s?«

Die Frage war an Damian gerichtet, der aber keine Antwort gab, weil es ihm weniger wie eine Frage vorkam als vielmehr wie einer von Patricks nervigen, nach Zustimmung heischenden Einschüben am Satzende. Außerdem war Melissa gerade oben an der Treppe aufgetaucht, in einem interessanten schwarzen Oberteil mit schimmernden Fransen. Ihr Afro umgab sie wie ein Heiligenschein. Ihre muskulösen Arme waren nackt. Sie kam herunter, wiegte sich in den schwingenden Fransen. »Hallo zusammen«, sagte sie.

»Hallo«, sagte er, nur zu ihr. Dann drangen die äußeren Mächte wieder zu ihm durch. Michael sagte, vermutlich sei der Regen schuld an dem Verkehrschaos, und Stephanie meinte: »In letzter Zeit kriege ich fast jedes Mal zu viel, wenn ich nach London komme.«

»Trink ein Glas Wein, das entspannt«, sagte Melissa. »Rot oder weiß?«

»Tja, Weißwein wäre mir eigentlich lieber, aber ich nehme an, alle anderen trinken Rotwein, oder? Vor ein paar Tagen habe ich gerade noch mit jemandem darüber gesprochen – niemand trinkt mehr Weißwein. Was stimmt denn nicht damit? Ich liebe Weißwein! Aber schaut, wir haben Roten mitgebracht.« Damian überreichte Melissa huldvoll eine blaue Plastiktüte mit der Weinflasche. »Oder habt ihr auch Weißwein da?«, fragte Stephanie.

»Ja, ich trinke auch lieber Weißwein.«

Auf der Anlage lief Phillysound. Es roch nach Nag-Champa-Räucherstäbchen, die Michael zur Feier des von ihm geputzten, blitzblanken Wohnzimmers entzündet hatte. Jerry und Summer standen vor Blake, der neben dem Sofa in seiner Babywippe lag, eine Rassel umklammerte und bei dem plötzlichen Menschenandrang zu wimmern begann. Ria fragte Avril, ob sie mit nach oben kommen und schrumpfen wolle, dann besann sie sich und fragte Stephanie, ob Avril mitkommen und schrumpfen dürfe. »Schrumpfen? Was? Wieso schrumpfen? Ach, schrumpfen. Natürlich, geht ihr ruhig und schrumpft«, sagte Stephanie, nachdem sie Melissas vielsagenden Blick aufgefangen hatte. Jerry brüllte: »Wartet auf mich!«, und stürmte hinter ihnen die Treppe hoch. Summer wurde dazu verdonnert, sie zu begleiten und ein Auge auf alle zu werfen, und sie schlenderte ihnen lässig hinterher.

»Und nun zur dir, kleiner Mann«, sagte Stephanie und ging vor Blake in die Knie wie vor einem Heiligenschrein. »Sieh einmal an! Was für ein hübscher Kerl du bist. Zum Anbeißen! Kann ich ihn auf den Arm nehmen? … Schau mal, was wir dir mitgebracht haben«, sagte sie mit überschwänglicher Babybegeisterung und hielt ihm die Strampler hin. Er grapschte danach und führte sie zum Mund. »Die sind für dich, zum Anziehen, wenn du wächst, wenn du größer und größer und immer größer wirst, ja? Das ist alles, was du tun musst, du Glückspilz.«

»Da ist aber jemand wehmütig«, sagte Michael.

»Sie ist immer wehmütig«, sagte Damian.

