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Kapitel 1

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»So, meine Kleine, heute gibt es dein Lieblingsessen: Gehacktesstippe mit dunkler Soße und Kartoffelbrei.«

Tante Frieda stellt mir den Teller mit dem leckeren Essen hin und streichelt mir dabei liebevoll über den Kopf.

Meine Güte, ich kann gar nicht in Worte fassen, wie ich diesen Geruch liebe. Gehacktesstippe, die macht niemand so gut wie Tante Frieda. Ich könnte sie täglich essen. Und der Kartoffelbrei ist einfach fantastisch. Bei Oma schmeckt er längst nicht so gut.

Ich bin fünf Jahre alt, und seit einigen Monaten gehe ich jeden Mittag zu Onkel Heinz und Tante Frieda. Es war Omas Idee. Bislang hat sich Opa immer um mich gekümmert. Aber er hatte Krebs und war sehr lange krank. Jetzt ist er gestorben.

Deshalb ist niemand mehr zu Hause, der auf mich aufpassen kann. Oma arbeitet in den nahe gelegenen Harzer Werken, einer Fabrik für Motorentechnik. Sie ist dort in der Küche. Das passt zu ihr, denn sie kocht für ihr Leben gern. Opa hat auch bei den Harzer Werken gearbeitet. Er war Heizer und hat in vier Schichten dort gearbeitet. Wenn die Zeiten passten, sind sie morgens immer zusammen dorthin gegangen. Es sind nur ein paar Schritte.

Ich könnte auch den ganzen Tag im Kindergarten bleiben. Er ist ja bis neunzehn Uhr geöffnet. Aber Oma meint, ich solle mittags nach Hause kommen und zu Heinz und Frieda gehen, die direkt gegenüber wohnen. Dort bekomme ich Mittagessen und kann so lange bleiben, bis Oma mich abholt.

Gern wäre ich auch zu meinen Eltern gegangen, die nur fünf Gehminuten vom Kindergarten entfernt wohnen. Aber Mama und Papa haben keine Zeit für mich. Mama putzt in einer Firma in Halberstadt, und Papa ist Pferdepfleger auf einem Gehöft hier in der Nähe.

Anfangs haben wir alle in Omas Haus gewohnt. Meine Eltern hatten dort aber nur ein Zimmer, in dem auch ich geschlafen habe. Das wurde ihnen schließlich zu eng, und als sie im Ort eine kleine Wohnung bekommen konnten, sind sie ausgezogen. Ich wollte gern mitkommen, aber Mama meinte, ich sei bei Oma besser versorgt.

Sie haben mich einfach in dem großen Zimmer zurückgelassen. Es ist nicht mal umgeräumt worden. Ursprünglich war es das Schlafzimmer von Oma und Opa, und so sieht es auch noch aus. Ich habe jetzt ein riesengroßes Doppelbett aus dunklem Holz für mich ganz allein, dazu einen gewaltigen Kleiderschrank, zwei Nachttische, eine Holztruhe und ein kleines Tischchen mit Stuhl und fühle mich ziemlich verloren. Zumal Oma nicht viel mit mir macht. Wenn sie von der Arbeit kommt, essen wir zusammen, und dann setzt sie sich vor den Fernseher und sieht sich Krimis an, am liebsten amerikanische mit Columbo. Dazu trinkt sie ein Glas Wein oder Bier. Stören darf ich sie dann nicht mehr. Sonst wird sie ärgerlich.

Oma möchte, dass ich abends in meinem Zimmer bleibe. Damit ich nicht das Bad benutzen muss, hat sie mir einen Putzeimer neben das Bett gestellt, um Pipi zu machen.

Aber manchmal habe ich noch Hunger und möchte mir aus der Küche etwas zu essen holen. Das mag sie jedoch gar nicht und schimpft sofort. »Du hättest am Tisch essen können. Jetzt gibt es nichts mehr!«, meint sie dann barsch und schickt mich sofort zurück in mein Zimmer.

