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I.

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Samstag, 7. November 2015

Die alte Frau klammerte sich an den Rollstuhl ihres Mannes. Ihre kleine, knöcherne Hand verkrampfte sich in dem schwarzen Samthandschuh und drückte den stählernen Griff des Stuhls gegen den eigenen Hüftknochen, der sich bedrohlich weit aus der Kontur ihres schmalen Körpers lehnte. Die Folgen des letzten Sturzes waren nie vollständig verheilt. Alkohol verhinderte eine vollständige Genesung und konservierte den Körper in seinem angeschlagenen Zustand. Die andere Hand presste einen hölzernen Gehstock in den vom Regen aufgeweichten Boden, der sich unter dem feuchten Kunstrasenteppich neben dem Grab befand. In der Mulde am Ende des Stocks begann sich das Regenwasser zu sammeln, das trotz der Armada an Regenschirmen, die sich über den Köpfen der Trauernden aufgespannt hatten, den Boden ohne große Umstände erreichte. Ihr Blick war starr auf den Sarg gerichtet, der gerade vor ihr in die Grube gelassen wurde.

Zeke stand seiner Großmutter gegenüber auf der anderen Seite des Grabs zwischen seinen Brüdern. Den Schirm hatte er seiner Frau und den Kindern überlassen und so wartete er geduldig bis ein Tropfen nach dem anderen den Weg in seinen Mantelkragen fand und das darunterliegende Hemd gründlich durchnässte. Der kalte Novemberwind zerrte an den Blumen und Blättern des Kranzes, der auf dem Sarg befestigt war. Neben Zeke schlug Philipp den Kragen seines Mantels auf und legte den Schal in engeren Falten um den Hals. Han hingegen stand regungslos neben seinen Brüdern und beobachtete den Priester, der am Kopfende des Grabes stand und schweigend seine Aufgabe erfüllte. Zekes Aufmerksamkeit galt allein seiner Großmutter.

Noch nie hatte er einen Moment emotionaler Schwäche an ihr beobachten können und auch heute sprachen die Züge in ihrem Gesicht weder von Trauer, noch von Zuneigung. Ihr nervöser Blick driftete immer wieder zu der ausländischen Pflegekraft, die in einer der hinteren Reihen mit der so oft benötigten Sauerstoffflasche wartete. Zeke wusste mit Sicherheit, dass seine Großmutter sich nie dazu herablassen würde, ihr Bedürfnis nach Sauerstoff in der Öffentlichkeit zu demonstrieren. Dennoch sorgte sie penibel dafür, dass die Flasche nie weit entfernt war.

Der Sarg hatte den Boden des Grabs erreicht und ein dumpfer Ton des Aufpralls kündigte das Ende der zenartigen Passivität der Trauergäste an. Ein entfernter Verwandter rollte Zekes Großvater in seinem Rollstuhl zu der Stelle, an der ein kleiner Erdhügel die Gäste dazu einlud, an der endgültigen Entsorgung des Leichnams teilzunehmen. Der Boden vor dem Grab war weich und die Räder des Rollstuhls sträubten sich gegen den ungewohnten Untergrund. Einige der Umstehenden deuteten in kleinen Gesten Hilfsversuche an, dennoch wagte keiner aus seiner passiven Zuschauerrolle auszubrechen und wirklich anzupacken. Die Geste musste reichen. Zekes Großvater Uther bedachte alle Umstehenden mit einem Blick der Verachtung und Abscheu. Die engere Familie hingegen stand geschlossen und schweigend am anderen Rande des Grabs versammelt und wartete auf ein Ende des Geschehens. Schließlich stand der Rollstuhl in der richtigen Position und Uther blickte auf den vor ihm liegenden Sarg hinunter. Unter keinen Umständen hätte man vermuten können, dass sich in der Holzkiste vor ihm sein einziger Bruder oder zumindest die Überreste eines Bruders befanden. Die Schaufel mit einem kleinen Haufen Erde wurde Uther in die dürre Hand gelegt. Er zögerte einen Moment und schleuderte schließlich, mit mehr Kraft als von ihm zu erwarten gewesen war, die Erde von sich.

„Bastard!“ Seine Stimme krächzte, als würde er sie nur selten gebrauchen.

Ein kleiner Teil der Erde erreichte die Wand der Grube und fiel hinab auf den Sarg. Das meiste jedoch landete auf Philipps Schuhen. Uther folgte der Linie seines Wurfs und blickte Philipp provokativ an. Keiner der Brüder ließ auch nur einen Muskel zucken. Philipp erwiderte den Blick seines Großvaters mit leeren Augen, bis dieser sich abwandte und mit einer kurzen Handbewegung andeutete, dass die Beerdigung für ihn beendet war.

Nachdem Uther in seinem Rollstuhl davon geschoben wurde, folgten auch die anderen Gäste und erwiesen dem Verstorbenen die letzte Ehre. Zekes Großmutter Gertie ließ ein kleines Sträußchen aus Wildblumen auf den Sarg fallen, mit einer Geste, die mehr an die Entsorgung eines schmutzigen Taschentuchs erinnerte. Zeke besah sich die Blumen, die zwischen den frischen Erdbrocken auf dem Sarg zum Erliegen kamen. Sie musste die Pflegekraft in die Großstadt geschickt haben, um zu dieser Jahreszeit frische Wildblumen aufzutreiben. Die Maske der Gleichgültigkeit verlor zunehmend an Glaubwürdigkeit. Zeke hatte vor langer Zeit aufgegeben, verstehen zu wollen, was seine Großmutter umtrieb. Rein die Tatsache, dass keine ihrer Taten ohne Hintergrund geschah, prägte seinen Umgang mit ihr.