»Ich bin nicht wehmütig! Ich bin bloß verrückt nach Babys, das ist alles. Also erzähl mal, Melissa, wie war die Geburt? Ist alles gut gegangen? Ich will die ganze Geschichte hören.«

Blake lag auf Stephanies Schoß an einem Ende des Sofas, sein Klumpfuß war immer noch nach innen verdreht, aber im Laufe der Monate flexibler geworden, und Melissa erzählte zum x-ten Mal die Geschichte von der Geburt, in die Michael sich immer wieder mit etlichen Übertreibungen und Ausschmückungen einklinkte. Stephanie hörte genüsslich zu. Es war ihr Lieblingsthema, und sie warf zwischendurch gebieterisch ein, was aus Sicht einer Erdenmutter zu diesem oder jenem Zeitpunkt hätte getan werden sollen. Damian lauschte währenddessen der Musik und betrachtete die Buchrücken in den weißen Regalen, entdeckte Carver und Hemingway, Tolstoi, Langston Hughes, und in ihm regte sich das vertraute Gefühl des Erwachens. Melissa war es leid, die Geschichte schon wieder zu erzählen, unterbrach also ihren Bericht und versuchte, Damian in das Gespräch miteinzubeziehen, fragte ihn, was das Leben so mache, wie es auf der Arbeit laufe und so weiter.

»Ach, du weißt schon, der übliche Alltagstrott.«

»Was machst du noch mal genau?«

Und Damian erzählte ihr von seinem Forschungsprojekt über die Auswirkungen von Solarwärme auf große Glasflächen in mehrstöckigen Wohngebäuden – ebenfalls zum x-ten Mal. Sie hakte nicht weiter nach.

»Und was ist mit dir?«, fragte er, und während Stephanie und Michael im Hintergrund das Gespräch fortführten, genoss er dieses private Geplauder, es fühlte sich irgendwie besonders, irgendwie bedeutsam an.

»Sagen wir mal, die Sache ist etwas … etwas zweischneidig«, sagte sie, während ihre Fransen im Schein der Zickzack-Lampe neben ihr funkelten. »Ich arbeite jetzt freiberuflich.« Melissa war fünf Jahre lang Mode- und Lifestyle-Redakteurin beim Hochglanzmagazin Open gewesen, das sich an moderne, städtische Frauen richtete, doch als sie mit Blake schwanger gewesen war, hatte sie beschlossen, »ihr Leben zu ändern«, und die volle Elternzeit in Anspruch genommen. Damals nach Rias Geburt war sie zwei Monate später wieder an ihren Arbeitsplatz zurückgekehrt, und ihre Mutter hatte sich um das Baby gekümmert. »Es ist eine ziemliche Umstellung«, sagte sie. »Mir fehlt der Trubel.«

»Du Glückliche! Ich würde für mein Leben gern zu Hause bleiben und schreiben«, sagte Damian. »Das ist mein Traum.«

»Und was würdest du schreiben?«

»Keine Ahnung. Was immer mir in den Sinn kommt.« Er traute sich nicht, ihr von seinem Roman zu erzählen, zumindest nicht in diesem Moment, auf diese Weise.

»Träume sind dazu da, dass man sie verwirklicht«, schöpfte Melissa aus ihrem stets abrufbaren Repertoire positiver Affirmationen und weiser Dichter, darunter Paulo Coelho, Alice Walker, der Dalai Lama und einige andere Buddhisten, die ihre Schwester Carol ihr ans Herz gelegt hatte (sie unterrichtete Yoga). »Ich habe in letzter Zeit jedenfalls mehr gelesen«, fuhr sie fort, »das war einer meiner Vorsätze, als ich bei Open gegangen bin. Ich versuche, all die Bücher zu lesen, die mir während meines Anglistikstudiums entgangen sind – weil man sie bis zum Erbrechen analysieren und Aufsätze darüber schreiben musste. Das hat mich davon abgehalten, sie wirklich zu lesen, bloß zu lesen, unvoreingenommen, nur um der Freude willen, verstehst du? Ich will mir meine literarische Unschuld zurückerobern.«

Damian sann angeregt darüber nach. »So habe ich das noch nie betrachtet. Ich habe mir immer gewünscht, ich hätte Anglistik studiert … vielleicht ist es gut, dass ich es nicht getan habe.«

»Das war der Grund, warum ich in der Modewelt gelandet bin. Ich bin regelrecht vor Sätzen geflohen.«