»Kinder brauchen klare Ansagen«, meint sie immer. »Sonst tanzen sie einem auf der Nase herum!«

Ich tanze ihr nie auf der Nase herum. Ich traue mich das gar nicht. Denn Oma ist streng und oft auch brutal. »Ihr rutscht schon mal die Hand aus, aber sie meint es nicht so«, sagt Mama immer entschuldigend. Sie weiß es vielleicht nicht, aber Oma rutscht nicht nur die Hand aus. Wenn ich in ihren Augen frech bin, schlägt sie mit allem, was sie in die Finger bekommt. Am liebsten mit ihrem Teppichklopfer. Anfangs habe ich vor Angst und Schmerzen geschrien und gehofft, dass sie dann aufhört. Aber das interessiert sie nicht. Sie hört erst auf, wenn ich mich nicht mehr wehre und keinen Mucks von mir gebe. Dann darf ich ins Bett und liege dort und warte darauf, dass die Schmerzen aufhören.

Das tun sie aber nicht immer. Einmal konnte ich tagelang nicht richtig laufen, weil mir mein Rücken so wehtat. Aber Oma hat mir gesagt, dass ich im Kindergarten nichts erzählen dürfe. Sonst bekäme ich eine »richtige Tracht Prügel«, so, wie ich es noch nie erlebt hätte. Ich kann mir vorstellen, was dann passiert.

Also sage ich nichts und versuche, es Oma immer irgendwie recht zu machen. Dann lässt sie mich in Ruhe. Aber es klappt nicht immer. Wenn ich zum Beispiel beim Essen ein Glas umstoße, mein Spielzeug abends nicht in einer Kiste verstaue oder meine Haare nicht so kämme, wie sie es mag, rastet sie aus, beschimpft und schlägt mich. Ich bin froh, wenn es dann nur die Hand ist.

Oma ist aber nicht nur bei mir so brutal. Sie ist auch zu meinem Vater und ihrem anderen Sohn, Onkel Frank, so und auch zu meiner Mutter. Vermutlich sind deshalb auch alle ausgezogen, und ich muss hierbleiben, damit sie nicht allein ist. Zumindest hat Oma das mal gesagt.

Wir haben zusammen in der Küche gesessen. Sie hat abgewaschen, ich habe gemalt. Mama war kurz vorher zu Besuch da, und ich habe geweint, weil sie mich nicht mitgenommen hat.

Oma hat mich getröstet und gemeint: »Ich brauche dich doch bei mir. Wenn du auch noch ausziehst, kann ich ja gleich sterben.« Und dann hat sich mich gefragt, ob ich das vielleicht wolle.

Natürlich nicht!

An dem Abend war sie auch richtig lieb zu mir. Wir haben noch Plätzchen gebacken. Ich durfte den Teig auf das Backbrett streichen; später, als die Plätzchen aus dem Ofen kamen, hat Oma mir bunte Zuckerstreusel und farbige Dekorationspaste gegeben, und ich durfte alles verzieren.

Am nächsten Tag waren wir gemeinsam in einem Tierpark. Oma ist mit mir im Bus dorthin gefahren. Das war richtig schön. Ich habe Rehe gesehen und Wildschweine, und ich durfte kleine Ziegen füttern.

Auf dem Heimweg hat sie mir ein Eis gekauft.

»Siehst du, bei Oma ist es auch ganz schön«, hat sie auf der Heimfahrt gesagt und die ganze Zeit meine Hand gehalten.

Aber sie ist selten so freundlich, lacht wenig und sieht auch schon richtig brummig aus. Oma ist klein, pummelig und trägt meistens die langen, altmodischen Sachen ihrer längst verstorbenen Mutter auf. Sie legt keinen Wert auf Äußerlichkeiten. Ihre Haare sind kurz und lockig, aber auch oft strähnig. Doch das ist ihr egal.

Manchmal denke ich, sie will gar nicht hübsch sein. Ich weiß nicht, warum sie so ist.

Und ich kann mir auch nicht erklären, warum für sie immer alles schlecht ist. Sie scheint einfach keine Freude am Leben zu haben und lässt es jeden spüren, der in ihrer Nähe ist.

Ich habe oft das Gefühl, ihr lästig zu sein, und wäre am liebsten unsichtbar, damit ich sie nicht störe oder gar ihren Zorn auf mich ziehe. Glücklich bin ich bei ihr selten.

Bei Onkel Heinz und Tante Frieda ist das anders. Da fühle ich mich pudelwohl. Sie sind beide immer gut gelaunt und freuen sich richtig, wenn ich komme.

