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I. Einleitung
Оглавление„Deutschland ist, bedingt durch die Umstände des Krieges und der gegenwärtigen Besetzung durch vier Besatzungsmächte, zu einem magnetischen Feld sich überschneidender, divergierender, kultureller und politischer Einflußsphären geworden. Es ist offenbar, daß Reibungen, die an diesen Schnittpunkten entstehen, sich in das Fleisch und Blut unserer materiellen und nationalen Existenz einschneiden müssen. Konflikte der Weltmächte spielen sich zwangsläufig auf unserem Rücken ab. Eine Aufspaltung der Welt in machtpolitische Sphären würde nach sich ziehen eine Aufspaltung Deutschlands. Männer und Frauen guten Willens in allen vier Zonen haben dem Wunsche Ausdruck gegeben, daß Deutschland, anstatt der Zankapfel zwischen den Mächten zu werden, die friedliche Brücke zwischen ihnen werden möge. Es klingt anmaßend: Deutschland – die Brücke zwischen Weltmächten; als ob gerade wir, deren Selbstreinigung nach zwölf Jahren des Absinkens in die Barbarei noch kaum begonnen hat, zu einer weltbedeutenden Mission berufen wären“ (12, S. 4).
Brückenkonzept
Mit diesen einleitenden Bemerkungen zum ersten Heft der Zeitschrift ‚Ost und West‘ wendete sich der Schriftsteller und Journalist Alfred Kantorowicz im Sommer 1947 gegen die einsetzende Ost-West-Konfrontation und das damit verbundene Auseinanderdriften der vier Besatzungszonen. Kantorowicz wurde 1899 als Sohn jüdischer Eltern geboren und war 1931 in die KPD eingetreten. Er hatte Deutschland 1933 verlassen und war nach Frankreich emigriert. Beim Ausbruch des spanischen Bürgerkriegs schloss er sich den internationalen Brigaden an. Im Sommer 1940 floh er schließlich in die USA. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs versuchte er mit der von ihm neu gegründeten Zeitschrift die geistige und politische Teilung Deutschlands zu verhindern. Für einen kurzen Zeitraum gelang es Kantorowicz, insbesondere deutschen Exilliteraten wie etwa Lion Feuchtwanger, Heinrich und Thomas Mann sowie Arnold Zweig ein Forum im Nachkriegsdeutschland zu bieten. Während ihm die sowjetische Besatzungsmacht im März 1947 eine Lizenz erteilte, lehnte dies die amerikanische Militärverwaltung ab. Daraufhin wagte er bei den beiden anderen Besatzungsmächten keinen entsprechenden Vorstoß. Finanzielle Schwierigkeiten schränkten die Handlungsfähigkeit der Redaktion jedoch rasch ein, so dass Kantorowicz resigniert aufgab. Im Dezember 1949 erschien das letzte Heft.
