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Kapitel 2 ABENTEUER IM KINDERGARTEN

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Meine Mutti, meine Geschwister und ich zogen aus dem Feuerwehrhaus zu Familie Just. Das waren Leute aus Pratau, die uns zwei kleine Räume ihrer Wohnung zum Wohnen und Schlafen anboten. Im Vergleich zum Feuerwehrhaus war das eine klare Verbesserung.

Nicht weit weg war ein Kindergarten eingerichtet worden, der uns für die nächsten Jahre wie ein Paradies erschien. Meine Mutti meldete mich dort an. „Die Tanten sind sehr nett, hoffentlich bist du es auch?“ Ich wollte ganz lieb und artig sein, aber ob die Tanten das auch so sehen würden? Auf jeden Fall war ich sehr gut aufgehoben, traf andere Kinder zum Spielen und zum Dummheiten machen. Wir konnten spielen, schliefen zur Mittagszeit, und vor allen Dingen bekamen wir zu essen. Wir aßen fast alles, und was wirklich mal nicht schmeckte, verschwand hinter dem Schrank oder unter der Bank.

Als wir älter wurden, wollten wir mittags nicht mehr schlafen. Wir waren zu dritt: die fünfjährigen Zwillingsbrüder Frank und Paul, die nur Unsinn im Kopf hatten, und ich, auch nicht der Artigste. Wir fühlten uns ungeheuer stark. Unser großer Auftritt begann immer nach dem Mittagessen. Es fing harmlos an, indem wir mit den Kissen warfen, wie die Schweine grunzten und den anderen Kindern die Decken wegnahmen – oder wir spielten Gespenster. Das ging so lange, bis uns die Kindergartentanten völlig verzweifelt aus dem Schlafraum holten und zum Abwaschen einteilten: „Raus mit euch Rabauken und ab in die Küche!“ Das war besser als Schlafen, weil man da Reste vom Mittagessen in sich hineinstopfen konnte!

Fast sechzig Jahre später bestellte eine meiner Lieblingstanten über ihre Pflegerin viele Grüße an mich. „Sie hat viel von Ihnen erzählt“, sagte sie.

„Na, das war bestimmt nicht viel Gutes?“, fragte ich etwas zögernd.

„Ja, das stimmt!“, meinte sie und lachte.

Manchmal machten wir es den Tanten sehr schwer. Als wir an einem wunderschönen Sommertag zu dem in der Nähe gelegenen Badeteich „Das große Loch“ gehen wollten, gab es Ärger. „Badesachen bleiben hier, wir baden nackt!“, rief Tante Rosa. Das konnte ich auf keinen Fall akzeptieren, also fing ich an zu diskutieren. „Ohne Hose ist mir das viel zu kalt“, schrie ich los. Ich wollte mich vor den Mädchen nicht nackt zeigen, weil sie mein „Stückchen” nicht sehen sollten. „Dann bleibst du so lange im Klo, bis wir wieder da sind. Und ich werde deiner Mutti sagen, was du hier immer anstellst!“

„Aber ich möchte doch nur mit Badehose baden gehen“, heulte ich. Leider gab es kein Entgegenkommen von der Tante. Sie sperrte mich in die Frauentoilette. Nachdem die Badekinder mit den Tanten zum Teich aufgebrochen waren, schaute ich mich um. Sehr schnell erkannte ich, dass ich mein Gefängnis ohne große Anstrengungen verlassen konnte. Ich kletterte heraus – und nach kurzer Zeit war ich am Badeteich. Natürlich mit meiner Badehose! Das folgende Theater war sehr heftig. „Du gehst auf keinen Fall ins Wasser, Strafe muss sein“, meinte die Kindergartentante Rosa. Ich grinste und verschwand im Wasser, aber nicht ohne die Tante zu bespritzen.