»Aber du musst immer noch welche verfassen.«

»Ja, aber in den Texten geht es um Textilien. Knopflöcher. Fäden. Greifbare Dinge …« Sie holte zu einer umfassenden Erklärung aus, wodurch sich japanischer Denim von amerikanischem unterschied, dass amerikanischer Denim die klassische Jeansfarbe und den Vintage-Look über einen langen Zeitraum entwickelte, während japanischer Denim mehr Varianten und Gewebestrukturen bot. Was sie damit sagen wollte: Denim war etwas Greifbares, weder esoterisch noch anfällig für willkürliche Interpretationen. Manchmal las sie Gedichte, nachdem sie über Bekleidung geschrieben hatte. In ihrem Kopf war noch Platz dafür.

Die Musik verklang, und Michael stand auf, um eine neue Platte aufzulegen. Es kam zu einem peinlichen Moment, als Stephanie und Damian zeitgleich zu sprechen anfingen und der Gastgeberin Komplimente über das Haus machten. Melissa hatte schon immer gefunden, dass sie nicht zusammenpassten, erstens war Stephanie größer als er, was nicht unbedingt ein Hindernis sein musste, aber es war mehr als das – Damian war so unsicher, introvertiert und irrlichternd und Stephanie so standfest und forsch, wie sie dort von ihrem langen grünen Cardigan umflutet dasaß, als machte sie sich nie groß Gedanken über irgendetwas. Sie lebten im Schatten des jeweils anderen.

»Das mit deinem Dad tut mir übrigens sehr leid«, sagte Melissa, woraufhin Stephanie zu Damian hinübersah, liebevoll, aber ohne zu lächeln, bevor sie damit fortfuhr, Blakes Klumpfuß gerade zu biegen, indem sie ihn wiederholt nach unten ausstrich, so wie Melissas Hebamme es geraten hatte.

Aus der Küche duftete es nach Hühnchencurry, gebratener Kochbanane, Reis mit Erbsen und Scotch-Bonnet-Chilis. Das Hühnchen war mit Dunn’s River All Purpose gewürzt, der Reis mit Kokosmilch und Thymian. Zur Vorspeise gab es gegrillte Mango- und Halloumi-Streifen, herumgereicht von Summer, die wieder heruntergekommen war, weil sie gern helfen wollte, während Michael die Gläser mit Malbec und Weißwein auffüllte. Die Nacht vor dem Doppelfenster war dicht und unwirtlich. Der Wind blies stärker, bog die Birken vor und zurück. Sogar Donnergrollen war zu hören. »Was für ein Wetter, Mann«, sagte Michael.

Nach und nach bildeten sich unvermeidlich die üblichen Zweiergespanne heraus. Die Männer redeten über Sport (Boxen, Fußball), die Frauen über Blake und seine Schlaf- und Essgewohnheiten. Melissa ertappte sich dabei, wie sie sich in langen Schilderungen über die Schwierigkeiten des Abstillens erging, worauf Stephanie begeistert einstieg: »Ich habe ihnen damals klein geschnittenes Gemüse gegeben, während ich beim Kochen war, etwas Brokkoli, Möhren oder Ähnliches, sodass sie ihr Mittagessen verspeist haben, ohne es zu merken.« »Ja, das habe ich auch schon versucht«, sagte Melissa, »aber sobald ich ihn in seinen Hochstuhl setze, rührt er nichts an, sitzt nur da und nuckelt am Daumen. Ich rede ihm gut zu: ›Schau mal, vor einer Minute hast du das doch auch gegessen, was stimmt auf einmal nicht damit?‹«, woraufhin Stephanie sagte: »Ach, er testet nur seine Grenzen aus. Das machen sie nun mal so. Sie brauchen das Gefühl, eine gewisse Kontrolle zu haben. Für sie ist alles neu und faszinierend. Und wenn man die Welt mit Babyaugen betrachtet, ist sie tatsächlich faszinierend. Es ist faszinierend zu erforschen, ob die kleine Pfanne in die größere Pfanne passt oder ob das kleine Pesto-Glas in die große Schokoladeneis-Box passt und wie nass Wasser ist, und all das!«

