Читать книгу Der Tag an dem Bella verschwand - DIE KERNFORSCHER Klemm und Sealey - Страница 5

Kapitel 1: James! James! James!

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Neun Stunden zuvor...

„James. James. James...“

„Mum?“

„Ich habe Dich gefragt, ob Du an den dünnen Gürtel gedacht hast...“

„Aber Mum, ich...“

„Du weißt doch: Den mit der silbernen Schnalle. Der passt hervorragend zur hellen Hose und macht in jeder Situation was her.... Du trägst doch die helle Hose, my Dear, nicht wahr?“

„Mum!“ James zog eine gehörige Menge Luft durch seine Nase. Dabei ließ er zweimal die Augen rollen. Doch das konnte seine Mutter Mary am anderen Ende der Leitung natürlich nicht sehen. Und hätte sie es gesehen, so hätte sie ganz bestimmt so getan, als hätte sie es eben doch nicht gesehen. So war das nun mal: James konnte sagen was er wollte, tun was er wollte – oder es auch lassen, seine Mutter hatte immer das letzte Wort.

James versuchte mit der einen Hand die zwei Scheiben Toast zu bremsen, die – so schien es ihm – heute irgendwie schneller als sonst aus dem Toaster sprangen. Mit der anderen zog er seine Hose hoch. Der dünne Gürtel, von dem eben noch die Rede gewesen war, hing hinter ihm an einem kleinen Haken an der Küchenwand – gemeinsam mit seinem Jackett, einem frisch gebügelten, rosafarbenen Hemd nebst dazu passendem Einstecktuch und einem bräunlichen Schlips. Das Set – wie Mary die Kombination nannte – hatte sie extra für diesen bedeutsamen Tag am Abend zuvor zusammengestellt. Keine Frage: Alles war bis ins Kleinste geplant. So wie eigentlich alle Tage in James Leben. Und seine Mutter Mary hatte einen nicht unbeachtlichen Anteil daran.

Auf dem Frühstückstisch – zwischen dem noch leeren Teller, der grünen Zuckerdose und dem großen Glas englischen Ingwer-Gelees, das Mary ihm alljährlich unter den Weihnachtsbaum stellte – lag James iPhone, auf Lautsprecher gestellt. Eben hatte er es geschafft, die Hose zu schließen und seinen heißen Toast auf den Teller zu bugsieren, da füllte Marys Stimme erneut den Raum: „Viel zu laut“, dachte James insgeheim und meinte damit nicht nur die Einstellung des Handys...

„James. Wenn Du mich nicht hättest...“, rief Mary durch den Lautsprecher und machte eine Pause, die man in ihrer Länge durchaus als theatralisch bezeichnen konnte. Ihm war klar, dass es nun an ihm war ihr beizupflichten – ja, sie sogar noch zu bestärken. Seine Rolle wäre es zu sagen, dass sie ja mit allem Recht habe und er sich wie der Abglanz ihrer Güte fühle. Doch ganz so war das eben nicht. Eigentlich war es sogar ziemlich anders... Doch das verschwieg James ihr lieber. Stattdessen rang er sich wenigstens ein „Du hast ja Recht, Mum, aber...“ ab. Doch weiter kam er gar nicht. Denn gerade so als hätte er, auf einem wackeligen Fahrrad sitzend, ihr im großen Truck die Vorfahrt gelassen, nahm sie sich sofort wieder den Raum, den sie in ihrer Beziehung beanspruchte. James blieb nichts anderes übrig, als mit ein paar genervten Messerstrichen Gelee auf den Toast zu befördern, während ihre jetzt doch schon etwas schärfer werdenden Kommandos aus dem Smartphone schallten.

„Hast Du Bella gewaschen?“ dröhnte ihre Stimme.

„Wie bitte?“ kaute James zurück und verschluckte sich fast an seinem Toast.

„Ob Du den Hund gewaschen hast, frage ich. Du weißt, so was kann am Ende über den Erfolg des ganzen Tages entscheiden: Ist Bella sauber?“ bellte Mary nun selbst fast wie ein aufgebrachter Hund.

„Ja doch“, lenkte James um des lieben Friedens Willen ein. „Wir waren gestern in der Badewanne. Sie riecht wie eine Blumenwiese.“

Doch seine Mutter war gar nicht zum Scherzen aufgelegt – wie immer eigentlich. „Wir? Aber James...“, empörte sie sich.