Der Sommer verging viel zu schnell, und irgendwann würde der Weihnachtsmann im Kindergarten auftauchen. Natürlich hatten die Zwillinge und ich große Angst vor dem Weihnachtsmann. Wir wussten genau, dass er irgendwann kommen würde, und wollten auf diesen Tag vorbereitet sein. Als es soweit war, wäre ich am liebsten zu Hause geblieben. Aber meine Mutti wusste von den Tanten, dass sich der Weihnachtsmann ihr Söhnchen vorknöpfen wollte, und brachte mich in den Kindergarten.

Wir hatten gebastelt und einige Lieder gelernt, die wir dem Weihnachtsmann vorschmettern sollten. Das waren Dinge, die ich absolut nicht mochte. Dann war es soweit! Tante Rosa verkündete: „Liebe Kinder, heute kommt der Weihnachtsmann, wir freuen uns doch bestimmt alle darauf!“ Hatte sie „alle“ gesagt? Mir wurde ganz mulmig! Wir schoben die Tische zusammen und stellten die Stühle in einem Kreis auf. Nach den vielen Anspielungen der Tanten in den letzten Wochen ahnte ich, dass ich neben dem Weihnachtsmann eine große Rolle spielen sollte. Deshalb sah ich mich nach Fluchtmöglichkeiten um, fand aber zu meinem Entsetzen keine. Doch unter den Tischen war reichlich Platz. Der alte Weihnachtsmann hatte bestimmt kaputte Knie und würde mir dorthin nicht folgen können.

Als es dunkel wurde, hämmerte es gegen die Tür. Die kleinen Kinder fingen alle gleichzeitig an zu heulen und riefen nach Mama und Papa. Wir Großen waren von der Tür abgerückt und warteten auf die Dinge, die da kommen sollten. Die Tanten ließen den Gast ein. Da stand er nun: der Weihnachtsmann. Seine Mütze war so komisch, dass ich am liebsten daran gezogen hätte. Die Stiefel waren groß und schwer, sein Mantel war dick und hatte viele Taschen. Der große Sack über seinem Rücken war sicher für solche schlimmen Kerlchen gedacht, wie ich eines war. Die feste Rute in seiner Hand, die dunklen Augen und die großen Hände warnten mich. Was mir zuletzt auffiel, und das war das Wichtigste: Er war viel zu rund, um unter die Tische zu kriechen. Ich atmete auf.

Die Tanten stimmten ein Weihnachtslied an, und die Zwillinge und ich murmelten so vor uns hin. Danach sprach der Weihnachtsmann: „Ich möchte von jedem ein Gedicht hören, also, zu mir stellen und dann los!“ Genau darauf lief es also hinaus: Er wollte mich anlocken, in den Sack stecken – und dann ab mit mir in den düsteren Winterwald. Also blieb ich in sicherer Entfernung stehen und brüllte ihm ein Gedicht zu, das der Junge vor mir auch schon aufgesagt hatte.

Natürlich meckerte der Weihnachtsmann: „Hab‘ ich schon gehört, haste nicht was Anderes?“

„Nee, weiß nischt“, brüllte ich zurück. „Naja, darüber sprechen wir später“, meinte er. Dann bekam jeder von uns, auch die Tanten, eine kleine Weihnachtsüberraschung. Ich konnte mich über ein kleines Holzpferd freuen, das schnell in meine Hosentasche wanderte. War’s das nun? Ich wartete sehnsüchtig darauf, dass der Weihnachtsmann in seinen Wald zurückkehrte.

Der Gabensack war leer. So ein schmächtiges Kerlchen wie ich passte da ganz sicher hinein. Oder? Dann war es soweit. „Ja, liebe Kinder, nun hat jeder etwas bekommen. Ich würde jetzt gerne auch etwas mitnehmen – und zwar das frechste Kind unter euch!“ Alle zeigten auf mich. Was er dann sagte, erlebte ich bereits unter den zusammengeschobenen Tischen in der hintersten Ecke. Kein Weihnachtsmann und keine Tanten würden mich jemals hier hervorziehen können. Ich hatte große Angst. Der Weihnachtsmann sah unter den Tisch und fragte: „Wirst du jetzt immer artig sein?“

„Immer und immer“, fiepte ich. Mein kleines Herz schlug heftig, als wollte es in den Sack des Weihnachtsmannes hüpfen. Aber der Weihnachtsmann hatte noch andere unartige Kinder zu besuchen und machte sich endlich auf den Weg, nicht ohne mir noch einmal mit der Rute zu drohen. Dann ging das Weihnachtsfest im Kindergarten zu Ende.

