Читать книгу Achterbahn in die Hölle... - Dieter Hentzschel - Страница 4
Ferdinands Suche nach einem Freund aus alten Tagen
ОглавлениеEs war ein regnerischer, feuchtkalter Novembertag, als Ferdinand seine Frau auf ihrem letzten Weg begleitete. Nur ein paar Monate war es her, dass er in Rente gegangen war. Und nun dieser Schock. Wie betäubt ging er hinterdem Sarg her, vernahm kaum das Murmeln des Pfarrers, geschweige denn, dass er die Anwesenheit von ein paar Nachbarn und Freundinnen seiner Frau bemerkte. Ein Mann und eine Frau, Nachbarn die ein Stockwerk unter ihm wohnten, schüttelten ihm die Hand. Ihre Worte nahm er nicht in sich auf. Als dann alles vorbei war, stand er allein vor dem Grab und wußte nicht was er jetzt tun sollte. Irgendwann, er hatte keine Ahnung wie lange er so dagestanden hatte, spannte er seinen Schirm auf. Obwohl, er war bereits von dem schon vor einiger Zeit einsetzenden Nieselregen, völlig durchnäßt. Dann vernahm er Motorengeräusch. Er erwachte aus seiner Erstarrung und sah den Kleinbagger mit seinen Raupen auf das Grab zufahren. Ein zweiter Mann ging neben dem Bagger her. In der Hand hielt er eine Schaufel. Das wurde jetzt zuviel für Ferdinand. Er ging, ohne sich noch einmal umzudrehen.
Als er die Wohnungstür aufsperrte wurde ihm plötzlich schlecht. Er wankte ins Wohnzimmer und erreichte gerade noch die Couch. Da er keinen Regenmantel angezogen hatte war ihm der Regen durch Sakko und Hemd gedrungen. Es war ihm gleichgültig. Auf dem Rücken liegend kämpfte er mit Übelkeit. Nach einer Weile gelang es ihm die Schuhe von den Füßen zu streifen und er fiel in einen unruhigen Schlaf. Völlige Dunkelheit umgab ihn als er erwachte. Ein Hustenanfall hatte ihn geweckt. Ich habe mich erkältet, dachte er. Aber das besorgte ihn nicht. Im Gegenteil.
Er verspürte keinen Hunger, keinen Durst, lag einfach nur da. Ein erneuter Hustenanfall schüttelte ihn. Vielleicht sollte er sich einen Tee machen. Ihm wurde kalt. Die nasse Kleidung. Reiß dich zusammen, mahnte eine innere Stimme. In der Dunkelheit des Wohnzimmers tastete er sich langsam voran zum Bad. Er schaltete das Licht im Bad ein und starrte in den Spiegel. Dann zog er sich die klamme Kleidung herunter. Sakko, Hose, Hemd, Unterwäsche, Socken. Zitternd schlich er ins Schlafzimmer und zerrte seinen Schlafanzug aus dem Doppelbett. Ich kann heute nicht hier schlafen, dachte er. Die Couch mußte es tun. So schlurfte er zurück ins Wohnzimmer ohne das Licht einzuschalten. Durch die große Wohnzimmerscheibe fiel ein wenig Licht von der Straßenbeleuchtung. Er fror jetzt erbärmlich. Sein Oberbett und das Kopfkissen schleifte er hinter sich her. Die Knie an den Leib gezogen lag er auf der Couch. In seinem Kopf war Leere und Schüttelfrost ließ seinen Körper erbeben.
Irgendwann in der Nacht erwachte er. Er hatte keine Ahnung wie spät es war. Jetzt war ihm heiß. Er schwitzte, sein Kopf wollte platzen. Er setzte sich auf, versuchte das Brennen im Hals hinunterzuschlucken. Unsicher ging er zum Fenster und ließ die Jalousie herunter. Dann schaltete er das Licht ein. Die große Wohnzimmeruhr zeigte dreiundzwanzig Uhr. Er raffte sich auf, ging zur Toilette. Danach fühlte er sich etwas besser. Kein Hunger, keinen Durst. Obwohl, er müßte jetzt eigentlich etwas trinken. Er ließ etwas Wasser aus dem Hahn in ein Glas laufen, trank ein paar Schlucke davon. Er fühlte sich schwach und kroch wieder unter die Decke auf der Couch. Sein Kopf marterte ihn mit unaufhörlichen Gedankenstößen. Gedankenstöße die stakkatoartig Probleme aufwarfen. Wie sollte es weitergehen? Was mußte er alles für Behördengänge erledigen? Sollte er raus aus der großen Dreizimmerwohnung? Er mußte sich selbst versorgen. Kochen, waschen, Einkäufe tätigen. Und dann plötzlich der entscheidende Stoß. Er war allein!
Er döste ein, wurde immer wieder aus kurzen Schlafphasen gerissen. Sein Hals schmerzte. Als er am Morgen aufstand fühlte er sich gerädert. Es war erst sechs Uhr. Erste Dämmerung als er die Jalousien hochzog. Und doch war es besser wach zu sein, die drückenden Nachtgedanken hinter sich zu lassen. In der Küche suchte er die Dose mit den Teebeuteln. In den letzten Tagen vor der Beerdigung hatte er wie in Trance ein paar Lebens-mittel gekauft. Die Metzgerei in der seine Frau eingekauft hatte, bot warmes Mittagessen an.
Der heiße Tee tat ihm gut. Er saß am Tisch in der Küche. Wieder stürzten die Gedanken auf ihn ein. Die letzten Monate. Als seine Frau erfahren hatte, dass sie Krebs hatte. Einen schnell wachsenden Krebs. Eine Träne lief ihm aus dem linken Auge. Sie war zwei Jahre jünger als er. Gewesen, dachte er. Das ist ungerecht! Aber was ist schon gerecht? Das Leben hält für jeden sein Schicksal bereit. Es läßt sich nicht aufhalten. Nichts verändert sich durch den Tod eines Menschen. Es war nur eine Frage des Verfalls. Zellen und Organe hatten ihren Dienst getan, standen nur für eine begrenzte Zeit zur Verfügung.