Ein Windhauch wirbelte ein paar Blätter in Zekes Blickfeld auf und riss ihn aus seinen Gedanken. Der Friedhof war fast leer. Die meisten der Trauergäste waren eiligen Schrittes unterwegs zu ihren Autos. Auch Zekes Frau Holly führte seine Söhne bereits an der Hand in Richtung Parkplatz. In der rechten Hand hielt sie noch immer den Schirm, während sie versuchte, beide Jungs mit der anderen Hand über die Kieswege zu lenken und sie davon abzuhalten, zwischen den Grabsteinen umherzuspringen.

Schließlich verabschiedete sich auch der Priester und die Brüder blieben allein am Grab zurück. Philipp schüttelte wortlos die Erde von seinen Schuhen. Zeke besah sich die Mienen seiner Brüder und war nicht überrascht, auch dort nicht nur Trauer zu finden. Sie fühlten wie er. Erleichterung und die willkommene Illusion von Frieden machten sich in seiner Brust breit, auch wenn er bereits ahnte, dass das Gefühl nicht von Dauer sein konnte. Der Wunsch nach Abschluss würde ihnen vermutlich nie erfüllt werden und die Idee von Absolution war für sie schon vor Jahren in ungreifbare Ferne gerückt.

Han legte Zeke die Hand auf die Schulter und drängte so zum Aufbruch. Die Brüder verzichteten darauf, den Sarg noch weiter mit Erde zu bedecken und nickten im Vorbeigehen den Grabpflegern zu, damit diese das Werk der Trauergäste vollenden konnten. Der Regen wurde dünner und der Wind brauste auf. Holly wartete bereits im Auto. Sie saß am Steuer und Zeke konnte an ihren Lippen sehen, dass sie dem Song aus dem Radio folgte. Seine Söhne lachten auf dem Rücksitz. Er nickte seinen Brüdern zu und stieg zu seiner Frau ins Auto. Han und Philipp fuhren in ihren Trucks davon, ohne sich noch einmal umzusehen. Holly schaltete das Radio aus und die Jungs stoppten ihr Gelächter.

„Alles in Ordnung?“ Ihre Augen lächelten, während ihr Mund wie immer eine typische strenge Linie bildete. Es hatte ihn einige Zeit gekostet, das verborgene Lächeln in ihren Augen zu entdecken und auch nach Jahren der Ehe war sie bei Weitem kein offenes Buch für ihn. Seine Söhne waren da schneller. Sie bemerkten meistens zuerst, wenn die Stimmung umschwang und Flucht die bessere Alternative wurde.

Zeke nickte Holly zu und lehnte sich im Beifahrersitz zurück. Mit geschlossenen Augen lauschte er, wie Holly den Wagen anließ und seine Söhne begannen, miteinander zu flüstern. Dies war einer dieser seltenen Momente, in denen er seiner Frau vollkommen die Kontrolle überließ. Zielsicher lenkte sie den Wagen durch den Wald hindurch und hinaus in das sumpfige Gebiet, in dem Oskar seine Farm errichtet hatte. Das kleine Haus war heruntergekommen. Die Farbe blätterte an mehreren Stellen von der Holzfassade ab und große Flächen des unbehandelten Untergrunds wurden sichtbar. Auf dem Vordach lag eine dicke Schicht aus Blättern und Ästen, die der Regen zu einer festen Masse verschmolzen hatte und nun dem Wind trotze. Der Garten, zu beiden Seiten der Einfahrt, war befüllt mit allerlei Skulpturen aus Holz, Metall, Stein oder Kombinationen aus verschiedenen Materialien. Einige der Skulpturen kannte Zeke noch aus seiner eigenen Kindheit. Die Erinnerung, wie er mit seinen Brüdern Zuflucht in diesem Kunstwald gesucht hatte, war ihm immer noch präsent. Nur wenige der Kunstwerke waren neueren Datums. In den letzten Jahren seines Lebens hatte sein Onkel nicht nur körperliche Kraft, sondern zu seinem eigenen Leidwesen, auch seine künstlerische Leistung einbüßen müssen. Nicht selten hatte man ihn im einzigen Pub in Argos sitzen sehen, mit einem Scotch vor sich auf dem Tisch, auf der Suche nach dem Kuss der Muse. Das Nine war für diese Suche gut geeignet, denn im Laufe des Tages betrat ein Großteil der Stadtbewohner das Lokal, um zu essen, zu trinken oder auch nur, um die geringe Portion sozialer Kontakte aufrecht zu erhalten, die ein Leben in den Bergen mit sich brachte. Einen der Nischentische hatte Oskar zu seinem Stammplatz erklärt und niemand hatte je widersprochen. Dort hatte er seine Audienzen abgehalten, für jeden der eine Information erhalten oder loswerden wollte. So hatte er Ratschläge verteilt und Geschichten gesammelt. Nicht selten war er nach einer durchzechten Nacht im Nine nach Hause gelaufen und hatte dort bis zum nächsten Abend an einer Skulptur oder einem anderen Kunstwerk gearbeitet. Die Muse, so hatte er immer gesagt, lebte in jedem, der den Pub betrat und solange sie bereit war, mit ihm zu sprechen, war er bereit, ihre Stimme in seine Kunst zu verwandeln. In den letzten Monaten seines Lebens hatte die Muse sich aber offensichtlich andere Gesprächspartner gesucht und Oskars Verfall damit sichtbar beschleunigt.