»Da ist ja unsere kleine Prinzessin«, sagt Heinz immer, wenn ich vor der Tür stehe, und dann hat er schon eine Idee, was wir gemeinsam unternehmen könnten. Meistens gehen wir in den Garten, und ich helfe ihm beim Blumenpflanzen, oder wir gießen zusammen die Beete. Ich durfte mir sogar schon ein eigenes kleines Beet anlegen mit meinen Lieblingsblumen, gelben Minirosen, die ich mir aus einer großen Kiste aussuchen konnte. Noch ist dort nur Erde, aber in ein paar Wochen wird alles blühen, in dunklem Rot und leuchtendem Gelb. Das hat mir Heinz zumindest versprochen.

Es gibt bei den beiden auch niedliche Kaninchen, die ich füttern kann. Sie heißen Tom und Jerry. Eines ist ganz schwarz und das andere braun. Sie sind total süß, und ich darf sie streicheln. Heinz und ich haben auch schon zusammen ihre Ställe sauber gemacht. Mittlerweile kann ich es sogar allein.

Ich darf auch bei den Hühnern Eier einsammeln und mit Heinz das Werkzeug sortieren. Es ist immer etwas los, und jeder Tag macht Spaß.

Heinz macht lustige Scherze und erzählt ständig Witze. Aber er kann auch Tierstimmen nachahmen. Manchmal grunzt er wie ein Schwein, piept wie ein Vogel, gackert wie ein Huhn oder bellt wie ein Hund. Vor Kurzem haben wir das beide zusammen im Garten gemacht und uns hinterher über uns selbst kaputtgelacht. Ich kenne niemanden, der so spaßig ist wie Onkel Heinz.

Mit Tante Frieda koche ich immer. Sie macht mir leckeren Vanillepudding, und ich darf die Milch dazugeben und kräftig aufschlagen. Seitdem ich dort bin, gibt es jeden Tag Vanillepudding, und das nur, weil ich ihn so gern esse.

»Du bekommst ihn, solange du magst«, hat Tante Frieda gesagt, und dann hat sie mich in den Arm genommen und ganz fest gedrückt.

Ich mag Heinz und Frieda. Bei ihnen ist das Leben schön. Sie schreien mich nie an, und die Zeit mit ihnen vergeht wie im Flug.

Sie selbst haben keine Kinder und sagen immer: »Du bist jetzt unsere Tochter!« Ich freue mich riesig darüber.

Oft träume ich davon, für immer bei Heinz und Frieda bleiben zu können, weil sie einfach so lieb zu mir sind. Außerdem besitzen sie ein wunderschönes Haus, in dem alles hell und sonnig ist und nicht so muffig wie bei Oma.

Sie haben eine ganze neue schneeweiße Küche, ein Esszimmer mit einem großen hellen Lacktisch und eine riesengroße Stube mit zwei Sofas, einem Ecksofa zum Fernsehen und einem kleineren zum Lesen. Es steht etwas versteckt in der Ecke, direkt neben einem Regal.

Im ganzen Haus duftet es immer nach frischen Blumen. Frieda dekoriert gern, hat überall im Haus Vasen mit dicken Rosensträußen und üppigen Gestecken aus Lavendel stehen. »Blumen machen glücklich«, sagt sie oft und liebt es, ganz geduldig die verblühten Blätter aus den Sträußen zu zupfen. Oft summt sie dabei fröhlich vor sich hin.

Frieda ist so ganz anders als Oma. Auch äußerlich. Frieda macht sich gern hübsch, trägt modische Hosen und Pullis, dazu etwas Schmuck, eine Kette, Ohrringe. Ihr Haar ist schulterlang, und sie steckt es sich regelmäßig hoch. Manchmal darf ich ihr sogar dabei helfen.

Heinz ist auch immer schick angezogen, trägt Jeans, Karohemden und Turnschuhe. Er ist schlank wie Frieda, obwohl die beiden gern und viel essen. Mit seiner Halbglatze, den kurzen weißen Haaren und seiner feinen goldfarbenen Brille sieht er ein bisschen aus wie unser Bürgermeister.