Unmittelbar nach Kriegsende schossen in den vier Besatzungszonen zahlreiche Zeitschriften aus dem Boden. Der Gedanke der Vermittlung zwischen Ost und West hatte darin eine relativ große Bedeutung (7, S. 95). In der US-Zone setzte sich die zweiwöchentlich erscheinende Zeitschrift ‚Der Ruf‘ für einen intellektuellen Brückenschlag über die innerdeutsche Demarkationsgrenze hinweg ein. Das Blatt hatte zwar lediglich eine kurze Lebensdauer, da es mit einer längeren Unterbrechung und einem erzwungenen Wechsel in der Herausgeberschaft auch nur bis 1949 erscheinen konnte. Dennoch war der publizistische Erfolg beachtlich: ‚Der Ruf‘ war mit einer Auflagenhöhe zwischen 20.000 und 70.000 Exemplaren eine der erfolgreichsten Zeitschriften in den ersten Nachkriegsjahren (26, S. 347). Die von Alfred Andersch und Hans Werner Richter herausgegebene Zeitschrift teilte das humanistisch-sozialistische Weltbild von Kantorowicz, vertrat aber im Unterschied zur ostdeutschen Zeitschrift ‚Ost und West‘ eine „eindeutig national-neutralistische“ Grundposition (7, S. 97f.). So schrieb Hans Werner Richter in einem Beitrag:
„[Die junge Generation] kann neu bauen. Sie hat den Sozialismus des Ostens und die Demokratie des Westens im Land. Aus den Erfahrungen mit den beiden Ordnungen kann sie die Quellen der Fehler erkennen, die sie vermeiden muss. Indem sie den Sozialismus und die Demokratie in einer Staatsform zu verwirklichen sucht, kann sie zum Ferment zwischen den beiden Ordnungen werden. Sie muss dort ansetzen, wo die beiden Ordnungen zueinander drängen, sie muss gleichsam den Sozialismus demokratisieren und die Demokratie sozialisieren. So kann diese junge deutsche Generation die Brücke bauen, die vom Westen zum Osten und vom Osten zum Westen führt. Es wird zugleich die Brücke in die Zukunft Europas sein. Denn Europa kann weder ohne Russland noch in einer Blockbildung gegen Russland leben. Deutschland ist nur ein Vorland Russlands. Es liegt in der Mitte zwischen dem Westen und zwischen dem Osten und muss mit beiden leben. Indem es aber die sozialistische Ideologie des Ostens und die demokratische Ideologie des Westens in sich aufnimmt, kann es auf einer höheren Ebene beide in sich vereinen. In dieser Vereinigung kann es zu jener Staatsform der Zukunft finden, die seinem eigenen Wesen und seiner eigenen Entwicklung entspricht. Es wird der Staat sein, den wir als ‚sozialistische Demokratie‘ bezeichnen“ (23, S. 48f.).
gemeinsame deutsche Nachkriegsgeschichte
Im Rückblick erscheinen diese Überlegungen verträumt, idealistisch, ja angesichts der weltpolitischen Entwicklung nach 1945 unrealistisch zu sein. Sie waren – so das gängige Urteil – von Anfang an zum Scheitern verurteilt. In der Historiografie werden die Autoren dieser programmatischen Artikel mit den politischen Verfechtern des sogenannten Brückenkonzepts (Jakob Kaiser) bzw. mit den Neutralisten in enge Verbindung gebracht (26; 7). Diese Meinungsäußerungen können aber auch als Aufruf an die Historiker verstanden werden, endlich eine gemeinsame deutsche Nachkriegsgeschichte zu schreiben und die Entwicklung der Bundesrepublik und der DDR nicht ausschließlich in getrennten, nahezu hermetisch voneinander abgeschiedenen Bahnen zu untersuchen, so wie das nach wie vor fast alle Gesamtdarstellungen der letzten Jahre getan haben. Oftmals ist sogar der politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Entwicklung in der SBZ/DDR bewusst wenig Platz eingeräumt worden. Peter Graf Kielmansegg bekannte sich beispielsweise dazu, ganz entschieden keine Parallelgeschichte der beiden deutschen Staaten geschrieben zu haben. Als Begründung gab er an: „Das mochte bis 1989 angehen. Seit 1989 aber ist klar, dass wir es mit zwei ganz