Der Wagen überquerte eine Unebenheit auf der kiesbelegten Auffahrt und Zeke wurde aus seinen Gedanken gerissen. Vor dem Haus und im Wendehammer der Straße standen die Autos der Trauergäste in Reih und Glied. Für Zeke und seine Brüder waren unausgesprochen drei Plätze vor der Garage reserviert worden. Die Trucks standen bereits an ihrem Platz und seine Brüder saßen wahrscheinlich schon bei einem ersten Bier zwischen den Verwandten und zählten die Minuten, bis der Anstand ihre Anwesenheit im Haus ihres Onkels nicht mehr erforderte. Zeke stieg aus dem Wagen und öffnete seinen Söhnen die Autotür. Die Jungs stürzten von ihren Sitzen und liefen über die Veranda ins Innere des Hauses. Holly blieb auf der Treppe stehen und blickte Zeke auffordernd an. Das Garagentor war nicht vollständig geschlossen und der Wind bewegte eine der Türen ruckartig hin und her.

„Gleich.“ Zeke versuchte ein Lächeln zustande zu bringen. „Ich bin gleich da.“

Holly drehte sich um und folgte ihren Söhnen ins Haus. Zeke beobachtete einen Moment, wie der Wind die Tür gerade weit genug aufdrückte, um einen kurzen Blick ins Innere der dunklen Garage zu ermöglichen und sie dann sofort wieder zuschnellen ließ. Zeke konnte seinen eigenen Herzschlag in den Ohren spüren. Die raschen Schläge teilten das rhythmische Rauschen des Sturms in kleine melodiöse Einheiten. Kontrolliert griff Zeke nach der Garagentür und schob sie mit einer kurzen, ruckartigen Bewegung ins Schloss. Erstaunt beobachtete er, wie seine Hand zurückschreckte und wie aus einem Reflex in seiner Manteltasche verschwand.

Die wenigen Räume des Erdgeschosses waren ungewohnterweise gefüllt mit Menschen. Zeke schloss die Eingangstür hinter sich und gönnte sich einen Moment, um die Wärme des Hauses durch seinen Körper fließen zu lassen. In diesem Haus hatte er sich immer mehr zu Hause gefühlt, als bei seinen Eltern oder geschweige denn Großeltern. Jeder Raum barg Erinnerungen an all die Dinge, die er mit seinen Brüdern hier erlebt hatte. Viele der wenigen Momente seiner Jugend, an die Zeke gerne zurückdachte, hatte er allesamt in diesem Haus erlebt, gepaart mit einigen, die ihn in seinen dunkelsten Träumen heimsuchten. Zekes Gedanken schienen durch das Haus und seine Räume zu wandern, wie ein Pilger, der nach Jahren wieder sein altes Haus betritt und feststellt, dass sich in seiner Abwesenheit nicht viel verändert hat. Wie in Trance folgte Zeke dem Flusslauf seiner Erinnerungen, wie sie die Treppen hinauf- und hinabflossen und ihn schließlich zurück in die Garage führten. Wie durch Magie war er plötzlich umgeben von dem alten Geruch, den er schon so lange nicht mehr eingeatmet hatte. Er roch das Holz, das sein Onkel für seine Skulpturen aufbewahrt hatte, meist aus dem Familienunternehmen für wenig oder gar kein Geld erstanden, die modrige Erde, deren spezieller Geruch alles bedeckte, was in der Nähe des Moors stand, wuchs oder lief, und das metallische Aroma des Materials und der Rückstände auf Boden und Wänden.

Zeke schüttelte den Kopf und riss seine Gedanken in die Gegenwart zurück. Nachdem er an der Garderobe zwischen den abertausenden Jacken und Parkas einen Platz für seinen Mantel gefunden hatte, machte er sich auf die Suche nach seiner Familie. Fündig wurde er in der Küche. Han stand an die Spüle gelehnt mit einer Bierflasche in der Hand und unterhielt sich mit einer Frau. Ihre Gesichtszüge kamen Zeke bekannt vor, auch wenn er sie nicht wirklich zuordnen konnte. Philipp saß auf einem Küchenstuhl und hatte seinen Sohn Ted auf dem Schoß. Ted war mit seinen zwölf Jahren eigentlich schon zu groß für derartige familiäre Nähe und Zeke vermutete, dass der besondere Anlass Raum für Ausnahmen bot.