Beide trinken übrigens nie Alkohol, zumindest habe ich das noch nie gesehen. In meiner Familie ist das anders. Bei uns wird viel getrunken, Bier- und Schnapsflaschen stehen eigentlich immer auf dem Tisch. Und entsprechend lautstark geht es dann zu, es wird wild durcheinandergeredet, und manches Mal gibt es auch richtigen Streit.

Heinz und Frieda sind stiller, ruhiger, freundlicher. Ich mag das lieber, viel lieber.

Heute haben sie sogar eine Überraschung für mich.

Ich komme gerade aus dem Kindergarten und merke sofort, dass etwas anders ist. Die beiden stehen nämlich im Flur und kichern merkwürdig.

»Na, Prinzessin, geh jetzt mal in die Stube. Da steht was für dich!«

Ich bin total aufgeregt, denke an ein Geschenk. Vielleicht ist es etwas Kleines, Süßigkeiten oder ein Kuchen. Vielleicht ist es aber auch etwas Größeres. Ein paar Schuhe? Die wünsche ich mir so sehr.

Meine eigenen sind nämlich bereits ziemlich alt, und ich schäme mich schon länger damit. Ich hätte so gern neue, und Onkel Heinz weiß davon. Er mag nämlich meine alten auch nicht mehr.

Ich hätte auch gern eine neue Hose. Meine ist vom letzten Jahr und längst viel zu eng. Aber Oma meint, sie reiche noch und ich solle nicht ständig Sonderwünsche haben.

Ich bin also richtig aufgeregt, als ich in die Stube gehe – und dann stehen da wirklich nagelneue Schuhe. Wunderschöne, in Dunkelrot mit passenden Schnürsenkeln. Es sind die schönsten Schuhe, die ich jemals gesehen habe. Niemand im Kindergarten hat solche, da bin ich mir ganz sicher. Überglücklich probiere ich sie gleich an. Ich bin so glücklich!

Aber es sind nicht nur Schuhe dort. Es steht auch ein großer Packkarton auf dem Teppich. Offenbar ist der auch für mich.

Fragend sehe ich zu den beiden hinüber. Ich weiß ja nicht, ob ich hineinsehen darf.

»Na los, mach den Karton auf«, fordert mich Heinz jetzt auf, und ich klappe vorsichtig die Seitenteile auf. Und dann sehe ich ihn, einen wunderschönen Puppenwagen in leuchtendem Pink, mit geblümter Decke und weißen Rädern.

»Für mich?«, frage ich und starre Heinz und Frieda ungläubig an.

Heinz nickt. »Der gehört jetzt dir! Probier mal, ob du ihn schieben kannst.«

»Gefällt er dir denn?«, will Frieda wissen.

Ich bekomme vor lauter Freude kein Wort heraus und rühre mich nicht von der Stelle.

Heinz nimmt schließlich meine Hand und hilft mir, das Prachtstück aus dem Karton zu heben. Und erst jetzt sehe ich, dass auch eine Puppe in dem Wagen liegt. Sie hat blonde Zöpfe und trägt einen rosa Schlafanzug.

»Komm, nimm sie mal hoch«, fordert Heinz mich auf. »Sie will, dass du sie ganz doll lieb hast.«

»Das tue ich auch, ganz bestimmt«, schluchze ich auf und kann die Freudentränen nicht mehr aufhalten.

Ich nehme die Puppe aus dem Wagen und drücke sie fest an mich. Für mich ist das alles hier ein Traum. Ich stehe in diesem eleganten Zimmer, und all meine geheimsten Wünsche sind plötzlich wahr geworden. Ich habe wunderschöne Schuhe, einen prächtigen Puppenwagen und eine Puppe, an die man einfach sein Herz verlieren muss.

»Wie soll die denn heißen?«, fragt Heinz, und Frieda kniet sich zu mir auf den Boden und macht mir Vorschläge.

»Was hältst du von Lisa? Oder Bärbel?«

»Mir gefällt Bärbel«, wirft Heinz ein.

»Oh ja, Bärbel!«, rufe ich sofort, lege meine süße Bärbel zurück in den Wagen und fahre sie stolz damit durchs Zimmer.