„ Das war ein Spaß, Mum“, wiegelte James ab. Die nächsten fünf Sekunden verbrachte er damit auf sein Handy zu schauen und zu warten. Immer diese langen Pausen, dachte er sich. Dann hallte ihre Stimme erneut durch den Raum, wurde von der gelb gekachelten Küchenzeile zurückgeworfen und drang womöglich sogar bis zur Nachbarwohnung durch: „Ein Bridge scherzt nicht!“ Wobei sie sich ganz offensichtlich Mühe gab, trotz ihrer Erregung jedes Wort einzeln zu betonen.

James kannte Marys Lieblingsmotto nur zu gut. Lautlos formten seine Lippen den Satz mit: „Ein Bridge weiß sehr wohl, wann die Lage ernst ist.“

„Aber Mum, es handelt sich doch nur um ein Meeting. Eine Präsentation. Ich glaube nicht...“ Und schon fuhr ihm Mary wieder ins Wort, ohne im Entferntesten darauf zu warten, was ihr Sohn nun zu glauben beliebte. Nein, viel lieber setzte sie ihre To-Do-Liste fort und zwang ihn mit ihrem gekonnten Frage-und-Antwort-Spielchen dazu, sich ständig zu rechtfertigen. Und wie jeden Morgen führte genau das dazu, dass James hinter seinem straffen Zeitplan hinterherzuhinken begann. Die Minuten vergingen. Minuten, die James – so fühlte es sich zumindest an – dann den ganzen Tag über würde aufholen müssen.

Nun folgte das, was er im Geiste den Ping-Pong-Flow nannte, denn auch seine Mutter bemerkte natürlich, dass die Zeit zunehmend knapp und James immer nervöser wurde. Also beschleunigte sie die Prozedur nun ihrerseits:

„Aktentasche?“

„Gepackt.“

„Unterlagen?“

„Bereit.“

„Pausenbrot?“

„Aber Mum, ich bin doch keine fünf Jahre alt!“

„Pausenbrot habe ich gefragt!“ Und wie immer gab James an dieser Stelle auf und fügte sich in das Schicksal der allmorgendlichen Prozedur.

„Ja, ja. Ich hole mir dann unterwegs was“, spulte er seine obligatorische Antwort ab und war wirklich froh, dass Mary nicht da war, um ihm beschmierte Brote, Äpfel und eine Milchtüte zuzustecken. Wie hätte das im Verlag ausgesehen? Herr Bridge mit einer Lunch-Box – am besten noch mit Tiermotiven drauf. James musste grinsen, aber so lustig fand er den Gedanken eigentlich gar nicht.

„James, es soll heute regnen. Hast Du Deinen Schirm dabei?“, war Mary schon beim nächsten Punkt.

„Mum, ich habe gar keinen Schirm!“, wollte sich James aus dem Kommando stehlen.

„Doch James, Du hast einen. Im Kleiderschrank, hinten links – da, wo Du ihn versteckt hast“, konterte Mary.

„Ja, ja. Den nehme ich mit.... Mum, ich muss jetzt wirklich los. Ich lege jetzt auf...“, James zog die Reißleine.

„Aber James...“

„Wir können auch später noch mal telefonieren...“, würgte er seine Mutter ab.

„Aber bevor Du rein gehst, James!“

„Ja Mum“.

„James. James. James“, entfuhr es Mary noch einmal und man konnte förmlich hören, wie sie sich ob der ganzen Aufregung frische Luft zu fächerte.

„Mum, Mum, Mum“, gab James reflexhaft zurück. Es gab Nichts, was er jetzt noch mit ihr hätte diskutieren wollen. „Also, bis später...“, und bevor seine Mutter noch etwas erwidern konnte, hatte er schon die Hand am iPhone und beendete das Gespräch. Marys Bild, das sie höchst persönlich eingespeichert hatte, verschwand vom Display. Und zum ersten Mal an diesem Morgen hatte James das Gefühl frei durchatmen zu können. Er schaute zur runden Wanduhr über der Küchentür.

