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II.

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Dienstag, 10. November 2015

Henrys Finger schlossen sich eng um das Lenkrad seines alten VW. Er war nur mit halber Aufmerksamkeit mit der Straße vor sich beschäftigt und schreckte hin und wieder hoch, wenn der in die Jahre gekommene Phaeton auf der unebenen Straße sacht ins Schlingern geriet. Die andere Hälfte seiner Konzentration galt der Frage, ob er mit seinem Verhalten seiner Karriere den letzten Sargnagel verpasst hatte. Vor einigen Tagen hatte seine Mutter ihm die Kopie eines unleserlichen Dokuments übergeben, das ihr eine Freundin per Fax zugesendet hatte. Die altertümliche Versandart hatte die Lesbarkeit des Dokuments nicht gerade verbessert und so hatte er Mühe gehabt, die Schrift zu entziffern und den Inhalt zu transkribieren. Die Freundin seiner Mutter behauptete, den Beweis für einen Mord gefunden zu haben. Sie selbst wollte nichts mit der Polizei zu tun haben und hatte Henrys Mutter das Versprechen abgenommen, sie als Quelle geheim zu halten. Zuerst war Henry nicht bereit gewesen, seine Zeit den unkonkreten Hinweisen einer Fremden zu widmen, die nicht einmal willens war, diese persönlich zu präsentieren. Erst durch das einhellige Bitten seiner Mutter hatte er seine Meinung geändert. Nun war er auf dem Weg in den Norden und folgte einer Straße, die an vielen Stellen eher einem Waldweg glich und hinter jeder Kurve die Gefahr barg, von einem Hirsch oder Wildschwein in den Graben gedrängt zu werden. Die schmale Fahrbahn war gesäumt von dichtem Wald, bestehen aus den höchsten und dicksten Nadelbäumen, die Henry je mit eigenen Augen gesehen hatte. Vor etlichen Kilometern war das Dörfchen Argos als nächster Ort ausgewiesen worden, doch die auf dem Schild angezeigte Zahl der Kilometer war durch die Witterung so stark verblichen, dass Henry keine Vorstellung hatte, wie lange er noch unterwegs sein würde. So fragte er sich immer wieder, ob er die magische Abfahrt zur Stadt verpasst haben könnte. Kurz bevor er bereit gewesen wäre umzudrehen, wurde der Baumbestand lichter und die ersten Gebäude erschienen am Straßenrand. Henry passierte einige kleinere Abzweigungen, die zu Privatgrundstücken zu führen schienen und steuerte den Phaeton dann schließlich auf den Marktplatz von Argos. Er parkte den Wagen vor dem einzigen Gebäude, das aussah, als könnte es ein wenig Leben beherbergen und machte sich auf die Suche nach dem Polizeirevier.

Das Revier bestand aus einem Büro, in dem zwei Schreibtische einander gegenüberstanden und einer kleinen Zelle, die jedem Western als Kulisse hätte dienen können. Henry war sofort klar, dass die Verbrechensrate in dieser Stadt keine größere Polizeistation erforderte. An einem der Schreibtische saß ein älterer Mann in einer grauen Uniform, die um die Bauchregion etwas zu eng zu sein schien. Vor ihm auf dem Schreibtisch stand eine dampfende Tasse Kaffee, die Füße hatte er auf der Tischkante platziert, während er in seinen Händen ein dickes Taschenbuch mit schwarzem Einband hielt.

„Interessante Lektüre?“

Der Kollege sah von seinem Buch auf und musterte Henry mit kritischem Blick. Henry war in zivil gekleidet und trug auch seinen Dienstausweis unter dem Anorak versteckt.

„Gnarrgh. Eher weniger.“ Er legte das Buch beiseite und setze die Füße auf den Boden. Ohne sich aus dem Stuhl zu erheben, warf er Henry erneut einen skeptischen Blick zu. „Wenn Sie sich verfahren haben, gibt es keinen anderen Weg hier raus als umzudrehen und den gleichen Weg zurückzufahren. Die Straße führt nicht weiter nach oben.“

Henry ging zwei weitere Schritte auf die Schreibtische zu und öffnete dabei die Jacke, um seinen Dienstausweis aus der Tasche zu fischen. „Ich bin in dienstlicher Sache hier. Ich ermittle in der Mordsache Kasper. Sind Sie der leitende Kommissar hier?“