»Sieh mal, sie kann sogar die Augen schließen«, erklärt mir Frieda später noch und zupft mit zwei Fingern das Puppen-Shirt zurecht. »Du musst schön aufpassen, dass deine kleine Bärbel nicht friert«, sagt sie und lacht mich dabei an.

Ich kann mich nicht erinnern, mich schon einmal so gefreut zu haben. Ich spiele auch bei Oma mit einer Puppe, aber die ist alt, ich glaube, noch von meiner Mutter. Sie trägt abgewetzte Kleidung und kann weder die Augen schließen wie Bärbel noch »Gute Nacht« sagen wie diese. Ich liebe Bärbel!

»Und jetzt gehen wir zu viert in den Garten. Frieda und ich und Bärbel und du, in Ordnung?«, schlägt Heinz dann vor. Doch Frieda hat andere Pläne. »Kommt, wir setzen uns erst an den Tisch. Ich habe uns zur Feier des Tages einen leckeren Kuchen gebacken. Aber lege Bärbel jetzt noch nicht unter die Decke. Es ist zu warm draußen.«

Frieda streichelt mir dabei liebevoll über das Haar. Eine Berührung, die ich regelrecht aufsauge. Ich kenne so viel Zuwendung nicht.

Am nächsten Tag gehe ich sogar noch früher zu Heinz und Frieda. Wir wollen zusammen den Zaun streichen. Darauf freue ich mich riesig. Aber erst esse ich mich an der Gehacktesstippe satt. Ich habe zwar schon die dritte Portion auf dem Teller und bin längst nicht mehr hungrig, doch es schmeckt einfach so lecker.

Onkel Heinz hat vor dem Streichen noch eine neue Idee. Er möchte jetzt, dass wir uns mittags immer alle hinlegen und einen Mittagsschlaf machen.

»Nach dem Essen ist man müde, Prinzessin. Da legen wir uns alle etwas hin. Wir machen ein bisschen die Augen zu, entspannen, und anschließend gibt es dann leckeren Kakao und ein tolles Stückchen Apfelkuchen, in Ordnung?«

»Schlafen, jetzt? Ich bin gar nicht müde«, erwidere ich wie aus der Pistole geschossen. Aber dann fällt mir ein, dass wir im Kindergarten nach dem Essen ebenfalls schlafen müssen.

»Willst du das auch, Tante Frieda?«, frage ich und sehe sie fragend an. Sie nickt mir zu, während sie aufsteht und den Tisch abräumt.

Schnell nehme ich meinen Teller und bringe ihn zur Spüle. Ich helfe ihr gern.

Wir drei haben eine richtige Arbeitsteilung.

Sie spült, und ich trockne ab, und Onkel Heinz liest dabei in der Zeitung.

»So, jetzt ist die Küche blitzblank«, meint Frieda nach getaner Arbeit. »Ich bin nun sehr müde und lege mich ein bisschen ins Bett.«

Heinz und Frieda schlafen getrennt. Er hat sein Zimmer im ersten Stock, direkt neben dem Bad, und Frieda schläft in einem Zimmer neben der Küche. Es ist ganz klein, nur mit einem schmalen Bett und einem Kleiderschrank möbliert. Aber Frieda gefällt es. »Es ist mein eigenes kleines Reich«, betont sie. »Da sehe und höre ich nichts von der Welt und bin ganz für mich. Du bist doch auch gern in deinem Zimmer, oder?«

»Ja, aber meins ist größer«, platzt es aus mir heraus. »Und ich habe etwas Spielzeug darin.«

»Ich habe auch etwas, das ich gern in meinem Zimmer mache. Ich stricke gern. Deshalb habe ich viel Wolle da. So gern, wie du spielst, so gern stricke ich.«

Mit einem Rück öffnet sie die große Schublade neben dem Kühlschrank.

»Warte mal, ich habe noch etwas für dich«, meint sie, und dann holt sie eine große Tüte Gummibärchen heraus.

»Hier, nimm. Ein bisschen was geht ja bestimmt noch in deinen Bauch.«

Frieda tätschelt mir jetzt liebevoll die Wange, gibt mir einen Kuss auf die Stirn – und plötzlich hält sie mich ganz fest. So fest, wie sie es noch nie getan hat. Und dann spüre ich, dass ihre Tränen über meine Hand laufen.