Dann liefen die Gesprächsfäden wieder ineinander, und sie sprachen über das, was sie alle gemeinsam hatten, über ihre Festhypotheken, Grundschulen und Umbaumaßnahmen, benutzten dabei häufig »wir«, anstatt mittels »ich« auf sich als Individuum zu verweisen. »Ich« war das verlorene Pronomen in der Sprache der Paare. Sie sprachen im Pluralis Majestatis über sich, schlossen die anderen mit ein und ließen das Selbst in den Hintergrund treten, sodass die Grenzen zwischen ihnen verschwammen. Um dem zu entfliehen, sah Melissa regelmäßig nach dem Essen oder ging nach oben, um Blake ins Bett zu bringen oder zu überprüfen, wie weit das Schrumpfen fortgeschritten war. Alle waren noch genauso groß wie vorher.

»Mmmm, ist das köstlich«, rief Stephanie beim Essen begeistert. »Ich liebe Curry.«

»Ich auch«, sagte Michael. »Melissa hat es gekocht.«

»Er hat den Reis gemacht.«

»Interessant«, sagte Stephanie, »dass Eintöpfe oder Currygerichte überall auf der Welt gleich sind, nicht wahr? Die Grundzutaten sind immer dieselben, Tomaten, Zwiebeln und irgendeine Art Brühe, die zu einer sämigen Soße zusammengeköchelt werden. Und gleichzeitig heißen sie alle anders – in Russland ist es Stroganoff, in Italien Bolognese, in Indien Curry, in Marokko Tajine …«

Sie saß neben Damian, der Melissa gegenübersaß. Damian gab sich alle Mühe, Stephanies Stimme auszublenden und Melissa nicht direkt anzusehen, weil er befürchtete, dass er sie anstarrte und dass alle sehen würden, wie er starrte. Warum sah sie gerade so hübsch aus? Warum beschlich ihn das eigenartige Gefühl, dass er eigentlich an ihrer Seite sein sollte, dass die Paare falsch zusammengesetzt waren? Ihm fiel es schwer, so zu tun, als wäre alles in Ordnung. Er war so in seine Gedanken vertieft, dass er der Unterhaltung nicht mehr folgte, und wusste nicht, was Melissa meinte, als sie fragte: »Was ist mit dir, Damian? Spielst du manchmal mit dem Gedanken, wieder zurückzuziehen?«

»Zurück wohin?«

»Nach London.«

Die Kinder saßen auf dem Teppich auf der anderen Seite des sakralen Bogens und nahmen ihr Abendessen dort als Picknick ein. Amy Winehouse sang auf die ihr eigene Art, als würde sie gleich den Text vergessen, aber sie vergaß ihn nie, fand immer wieder zurück.

»Ich spiele sehr oft mit dem Gedanken«, sagte er. »Ich würde gerne zurück in die Stadt ziehen.«

»Wirklich? Warum? Es ist so ein raues Pflaster«, sagte Stephanie. »Wie viele Messerstechereien oder Schießereien hat es dieses Jahr schon zwischen Jugendlichen gegeben? Um die vierzig? Jerry, wisch dir nicht die Hände am Oberteil ab, nimm die Serviette.«

»Achtundzwanzig«, sagte Michael.

»Achtundzwanzig. Na, das reicht auch, oder?«

»Und das sind schließlich nur die, die gemeldet wurden.«

Damian nahm den letzten Schluck von seinem Wein (er würde später zurückfahren). »Du solltest nicht immer alles glauben, was in den Nachrichten erzählt wird«, sagte er zu Stephanie. »Sie spiegeln kein realistisches Bild wider. Sie machen einen nur paranoid, verbreiten Panik. Du siehst zu viel Nachrichten, Mann.«