Drei Monate später.
Ferdinand hat sich eingerichtet. Er versuchte nicht nachzudenken, nicht zu grübeln. Einen großer Teil seiner Zeit ist er damit beschäftigt den Alltag zu bewältigen. Einkaufen, staubsaugen, Wäsche waschen, Essen zubereiten, die Kleidung einigermaßen in Ordnung halten. Er will nicht, dass die Nachbarn glauben es ginge bergab mit ihm. Eine Nachbarsfrau hat mehrmals gefragt ob sie ihm behilflich sein kann. Er hat abgelehnt. Nein, er komme schon zurecht. Die Abende verbringt er vor dem Fernseher, geht meistens früh ins Bett. Er fühlte sich wieder besser, auch wenn er seine Partnerin vermißte.
Im darauffolgenden Sommer, sein siebenundsechzigster Geburtstag war gerade vorbei, beschloß er eine Reise zu unternehmen. Einen Tag lang kramte er in einem Karton mit alten Fotos. Dann stieß er auf das Schwarzweissbild das er gesucht hatte. Er mußte unwillkürlich lachen als er sich in voller Marschausrüstung bei der Bundeswehr sah. Der lächerliche Blätterkranz auf seinem Helm. Tarnung war das. Infanterie. Sein Gesicht war schwarz bemalt. Neben ihm Oskar Sebald. Sah genauso lächerlich aus. Sie hatten sich gut verstanden in dieser Zeit.
Gemeinsam ließ sich die eine oder andere Schikane besser ertragen. Dieses Bild hatte er gesucht. Denn vor wenigen Tagen hatte er von Oskar geträumt. Verrückt, dachte er. Da vergehen fast fünfzig Jahre und dann gräbt das Unterbewußtsein im Traum diese Erinnerung aus. Oskar stammte aus Hamburg. Dort wollte Ferdinand schon immer mal hin. Die großen Schiffe sehen. Das Hier und Jetzt würde ihn eine Weile verschmerzen können. Sein Geld reichte aus. Er selbst hatte keinen Computer, kannte sich damit auch nicht aus. Aber er wußte, dass man über das Internet Menschen suchen konnte. Ihren Aufenthaltsort.
An einem der nächsten Tage bat er seinen Nachbarn, derjenige der auch auf der Beerdigung war, ihm den Ge-
fallen zu tun. Die Suche ergab aber keinen Treffer. Normalerweise ist er dann auch nicht mehr in Deutschland sagte sein Nachbar. Denn zumindest im bundesweiten Telefonverzeichnis müßte er zu finden sein, resümierte sein Nachbar. Was machts?, dachte Ferdinand. Ich seh mir trotzdem Hamburg an. Und vielleicht kann ich im dortigen Einwohnermeldeamt mehr erfahren. Er traf Reisevorbereitungen. Seine Frau hatte noch vor ein paar Jahren einen mittelgroßen Rollkoffer gekauft. Er würde den Zug nehmen. Einmal quer durch Deutschland fahren, das war sein Gedanke bei diesem Transportmittel. Es war teurer als Fliegen, aber gemütlicher. Er hatte ohnehin kein Auto um damit zum Flughafen zu fahren. Parken war dort sehr teuer, das wußte er. Vor einem halben Jahr hatte er seinen Wagen verkauft. Er wohnte zentral und alle Geschäfte die er brauchte waren in der Nähe. Außerdem war das Fahrzeug auch schon über fünfzehn Jahre alt. Kostete nur Reparaturen, Versicherung und Steuer.
Als ihn der Beamte am Fahrkartenschalter fragte ob er Hin-und Rückfahrt wünsche, überlegte Ferdinand einen Augenblick und erwiderte dann, dass er erst mal einfache Fahrt möchte. Das würde ihn dann aber teurer kommen meinte der Beamte. Ferdinand zuckte die Schultern. Er wollte keinen Zeitdruck. Wer weiß wie gut ihm Hamburg gefiel. Und eine Hin-und Rückfahrkarte galt nur eine bestimmte Zeitspanne.
Bevor er ein paar Tage später seine Wohnung abschloß gab er den Nachbarn Bescheid, dass er für eine unbe-
stimmte Zeit verreise. Vielleicht wäre er aber auch schon nächste Woche wieder da. Sie wünschten ihm gute Reise. Ferdinand, hatte fünfhundert Euro in bar dabei, falls er mehr brauchte konnte er ja seine Bankkarte benutzen. Der öffentliche Nahverkehr sei in Hamburg sehr gut, sagte sein Nachbar. Gut ausgebautes S-Bahnnetz. Das Foto mit Oskar Sebald legte er ganz unten in den Koffer. Für die nächsten Tage war schönstes Sommerwetter angesagt.
Da Ferdinand im Süden der Republik lebte wurde es eine Bahnfahrt von annähernd sieben Stunden. Am Bahnhof hatte er sich mit einer großen Tageszeitung versorgt, doch er rührte sie während der ganzen Fahrt nicht an. In einem ICE sitzt man ja nicht mehr in geschloßenen Abteilen sondern hat einen ganzen Wagen voller Mitpassagiere. Und da wurde es nicht langweilig. Es herrschte von Bahnhof zu Bahnhof ein ständiges Kommen und Gehen. Immer neue Gesichter die er studieren konnte. Er saß in Fahrtrichtung auf der rechten Seite des Zuges und hatte einen Platz mit Tisch vor sich. Bei Abfahrt des Zuges war der Platz neben ihm frei aber ihm gegenüber saßen zwei ältere Damen. Sie stiegen nach ihm ein und er grüßte sie freundlich.
"Ach Henriette", sagte die Dame mit den leicht violetten Haaren, "ich freue mich ja schon so auf die Insel."