Warum weint sie bloß?

»So, jetzt leg dich schlafen. Heinz wartet schon.«

Frieda hat sich ein Taschentuch genommen und schnäuzt sich die Nase.

»Ich glaube, es sind die Pollen. Die schwirren in diesem Jahr besonders heftig herum.«

»Kommst du?«, ruft da auch schon Heinz.

Ich gebe Frieda noch einen Kuss auf die Wange, und dann laufe ich zu ihm.

Mit weit ausgebreiteten Armen sitzt er auf dem kleinen Sofa in der hinteren Ecke des Zimmers und strahlt mich an. Er hat seine Schuhe schon ausgezogen und eine Decke für uns ausgebreitet.

Klack! Frieda zieht mit einem ungewohnt lauten Geräusch die Zimmertür hinter sich zu. Wir sind allein!

»Meine Prinzessin, da bist du ja!«, sagt Heinz und nimmt mich fest in den Arm. Er streichelt mir liebevoll über den Rücken, meinen Po, die Beine. Dann schiebt er mich mit beiden Händen von sich weg und mustert mich mehrmals von Kopf bis Fuß.

»Du bist ja fast schon ein kleines Fräulein«, sagt er anerkennend, nachdem er mich so gemustert hat.

Ich kichere vergnügt und bin stolz, dass er »kleines Fräulein« zu mir sagt.

»Nun zieh mal deine Hose und die Strickjacke aus. Das ist ja sonst zu unbequem.«

Mit flinken Fingern öffnet er den Reißverschluss meiner Hose, wenig später auch die Knöpfe meiner Jacke. Ich schäme mich ein bisschen in meiner Unterwäsche. Sie ist ja nicht mehr ganz neu. Aber Heinz scheint das gar nicht zu merken. Er hebt mich ganz sanft hoch und legt mich auf das Sofa, rutscht dann direkt hinter mich.

»So, jetzt machen wir es uns richtig gemütlich.«

Komisch, Heinz’ Stimme klingt irgendwie anders. Auch seine Hände fühlen sich fremd an. Er streichelt mich, an meinem Bein entlang bis zur Hüfte, immer wieder und wieder, auf und ab. Das hat er noch nie so gemacht. Es ist nicht liebevoll, es ist anders, und ich mag es nicht und versuche aufzustehen. Aber Heinz hält mich auf einmal fest, drückt meinen Körper mit seinem großen kräftigen Arm an sich. Ich fühle mich gefangen und will nur noch weg.

»Lass mich!«, presse ich heraus. Ich habe plötzlich große Angst vor ihm.

»Sag einfach, wie ich dich streicheln soll. Du musst sagen, was du magst.«

Ich verstehe nicht. Was will er bloß von mir?

Es ist Heinz’ veränderte Stimme, das Festhalten und sein jetzt schwerer werdender Atem – all das macht mir Angst. Er riecht aus dem Mund nach Gehacktesstippe, aber jetzt mag ich den Geruch gar nicht mehr. Im Gegenteil, es wird mir schlecht davon.

Ich will weg und strample ganz fest mit den Beinen. Aber Heinz drückt mich immer fester an sich. Was soll das? Ich will das nicht.

»Lass mich, bitte, bitte«, jammere ich. Warum hört denn Frieda nichts? Sie kann mir doch helfen!

Heinz atmet immer schneller. Sein Körper zuckt kurz. Was hat er bloß? Ist er krank?

Doch dann ist er plötzlich wieder ganz ruhig, zieht meinen Kopf sanft an seine Brust und flüstert mir »Ich habe dich lieb« ins Ohr.

Warum sagt er das jetzt? Vermutlich tut es ihm leid, dass er mich festgehalten hat.

»Ich habe dich auch lieb«, antworte ich nach einer Weile zögerlich, aber nur ganz leise. Ich bleibe starr liegen, damit er mich nicht wieder so fest umklammert wie gerade eben. Ich mag das nicht. Es tat nicht weh, aber so nah ist mir noch nie jemand gekommen.