Der Mann nickte und lehnte sich in seinem Stuhl wieder zurück. „Kasper? Der Fall ist über 20 Jahre alt und ist kalt wie ein nackter Arsch im Januar. Außerdem ist gar nicht gesagt, dass da Verbrechen im Spiel war.“

„Mir liegen neue Beweise vor, die stark in diese Richtung deuten. Diesen sollte auf jeden Fall nachgegangen werden. Kann ich in dieser Sache auf Ihre Unterstützung zählen? Ich müsste die Orte besichtigen, an denen das Opfer sich zuletzt aufgehalten hat. Je schneller ich das machen kann, desto schneller bin ich auch wieder weg.“

„Nä!“ Der Kommissar schüttelte den Kopf. „Nächste Woche. Frühestens.“

„Das wird nicht gehen.“ Er wollte es vor dem Kommissar nicht zugeben, aber sein Aufenthalt in Argos unterlag einem strengen Zeitlimit. Zwei Wochen hatte sein Chef ihm gewährt, bevor er wieder zurück sein musste, oder er konnte seinem Job auf Wiedersehen sagen. „Gibt es eine Mögl …“

„Hör mal gut zu, Jungchen. Wenn ich sage, in einer Woche, dann heißt das auch eine Woche. Der Kollege ist in die große Stadt gefahren, weil sein Vater im Sterben liegt. Bevor der nicht verbuddelt ist, bin ich hier allein und hab keine Zeit, für auswärtige Schnüffler den Fremdenführer zu spielen. Verstanden?“ Er hatte das Buch auf den Tisch geknallt und dabei einige Tropfen des heißen Kaffees auf der Schreibtischunterlage verteilt. Fluchend machte er sich daran, die umherliegenden Papiere vor der dunklen Flut zu retten. Henry sah keine Chance, den Mann umzustimmen und beschloss seine Taktik zu ändern.

Fünf Minuten später stand Henry erneut auf dem Marktplatz mit nicht viel mehr Unterstützung als einer groben Skizze der Stadt, die als Karte wohl nicht mehr taugen würde, als Henrys eigener Orientierungssinn. Er zerknüllte das Papier und ließ es in der Tasche seiner Jacke verschwinden. Als nächstes wollte er versuchen, seine Informationen aus erster Hand einzuholen. Mit einem zugegebenermaßen frühen Feierabendbier im Blut sprach es sich mit den meisten Zeugen viel leichter.

Das Nine war eine dunkle, kleine Kneipe. Der Gastraum breitete sich länglich nach hinten aus und bestand hauptsächlich aus der Theke und den daran angelehnten Männern in Flanellhemden und Stahlkappenschuhen. Im hinteren Teil des Raums konnte Henry ein paar Nischen entdecken, von denen die meisten jedoch unbesetzt waren. Der Gesprächspegel war nicht besonders hoch und so konnte man ohne viel Anstrengung den Tönen von CCR lauschen, die aus den Lautsprechern über der Theke klangen. Henry nahm am vorderen Ende der Bar Platz und beobachtete unauffällig die restlichen Gäste, die meist stumm ihr Bier schlürften. Der Barmann war ein runder Kerl, der seine besten Jahre längst hinter sich gelassen hatte. Im Gegensatz zu den restlichen Einwohnern der Stadt ließ sich an ihm die Restbräune eines heißen Sommers ablesen. Er sah Henry mit offenen Augen an und wartete auf seine Bestellung.

„Bier. Vom Fass.“

„Essen?“

„Was steht zur Auswahl?“

„Bratkartoffeln.“

Henry nickte und der Barmann verschwand, um die Bestellung an die Küche weiterzugeben. Einer der Männer an der Bar hatte Henry bemerkt und musterte ihn über sein Bierglas hinweg. Henry schenkte dem Mann ein Lächeln und konnte nicht umhin den leichten Geruch nach Wurst und Fleisch zu bemerken, den der Mann verströmte. Henry hob einladend das Bierglas, das der Barmann vor ihm abgestellt hatte. Schließlich meldete sein Gegenüber sich zu Wort.

„Sie kommen zu spät. Die Beerdigung ist schon vorbei. Und zu erben gibt es auch nichts. Das hat alles die Tochter eingestrichen.“

Henry war verwirrt. „Die Tochter von Kasper?“

„Kasper? Nein, Oskar. Kaspers Onkel.“ Der Mann stieg von seinem Hocker herunter und näherte sich Henry am Ende der Bar. Er war wahrscheinlich jünger, als er aussah. Das wettergegerbte Gesicht wurde von einem Dreitagebart gerahmt. „Aber, wenn Sie wegen Kasper hier sind, ist es mehr als ein paar Tage zu spät.“ Er lachte und einige der Männer an der Bar stimmten müde mit ein.