Aha, die Damen machten Urlaub auf einer Nordseeinsel. Ferdinand sah möglichst unbeteiligt aus dem Fenster, vor dem die Landschaft nur so vorbeiflog. So konnte er unauffällig das Gespräch belauschen. Und er hatte gar kein schlechtes Gewissen dabei. Schon jetzt beglückwünschte er sich zu seinem Entschluß zu verreisen. Wie oft verbrachte er die Vormittage zuhause am Küchentisch und brütete vor sich hin. Und jetzt in diesem Zug verflog die Zeit. Eigentlich hatte er gar nicht vorgehabt die Damen anzusprechen, aber dann taten sie es. In sein gespieltes Desinteresse erklang plötzlich eine Stimme: "Wohin reisen Sie?"
Er sah sein Gegenüber an und erwiderte etwas holprig:
"Ach, ich fahre nach Hamburg. Soll eine schöne Stadt sein."
"Ja, ja kann ich da nur sagen", entgegnete die Blondierte.
"Ich war da früher mit meinem Mann. Die großen Schiffe und der Hafen. Und die Reeperbahn..."
"Wie? Da waren Sie auch", sagte Ferdinand.
Etwas verlegen kichernd antwortete sein Gegenüber: "Nur zum Gucken..."
"Ach so."
Fürs erste schien die Konservation erschöpft und die beiden Damen wandten sich wieder ihrem Gespräch zu.
So, dachte Ferdinand. Also zumindest die Eine ist Witwe.
Ferdinand blickte den Mittelgang entlang und sah einen Servicewagen auf sich zukommen. Als der Mann auf Höhe seiner Sitzreihe angekommen war, hob Ferdinand die Hand und sagte: "Haben Sie vielleicht auch Bier?"
Der Mann kramte in seinem fahrbaren Untersatz und streckte Ferdinand dann eine Flasche Bier und einen Pappbecher hin. "Macht dreifünfzig."
Ferdinand beäugte misstrauische die kleine Flasche und meinte in Richtung des Bahnbediensteten - er versuchte es ironisch klingen zu lassen: "Das ist wohl für Liliputaner?"
"Was anderes habe ich leider nicht", war die lakonische Antwort. Ferdinand zückte seine Geldbörse und zahlte. Er schenkte sich ein paar Schlucke in den Becher und während er trank und die beiden Damen über den Rand des Bechers ansah sagte er etwas verlegen: "Prost."
Die Violette meinte: "Nein, also so früh könnte ich noch keinen Alkohol trinken."
Er beschloß, darauf lieber nicht zu antworten, denn er mußte ja mit seinen beiden Reisegefährtinnen bis Ham-
burg auskommen.
Knapp die Hälfte der Strecke war geschafft, als der Zug im Bahnhof Mannheim einfuhr. Es war nur ein kurzer Aufenthalt. Reisende stiegen ein-und aus. Ein Mann mit dunklem Anzug und Krawatte besetzte den Platz neben Ferdinand. Er nickte dem neuen Platznachbarn kurz zu und dieser nickte zurück. Eine lederne Aktentasche wies ihn als Geschäftsreidenden aus. Gleich darauf bestätigte sich sein Gedanke. Der neue Mitfahrer hatte plötzlich so einen kleinen Taschencomputer in der Hand. Ferdinand sah bei einem Blick zur Seite nur Zahlen und Worte auf dem kleinen Bildschirm. Irgendwelche Tabellen.
Zum Glück ging Ferdinand diese Geschäftswelt nichts mehr an. Er war raus aus diesem Trott. Über vierzig Jahre lang hatte er als Disponent in einer großen Brauerei gearbeitet. Eine salbungsvolle Rede des Abteilungsleites und eine Uhr waren der Dank für seine langjährige Betriebszugehörigkeit gewesen, als er in Rente ging.Vorbei.
Er wurde aus seinen Gedanken aufgeschreckt als der Mann neben ihm plötzlich zu telefonieren anfing. Eine Weile hörte Ferdinand unfreiwillig zu, dann beschloß er einen Spaziergang durch den Zug zu unternehmen. Beine vertreten. Die Toilette mußte er auch mal aufsuchen. Er nickte den beiden Damen gegenüber zu und bat den Telefonierer neben sich ihn vorbeizulassen.
Über Frankfurt, Köln ging es nach Dortmumd. Auf dem vorletzten Streckenabschnitt erreichte der Zug dreihundert Stundenkilometer. Der Telefonierer war in Frankfurt ausgestiegen und Ferdinand saß den beiden Damen wieder allein gegenüber. Sie waren nicht mehr ganz so munter wie zu Beginn der Reise. Er lächelte ihnen aufmunternd zu und fragte sich dann plötzlich in einem Anfall von Panik: Was tue ich eigentlich hier?
Sein blondes Gegenüber sprach ihn plötzlich wieder an:
"Und machen Sie da Urlaub in Hamburg?"
"Ja das auch", antwortete Ferdinand, "aber ich besuche auch jemanden den ich beim Wehrdienst kennengelernt habe."
"Ach das ist ja interessant. Weiß er denn dass sie kommen."
Ferdinand schüttelte den Kopf und sagte: "Soll eine Überraschung sein. Obwohl, ein Bekannter von mir hat im Internet nachgesehen, ihn aber nicht als in Hamburg gemeldet, gefunden. Aber ich hatte damals keinen Grund daran zu zweifeln, dass er von dort stammt. Sie wissen schon. Sein Dialekt."
"Ach, das ist ja interessant."
Das sagt sie jetzt schon zum zweitenmal, dachte Ferdinand.
Jetzt mischte sich auch die lilafarbene wieder ein: "Und wie wollen Sie seine Adresse feststellen?
"Na das Beste wird sein ich versuchs mal beim Einwohnermeldeamt", erwiderte Ferdinand.