„Hey Zeke!“ Han winkte seinen Bruder zu sich herüber. Sein Blick verriet, dass er nach einer Möglichkeit suchte, aus der Situation zu entkommen. „Erinnerst du dich an Tante Meg?“

Die Frau hob den Kopf und sah Zeke mit einem schwachen Lächeln auf dem Gesicht an. Seine Erinnerung kehrte zurück, als er die Augen der Frau sah. Diese waren grau und es schien als sähe man dem Meer zu, wie es an einem stürmischen Morgen ruhig dalag und darauf wartete, dass die Sonne aufging. Sie war etwa Mitte fünfzig und trug einen schwarzen Rollkragenpullover zu dunklen Jeans und flachen Halbschuhen. Diese Schuhe waren selten in dieser Gegend. Die kalten Temperaturen und das raue Gelände zwangen die Bewohner zur Vorsicht und festes Schuhwerk wurde zu allen Gelegenheiten für angemessen erklärt. Megs Haar war von vielen grauen Strähnen durchsät und wurde zurückgehalten von einer silbernen Spange, auf der wellenförmige Motive eingraviert waren. Ansonsten trug sie keinerlei Schmuck, auch keinen Ehering. Insgesamt war Megs Aussehen eher unauffällig und Zeke wunderte sich nicht, dass er sie bei der Beerdigung übersehen hatte. Das Lächeln, das auf ihren Lippen lag, aber nicht aus den Augen zu scheinen schien, verschwand als sie zu sprechen begann.

„Sicher erinnert er sich nicht an mich. Er war damals ein Teenager und mit wichtigeren Dingen beschäftigt als alten Verwandten.“ Das Lächeln blitze erneut für einen kurzen Moment auf und verschwand fast ungesehen. Die Geste wirkte einstudiert und zu oft angewandt, um sich an den ursprünglichen Zweck noch erinnern zu können. Zeke vermutete, dass sie in ihrem Beruf, anders als er, vielen Menschen begegnete, die sozialkonformes Verhalten erwarteten.

„Tante Meg.“ Zeke öffnete seine Arme und drückte seine Tante kurz an sich. „Es tut mir so leid. Wegen deines Vaters.“ Er legte ihr die Hand auf die Schulter und versuchte den Grad der Trauer aus ihren Zügen abzulesen.

„Danke dir. Wir hatten ja kein sehr inniges Verhältnis. Das letzte Mal haben wir uns gesehen, kurz bevor euer Vater verschwand.“ Bilder schossen durch Zekes Erinnerung und reflexartig wandte er den Blick seinem Bruder zu, um dessen Miene zu prüfen. In diesem Moment hörte man, wie sich die Haustür öffnete und eine große Gruppe Menschen in die Küche trat. Han nutzte die Gelegenheit und verschwand in der Menge, nachdem er Meg noch einmal den Arm um die Schultern gelegt und sie sanft an sich gedrückt hatte. Diese Geste war mehr, als Zeke von seinem Bruder erwartet hätte. Hans Umgang mit Menschen war spärlich. Er leitete das Logistikzentrum der Firma und sprach dort lediglich mit den Fahrern und einigen wenigen Arbeitern des Werks. Han schien es nicht zu stören, dass die meisten seiner Gespräche einem einsilbigen Schema folgten und so machte auch Zeke sich weiter keine Gedanken darüber.

Nachdem Han verschwunden war, besetzte Zeke den Platz seines Bruders und lehnte sich gegen die Spüle. In dieser Position konnte er gleichzeig Meg ansehen und den Rest des Raumes überblicken. Meg seufzte und sah auf das leere Glas in ihrer Hand.

„Ich habe es damals übrigens gewusst.“ Sie sah auf. „Nicht von Anfang an, aber irgendwann war ich sicher.“

Zeke stockte der Atem. Sein Puls fing an zu rasen und sein Hirn begann in gewohnter Manier nach Lösungen zu suchen. Der Raum war zu groß und zu voll, um Meg ohne ihre Einwilligung aus dem Haus zu bewegen. Ihr Blick war klar und deutlich und machte ihm klar, dass die Anwendung von Ausreden und Lügen wohl von wenig Erfolg gekrönt war.

„Warum hast du nichts gesagt? Der Polizei. Oder den Großeltern.“ Er versuchte seine Stimme gesenkt zu halten, ohne zu flüstern. Flüstern bedeutete Angst. Um alles in der Welt wollte er jetzt keine Angst zeigen.

„Einen Tag nachdem ich es rausfand war euer Vater plötzlich weg und das Gerangel um Philipp ging los. Da wollte ich nicht noch mehr Chaos verbreiten. Außerdem wollte ich nicht das Zünglein an der Waage sein.“

Nachdem Zekes Vater Kasper verschwunden war, weigerte sich Zeke, bei seinen Großeltern einzuziehen. Er war bereits volljährig und auch Han hatte damals nur wenige Wochen bis zu seinem achtzehnten Geburtstag. Die beiden waren fest entschlossen, mit ihrem jüngeren Bruder alleine zu leben. Außerdem wollten sie die Firma übernehmen und zwar selbstständig, ohne ihre Großeltern. Philipp war damals erst zwölf und Uther und Gertie hatten mit aller Gewalt um das Sorgerecht gekämpft, auch um einen Anteil der Firma zu kontrollieren.