verschiedenen Geschichten zu tun haben, einer mit Zukunft und einer ohne Zukunft“ (13, S. 677). Etwas drastischer formulierte Hans-Ulrich Wehler sein Desinteresse am DDR-Staatssozialismus: „Das Intermezzo der ostdeutschen Satrapie muss aber nicht an dieser Stelle durch eine ausführliche Analyse aufgewertet werden. Man kann es der florierenden DDR-Forschung getrost überlassen“ (27, S. XVf.). Sein Abschlussband der Deutschen Gesellschaftsgeschichte stellt in geradezu idealtypischer Weise eine Kontrastgeschichte der beiden deutschen Staaten dar. Auch in der zehnten Ausgabe des Gebhardt-Handbuchs zur deutschen Geschichte stehen die beiden Bände zur Bundesrepublik bzw. zur DDR völlig unvermittelt nebeneinander (33; 2). Die Autoren und Herausgeber bieten dem Leser nicht einmal eine konzeptionelle Begründung zur geteilten Darstellung des geteilten Landes an. Nur Edgar Wolfrum verweist stichwortartig in wenigen Zeilen auf die unterschiedlichen Ansätze, die eine Einbeziehung der DDR in eine deutsche Nachkriegsgeschichte anstreben, um sich dann ausführlich den bekannten Deutungsmustern zur Einordnung der bundesrepublikanischen Geschichte zu widmen (33, S. 67). Eckart Conze beschränkt sich wiederum in seiner Gesamtdarstellung ganz auf Westdeutschland (5). Die Geschichte der DDR gerät bei ihm erst ins Blickfeld, wenn es darum geht, die komplexen Anpassungsprozesse zwischen Ost und West nach der Wiedervereinigung 1990 zu beschreiben. Dabei hätte Conzes erkenntnisleitende Perspektive, die Geschichte der Bundesrepublik unter dem Blickwinkel der Suche nach Sicherheit zu betrachten, grundsätzlich auch im Hinblick auf den ostdeutschen Teilstaat diskutiert werden können. So bleibt die Geschichte der SBZ/DDR in der Tat eine Fußnote der Geschichte, auch wenn der Autor einleitend betont, dass nicht nur die westdeutsche, sondern auch die ostdeutsche Vergangenheit von Belang sei, „denn auch sie reicht in Millionen von Biographien bis in die Gegenwart hinein“ (5, S. 14).
„Zusammenbruchgesellschaft“
Dabei waren nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs die Gemeinsamkeiten zwischen den drei Westzonen und der SBZ enorm. In der Forschung wird nahezu einhellig die Meinung vertreten, dass die Deutschen trotz bestehender Ungleichheiten in einer „Zusammenbruchgesellschaft“ lebten (14, S. 37). Zunächst einmal war fast alles zusammengebrochen, woran viele Deutschen lange Zeit geglaubt hatten: das Deutsche Reich, das erst 1947 von den Alliierten aufgelöste Preußen und der Nationalsozialismus (6, S. 9). Den weit verbreiteten Glauben, ein Kulturvolk zu sein, hatte Auschwitz nachhaltig erschüttert. Aus dem totalen Krieg war eine totale Niederlage geworden. Die bedingungslose Kapitulation besiegelte das Schicksal Deutschlands. Darin bestand der wesentliche Unterschied zwischen dem Kriegsende 1945 und dem Ende des Ersten Weltkriegs 1918. Bei näherer Betrachtung lag das Land aber nicht vollständig in Trümmern. Obwohl die Kriegszerstörungen durch den Bombenkrieg und die zum Teil katastrophalen Lebensbedingungen in den städtischen Ballungsgebieten den Anschein eines totalen Zusammenbruchs erweckten, muss doch festgehalten werden, dass die Kriegsfolgelasten höchst ungleich verteilt waren: zwischen Stadt und Land, zwischen Lebensmittelproduzenten und Konsumenten oder zwischen alteingesessener Bevölkerung und Vertriebenen und Flüchtlingen. In dieser Hinsicht spielten aber die politischen Grenzen der einzelnen Besatzungszonen keine herausragende Rolle. Schon bei den Zeitgenossen setzte sich bald die Wahrnehmung durch, dass das Alltagsleben trotz vielfältiger Strukturprobleme (z.B. Ernährungslage, Wohnungsnot, demografische Verwerfungen) erstaunlich schnell wieder funktionierte (6, S. 9f.).