Und wenn er tatsächlich nicht mehr in Hamburg wohnt, was tun sie dann?"
"Das wird sich finden", sagte Ferdinand ein wenig barsch. Er hatte genug von dieser Unterhaltung. Auf jeden Fall würde er so schnell nicht aufgeben. Eine kleine Unsicherheit blieb. Würde die Behörde ihm Auskunft geben? Vielleicht erfuhr er da wohin Oskar gezogen war. Falls er sich überhaupt ordnungsgemäß abgemeldet hatte. Und nur weil er ein fast fünfzig Jahre altes schwarzweiss Foto vorzeigen konnte war nicht ausgemacht ob ihm das Amt behilflich sein konnte/wollte.
Die beiden Mitreisenden gegenüber verzogen etwas pikiert ihre Mienen.
Nachdem Ferdinand sich mit der im Münchner Hauptbahnhof gekauften Wurstsemmel gestärkt hatte lief der Zug in Hannover ein. Noch ein knappes Stündchen. Nächster Halt Hamburg.
Der Hamburger Hauptbahnhof lag zentral und dort kreuzten sich im Untergrund auch alle S-Bahnen. Er studierte die Pläne und stellte schnell fest, dass man mit einem Tagesticket kostenmäßig am besten fuhr. Zuerst mußte er sich eine Bleibe suchen. Auf dem Platz vor dem Bahnhof parkten bunte Busse die Stadtrundfahrten anboten. Einer der Fahrer rauchte vor seinem Bus, wartete offensichtlich auf den nächsten Schwung Touristen. Er fragte ihn nach einer günstigen Bleibe.
"Das muß kein Hotel sein", sagte er. "Garni reicht mir."
Der Fahrer taxierte ihn und erwiderte nach einer Weile: "Also hier in der Innenstadt gibts das nicht. Höchstens eine heruntergekommene Kaschemme. Da müssen Sie weiter raus."
Der Mann überlegte eine Weile und nannte ihm dann einen Stadtteil. "Aber bevor Sie rausfahren, fragen Sie einfach mal im Tourismusbüro. Finden Sie im Hauptbahnhof."
Ferdinand bedankte sich und ging zurück in die große Bahnhofshalle.
Erstaunlicherweise erwähnte die freundliche Tourismusdame unter mehreren Angeboten auch den Stadtteil den ihm der Busfahrer genannt hatte. Er beschloß mit der S-Bahn dort hinzufahren, auch wenn es ziemlich weit außerhalb lag. Zwei Adressen hatte er in der Tasche. Da der Tag schon weit fortgeschritten war zog er sich ein Einfachbillet aus dem Automaten. Sein Rollkoffer stand neben ihm im Gang während er interessiert das vorbei-ziehende Stadtbild in sich aufnahm. Je länger die Fahrt dauerte um so grüner wurde die Aussicht. Dann, nach einer guten halben Stunde Fahrt kam seine Station. Typisch Vorortflair, dachte er. Wohnblocks wechselten sich ab mit schmucken Ein-oder Zweifamilienhäusern.
Eine Schlafstadt wie viele.
Endlich konnte er nahe dem Bahnhof einen älteren Mann nach dem Weg fragen. Er schien schwer zu hören denn Ferdinand mußte den Namen der Pension zweimal aufsagen.
"Ja... ach ja, das ist gleich in der Nähe. Er beschrieb Ferdinand den Weg , der sich artig bedankte. Plötzlich fiel ihm ein, dass es wohl besser gewesen wäre vorher anzurufen. Aber jetzt war er schon mal da und er marschierte samt seinem Koffer los. Es war nicht weit. Als er davor stand kam ihm der Gedanke, dass dies nicht gerade eine fürstliche Unterkunft war. Was hatte er denn erwartet? Günstig sollte es sein. Und sauber. Er läutete an der Tür. Es dauerte eine Weile bis geöffnet wurde und er stand vor einer älteren Frau in seinem Alter.
"Ja?"
"Also ich wollte fragen ob Sie vielleicht ein Zimmer für mich haben?"
"Für wie lange?"
Ja, erst mal eine Woche. Kann aber auch länger dauern."
"Sind Sie geschäftlich hier?"
"Nein, nein, ich will mir nur ihre schöne Stadt ansehen."
Die Frau rümpfte die Nase. Und er sah in ihren Augen, dass sie dazu wahrscheinlich eine andere Meinung hatte.
"Unterm Dach ist noch eine kleine Mansarde frei."
"Na das reicht mir doch", sagte Ferdinand. "Kann ich sie mir mal ansehen?"
"Kommen Sie rein."
Über eine alte Stiege ging es zwei Stockwerke nach oben. Er sah sich aufmerksam um und sein Eindruck war nicht der schlechteste. Ein kurzer Flur und die Frau öffnete eine Tür. Sie ging voraus und er folgte ihr. Es war wirklich sehr klein. Links an der Wand ein eisernes Bettgestell unter der Dachschräge. Das Fenster einer kleinen Gaube ging zur Straße hinaus. Davor stand ein kleiner Tisch. Auf der rechten Seite ein altmodischer Kleiderschrank. Es gefiel ihm.
"Und wieviel kostet das für eine Woche?"
Die Frau nannte den Preis und Ferdinand verschluckte sich. Aber wahrscheinlich lag es daran, dass er keine Ahnung von heutigen Übernachtungspreisen hatte.
"Gut ich nehme es. Äh, aber wo ist das Bad?"
"Da müssen Sie auf den Flur. Am anderen Ende."
Na, ganz schön altmodisch, dachte Ferdinand. Aber er würde schon zurecht kommen.
"Und Früstück ist dabei?"
"Ja unten im Erdgeschoß von sieben bis neun."
"Haben Sie noch mehr Gäste?", fragte Ferdinand.
"Hier oben nicht" lautete die knappe Antwort. "Und unter Ihnen das sind Dauergäste. Die gehen früh zur Arbeit."