Doch wir wollten ja auch zu Hause Weihnachten feiern. Allerdings hatte meine Mutter zu dieser Zeit keine Arbeit. So besaßen wir kein Geld, um uns einen Weihnachtsbaum zu kaufen.

Das wusste ich mit meinen fünf Jahren damals nicht. Als ich am Heiligabend vom Kindergarten nach Hause kam, stand auf einem Hocker ein Weihnachtsbaum, der mir von der Größe, der Art und dem Schmuck her sehr bekannt vorkam. „Ist das nicht der Baum aus unserem …?“ Weiter kam ich nicht. Meine Mutti vollendete den Satz: „… Kindergarten? Ja, er ist es.“ Und sie begann zu weinen. Ich kam mir mit meinen fünf Jahren sehr schäbig vor: Die Tanten aus dem Kindergarten hatten uns den Baum geschenkt, und ich ärgerte sie jeden Tag. Ich nahm mir vor, immer lieb zu meinen Tanten zu sein.

Wir feierten Weihnachten mit einem geschenkten Baum mit geschenktem Schmuck, und wir freuten uns über die Kleinigkeiten, die wir von netten Menschen bekommen hatten: Plätzchen, Stollen, Lebkuchenherzen. Unsere Familie war fast ein wenig glücklich. Wenn doch nur der Vati hätte dabei sein können!

Als Weihnachten fast vorbei war, geschah ein Unglück. An unserem Baum hing süßes Zuckerwerk als Schmuck und zum Vernaschen. Beim Versuch, meinen Geschwistern, die mich beim Diebstahl dieser verlockenden Stückchen vom Baum ertappten, zu entkommen, riss ich ihn um! Es war wie ein Silvesterknaller, nur etwas verfrüht. Über die Dresche, die ich von meiner Mutti bekam, möchte ich lieber schweigen. Trotzdem schaffte ich es ein Jahr später aus fast denselben Gründen wieder, den Weihnachtsbaum umzulegen.

So verging das Fest, Tauwetter war angesagt. Ich probierte jede Pfütze mit meinen neuen Schuhen aus. Es störte mich nicht, dass sie nicht wirklich neu waren, sondern schon getragen und für den Winter eigentlich nicht geeignet. Trotzdem konnte ich damit prima messen, wie tief die Pfützen waren. Plötzlich blieb ich stecken. Ich ließ die Schuhe einfach im Moller stehen und wartete nur mit Strümpfen an den Füßen auf einen Retter. Es kam ein Mann aus der Nachbarschaft, auf dem ich per Huckepack nach Hause reiten durfte. Die anschließende Dresche verschmerzte ich, leider aber nicht den Verlust meiner im Schlamm steckengebliebenen Schuhe. Die waren am nächsten Tag nämlich nicht mehr da.