Zeke wusste nicht, was er sagen sollte. Er wollte Meg danken, dass sie sie nicht verraten hatte, aber die Angst lähmte ihn. Plötzlich fühlte er sich wieder wie sein siebzehnjähriges Selbst. Meg schien seine Anspannung zu spüren. Sie näherte sich bis sie nur noch wenige Zentimeter von seinem Ohr entfernt war. „Mach dir keine Sorgen. Ich verbuche das unter kleinen Jugendsünden. Wer von uns hat denn noch nie mit Betäubungsmitteln herumexperimentiert?“ Sie legte Zeke kurz die Hand auf dem Oberarm bevor sie in der Menge verschwand, um den leeren Zustand ihres Glases zu beheben.

Zekes Verstand brauchte einige Sekunden, bevor die Tragweite der eben gehörten Worte vollends in sein Bewusstsein eindrang. Während er den Blick auf den Fußboden gehaftet hielt, wurde ihm klar, dass er keine Ahnung hatte, worauf Meg anspielte. Diese Erkenntnis rankte allerdings zweitrangig hinter der Tatsache, dass dieser Umstand bedeuten musste, dass Meg nicht wusste, wovor Zeke sich fürchtete. Sie war keine Mitwisserin und das Leben seiner Brüder war nicht in Gefahr. Diese Idee schenkte ihm einen kurzen Moment der Erleichterung. Doch der Moment währte nur kurz, bevor ihn die Zweifel wieder einholten und sich wie ein schwerer Ledergürtel um seinen Brustkorb legten. Ruckartig stellte Zeke sein Bier auf die Spüle hinter sich und bemerkte zunächst nicht, dass der Schwung die Flasche hinter ihm ins Wanken brachte und schließlich ihren Fall verursachte. Erst als zwei der umstehenden Gäste sich der Flasche annahmen und den Fluss in die Spüle lenkten, erreichte das Geschehen auch sein Bewusstsein. Er murmelte eine Entschuldigung und ignorierte die umstehenden Gäste, die ihn zum Teil erschrocken, zum Teil aber auch mitleidig ansahen. Die Blicke der Fremden kümmerten ihn nicht, denn nur Philipp, der immer noch in der Nähe saß, sah ihn mit der Besorgnis an, die er selbst empfand. Noch bevor Zeke seinen Bruder erreicht hatte, stand der schon auf seinen Beinen und hatte seinen Sohn sanft in die Arme seiner Mutter geschoben.

„Es ist Zeit, denke ich.“ Philipp nickte und wandte sich der Tür zu.

„Kann ich mitkommen?“ Teds Stimme war von Stimmbruch getroffen, aber dennoch stark. Zeke sah auf seinen Neffen hinunter. Ted war zwei Jahre älter als sein Sohn Arthur und so viel reifer. Außer seiner Haarfarbe hatte er nicht viel von seiner Mutter geerbt. Seine Figur erinnerte Zeke an Philipp in jüngeren Jahren, großgewachsen und sehnig. Er wirkte dünn und zerbrechlich, aber Zeke wusste aus eigener Erfahrung, wie viel Kraft in seinem Bruder und auch seinem Neffen steckte. Noch stärker als sein Körper war allerdings sein Verstand. Er war ein geborener Anführer, der keine Scheu kannte und immer sagte, was ihm auf der Seele brannte. Auch wenn Zeke es nicht laut eingestehen konnte, würde er die Firma lieber eines Tages in Teds Hände geben, als sie seinen eigenen Söhnen anzuvertrauen. Insgeheim träumte er davon, dass die drei die Firma später gemeinsam führten, wie er es mit seinen Brüdern jetzt bereits tat.

„Diesmal nicht, Ted.“ Amy, Philipps Frau, hatte in Zekes Gesten die Antwort auf die Frage ihres Sohnes gelesen. Ted widersprach seiner Mutter nicht und blieb stehen, den Blick auf seinen Onkel gerichtet. „Wenn du älter bist, Kumpel. Und wenn es draußen etwas weniger nass ist.“ Zeke lächelte seinen Neffen an und zwinkerte seiner Schwägerin zu.

„Das Wasser macht mir nichts aus.“ Zeke war nicht überrascht. Der Junge war schon immer eine Wasserratte gewesen und damit seinem Vater auch hier nicht unähnlich. Er schenkte seinem Neffen ein weiteres Lächeln und verließ dann, ohne ein weiteres Wort, die Küche.