"Stört mich nicht", murmelte er. "Ich heiße übrigens Ferdinand Burger."
Sie nickte und sagte: "Ohlstädt Gisela. Steht auch am Haus. Giselas Pension. Anmeldezettel liegt im Frühstücks-raum."
"Gut Frau Ohlstädt. Gibt es hier in der Nähe eine Gastwirtschaft??"
"Zweihundert Meter linker Hand die Straße runter."
Damit verschwand sie und Ferdinand mußte sich erst einmal auf den einzigen Stuhl setzen. Er fühlte sich ein bisschen fremd und verlassen und fragte sich was in Teufels Namen ihn zu dieser Reise getrieben hatte.
Ferdinand hatte gut geschlafen und nach dem Frühstück am nächsten Morgen bat er Frau Ohlstädt um das Hamburger Telefonbuch. Unter den diversen Adressen der Stadt Hamburg fand er auch das Einwohnermeldeamt.
Mit der S-Bahn ging es danach zurück ins Stadtzentrum. Am günstigsten kam er mit der Tageskarte. Der dritte Passant den er fragte konnte ihm den Weg zum Rathaus beschreiben, denn dort befand sich auch das Einwohnermeldeamt. Es war nicht allzuweit vom Hauptbahnhof entfernt. Ein gemütlicher Fußweg und Ferdinand stand vor dem imposanten Bau am alten Wall. Gotische Elemente beherrschten das Gebäude und sein grünes Dach leuchtete weithin. Er trat durch ein großes Tor ein und orientierte sich an den diversen Hinweistafeln.
Am Schalter mit dem Buchstaben "S" reihte er sich ein. Vor ihm waren zwei Personen. Er holte schon mal das alte Foto aus seiner Tasche. Nach einer Weile war er dran und eine jüngere Frau fragte ihn ob er eine neue Adresse melden wolle.
"Äh, nein, ich bin nicht aus Hamburg. Ich komme aus München und suche einen alten Freund. Also das ist so, wir waren zusammen bei der Bundeswehr und im Telefonbuch steht sein Name nicht mehr. Können Sie mir da helfen?"
Bei diesen letzten Worten hielt er der Dame das Foto hin. Etwas überrascht nahm sie es in die Hand.
Plötzlich sah er wie sie lächelte.
"Ja, ja, ich weiß schon wir sehen da mit dem Grünzeug auf dem Helm ein bisschen bescheuert aus."
Sie reichte ihm das Foto zurück und fragte: "Wie hieß denn ihr Freund?"
"Sebald, Oskar Sebald. Er müßte jetzt so alt sein wie ich."
"Warten Sie einen Moment."
Sie setzte sich an ihren Schreibtisch vor einen Bildschirm.
Ferdinand dachte: Komisch, normalerweise müßte sie jetzt ins Archiv gehen und einen dicken Wälzer Papier holen. Diese Computer haben alles verändert.
Nach einer Weile sah ihn die junge Frau an und sagte:
"Es gibt in Hamburg mehrere Personen mit dem Namen Sebald... Moment mal, aah hier ist ein Oskar Sebald."
"Ach und Sie haben da seine Adresse?"
"Ja, ja, aber eigentlich darf ich aus Datenschutzgründen seine Adresse nicht herausgeben".
"Aber ich kann ihn im Telefonbuch von Hamburg nicht finden. Dann könnte ich ihn ja anrufen."
"Wissen Sie", sagte die junge Frau", es gibt natürlich Fälle da ziehen die Leute weg und melden es nicht. Vielleicht hat er auch kein Telefon."
"Na sowas," erwiderte Ferdinand, " da komme ich den weiten Weg von München und dann kann ich ihn nicht finden. Und dann hat er nicht mal ein Telefon. Gibts denn heute noch sowas?"
Ein etwas verlegenes Lächeln und sie sagte: "Vielleicht will er absichtlich kein Telefon oder er kann es sich nicht leisten."
"Also ein Telefon hat doch heute jeder", antwortete Ferdinand. "Oh Entschuldigung, das war nicht so gemeint. Aber wenn ich die Adresse hätte könnte ich ja mal nachfragen ob er dort noch wohnt."
Die junge Frau überlegte eine Weile und sagte dann: "Ich gebe ihnen die Adresse, ausnahmsweise. Eigentlich darf ich das nicht..."
Sie schrieb etwas auf einen Zettel und reichte ihm diesen.
"Viel Glück! Ach und falls Sie ihn dort nicht mehr antreffen, dann wär es nett, wenn sie mir das melden. Hier meine Telefonnummer mit Durchwahl. Sie erreichen mich dann direkt hier an meinem Arbeitsplatz."
Ferdinand hatte sich den Zettel schon geschnappt und sagte: "Ja, das mach ich, weil Sie so nett waren."
Er kaufte sich einen Stadtplan und sah die Adresse nach. Mit der S-Bahn fuhr er zu einer Station die seinem Ziel am nächsten lag. Unterwegs zu der Adresse kam er an einem Bratwurststand vorbei. Er war hungrig. Ein Blick auf die Uhr sagte ihm, dass es schon Mittag war.
"Was solls denn sein junger Mann?"
"Eine Semmel mit der roten Bratwurst da... und Senf."
"Ah ein Besucher aus Bayern", sagte der Verkäufer.
"Kommt sofort."
Während er wartete überlegte Ferdinand, dass es wohl das Wort Semmel, aber vor allem sein Dialekt war, nach dem ihn der Verkäufer sofort eingeordnet hatte. Hier hieß das ja wohl Brötchen. Während er noch überlegte warum Oskar kein Telefon hatte reichte ihm der Verkäufer die leckere Semmel. Er zahlte und biss herzhaft das hervorstehende Wurstende ab.
Der Verkäufer nickte ihm aufmunternd zu und bevor dieser fragen konnte sagte Ferdinand: "Sehr gut!"