»Aber es gibt hier ein Problem mit Gangs. Das ist eine Tatsache, oder nicht? Ich habe es mit eigenen Augen gesehen.« Sie erzählte ihnen die Geschichte von dem Mann mit dem Stein an dem kleinen Kreisverkehr in Forest Hill und dass dieser Vorfall für sie der Tropfen gewesen war, der das Fass zum Überlaufen gebracht hatte. »Manche von diesen Kids gucken einen an, als wollten sie einen umbringen. Sie scheinen alle Skrupel verloren zu haben, jegliches Gefühl für Grenzen. Es ist nicht ihre Schuld, ich weiß, es liegt an ihrem Umfeld. Aber was wird denn unternommen? Was wollen sie gegen das Verbrechen unternehmen?«

Wie zur Antwort auf Stephanies Frage heulte von der Hauptstraße am Ende der Paradise Row eine Sirene herüber. »Da habt ihr’s. Dort, wo wir wohnen, hört man so was nur selten.«

»Sirenen gibt es überall und aus allen möglichen Gründen«, sagte Michael. »Es liegt nicht nur an ihrem Umfeld. Die Jugendlichen müssen wissen, wer sie sind, welches Potenzial sie haben, und die Kontrolle darüber übernehmen. Das ist genau die Art Kids, mit denen ich in den Jugendclubs zu tun hatte.« (Während seiner Zeit als Radiomoderator hatte Michael gelegentlich Workshops in den Jugendclubs im Umkreis von London veranstaltet.) »Einige von ihnen waren durch und durch schlecht, da will ich nichts beschönigen. Aber die meisten waren es nicht. Sie waren nur … unreif.«

»Und in dieser Phase sind sie am stärksten gefährdet«, sagte Damian.

»Genau. Man kann sie nicht einfach zusammentreiben und ins Gefängnis werfen. Was für eine Vergeudung. Man muss dafür sorgen, dass sie etwas finden, das ihnen am Herzen liegt: Musik, Wissenschaft, Architektur. Wenn sie sich für etwas begeistern, verliert das Gangleben seinen Reiz.«

»Ich habe irgendwo gelesen, dass Jungs in Gangs homoerotische Neigungen haben«, sagte Melissa.

»Ich will in einer Gang sein!«, rief Jerry.

»Nein, willst du nicht«, sagte Stephanie bestimmt, fiel aber in das Lachen der anderen ein und ging zu Jerry, um ihm das Gesicht abzuwischen. »Aber genau das meine ich. Ich finde es entsetzlich, dass sie inmitten all der Unruhen und Spannungen aufwachsen. London mag für einige Leute der Nabel der Welt sein«, damit war Damian gemeint, »aber so leid es mir tut, ich glaube einfach nicht, dass es ein geeigneter Ort ist, um Kinder großzuziehen.«

Von oben drang lautes, beharrliches Geschrei herunter. »Blake weint«, sagte Ria, immer noch mit ihrem weißen Handschuh an der linken Hand. »Können wir jetzt wieder hochgehen?«

»Ich dachte, ihr wolltet fernsehen?«, sagte Michael. Melissa stand auf, aber Stephanie fragte: »Darf ich hochgehen? Entspann du dich, ich kümmere mich um ihn.«

Sie verschwand, und schließlich verklang sein Weinen. Sie kam mit Blake auf dem Arm herunter, sein Gesicht schlaftrunken, die Haare dort, wo er gelegen hatte, an den Hinterkopf gepresst, oberhalb der goldenen Stelle. Sie drückte ihn an sich und murmelte besänftigend: »Du bezauberndes müdes Mäuschen, du kleiner Sonnenschein, schau einmal an, ein echter Prinz bist du, alles ist gut, alles ist gut.« Und er lag zufrieden, müde und matt in ihren Armen. Als er seine Mutter sah, stimmten seine Ärmchen einen plötzlichen Freudengesang an, sein Körper ruckte und zuckte, ein kleines Lächeln lief über sein Gesicht. Melissa nahm ihn an sich.