Vor dem Haus wartete Philipp mit Han bereits auf ihn. Sie verließen die Veranda und Zeke führte seine Brüder in den hinteren Teil des Gartens. Sie gingen wortlos hintereinander her und zwischen den Melodien der Windböen, die durch die zahlreichen Skulpturen ihres Onkels pfiffen, hörten sie nur das Geräusch ihrer Arbeitsschuhe, die sie mit jedem Schritt schwieriger aus dem matschigen Rasen ziehen konnten. Das Grundstück, das zum Haus ihres Onkels gehörte, war schon seit Jahrhunderten in Familienbesitz und wurde nur zur Straße hin durch einen Zaun eingegrenzt. Die Rückseite des Grundstücks lag direkt am Moor. Je weiter man in den Garten vordrang, umso stärker wurde der modrige Geruch, der an regnerischen Tagen noch verstärkt wurde. Die Brüder steuerten auf den einzigen großen Baum zu, der hinter dem Haus noch wuchs. Ihr Onkel hatte einst im Rausch die wenigen Bäume, die in der Nähe des Moores wachsen konnten, gefällt und zu einer großen Statue verarbeitet, die noch heute auf dem Platz vor dem Nine stand und die Widerstandskraft des Trinkers symbolisierte. Zeke hasste die Statue seit jeher und hatte in seiner Jugend mehrmals gedroht, sie anzuzünden. Der letzte Baum im Garten war eine Schwarzerle, die groß und krumm aus dem Bruch wuchs. Etwa auf Brusthöhe teilten sich die Äste und bildeten eine kleine, fast ebene Fläche. Das Holz an dieser Stelle war blankgerieben und von seiner Rinde befreit. Han kniete sich neben den Baum und holte aus einem Hohlraum unter einer Wurzel eine Metalldose hervor. In der Dose befanden sich Streichhölzer und eine kleine, metallene Schale in der Größe eines Handtellers. Die Schale war aus dünnem Material gearbeitet und trug auf dem Boden die Initialen der Brüder. Die Innenfläche war vom Ruß vollkommen geschwärzt, keiner der Brüder hatte jemals das Bestreben gehabt, die Oberfläche zu reinigen. Han stellte die Schale zwischen den Ästen des Baumes ab und nahm die Streichhölzer zur Hand. Zeke holte ein stark verknittertes Exemplar des Kirchenblattes der Beerdigung aus seiner Manteltasche hervor und zerriss es in kleine Stücke. Die Stücke legte er in der Schale ab. Philipp bedeckte sie mit Tabak, den er aus einer von Oskars alten Zigaretten bröselte. Schließlich entzündete Han ein Streichholz und warf es auf das Brennmaterial in der Schale. Die Äste des Baums wuchsen dicht und so bildeten sie ein Dach, das den Großteil des Regens und der Feuchtigkeit fernhielt. Dies erlaubte den Flammen, schnell überzugreifen und in kurzer Zeit brannte ein kleines Feuer, das nur durch gelegentliche Tropfen, die durch die Blätterdecke fielen, gestört wurde.

Das Feuer brannte eine Weile und schickte kleine Schnörkel aus Rauch in die Blätterkrone, bevor Zeke das Wort ergriff. „Tante Meg weiß von den Betäubungsmitteln.“ Er starrte auf das Feuer und erkannte aus dem Augenwinkel, wie Han überrascht aufsah. „Warum weiß ich nichts davon?“

„Ich dachte du wusstest es.“ Han war noch nie um eine Ausrede verlegen gewesen. Die Wahrheit stellt für ihn keinen moralischen Wert dar, er nutzte sie wie es die gesellschaftliche Konvention vorgab oder er mehr Nutzen aus ihr ziehen konnte. „Ich hab ein paar Pillen mitgehen lassen. Meg hat es nie angesprochen, also dachte ich sie hätte es nicht gemerkt.“ Die gesamte Zeit spürte Zeke den Blick seines Bruders auf seiner Wange. Schließlich drehte er den Kopf uns sah ihm in die Augen. „Was weiß ich sonst noch nicht?“ Han zuckte nur mit den Schultern.

Zeke wartete einen Moment, welche der Seelen in seiner Brust die Oberhand gewinnen würde. Da war Wut. Wut, die immer aufstieg, wenn er drohte, die Kontrolle zu verlieren. Wut, die ihn umschlang, wenn jemand seine Autorität als Familienoberhaupt infrage stellte. Sie hängte sich an seine Schultern und drohte ihn hinabzuziehen, wenn er sich nicht mit immenser Kraft freischlagen könnte. Dann war da Angst. Die Angst, die ihm die Kehle zuschnürte und ihm die Bilder seiner Familie wie ein Diaprojektor in Endlosschleife vor Augen führte. Han war ein Teil dieser Familie, ein wichtiger Teil. Zeke schloss kurz die Augen und atmete tief ein. Der Geruch des Moors, der sich mit dem Aroma des verbrannten Papiers und dem Zigarettenrauch mischte, holte ihn wieder auf den Boden der Realität zurück.

„Sonst ahnt sie nichts.“ Zeke öffnete die Augen und sah seine Brüder an. „Sie kennt nur unsere Jugendsünden und zieht keine Schlüsse.“

Han schnaubte verächtlich. „Welche Schlüsse will sie denn auch ziehen? Sie war ja nie hier.“

Philipp trat an den Baum heran und griff nach der Schale, in der das Feuer mittlerweile erloschen war. Die Handschuhe beschützten seine Finger vor der Hitze und mit einem kräftigen Stoß warf er dir Überreste zusammen mit der Asche in Richtung des Moors, wo sie vom Regen schnell in den modrigen Boden integriert wurden.

„Jetzt sind wir die einzigen, die davon wissen können. Irgendwie sollte ich mich jetzt sicherer fühlen.“ Philipp verstaute die Schale und die Streichhölzer in der Blechdose und versteckte sie wieder unter den Wurzeln des Baumes.