Angesichts der aktuellen Debatten über transnationale Geschichte und global history scheint es auf den ersten Blick altbacken zu sein, sich ausschließlich mit der Geschichte Deutschlands nach 1945 zu beschäftigen. Die Forderung, die deutsche Geschichte nicht isoliert zu betrachten, sondern über den Tellerrand zu schauen, wurde erstaunlicherweise nur in Bezug auf die DDR erhoben (19, S. 769) und hat vor einigen Jahren eine Kontroverse ausgelöst (3; 20; 21). Auf der anderen Seite sind diese Forderungen von der Geschichtswissenschaft bislang noch kaum eingelöst worden. Das zeigen jedenfalls die bisher vorliegenden Gesamtdarstellungen. Gerade die deutsch-deutsche Perspektive bietet aber weit reichende Erkenntnischancen, denn „hier verschränkt sich die Auseinandersetzung zwischen Demokratie und Diktatur zur Signatur des 20. Jahrhunderts“ (4, S. 554). Die Begriffe ‚Demokratie‘ und ‚Diktatur‘ sind nach Horst Möller „das Schlüsselpaar der politischen Geschichte“ des letzten Jahrhunderts (22, S. 29). In diesem Zusammenhang soll keine neue, auf 1989 zulaufende Meisterzählung entstehen, in der die Geschichte der beiden deutschen Staaten aufgehoben ist, sondern vielmehr eine Historisierung der Bundesrepublik und der DDR im Spannungsfeld von Einheit und Teilung erfolgen. Bisher ist das nur ansatzweise geschehen (14; 15; 24). Das Potenzial ist also noch lange nicht ausgeschöpft: So steht eine integrierte Vergleichs- und Verflechtungsgeschichte, bei der auch die getrennten Entwicklungspfade beleuchtet werden, noch aus. Eine weitere Möglichkeit bietet sich mit Längsschnittanalysen über die politischen Zäsuren hinweg an (21). Dadurch ließen sich die Kontinuitätslinien stärker betonen. Letztlich geht es um eine gemeinsame Verortung von DDR und Bundesrepublik in einer Abgrenzungs-, Kontrast-, Beziehungs- und Verflechtungsgeschichte.
Verflechtung und Abgrenzung
Bekanntlich hat Christoph Kleßmann seit Anfang der 1990er Jahre den Ansatz einer „asymmetrisch verflochtenen Parallelgeschichte“ verfolgt (16; 17). Er hat damit als erster eine Konzeption für eine integrale deutsche Nachkriegsgeschichte entwickelt. Die von ihm in die Diskussion eingeführten Kriterien ‚Verflechtung‘ und ‚Abgrenzung‘ beinhalten zentrale Perspektiven, mit denen sich das wechselvolle Verhältnis der beiden deutschen Teilstaaten an der Nahtstelle des Ost-West-Konflikts erfassen lässt. Kleßmann hat seine Überlegungen 2005 in Anlehnung an Peter Graf Kielmansegg und Peter Bender (1) zu sechs sogenannten Leitlinien einer integrierten Nachkriegsgeschichte ausgebaut – Bezugsfelder, in denen die deutsche Nachkriegsgeschichte seiner Meinung nach steht. Indem die Leitlinien benannt und miteinander verbunden würden, ließe sich ein möglicher Gesamtrahmen skizzieren. Der Vorzug dieser Vorgehensweise liege darin, eine dichotomische Erfolgs- bzw. Misserfolgsgeschichte zu vermeiden. Im Einzelnen schlug Kleßmann folgende Felder vor (18, S. 26ff.): erstens 1945 als Endpunkt der deutschen Katastrophe und Chance zum Neubeginn, zweitens die beginnende Blockbildung und die inneren Folgen, drittens die Eigendynamik der beiden Staaten, viertens die Abgrenzung und asymmetrische Verflechtung, fünftens die Problemlagen fortgeschrittener Industriegesellschaften sowie sechstens Erosionserscheinungen. Eine weitere Ausdifferenzierung der zeitlichen Stufen und systematischen Bezugsfelder schloss Kleßmann jedoch nicht aus. Für ihn war von entscheidender Bedeutung, dass sein Vorschlag eine Möglichkeit darstellte, „dem Eigengewicht und der Verklammerung west- und ostdeutscher Geschichte besser gerecht zu werden als eine reine Kontrastgeschichte oder eine neue Nationalgeschichte“ (18, S. 33).