In unserer Familie kuscheln wir nicht so eng. Meine Oma, meine Eltern, die sind anders, nehmen mich nie in den Arm. Nur mein Opa, der hat mich immer in den Arm genommen. Ich bin sogar manches Mal auf seinem Bauch eingeschlafen. Es war schön, wenn sich sein Brustkorb dabei immer ganz gleichmäßig hob und senkte. Er hat mir zudem Lieder vorgesummt und mich damit ganz schnell ins Reich der Träume befördert.

Das war jedoch ganz anders als jetzt mit Heinz. Bei Heinz fühle ich mich nicht wohl.

Zum Glück höre ich ihn jetzt gleichmäßig atmen. Er ist eingeschlafen, und so hebe ich vorsichtig den Kopf von seiner Brust hoch, schiebe mich von ihm weg, ganz eng an die Sofalehne, sodass sich unsere Körper nicht mehr berühren.

Ich weiß nicht, wie lange ich so liege, das Polster anstarre und nur darauf hoffe, dass Tante Frieda aufsteht und mich endlich erlöst. Wenn sie da ist, wird sie sehen, dass ich mich nicht wohlfühle, ganz sicher. Dann holt sie mich hier weg und gibt mir Kakao und Kuchen.

Aber Tante Frieda kommt nicht, und es dauert eine Ewigkeit, bis Heinz endlich aufwacht. Ich merke es daran, dass er mich plötzlich in der Taille kitzelt. Das ist unser Spiel. Das machen wir immer so. Normalerweise kichere ich dabei vor Vergnügen. Aber dieses Mal ist mir nicht danach zumute. Ich mag nicht mehr so angefasst werden. Aber wie soll ich ihm das sagen?

»So, Prinzessin, das reicht. Wir sind jetzt beide ausgeruht, nicht wahr?«

Mit einem spielerischen Klaps auf den Po fordert er mich auf, aufzustehen. Er setzt sich jetzt auch aufrecht hin, gähnt noch einmal müde und strahlt mich dann an.

»Was machen wir jetzt? Kakao und Kuchen ist klar. Und danach? Hilfst du mir, die Blumen umzutopfen? Die Lavendelpflanzen brauchen mehr frische Erde. Komm, lass uns loslegen. Aber erst ziehst du dich wieder an.«

»Oh ja, Blumen pflanzen, das mache ich gern. Und Bärbel kommt auch mit.« Ich will nicht mehr allein mit ihm sein.

In Windeseile ziehe ich Hose und Strickjacke an und hole meinen Puppenwagen.

Heinz steckt mir seine warme, weiche Hand entgegen. Und dann gehen wir zusammen auf die Terrasse.

Von der Küche aus ruft Heinz noch schnell nach Frieda. Ihre Schlafzimmertür ist immer noch verschlossen. Ob sie schon wach ist?

»Ich bin mit der Kleinen im Garten«, ruft Heinz ihr durch die Tür zu.

»Ja, gut. In einer halben Stunde gibt es Kaffee«, antwortet Frieda. Ihre Stimme klingt kein bisschen verschlafen. Sie hat bestimmt etwas gestrickt.

»Und für dich, Diana, habe ich eine Zitronenrolle gebacken«, meint sie dann noch.

Zitronenrolle! Oh ja, die mag ich ganz besonders gern.

»Du bekommst nichts davon ab«, necke ich Heinz, und der lacht jetzt fröhlich, malt mit seinen Händen einen dicken Bauch. »Na, dann siehst du aber bald so aus!«

Hoffentlich kommt Oma heute nicht so früh. Ich freue mich auf den Kuchen, aber auch auf die Arbeit im Garten. Ich will erst die Blumen umtopfen und danach Heinz fragen, ob er vielleicht mit mir noch auf den Kinderspielplatz geht. Da gibt es eine neue Schaukel. Meine Freundinnen im Kindergarten haben davon erzählt.

»Die probieren wir aus«, verspricht mir Heinz. Und was Heinz verspricht, das hält er auch. Als er mir den Stoffhasen versprochen hat, saß der ein paar Tage später plötzlich auf meinem Stuhl. Und wie von ihm angekündigt, habe ich auch das Spiel mit den Enten bekommen. Was Heinz sagt, das stimmt auch. Also gehen wir schaukeln.

Auf Heinz ist Verlass. Er ist mein bester Freund, und so verzeihe ich ihm bald, dass er mich festgehalten hat.

Lavendelmädchen

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