»Ich habe versucht, ihn wieder schlafen zu legen, aber davon wollte er nichts wissen«, sagte Stephanie. »Ich glaube, ihm war kalt. Es ist ziemlich kalt in dem Zimmer da oben.«

»Ach ja? Mir ist dort auch manchmal kalt.«

»Also, wenn du es schon kalt findest, ist ihm ganz sicher kalt dort. Warum legst du ihm nicht noch eine zweite Decke über?«

»Ist das nicht gefährlich, so viele Decken?« Seit der Nacht des bösen Omens hatte Melissa darauf geachtet, ihn nicht zu warm zuzudecken. Jetzt befürchtete sie, ihm könnte zu kalt sein. Im Mutterland gab es immer etwas, worüber man sich Sorgen machte. Sie hatte das Gefühl, alles noch einmal von vorn lernen zu müssen. »In Der Babyflüsterer habe ich gelesen …«

»Ach, Babyflüsterer, papperlapapp!«, fiel Stephanie ihr ins Wort. »Hör nicht auf diese törichten Bücher. Er ist dein Baby, du weißt selbst am besten, was du tun musst. Heutzutage gibt es so viele Bücher, die einem erzählen wollen, wie man sich um sein Kind zu kümmern hat, man fühlt sich bloß gegängelt, findest du nicht?«

»Nein. Ich finde sie recht hilfreich.« Manchmal warf Melissa mitten in der Nacht einen Blick in diese Ratgeber, wenn Blake einfach nicht zu schreien aufhörte. Manchmal klammerte sie sich mit beiden Händen daran fest, suchte verzweifelt nach einer Zauberformel, einem himmlischen Strahl der Weisheit, damit er wieder einschlief. Manchmal blätterte sie auch schon vor dem Schlafengehen darin, statt einen der Romane zu lesen, die sie sich zurückerobern wollte, oder ein gutes Gedicht, und das erschien ihr bedenklich. »Ich lese sie nicht alle«, verteidigte sie sich, »nur diesen einen Ratgeber und den von Gina Ford, um nicht zu vergessen …«

»Gina Ford!« Stephanies Stimme wurde lauter vom Wein. »Die Frau hat keine Ahnung vom Muttersein. Sie hat nicht einmal Kinder! Sie ist ein Kindermädchen, Herrgott noch mal. Mit welchem Recht erzählt sie den Leuten, wie sie sich um ihre eigenen Babys kümmern sollen, wie kommt sie dazu, ihnen vorzuschreiben, sie müssten um sieben Uhr morgens aufwachen, um neun Uhr wieder schlafen, spätestens um 11.30 Uhr zu Mittag essen und um 14.24 Uhr die Windeln gewechselt bekommen? Man kann einem Baby nicht so einen Stundenplan aufzwingen, das ist grausam und unnötig. Wann muss man die Windel wechseln? Wenn sie voll ist! Wann legt man das Baby schlafen? Wenn es …«

Ein Klopfen am Fenster unterbrach sie.

»Was war das?«

Michael ging nachsehen, schob die Jalousien beiseite. »Es ist Mrs Jackson. Herrje, und das bei diesem Wetter.«

Mrs Jackson wohnte fünf Häuser weiter in Nummer acht. Sie war um die siebzig, lebte allein und vergaß nach und nach, wer sie war, wie sie hieß, wo sie ihren Mantel gelassen hatte, in welchem Haus sie wohnte. Alle paar Tage lief sie verloren die Paradise Row hinauf und hinunter, meist in ihren Hausschuhen, das Haar zerzaust und ungepflegt, und versuchte, den Leuten zu erklären, dass sie vergessen habe, wo sie wohne, doch sie verstanden nicht immer, was sie sagte, weil ihre Sätze unterwegs verlorengingen und unzusammenhängend endeten.

»Ich bringe sie besser nach Hause«, sagte Michael und verschwand draußen in der Dunkelheit.

Mrs Jackson mochte Michael wegen seines freundlichen Gesichts und seiner freundlichen Art. Sie hatte nur ein grünes Hauskleid an, keinen Mantel, ihre dünnen braunen Waden ragten wie Stöcke unter dem Saum hervor. Der Wind toste beim Gehen um sie beide herum.