7:40 Uhr

Noch sieben Minuten bis die U-Bahn in Richtung Innenstadt abfuhr. Die ersten beiden nutzte James, um wieder runter zu kommen. Er schaute aus dem Küchenfenster auf den Hinterhof und kaute. Ein Taubenpärchen saß, die Köpfe im aufgeplusterten Gefieder versteckt, eng zusammengeschmiegt im Baum gegenüber. James atmete tief durch, ließ den letzten Bissen Toast verschwinden und schnappte sich auf dem Weg ins Arbeitszimmer sein Smartphone.

Seine Wohnung bestand nur aus drei Räumen: Aus der recht geräumigen Küche, in der er sich am liebsten aufhielt. Aus dem viel zu klein geratenen Schlafzimmer, das gerade Platz für ein schmales Bett ließ. Und aus seinem Arbeitszimmer. Letzteres wäre unter anderen Umständen vielleicht ein gemütliches Wohnzimmer geworden. Es lag nach hinten, zum ruhigen Hof raus und war dank der großen Fensterfront hell und freundlich.

Aber eben nur unter anderen Umständen. Denn James war nun mal kein Gemütlichheimer, sondern ein echtes Arbeitstier. Ein Workaholic, hätte man noch vor einiger Zeit dazu gesagt. Doch in diesen Zeiten hielt man sich mit solchen Beschreibungen lieber zurück. Viel wichtiger war, dass er Arbeit hatte. Der Rest war Work-Life-Balance oder wie man das jetzt nannte. Und, na ja, die Balance stimmte irgendwie. Auch wenn das bedeutete, dass es so etwas wie Freizeit eigentlich gar nicht gab in James Leben. Im Gegenteil. Oft nahm er sich die Arbeit mit nach Hause und saß noch Stunden vor dem Rechner, recherchierte im Internet oder bereitete - wie gestern Nacht - Präsentationen vor. Wenn man darunter irgendwie auch Balance verstehen konnte, na, dann hatte er es doch ganz gut getroffen.

Noch fünf Minuten... James überprüfte kurz den Inhalt seiner ledernen Arbeitstasche (natürlich von Mary ausgewählt), lief dann vom Arbeitszimmer wieder zurück in die Küche, schnappte sich die Kleiderschutzhülle mit „dem Set“ und wollte gerade ins Schlafzimmer zum Kleiderschrank, um... Aber der Schirm sollte heute ruhig bleiben, wo er war! James schaute sich um: „Bella?“, rief er vom Flur aus in sein Arbeitszimmer, während er sich einen Mantel überwarf.

Nach ein paar Sekunden schaute ein verträumter Hundekopf neben dem Sofa hervor. Die Ponyfransen noch vom Schlaf zerzaust, die Augen müde, aber doch interessiert. „Beeilung! Los geht´s!“, versuchte James seine schon etwas betagte Hündin anzufeuern. Die ließ sich aber um Nichts in der Welt aus der Ruhe bringen. Genüsslich reckte und streckte sie erst die Hinterläufe, dann die Vorderbeine, um ihn schließlich – leicht benommen und sich auf ihren etwas zu dicken Hundehintern setzend – anzugähnen, was sich immer wie das Quietschen einer rostigen Tür anhörte.

„ Komm schon!“, drängelte James und hörte sich dabei fast wie seine Mutter an. Ein letzter Kontrollblick in den Flurspiegel, noch einmal die dunklen Locken aus der Stirn gestrichen – noch vier Minuten...

„Tasche. Geld. Handy. Hund. Anzug. Ich glaube, wir sind komplett. Was meinst Du?“, murmelte James mehr zu sich, als zu Bella. Doch die mittelgroße Griffon-Mischlingsdame schaute ihn nur etwas erstaunt von der Türschwelle an. Sie konnte von Glück reden, dass sie James jeden Tag in den Verlag begleiten durfte. Also, zumindest redete James sich das ein. Und als er die Tür öffnete, schlüpfte sie mit erstaunlicher Geschwindigkeit an ihm vorbei, schnupperte in den Hausflur hinaus und wedelte mit ihrem kurzen Stummelschwänzchen, als freue sie sich riesig auf den Tag, der da vor ihnen lag.

„Ach, die Leine...“, James griff zur Garderobe und angelte sich die Lederleine. Dann schloss er die Tür hinter sich, drehte den Schlüssel drei Mal herum – und lief los. Bella hinterher.