Wenn ich bei Dunkelheit unterwegs war, hatte ich immer große Angst vor Hexen. Das kam garantiert von den vielen Schauergeschichten aus dem Märchenbuch. Eines späten Nachmittags trottete ich nach Hause, als eine „alte Hexe“ – die ich deutlich erkannte – mit Stock, Hut, Umhang und Tasche ständig hinter mir her lief. Ich hatte gewaltige Angst. Ging ich auf die andere Seite der Straße, ging sie schneller und blieb mit mir auf gleicher Höhe. Ich begann zu rennen, so schnell ich konnte, huschte um die Ecke, und blieb vor einer Haustür stehen. Ich wollte sehen, was sich die Hexe nun einfallen lassen würde. Nichts! Doch, jetzt kam sie auf mich zu! Ich konnte mich nicht mehr bewegen und starrte sie mit weitaufgerissenen Augen an. Als sie direkt vor mir stand, sagte sie in freundlichem Ton zu mir: „Na Kleiner, lässt du mich mal durch, ich wohne hier.“ Ich wollte nicht mit in das Hexenhaus – von wegen Braten und so. Auf keinen Fall! Sie zog den Schlüssel aus der Tasche, schloss die Tür auf und sagte: „Geh nach Hause, Junge, die Mutti wartet doch auf dich.“ Da erkannte ich die Frau. Es war Frau Bergmann aus unserer Nachbarschaft. Sie hatte wegen des schlechten Wetters solch einen Aufzug, in dem ich sie nicht erkannt hatte. Seit dieser Zeit konnte mir keine Hexe mehr etwas anhaben.

In unserem Ort gehörte es in den Wintermonaten dazu, immer wenn sich die Gelegenheit bot, Kohle zu stehlen. Nicht beim Nachbarn, sondern von den Güterzügen, die nach Berlin fuhren, um die Großstadt zu versorgen. In Pratau hielten sie an, die Dampflokomotiven mussten Wasser fassen. Das hieß: Der Zug blieb stehen! Die Reihe der Waggons war so lang, dass sie weit über den Bahnhof hinausragten. Das nutzten unsere Muttis und einige Männer, um auf die großen Waggons zu klettern und von oben die Kohle einfach hinunterzuwerfen. Unten standen Helfer und sammelten die Kohle in die Pferdewagen, Handwagen und Kinderwagen ein – in genau dieser Reihenfolge.

Manchmal fuhr der Zug los, die Muttis warfen jedoch immer noch Kohle von den Waggons und mussten dann vom fahrenden Zug springen. Es kam auch vor, dass die Kohlendiebe von der Bahnaufsicht gefasst und zur Wache gebracht wurden und erst am nächsten Tag nach Hause durften.

Die geklaute Kohle wurde oft am Bahndamm versteckt und erst später nach Hause gebracht. Genau das war unsere große Chance: Wir Kinder klauten die geklaute Kohle noch einmal! Und das funktionierte so: Ich hatte meine erste Freundin, die einen recht großen Puppenwagen besaß, aus dem ich die Puppen, Zudecken und Kissen entfernte. Wenn wir die Verstecke der Kohlendiebe gefunden hatten, packten wir die Kohle in den Wagen, deckten sie schön zu und setzten die Puppen oben drauf. So fuhren wir als Puppeneltern nach Hause. Der Puppenwagen meiner Freundin war ein wichtiges Transportmittel für uns. Ihre Familie war viel reicher als wir. Deshalb leiteten wir alle Kohletrecks ausschließlich zu uns. Eine nette Geste, für die ich sie fast geheiratet hätte.

Aber diese Hochzeit platzte! Wir waren mal wieder auf Kohlensuche, als ich plötzlich gewaltige Bauchschmerzen bekam. Seitdem weiß ich: Stachelbeeren und Wasser vertragen sich nicht. Wir brachen sofort die Suche ab und machten uns auf den Nachhauseweg. Da ich mich vor meiner Freundin schämte, mich einfach hinzuhocken, liefen wir den Weg bis nach Hause. Die weite Strecke schaffte ich natürlich nicht. Das ging im wahrsten Sinne des Wortes in die Hose!

Zu Hause musste ich auf dem Hof in eine alte Zinkwanne mit kaltem Wasser steigen. Nachdem ich wieder sauber war, musste ich zur Strafe meinen Hintern zum Fenster hinaushalten. Nur gut, dass mich niemand dabei sah. Diese Strafe war so wirkungsvoll, dass ich nie wieder in die Verlegenheit kam, in die Hose zu machen. Aber die große Liebe erlosch. Mein Mädchen wollte natürlich keinen Hosenscheißer heiraten.

Wollhandkrabben und Raketen

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