Kritiker gaben zu bedenken, dass die Bezeichnung der letzten Leitlinie (Erosionserscheinungen) zu Missverständnissen führen könnte, denn darunter würden nicht nur das Ende der Ära Honecker und der Zusammenbruch der SED-Herrschaft, sondern auch die westdeutsche Entwicklung subsumiert (8, S. 11). Darüber hinaus wurde darauf hingewiesen, dass das Trennende in der 45-jährigen Geschichte der Teilung (inklusive der Besatzungszeit von 1945 bis 1949) alles in allem überwogen habe. Deshalb müssten alle drei Aspekte der deutsch-deutschen Geschichte – d.h. Unterschiede und Abgrenzung, Parallelitäten, Beziehungen und Verflechtungen – in einer Gesamtdarstellung in dem Maße zum Tragen kommen, wie es deren Verlauf auch angemessen sei (31, S. 10). Insgesamt ist der Vorschlag Kleßmanns aber auf viel Zustimmung gestoßen. Obwohl die empirische Umsetzung nach wie vor noch aussteht, wird sein Konzept von vielen als diskussionswürdig erachtet (8, S. 11). Die jüngste Debatte zeichnete sich vor allem durch weitere Begriffsangebote aus: So ist z.B. von einer „Historisierung der Zweistaatlichkeit“ (25), von einer „pragmatischen Zeitgeschichtsforschung“ (32) oder aber auch von einer „integrale[n] deutsche[n] Nachkriegsgeschichte“ (8) die Rede.
Synthesekerne
Eine weitere Zugangsmöglichkeit, die im Übrigen über eine deutsch-deutsche Vergleichs- und Verflechtungsgeschichte hinausreicht, hat Hans Günter Hockerts gewählt. Er befasste sich mit der Frage, unter welchen Koordinaten die deutsche Nachkriegsgeschichte im Spannungsfeld von teilstaatlicher Abgrenzung und gesamtdeutscher Einheit zu vermessen ist. Da sich die Zeitgeschichtsschreibung seit der Epochenzäsur von 1989/90 in einer Phase des Umbruchs und der Erweiterung befinde, dränge sich den Historikern die Aufgabe auf, „in einer Selbstverständigungsdebatte darüber nachzudenken, welche Elemente in der zeithistorischen Deutungsbedürftigkeit der Gegenwart besonders wichtig und in welchem interpretatorischen Gefüge sie zu sehen sind“ (10, S. IX). Um zu verhindern, dass der Forschungsprozess „zentrifugal“ verlaufe und „die Geschichte in tausend Stücke“ zerspringe, sei es lohnenswert, nach „integrierenden Perspektiven oder Synthesekernen“ zu suchen. Mit Hilfe der von Hockerts in die Forschungsdiskussion eingebrachten Synthesekerne könnten säkulare Prozesse wie etwa die sozioökonomische Krise der Industriegesellschaften seit Mitte der 1960er Jahre verstärkt untersucht werden, denen sich die Bundesrepublik und DDR ausgesetzt sahen. Dieser Zugang müsste nicht auf das Nachkriegsdeutschland begrenzt bleiben und wäre insofern anschlussfähig an neuere Methodendebatten über transnationale Geschichte. Diese Synthesekerne traten aufgrund weltweiter Trends auch in den beiden deutschen Staaten auf. In dem von Hockerts herausgegebenen Band über „Koordinaten deutscher Geschichte in der Epoche des Ost-West-Konflikts“ werden exemplarisch Fragen nach der Bedeutung der Religion und des Bürgertums, der Arbeits- und Wissensgesellschaft im Hinblick auf das geteilte Deutschland gestellt, vergleichend analysiert und auf die Tragfähigkeit geprüft. Eine Untersuchung der deutsch-deutschen Geschichte nach 1945 unter diesem Blickwinkel biete die Chance, ausgehend von ähnlichen Phänomenen vergleichend vorgehen zu können. Nicht nur Unterschiede, sondern auch Gemeinsamkeiten könnten herausgearbeitet werden. Auf diese Weise ließe sich ein differenziertes Bild des Umgangs der Bundesrepublik und der DDR mit den sich verändernden sozialen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen gewinnen.