»Es ist zu kalt und zu spät, um ohne Mantel draußen herumzulaufen«, sagte er zu ihr. »Es ist die Nummer acht, sehen Sie? Das da ist Ihr Haus, das mit der gelben Tür.«

»Danke.« Mrs Jackson umschloss seine Hand mit ihren Händen und blickte lächelnd zu ihm auf. »Danke, mein Lieber. Sie sind so freundlich. Sie sind meinem Sohn Vincent wie aus dem Gesicht geschnitten. Er kommt am Samstag aus Amerika zu Besuch, er bringt mir immer Kleider und Töpfe und Schuhe mit, er ist so ein guter Junge …«

»Jemand muss sich um sie kümmern«, sagte Melissa bei Michaels Rückkehr. »Das ist schon das dritte Mal diese Woche.«

»Die arme Frau«, sagte Stephanie.

Zum Nachtisch aßen sie New York Cheesecake mit Pistazieneis.

Damian fuhr schweigend nach Hause, dann und wann tauchte am Straßenrand ein Fuchs auf, dessen leuchtende Augen ihn an die schimmernden Fransen an ihrem Oberteil erinnerten, an die Biegung ihres Nackens am Haaransatz, die Form ihrer Nase im Profil. Er brachte nichts zu Papier, als er schließlich wieder zu Hause war.

Später an jenem Abend lag Melissa im großen Schlafzimmer wach im Bett. Die Kinder schliefen im zweiten Zimmer. Wie üblich hatte sie vor dem Zubettgehen noch nach ihnen gesehen, sich vergewissert, ob Blake atmete, ob ihm die Decke nicht übers Gesicht gerutscht und Ria nicht geschrumpft war – was nicht der Fall war; ihr Pappkartonhaus war für die Nacht geschlossen. Morgen würde sie wieder damit spielen, und sie würden einen langen Familiensonntag verbringen, so wie es sich in ihrem schiefen Haus eingebürgert hatte – mit einem Besuch bei ihrer Mutter auf der anderen Seite des Flusses, mit gebratenem Geflügel, während bereits der Montag vor der Tür stand, Michael wieder zur Arbeit fahren und sie mit Blake hier in Paradise bleiben würde.

Auch Michael schlief. Er mochte die Romantik frisch gefallenen Regens, und er hatte in dem roten Raum ihre Nähe gesucht, ihre Taille mit den Händen umschlungen, fragend, doch sie war nicht in Stimmung gewesen, seine verborgene Schönheit zu erkunden, das bumerangförmige Licht neben seinem Herzen. Draußen blies weiterhin der rasante Wind, rüttelte an den Bambusrollos, besonders am linken Fenster, durch das es hereinzog. Melissa stand auf und versuchte, es wieder zu öffnen, damit es vernünftig schloss, und betrachtete dabei die dunklen Fenster gegenüber, die Eingangstüren, die quadratischen Vorgärten. Sie vermisste den Blick in den Himmel, den sie von ihrer alten Wohnung im siebten Stock eines Hochhauses gehabt hatte. Dort waren die Sterne so nah gewesen, der Mond direkt vor dem Fenster. Sie hatte sich an dieses Gefühl der Verbundenheit mit der Milchstraße gewöhnt, und der Ausblick auf die gegenüberliegenden Häuser kam ihr jetzt wie ein Diebstahl vor.

Sosehr sie auch am Griff zog und zerrte, das Fenster bewegte sich nicht. Während sie dort stand, überkam sie ein seltsames Gefühl, als würde jemand hinter ihr stehen, ganz still – ein Nachtwesen, wie ihre Mutter sie nannte, Wesen, die nicht wirklich menschlich sind und während der Nachtstunden umherwandeln und uns beobachten. Melissa war immer angst und bange geworden, wenn Alice von ihnen erzählt hatte. Sie blickte hinter sich, doch da war nichts, nur die Schatten im Zimmer, die angelehnte Tür, dahinter der Treppenabsatz, das Dachfenster. Das Fenster bebte und wackelte in seinem Rahmen. Fast wirkte es, als versuchte jemand, oder etwas, hineinzugelangen. Oder womöglich hinaus.

Leute wie wir

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