„Was ist denn passiert?“ Henry nutzte die Offenheit des Mannes, um einen Einstieg in ein Gespräch zu finden.

„Das ist schon über 20 Jahre her. Ist eines Tages verschwunden und nie wieder aufgetaucht. Auto, Geld und seine Jungs. Hat er alles dagelassen. Ist wahrscheinlich betrunken ins Moor gewandert und da versunken. Leiche hat man nie gefunden. Oder irgendwas von ihm.“

„Kasper jetzt?“

Der Mann nickte und ließ dabei den Kopf einige Male zu oft auf und ab wippen. „Ja, Oskar ist letzte Woche gestorben. Im Schlaf davongewandert. Hat wohl nichts gespürt, sagt der Arzt.“

Henry nickte verständnisvoll und stelle sich darauf ein, viele Informationen zu erhalten, nach denen er nicht gefragt hatte. „Und Oskar hat eine Tochter. Und Kasper hat einen Sohn?“ Henry wusste bisher nur wenig über Kaspers Familie und auch die Existenz eines verstorbenen Onkels und einer erbenden Cousine war ihm neu. Die Hoffnung keimte in ihm auf, dass Kaspers Sohn oder seine Cousine noch in der Nähe lebten.

„Söhne. Mehrzahl. Drei insgesamt. Alle noch kleine Kinder, als der Alte abgehauen ist.“

Der Mann, der Henry am nächsten saß, erhob sich langsam und legte seinem redefreudigen Kollegen den Arm um die Schultern.

„Übertreib mal nicht, Virgil.“ Er setzte das Bierglas, das er immer noch in der Hand hielt, an die Lippen und ließ den Rest des Inhalts in seinem Hals hinunterwandern. Schließlich stellte er das Glas auf die Theke und richtete seinen Blick auf Henry. „Wer ist der Kerl überhaupt, dem du hier die geheime Stadtgeschichte erzählst?“ Sein Blick zeugte von Misstrauen und mit einem Nicken in Henrys Richtung machte er deutlich, dass er von Henry ein Pfand für Informationen erwartete. Henry stand auf und streckte den beiden die offene Hand entgegen. „Henry.“ Mit flinken Fingern der linken Hand zog er die Polizeimarke aus der Tasche und hielt sie seinen Gegenübern entgegen, ohne ihnen viel Zeit zu geben, diese genauer zu begutachten. „Ich ermittle im Mordfall Kasper.“

Virgil und sein Kollege sahen Henry für einen kurzen Moment schweigend an und brachen dann in schallendes Gelächter aus. „Na, dann viel Glück. Da wirst du aber mehr brauchen, als Virgils alte Geschichten hier.“ Henry beschloss gute Miene zum bösen Spiel zu machen und schloss sich leise dem Gelächter an.

„Ich weiß, dass es fast aussichtslos ist, aber was soll man machen. Job ist Job.“ Er zuckte mit den Schultern und ließ sich wieder auf dem Barhocker nieder. Die beiden Männer warfen sich daraufhin einen amüsierten Blick zu und machten dann den Weg zwischen sich frei, um Henry zu einem der Tische zu lotsen. „Dann werden wir dir mal die ganze Geschichte erzählen. Ich bin übrigens Heston.“ Er schlug Henry auf die Schulter und zwang ihn so, sich auf einem der klapprigen Stühle niederzulassen.

„Also, angefangen hat alles mit dem Tod von Rebecca, Kaspers Frau.“ Heston nahm einen tiefen Schluck aus dem Bierglas, das der Barmann ungefragt vor ihm abgestellt hatte. „Seine Stimmungsschwankungen wurden …“

„Nein, du musst mit Kasper als Kind anfangen. Sonst versteht der Junge doch gar nichts.“

„Ach was. Das wird er schon verstehen. Scheint ja n schlaues Bürschchen zu sein.“ Lachend schlug Heston Henry erneut auf die Schulter und drückte ihn noch tiefer in seinen Stuhl.