„Was ist, wenn Oskar es wusste und jemandem davon erzählt hat?“

„Wem denn?“ Han klappte den Kragen seiner Jacke nach oben und wandte sich wieder dem Haus zu. „Außerdem wissen wir gar nicht, ob er überhaupt etwas wusste. Immerhin hat er all die Jahre nichts gesagt.“ Seine Brüder folgten ihm. „Er hat Jahrzehnte lang betrunken im Nine gesessen und jedem einfach alles erzählt, ob er es hören wollte oder nicht. Wenn er vorgehabt hätte, uns zu verraten, hätte er es längst getan.“

Das Haus hatte sich ein wenig geleert. Das ungemütliche Wetter und die kurzfristige Abwesenheit der Brüder hatten das Ihrige dazu beigetragen. Meg stand in der Küche und spülte Gläser, die ihr von Amy und Holly angereicht wurden.

„Da seid ihr ja.“ Holly blickte Zeke vorwurfsvoll an. Er wusste, dass sie eine Erklärung erwartete, warum die drei verschwunden waren. Zeke war jedoch nicht bereit, alle Geheimnisse mit seiner Frau zu teilen und würde es auch dabei belassen.

„Bei ihrem Zauberbaum waren sie wieder.“ Gerties Stimme durchschnitt die Atmosphäre wie ein eiskaltes Messer. Sie saß in einem Sessel in der Ecke der Küche und klammerte sich an ein Glas Gin, während sie zwischen Zeke und Holly hin und her sah. „Zündeln und Salbei abbrennen, wie Hexenweiber. Weghacken müsste man das Geistergestrüpp. Meg, das erste, was du machen solltest, ist diesen Baum fällen lassen. Nicht mal für den Kamin kann man das feuchte Holz noch gebrauchen.“

„Wo sind die Kinder?“ Zeke schnitt seiner Großmutter das Wort ab.

„Oben.“

„Wir fahren.“

Holly stellte das letzte Glas neben Meg auf die Spüle und ging wortlos an ihm vorbei. Einige Sekunden später war das Knarren der Treppenstufen zu hören.

„Und du hör zu, altes Weib. Wenn du möchtest, dass die Erle gefällt wird, wirst du es mit deinen eigenen Fingernägeln und Zähnen erledigen müssen.“ Zeke hatte sich seiner Großmutter bis auf wenige Zentimeter genähert und stütze seine Arme auf den Lehnen des Sessels rechts und links von ihr ab. Er blickte ihr direkt in die kleinen Augen, aus denen unendlich viel Trotz und Häme zurückschien. Ihr Körper war so dünn, dass er ihn zwischen zwei Fingern hätte zerbrechen können. Zeke atmete tief ein und nahm den Geruch seiner Großmutter in sich auf. Gertie roch nach Gin und sonst nichts. Selbst der Geruch der Menschlichkeit wollte nicht mehr an ihr haften.

„Zeke!“ Philipps Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. „Fahr nach Hause.“ Holly stand mit den Jungs bereits halb angezogen in der Tür. Zeke riss sich von seiner Großmutter los und verließ die Küche. Als er die Haustür hinter seinen Söhnen schloss, hörte er gerade noch die Stimme seiner Großmutter, wie sie ihren Mann um Beistand anrief.