Perzeption
Eine andere, ebenfalls noch weitgehend ungenutzte Option ist die Einbeziehung von Erwartungen und Erfahrungen in eine deutsch-deutsche Nachkriegsgeschichte. Diesem Forschungsansatz liegt die Annahme zugrunde, dass sich beide deutsche Staaten in einem Konkurrenzverhältnis befanden und deshalb gegenseitig beäugten. Die Perzeption konnte verschiedene Reaktionen auslösen: Abschottung, Ignorierung oder partielle Aneignung. Sie besaß mitunter auch eine Katalysatorfunktion, denn die Wahrnehmung des anderen deutschen Staates konnte Entscheidungsprozesse und Entwicklungslinien mit prägen, teilweise sogar beschleunigen. Somit lassen sich unter anderem auch Aussagen treffen über die Lernfähigkeit bzw. Lernunfähigkeit des politischen Systems in der Bundesrepublik und der DDR. Bislang sind gegenseitige Perzeptionen von politischen Entscheidungen und Ideen sowie von unterschiedlichen sozialen, wirtschaftlichen und politischen Prozessen im doppelten Deutschland noch nicht Gegenstand systematischer Studien geworden (30, S. 12). Diese Feststellung gilt auch für die Frage, ob und wie sich diese Wahrnehmungen auf den einzelnen Politikfeldern und in den gesellschaftlichen Subsystemen beider Staaten vor dem Hintergrund des Systemkonflikts ausgewirkt haben. Erste Ergebnisse liegen insbesondere zu den 1950er Jahren vor (28; 11). Für den ganzen Zeitraum der Zweistaatlichkeit hat ein Sammelband des Instituts für Zeitgeschichte diese Frage an einigen Fallbeispielen exemplarisch diskutiert (29). Bei einer solchen Vorgehensweise darf freilich nicht der Fehler begangen werden, die deutsche Nachkriegsgeschichte primär auf eine Aufeinanderbezogenheit von Bundesrepublik und DDR zu reduzieren. Es geht vielmehr darum, die jeweilige Relevanz der Perzeptionen zu bestimmen und die aus der deutsch-deutschen Sondersituation resultierenden Faktoren zu identifizieren, die Einfluss auf die jeweilige Entwicklung hatten.
Insgesamt liegt damit eine Vielzahl konzeptioneller Ansätze für eine deutsch-deutsche Nachkriegsgeschichte vor, von denen hier nur die wichtigsten vorgestellt werden konnten. Generell gilt: Alle vorgeschlagenen Forschungsansätze haben ihre Berechtigung und verdeutlichen die Pluralisierung der Forschungslandschaft. Ein allgemein anerkanntes hegemoniales Paradigma wäre weder möglich noch wünschenswert (10, S. IX). Hermann Wentkers Bemerkung ist zweifellos zuzustimmen, die deutsche Nachkriegsgeschichte könne auch weiterhin als Geschichte zweier Staaten und Gesellschaften erzählt werden, die „zwar in vielfacher, aber sicher nicht in jeder Hinsicht aufeinander bezogen“ waren (31, S. 11).