Es war ein großes fünfstöckiges Wohnhaus. Nicht die beste Adresse wie der abbröckelnde Putz an der Frontseite belegte. Zehn Klingelschilder. Schnell hatte er sie beäugt. Kein Oskar Sebald. Was jetzt? Ein wenig ratlos stand Ferdinand vor der Eingangstür. Sollte er irgendwo klingeln?
Nicht notwenig. Die Tür öffnete sich und eine Frau mittleren Alters stand plötzlich vor ihm. Er wich zwei Schritte zurück.
"Oh Entschuldigung ich habe gerade einen Namen auf den Schildern gesucht. "
Die Frau wandte sich wortlos ab und streifte ihn nur mit einem kurzen Blick.
"Hallo... aber er wohnt ... ."
Die Frau wandte sich kurz um. "Sie wollen bloß was verkaufen."
"Nein, nein ich suche nur einen Freund aus alten Zeiten."
Es war sein Dialekt der die Frau innehalten ließ.
"Wie ist denn sein Name?"
"Oskar, Oskar Sebald heißt er. Wir waren zusammen bei der Bundeswehr. Vor langer... ."
Während er sprach erschienen ein paar Falten auf der Stirn der Angesprochenen. Sie schien zu überlegen, unterbrach ihn jetzt.
"Oskar Sebald? Ja, der hat hier mal gewohnt. Aber das ist schon lange her. Ich glaube er mußte damals raus aus der Wohnung, weil er seine Miete nicht bezahlt hat."
"Wissen sie vielleicht wohin er gezogen ist?"
Schulterzucken. "Keine Ahnung. Versuchen Sie's doch mal auf dem Einwohnermeldeamt."
"Da war ich schon. Die konnten mir nichts sagen."
"Ja, mehr weiß ich auch nicht. Entschuldigung aber ich habs eilig."
Ferdinand nickte und bedankte sich.
Was konnte das bedeuten? Warum hatte sich Oskar nicht abgemeldet, oder seine neue Adresse dem Amt mitgeteilt? Er hat seine Miete nicht bezahlt.
Dann hat er wohl Mietschulden gehabt, dachte Ferdinand. Und wollte verschwinden. Wahrscheinlich in eine andere Stadt. Na, dann würde es kein Wiedersehen mit Oskar geben. Schade. Aber er wollte ja auch diese Stadt kennenlernen. In seinem Kopf arbeitete es noch immer. Oskar als Mietpreller? Das konnte er sich nicht vorstellen. Damals bei der Bundeswehr hatte er ihn als guten Kumpel geschätzt. Wobei... ein bisschen leichtsinnig war er schon gewesen. Hatte sich auch immer wieder mal mit Vorgesetzten angelegt. Wenn er dann einen Rüffel bekam lachte er nur.
Er fuhr mit der Bahn zurück Richtung Hauptbahnhof. Das Wetter war gut, immer wieder schaute die Sonne hinter ein paar weißen Wölkchen hervor. Auf dem Vorplatz sinnierte er eine Weile. Was muß man in Hamburg unbedingt gesehen haben? Na klar. Den Hafen. Also zurück in den S-Bahntunnel. War nicht schwer. Ein paar Stationen nur und er wäre bei den Landungsbrücken. Ferdinand sah auf die Uhr.Vierzehnuhrdreißig. Das paßte. Er fuhr über die Rolltreppen in den Untergrund. Schon zwei Minuten später ratterte seine Bahn ein. Sitzplatz gab es um diese Zeit auch. Kurze Zeit später verließ die Bahn den Untergrund und Ferdinand staunte, dass er nun auf Hochgleisen Richtung Hafen fuhr.
Wenige Minuten später las er am Zuganzeiger die Worte >LANDUNGSBRÜCKEN<.
Schon auf dem erhöhten Bahnsteig sah er den Dreimaster der im Hafen lag. Auf der gegenüberliegenden Seite des Flusses endlos lange Reihen von Kränen und Trockendocks. Ja, das wollte er alles sehen. Warum war er nie mit seiner Frau hierher gekommen?
Über Treppen ging es hinunter auf die Straße. Gleich darauf stand er vor einem langgezogenen, wuchtigem Gebäudekomplex. Hier mußte ja auch der berühmte Fischmarkt sein. Es wimmelte von Menschen. Touristen, dachte er. Genau wie ich. Ein Durchgang in dem großen Gebäude brachte ihn zu einer ganzen Reihe schräger Abgänge die dem Ort den Namen gaben - Landungsbrücken.
Er ging die etwa sechzig Meter lange Schräge nach unten. Noch mehr Menschen. Eine gut fünf Meter breite Hafenmole an die das Wasser der Elbe schwappte. Und hier reihte sich Ausflugschiff an Ausflugschiff. Die meisten ähnelnden schnittigen Yachten mit zwei Oberdecks. Alles drängte auf diese Schiffe um eine Hafenrundfahrt zu erleben. Aber auch kleinere Barkassen boten Fahrten in die Speicherstadt an. An der langen Mole, der Landseite zugewandt, fügten sich Kioske, die Hamburger Spezialitäten anboten, und Andenkenlädchen nahtlos aneinander.
Ferdinand gönnte sich eine Fischsemmel und ein Bier. Hamburgisch herb. Dann löste er eine Karte für die große Rundfahrt. Er bereute es nicht. Vorbei an Trockendocks, riesigen Containerschiffen die gerade ent-oder beladen wurden und den Großkränen zwischen deren riesigen Auslegern die Container wie Spielzeug aussahen. Auf der gegenüberliegenden Seite Hamburgs Villenviertel, eingebettet in viel Grün. Genußvoll atmete Ferdinand die frische Luft ein und ließ seinen Gedanken freien Lauf. Wohin war Oskar gegangen? Oder besser wohin war er verschwunden? Er fand keine vernünftige Erklärung. Alles nur Spekulation. Vielleicht war er tatsächlich in eine andere Stadt gezogen. Und lebte dort friedlich als Rentner, genau wie er. Ob er je geheiratet hatte? Schließ dieses Kapitel ab, sagte eine innere Stimme zu ihm.