„Aber die Geschichte ist so kompliziert. Du musst am Anfang anfangen.“ Virgil sah sein Gegenüber mit glasigem, aber bestimmtem Blick an. Seine linke Hand umklammerte die Bierflasche, während die andere zu einer Faust geballt auf dem Tisch ruhte.

„Okay, okay.“ Heston lächelte seinen Freund gutmütig an. „Wir beginnen ganz am Anfang.“

Nach einem weiteren Schluck aus dem Humpen begann Heston zu erzählen und wurde dabei nicht wenige Male von Virgil unterbrochen, der den Geschichten dramatische oder komische Details hinzufügte. Wäre sein Interesse am Inhalt des Berichts nicht beruflicher Natur gewesen, hätte Henry sich mit Freuden zurückgelehnt und sich von dem erstaunlich unterhaltsamen Schauspiel berieseln lassen. Aber stattdessen versuchte er angestrengt, aus den verschiedenen Momenten und Bildern, die ihm die beiden lieferten, den Gesamtzusammenhang herauszufiltern. Nach einer Zeit, in der sich das Pub erst gefüllt und dann wieder geleert hatte, glaubte er, endlich die Familiengeschichte in groben Zügen verstanden zu haben.

Die Brüder Uther und Oskar hatten schon immer in der Region gelebt. Ihre Familie war in langer Tradition im Handel tätig und hatte alles verkauft, was man sich vorstellen konnte: Land, Vieh, sogar Sklaven und Schmugglerwaren waren darunter gewesen. Mit der Zeit wurden die Strukturen immer chaotischer und das Geschäft wurde zerschlagen. So waren Uther und der jüngere Oskar die ersten, die nicht gezwungen waren, in das Familienunternehmen einzusteigen. Uther beschloss daraufhin, sein Glück im Torf- und Holzhandel zu versuchen, während Oskar sich zum Künstler emporhob. Das Verhältnis zwischen den Brüdern war auch zuvor nicht besonders gut gewesen, aber diese Entscheidung hatte Uther seinem Bruder nie verziehen und so trennten sich ihre Wege endgültig. Obwohl sie das geerbte Land aufteilten, lebten sie wie Fremde nebeneinander.

Von einer Reise, um einige entfernte Verwandte zu besuchen, kam Uther eines Tages mit Gertie nach Hause. Sie war eine entfernte Cousine der Brüder und offenbar hatte sie Uther gut genug gefallen, um sie sofort zu heiraten. Zahlreiche Gerüchte von vorgetäuschten oder realen Schwangerschaften und Blutspakten zwischen den Familien gingen damals um. Manche meinten auch, Gertie sei das Pfand für den Erlass von Schulden gewesen. Die Wahrheit hierüber kannten auch die beiden Kneipenpoeten nicht und nach ihrer Aussage sollte man sich besser hüten, Uther danach zu fragen. Die Ehe der beiden war, wie Uthers gesamtes Leben, nicht vom Glück gezeichnet. In seinen Gewaltaktionen ließ er auch dann nicht von Gertie ab, wenn diese schwanger war. In den ersten sieben Jahren der Ehe hatte sie zahlreiche Fehlgeburten und gebar drei missgebildete Kinder, die allesamt von Uther verstoßen wurden. Im achten Jahr der Ehe wurde schließlich Kasper geboren. Niemand weiß genau, wie es dazu kam, dass er gesund zur Welt kam und es wurde in der Stadt heimlich als Wunder gefeiert. Von da an änderte sich offensichtlich das Kräftegefüge zugunsten von Gertie. Da Uther Kasper als seinen Erben akzeptiert hatte, nutzte Gertie ihn als Schutzschild, um sich vor den Attacken ihres Mannes zu schützen. Uther verlagerte seine Wut auf seinen Sohn und verprügelte den Jungen, wann immer er sich schützend vor seine Mutter stellte.

„Und in der Stadt hat das keiner mitbekommen?“ Henry sah die Erzähler skeptisch an und schob seinen leeren Teller von sich weg.

„Alle wussten davon. Die ganze Stadt.“ Hestons Sicht wirkte verschwommen und sein Blick wanderte in eine unsichtbare Ferne. Schließlich folgten seine Augen für einen kurzen Moment den Fingern, die den Kreis aus Kondenswasser auf dem Tisch nachzeichneten. Dann blickte er auf und fixierte Henry mit festem Blick. „Ich selbst war damals noch ein Kind, aber mein Vater hat für den alten Uther gearbeitet. Baumstämme transportiert hat er. Ein Knochenjob, aber das einzige, was meine Mutter und uns fünf Jungs am Leben gehalten hat. Dumm wäre er gewesen, das für eine Familiengeschichte zu riskieren.“ Heston griff nach seinem Bierglas und nahm einen beherzten Schluck, während Henry in Virgils Augen nach weiteren Antworten suchte. Dieser zuckte nur mit den Schultern und überließ Henry seinen Zweifeln.