Als Meg ihre Tante und ihren Onkel mit dem Pflegepersonal endlich aus dem Haus gebracht hatte, schloss sie die Haustür und ließ sich von Innen gegen das schwere Holz fallen. Sie atmete ein paar Mal tief ein und aus, bevor sie sich aufraffte und ziellos durch die Zimmer streifte. Dank Amy war auch das letzte Geschirr gespült und das Essen im Kühlschrank verstaut. Ihr Körper fühlte sich müde an und sie spürte sowohl ihr Alter, als auch die emotionale Erschöpfung, die der Tag mit sich gebracht hatte. Meg überlegte, ob sie schon ins Bett gehen sollte, aber ihr Geist war wach und arbeitete auf Hochtouren. 20 Jahre lang hatte sie sich von diesem Teil ihrer Familie ferngehalten. Nachdem sie ihre Assistenzzeit im benachbarten Krankenhaus hinter sich gebracht hatte, war sie verschwunden und durch die Welt gereist. Der Kontakt zu ihrem Vater war abgerissen und nur durch gelegentliche Postkarten und Anfragen um Geld in beide Richtungen wiederbelebt worden. Keiner der Belebungsversuche war sehr erfolgreich gewesen, so viel musste sie sich eingestehen. Der Patient war lang tot gewesen, bevor er zu Grabe getragen wurde. Jetzt war sie hier und ihr gehörte alles, was er je besessen hatte. Langsam schlenderte Meg in das kleine Arbeitszimmer, das hinter der Küche lag und aus dem ehemaligen Wintergarten gezimmert worden war. Vor Jahren hatte ihr Vater wohl in einem seiner Anfälle alle Glasschreiben entfernt und durch massive Holzplatten ersetzt. Der Raum war dunkel und wurde lediglich durch eine kleine Schreibtischlampe erhellt. Rundherum stapelten sich Kisten und Kartons, die gefüllt mit Papieren und anderem Kram wie eine zweite Wand den Raum verstärkten. Meg zog einen der Kartons vom Stapel herunter und nahm am Schreibtisch Platz. Der Inhalt musste mehrere Jahre alt sein. Die Handschrift ihres Vaters war klar und ähnelte wenig den unleserlichen Hieroglyphen, die er in seinen letzten Jahren aufs Papier gebracht hatte. Sie fand einige Skizzen und Notizzettel und überlegte, ob es ein Museum gab, das Interesse an diesen Werken zeigen könnte. Für sie selbst hatten die Dokumente keinen Wert, auch keinen sentimentalen. Ihr Vater hatte die Kunst jedem Menschen vorgezogen. Sie war seine einzige Liebe gewesen und so hatte auch sie kein großes emotionales Investment betrieben. Meg durchsuchte noch drei weitere Kartons und fand nichts außer unzusammenhängenden Aufzeichnungen der wirren Gedanken eines Künstlers. Nach einigen Stunden beschloss sie aufzugeben und dachte kurz darüber nach, eine professionelle Firma zu beauftragen, all die Unterlagen für sie zu entsorgen. Meg streckte sich auf dem Stuhl und ließ die Wirbel wieder an ihren rechtmäßigen Ort knacken. Schließlich legte sie den Kopf zurück und massierte den unteren Teil ihrer Lendenwirbel. Die Decke des Wintergartens war ebenfalls mit Holzplatten verkleidet worden. Allerdings hatten dem Künstler hier wohl doch die handwerklichen Fähigkeiten gefehlt, denn einige der Platten schlossen nicht sauber ab, sondern bildeten kleine Zwischenräume. Es dauerte einen Moment, bis Megs Augen sich an die Dunkelheit abseits des Lichtkegels der Schreibtischlampe gewöhnt hatten und sie die Schriftrolle erkannte, die dort oben zwischen zwei Holzbrettern eingeklemmt war. Nicht sicher, ob es sich nicht um eine behelfsmäßige Konstruktion handelte, die das Dach vor dem Einstürzen bewahrte, stand sie langsam auf und kletterte auf den Schreibtisch, um einen besseren Blick zu erhalten. Aus der Nähe konnte sie deutlich die Schrift ihres Vaters auf dem Papier erkennen. In einer waghalsigen Aktion griff sie nach der Papierrolle und zog sie mit einem Ruck zwischen den Platten hervor. Reflexartig zog Meg die Schultern zusammen und wappnete sich gegen die einstürzende Decke. Als nach einigen Sekunden noch immer alles unbewegt schien, öffnete sie langsam die Augen und machte sich auf die Suche nach der zu Boden gefallenen Schriftrolle. Erst jetzt erkannte sie, dass die Rolle aus vielen unverbundenen Einzelblättern bestanden hatte, die nun verstreut und über den Boden verteilt dalagen.

„Shit!“ Noch von Schreibtisch aus konnte Meg erkennen, dass es sich um eine Mischung aus Texten und Zeichnungen handelte. Wie ein illustrierter Roman oder eine Zeitungsdokumentation schienen die Papiere eine Geschichte zu erzählen. Meg stieg vorsichtig vom Tisch und sammelte die Blätter vom Boden auf. Im Schein der Schreibtischlampe entzifferte sie Seite um Seite und versuchte dabei dem Geschriebenen einen Sinn abzugewinnen. Erst nach Stunden, als die ersten Sonnenstrahlen bereits durch die Ritzen zwischen den Holzplanken drangen, setzte sie sich in ihrem Stuhl zurück und starrte wortlos auf die Zeichnung, die ihr Vater an das Ende des Textes gesetzt hatte. Darauf zu sehen waren drei Figuren, die im Nebel des Moors standen. Sie schienen ganz in sich versunken, denn alle drei starrten auf den Boden vor sich und bemerkten nicht, dass sie anscheinend beobachtet wurden. Wenn sie dem Text, der das Bild umrahmte, Glauben schenken konnte, zeigte es die letzten Minuten, die der Körper ihres Cousins Kasper über der Erde verbracht hatte. Doch was sie wirklich erschreckte, war nicht das Verbrechen, das das Bild offenlegte, sondern die Figuren, die darauf zu sehen waren. Eine von ihnen war mit absoluter Sicherheit noch ein Kind.

Meg überlegte einige Minuten, ob sie den Aufzeichnungen ihres Vaters glauben konnte. Seine Schrift war an einigen Stellen stark verschmiert und die Zeichnungen, die immer wieder eingepflegt waren, meist aber nicht mehr als Skizzen darstellten, waren durch das starke Zittern der Hand fast unkenntlich. Oskar konnte nicht nüchtern gewesen sein, als er diese Offenbarung zu Papier brachte, auch und gerade weil er den Text mit den Worten begann

Ich bin nüchtern, ich war noch nie so nüchtern. Ich habe Jahre gewartet und es hat mich gefressen, von innen, und von außen. Nicht der Alkohol zerstört Seelen. Es sind Geheimnisse. Geheimnisse, die man für andere trägt; trägt und hütet, wie kleine Lämmer, die sich im Regen ins Moor verirren und nicht zur Mutter zurückfinden.

Entschlossen stand Meg auf und trug das Manuskript in die Küche. Das ungewohnte Licht der frühen Morgenstunden fiel durch das Küchenfenster und blendete sie, als sie durch den Türrahmen trat. Sie hob das Manuskript vor die Augen und tastete sich durch die Küche. Das Telefon war noch nicht abgestellt worden und so wählte Meg die Nummer ihrer Freundin Alice.

Blut und Wasser

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