Bevor er zurück Richtung Bahnhof fuhr besichtigte er noch den großen Dreimaster der seitlich an den Landungsbrücken vor Anker lag. Einst ein stolzer Segler der die Meere befuhr und jetzt als Museumsschiff sein Dasein fristete.
Am nächsten Tag nach dem Frühstück fragte er seine Zimmerwirtin, was er in Hamburg wohl noch alles unternehmen könnte. Interessante Sehenswürdigkeiten zum Beispiel.
"Bei den Landungsbrücken war ich schon."
"Na steigen Sie doch dem Michel aufs Dach", sagte sie.
Oder machen Sie einen Spaziergang an der Außenalster."
"Gute Idee", antwortete Ferdinand.
Er sah auf seinen Stadtplan. Das war vom Hauptbahnhof ja nur eine kurze Wegstrecke. Gesagt, getan. Erneut kaufte sich Ferdinand ein Tagesticket. Der Blick aus dem Fenster der S-Bahn war ihm nun schon ein bisschen vertraut. Als er kurz darauf den Bahnhofsplatz überquerte und den breiten Fußgängerweg auf der gegenüberliegenden Seite betrat blieb er abrupt stehen. Schon in den vergangenen Tagen waren ihm Männer in heruntergekommener Kleidung aufgefallen. Unrasierte Männer mit stumpfem Blick die auf Begrenzungspfosten oder Bänken saßen und Bierflaschen in der Hand hielten. Wie überall konzentrierte sich die Anwesenheit von Obdachlosen auf das Bahnhofsviertel. Hier durchwühlten sie Abfalleimer oder sprachen in unbeobachteten Momenten auch mal Reisende an, um sich Geld zu erbetteln.
Aber dieses Bündel da vor ihm auf dem Gehsteig hatte kaum noch Ähnlichkeit mit einem zivilisierten Menschen. Zerlumpfte Kleidung die diesen Namen nicht mehr verdiente. Dicht an die Hauswand gedrängt lag der hilflose Mann auf dem verdreckten Gehwegpflaster und schlief. Ferdinand starrte gleichzeitg angewidert aber auch
voll Anteilnahme auf den Bedauernswerten. Sein Schuhwerk war nur noch die Karikatur einer Fußbekleid-ung. Dem linken Schuh fehlten beim Oberleder an der Schuhspitze mehrere Zentimeter und schwarze Zehen reckten sich ins Freie. Auf beiden Seiten hing die Sohle, ebenfalls im vorderen Teil, vom übrigen Schuhkörper.
Ferdinand konnte, von einer seltsamen Faszination gepackt, nicht den Blick abwenden. Er sah kurz auf, als eine Frau vorbeiging die den Kopf schüttelte. Er hörte sie murmeln: "Das wird immer schlimmer."
Und dann auf einmal kam es Ferdinand vor, als durchzucke ihn ein Blitz. Sein Gehirn weigerte sich es zu akzeptieren. Er bückte sich zu der Gestalt nach unten und sah in das verwüstete Gesicht. Das konnte nicht sein! Er zitterte ein wenig und richtete sich wieder auf. Er griff in die rechte Innentasche seines Jacketts und holte das alte Foto heraus.
Ein Mann hinter ihm blieb kurz stehen und sagte: "Dem ist nicht zu helfen. Der ist fertig. Lass ihn liegen."
Ferdinand drehte sich um und sah den Fremden verständnislos an. Bevor er etwas erwidern konnte entfernte sich der Mann mit schnellen Schritten.
Erneut bückte sich Ferdinand, ging tief in die Hocke um dem Liegenden ins Gesicht zu sehen. Sein Blick wanderte zwischen dem Foto und der Realität hin-und her. Es bestand kaum Ähnlichkeit mit der Peson auf dem Foto, und doch... er war sich nicht sicher. Was konnte er tun?
Das bildest du dir alles nur ein, meldete sich sein Unterbewußtsein. Du bist fixiert darauf hier Oskar zu finden!
Ja, wahrscheinlich hast du recht. Vielleicht wenn er diesem Menschen in die Augen sehen könnte.
Er streckte seine linke Hand aus und berührte den Schlafenden an der Schulter. Achtlos gingen Passanten vorüber. Jetzt war er so weit gegangen. Nun gab es kein Zurück mehr. Ich muß es wissen, dachte Ferdinand. Er rüttelte an der Schulter. Nach einer Weile bewegte sich der Schläfer. Ein unangenehmer Geruch stieg Ferdinand in die Nase.
"He, he... was soll das... was willst du?"
"Wachen Sie...wach auf... du kannst hier nicht liegen bleiben."
Der Penner schlug langsam die Augen auf. Zwei Augäpfel die heftig hin-und herrollten.
"Lass mich in Ruhe Idiot."
"Hallo Oskar...", Pause "Oskar Sebald...? Bist du das?"
Nun sah dieser unrasierte Mensch ihn mit weit aufgerissenen Augen an. Zahnlücken, schwarze Stummel.
"Was... wer bist du...? Was willst du von mir? He, haste n'paar Euro für mich. Hab noch nichts gegessen."
Und jetzt war sich Ferdinand fast sicher, dass dies sein alter Kumpel aus Bundeswehrzeiten war. Auch wenn er es kaum glauben konnte.
"Du bist Oskar Sebald, ich weiß es jetzt. Was ist bloß mit dir geschehen?"
Die kleine Narbe auf der linken Wange, die er vorhin noch auf seinen Arm gedrückt hatte, war immer noch da. Damals hatte Oskar sich beim Freigang in einer Kneipe geprügelt. Der Lohn dafür war ein Stich in die Wange. Nicht allzu tief. Aber es hatte gereicht. Geblutet hatte er wie ein Schwein. Die Diziplinarstrafe folgte auf dem Fuße.