„So, jetzt aber...“, James war in dem Dauerlauftempo angekommen, das seine Tage bestimmte.

Als James und Bella aus der Haustür auf die belebte Straße traten, blieben den beiden noch genau zwei Minuten bis ihre U-Bahn abfuhr. James fing an – wie jeden Morgen – die Sekunden zu zählen. Bella lief – wie jeden Morgen – schnurstracks auf ihren Lieblingsbaum zu.

„Komm jetzt!“, blaffte James sie an, was ihm aber noch im selben Moment leidtat. Er wusste, dass es nicht viel brachte, dem Hund die Situation zu erläutern. Nicht, weil dieser kein Verständnis für seine Sorgen hatte. Denn das war noch gar nicht erwiesen. Nein, er hatte sich die Verspätung ja selbst zuzuschreiben. Er wusste aus Erfahrung, dass er den Weg von seinem Haus in der Alsterdorferstraße bis zum U-Bahnhof Lattenkamp in neunzig Sekunden schaffen konnte.

Und so fing James an rückwärts zu zählen: „Neunzig!“, rief er so laut, dass sich ein älteres Ehepaar nach ihm umdrehte. Doch davon bekam James nichts mit. Er zog Bella an der Leine hinter sich her, während er Fahrt aufnahm. Im leichten Trab lief er vorbei an der Kirche, an dessen Eingang sich eine Gruppe junger Mütter hinter ihren kolossalen Kinderwägen verschanzt hatte. Schnelles Durchkommen war da nahezu unmöglich.

„Achtzig!“ warf James ihnen grimmig zu, was sie jedoch nicht von ihrem Geplauder abhielt. Weiter ging es zum Kiosk an der Ecke, durch den Torbogen, rein in den schmalen Häuserdurchgang. Vorbei am kleinen Literatur-Café. Dann die Treppe runter: „Siebzig!“.

Bella wollte an einem Baum schnuppern, James zog sie weiter. Über die Straße, den Blick auf sein iPhone gerichtet: „Fünfzig. Neunundvierzig. Achtundvierzig...“ zählte er mit, als er sich in die Menschenmenge zwängte, die gerade aus einem Bus vor dem U-Bahnhof quoll.

„Verzeihung. Darf ich? Achtung! Hund. Vierzig!“ James drängte die Menschen mit sanfter Bestimmtheit beiseite und hastete zur Treppe. Er nahm zwei Stufen auf einmal und zwang Bella mit ihren kurzen Beinchen zu Höchstleistungen. „Dreißig“.

Die Bahn war bereits in den Bahnhof eingefahren – zu früh! Wieder kämpften James und Bella gegen eine Menschenmenge, die ihnen nun von oben entgegen kam. „Zwanzig“.

Eine Gruppe von Kindern: Oh je! Zwei ältere Damen schauten sich hilfesuchend um und trugen ihre Fahrräder dann schließlich selbst herunter. Danach folgten drei schwatzende Teenager und eine Handvoll Geschäftsleute, den Blick starr ins Smartphone gerichtet. „Zehn“.

James und Bella waren nun fast oben angekommen. Noch immer drängten Menschen aus der Bahn nach draußen. Andere stemmten sich dagegen, um hineinzugelangen. „Acht!“ Jetzt waren James und Bella oben. Noch wenige Schritte... „Sieben!“

James hörte schon das Signal zum Türenschließen.

„Sechs“. Noch zwei ältere Herren vor ihm.

Bella versuchte Schritt zu halten, wurde aber von einem der Männer beiseite geschubst. Tapfer gab sie keinen Laut von sich. „Fünf“.

Der erste der beiden Männer war drinnen. „Vier“.

Der zweite Herr stieg ins Abteil. „Drei“.

James erreichte die Tür, doch einer der Rentner versperrte ihm den Weg. „Zwei“.

Endlich ging es weiter. „Eins“.

Nun war James drinnen. Hinter ihm schlossen sich die Türen mit einem leisen „Pffft“.

„Null!“ rief James. Die Bahn fuhr los.

James schaute sich zufrieden um. Doch außer zwei kichernden Schülerinnen nahm niemand Notiz von ihm.


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