„Besser wurde es erst nach dem Unfall.“

„Unfall?“ Henry stutzte. Bisher hatten die Männer ihm nur Hintergrundwissen geliefert, aber nichts, das mit einer Straftat oder gar einem Mord in Verbindung stand.

„Ja, man weiß nicht so genau, was passiert ist, aber Uther sitzt seitdem im Rollstuhl. Ist nicht so leicht, den Jungen zu verdreschen, wenn du nicht mal alleine zum Scheißen gehen kannst.“ Heston lachte und Virgil stimmte mit ein. Auch Henry rang sich ein Lächeln ab und gönnte den beiden Männern diesen Moment, um sich aus der drückenden Stimmung aus Schuld und Schande herauszuwinden. Seine eigene Enttäuschung lag ihm schwer im Magen. Er zweifelte mittlerweile daran, dass seine Tischgenossen etwas Produktives zu seinem Fall beizutragen hatten.

„Jedenfalls, irgendwann hat Kasper dann Rebecca geheiratet. Auch eine Cousine. Eine entfernte zumindest.“ Virgil kratzte sich am Kopf. „Das ist nicht selten hier in den Bergen. Die meisten Stadtweiber wollen ja nicht hierhin ziehen, mit ihren Schuhen und ihren kleinen Hunden.“ Er lachte erneut und nahm noch einen Schluck aus seiner Flasche. „Dann wurden irgendwann die Jungs geboren. Zeke und Han. Und später der kleine Philipp. Dann war Kasper plötzlich verschwunden und Rebecca ist auch gestorben. Oder war es andersherum?“ Virgil kicherte. Sein Alkoholpegel hatte ihn eingeholt und seine Augenlider wurden zu schwer, um sie länger als ein paar Sekunden offen zu halten. Henry warf einen Blick auf die Uhr. Der verdunkelte Raum des Pubs hatte verschleiert, wie schnell die Zeit vorangeschritten war. Die Uhrzeit näherte sich Mitternacht.

„Erst ist Rebecca gestorben, dann ist Kasper abgehauen. Da waren doch Jahre dazwischen.“ Heston hielt sich weitaus besser auf den Beinen als sein Kollege. Er saß aufrecht auf seinem Stuhl und sah Henry finster an. Henry erkannte die Gelegenheit und nutzte die Chance zum Abschied.

„Vielen Dank für die Informationen. Ich sollte mich langsam auf die Suche nach einem Hotelzimmer machen.“ Auf dem Weg nach draußen suchte er einige Scheine aus seinem Portemonnaie und legte sie auf der Theke ab. Er hoffte, dass das Geld wenigstens für ein paar Biere der Männer reichen würde. Er bezweifelte, dass man ihm hier eine haltbare Quittung für seine Spesenabrechnung geben konnte und verbuchte die Ausgabe innerlich als Lehrgeld. Der Barmann nahm die Scheine entgegen und nickte in Richtung der Eingangstür. „Etwas weiter die Bundesstraße runter ist ein Motel. Meine Tante leitet den Laden. Sag einfach, ich hätte dich geschickt, dann gibt sie dir das beste ihrer ranzigen Zimmer.“ Er lachte kurz und wandte sich dann wieder den Gestalten an der Bar zu. Henry griff nach seiner Jacke und hob die Hand zur Verabschiedung. Virgils Kopf ruhte auf seinem Handteller. Seine Augen waren geschlossen und auch Heston brachte nicht mehr als ein Grunzen über die Lippen. Ohne ein weiteres Wort verließ Henry schließlich das Pub.

Vor der Tür schlug ihm der kalte Novemberwind unerbittlich ins Gesicht. Als er wieder in seinem Auto saß, ließ er das Erzählte noch einmal durch seine Gedanken gleiten. Langsam wurde ihm klar, dass er sich hier in die chaotischen Stränge einer Familiengeschichte begeben würde und wenn er nicht vorsichtig war, war die Gefahr groß, dass er sich an einem der Stricke selbst erhängte.

Blut und Wasser

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