"Komm steh auf Oskar. Ich will mit dir reden."
"Ach laß mich in Ruhe. Ich kenn dich nicht."
Ferdinand hatte das alte Foto immer noch in der Hand. Er hielt es Oskar vor das Gesicht.
"Das bist du Oskar. Und ich. Weißt du noch, damals bei der Bundeswehr in Grafenwöhr." Der Geruch von billigem Fusel und dreckiger Unterwäsche stieg Ferdinand wieder in die Nase.
"Kenn dich nicht", murmelte der Angesprochene. "Lass mich in Frieden."
Der Mensch da vor mit hat seinen Verstand versoffen, dachte Ferdinand. Er konnte es immer noch nicht fassen.
Er wandte sich wieder an den Liegenden der sich gerade wieder mit dem Gesicht zur Hauswand rollte.
"Komm Oskar ich spendier dir was zu essen und zu trinken."
Bei den letzten Worten kam Leben in das Wrack. Oskar setzte sich ächzend auf, sah Ferdinand durchdringend an und sagte: "Ja, spendier mir was."
Deutlich konnte Ferdinand an den Augen des vor ihm Sitzenden sehen, dass er nicht wußte wer ihn da einlud.
Nun war es an Ferdinand einen kleinen Schock zu bekommen. Ihm wurde bewußt, dass er mit dieser zerlumpten Gestalt nirgenwo hingehen konnte. Jede Gaststätte würde ihnen den Zutritt verwehren. Aber vielleicht gab es irgendwo einen Stehimbiss auf der Straße.
Er steckte das Foto in die Tasche, denn es war zu nichts nütze. Aber nun war er so weit gegangen, jetzt mußte er Wort halten. Und schließlich war es ein Kumpel aus alten Tagen.
Oskar hinkte, zog ein Bein nach, schleifte es förmlich hinter sich her. Ferdinand bog mit ihm nach rechts in eine Straße ein die den etwas seltsamen Namen >Lange Reihe< hatte. Aber er registrierte sofort, dass dies hier die richtige Umgebung war. Fremdländische Akzente drangen an sein Ohr. Frauen mit Kopftüchern, teilweise heruntergekommene Hausfassaden. Verdrecktes Gehwegpflaster. Und gleich am Beginn der Straße ein Grill mit Stehtischen auf einem kleinen Vorplatz. Manche der Vorübergehenden blickten das merkwürdige Paar an. Sie konnten sich nicht erklären was der sauber gekleidete ältere Mann mit dem obdachlosen Penner zu tun hatte. Oskar schien jetzt hellwach zu sein.
"Was möchtest du essen", fragte ihn Ferdinand.
"Spendierst du mir ein Grillhähnchen?"
Ferdinand nickte und bedeutete Oskar sich an einen der Stehtische zu stellen. Hinter ihm rief Oskar: "Ein Bier, ich brauch auch was zu trinken." Ferdinand ging zu dem Straßenschalter. Hinter dem indisch aussehenden Verkäufer sah er, dass sich Hähnchen am Spieß drehten. Auch sein Appetit wurde geweckt.
"Zwei halbe Hähnchen bitte. Und ein Bier. Oder geben sie mir zwei."
Auf einem Pappteller zwei halbe Hähnchen, eine Semmel, Plastikbesteck.
Er zahlte und sagte zu dem Verkäufer: "Das Bier hol ich gleich." Er stellte das Essen auf den kleinen Stehtisch und ging zurück zu dem kioskähnlichen Schalter um zwei Flaschen Bier abzuholen. Gläser gab es keine.
"Also Prost Oskar!"
"Ja Prost, nuschelte Oskar und setzte die Flasche an.
"Und du weißt wirklich nicht mehr wer ich bin Oskar?"
Ferdinand zeigte ihm wieder das Foto. Einen Augenblick schien es als würde ein Funke des Wiedererkennens in Oskars Augen aufglimmen. Dann war es als senke sich wieder ein Vorhang.
"He Kumpel ich bin dir dankbar für die Einladung. Aber ich weiß wirklich nicht wovon du redest. Schau mich an. Der auf dem Foto kann ich gar nicht sein."
Wie wahr, dachte Ferdinand. Kurz kam ihm auch der Gedanke, dass dieser bedauernswerte Mensch sich einfach nicht erinnern wollte. Erinnern an eine Zeit in der er noch zur Gesellschaft gehörte und Zukunftspläne hatte. Ein erneuter Versuch die Erinnerung zu wecken:
"Weißt du noch Oskar, damals in der Kneipe. Als dich einer mit dem Messer attackiert hat. Du hast wie verrückt geblutet. Daher hast du auch die Narbe auf der Wange. Daran hab ich dich ja erst erkannt."
"Kann mich nicht erinnern," war die schmatzende Antwort.
Ferdinand hatte plötzlich einen anderen Gedanken. Vielleicht hatte Oskar bei seinem Leben auf der Straße mal einen Unfall gehabt. Einen Unfall bei dem sein Gedächtnis gelitten hatte. Aber dennoch. Selbst ein schwerer Alkoholiger mußte sich doch noch an seine Zeit als Soldat erinnern können. Während er noch überlegte hatte sein Gegenüber den letztern Schluck aus der Flasche genommen. Ohne Gruß, ohne sich zu bedanken ging er plötzlich los und mischte sich unter die vielen Passanten auf dem Gehsteig.
"Oskaar... ."
Er sah ihm nach. Sah diesen Gang, wenn er zwischendurch in dem Gedränge wieder sichtbar war.
Und dieses Bein das von seinem Körper losgelöst wirkte als führte es einen Eigenleben. Schlenkerte hin- und her, als hinge es nur noch an ein paar Sehnensträngen.
Dann war die Gestalt endgültig verschwunden.