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ОглавлениеGrundlagen der Politikwissenschaft | 1 |
Inhalt
1.1 | Was heißt hier Wissenschaft? |
1.2 | Was heißt hier Politik? |
1.3 | Analytische Bausteine der Systemforschung |
1.1 | Was heißt hier Wissenschaft? |
1.1.1 | Alltagsnähe der Politik |
Politik – Politikwissenschaft
Über Politik soll und kann gerade in einer demokratischen Ordnung jeder mit gutem Recht mitreden. Sie ist eine Angelegenheit für alle und es gibt kein Wissensmonopol der Politikwissenschaft bezogen auf die Politik. Allerdings sind von den eigenen Interessen ausgehende Verzerrungen und die Unkenntnis der politischen Institutionen an der Tagesordnung. Fast alltäglich ist auch die Neigung zur häufigen und heftigen Diffamierung »der Politik« und »der Politiker« als habgierig oder inkompetent. Diese Beobachtungen verweisen auf ein eigentümliches Verhältnis der Politikwissenschaft zum politischen Reden und Handeln.
Politik ist ein gesellschaftlicher Bereich, zu dem kein privilegierter Zugang einer wissenschaftlichen Elite existiert. Sie ist Teil alltäglicher Erfahrung und Praxis, der gegenüber auch die Wissenschaftler keine absolut neutrale Distanz erreichen können. Politische Entscheidungen erregen die Gemüter, finden Zustimmung bei den einen und vehemente Ablehnung bei den anderen. Diese Stellung der politischen Realität gegenüber der Wissenschaft lässt sich kaum aufheben. Sie bietet der Politikwissenschaft einen eher positiven und einen eher negativen Ausgangspunkt. Die Nähe zum alltäglichen Leben und die spürbaren Auswirkungen politischer Entscheidungen bergen das Risiko, dass die Politikwissenschaft von Vorurteilen und Interessen stark beeinflusst wird. Zugleich bieten die Nähe der politischen Realität und die Betroffenheit durch Politik die Chance unmittelbarer Anknüpfung. Politikwissenschaft braucht zumindest im Normalfall kein Labor.
Zusammenfassung
(Vorwissenschaftliche) politische Erfahrung
Die alltägliche Erfahrbarkeit von Politik bietet der Wissenschaft Möglichkeiten der direkten Anknüpfung, erschwert aber gelegentlich die sachliche Auseinandersetzung.
1.1.2 | Wissenschaft und Methode |
Methodische Kontrolle und Wissnschaft
Was aber ist der Unterschied zwischen einem leidenschaftlichen politischen Streit an einem Stammtisch und einer engagierten wissenschaftlichen Diskussion in einem Universitätsseminar?
Wissenschaft ist ein gesellschaftliches Unternehmen und dient der organisierten Produktion von Wissen. Der wesentliche Unterschied zum alltäglichen Wissen besteht darin, dass die Wissenschaft sich um die dauernde Überprüfung der Verfahren (Methoden), mit denen das Wissen gewonnen wird, bemüht. Das wissenschaftliche Wissen wird im Gegensatz zum alltäglichen Wissen methodisch kontrolliert erarbeitet. Es sind bestimmte Verfahren, die von der Gemeinschaft der Wissenschaftler als der Sache angemessen akzeptiert werden, und die Konzentration auf den gemeinsamen Gegenstandsbereich, die die Aussagen einer Wissenschaft kontrollierbar und überprüfbar machen.
Theoretischer Rahmen der Forschung
Ein weiterer wesentlicher Unterschied zu alltäglicher Rede über Politik besteht in den Ansprüchen wissenschaftlicher Aussagen. Wissenschaft will ein politisches Phänomen auf abstrakter Ebene erklären und verstehen. Sie macht allgemeinverbindliche und systematische Aussagen über Politik, die wegen ihrer methodischen Begründung von beliebigen anderen Menschen (d. h. intersubjektiv) überprüft werden können. Die Aussagen hängen daher nur noch zu einem möglichst geringen Teil von der persönlichen Perspektive des Wissenschaftlers ab; d.h., jeder, der sich mit den entsprechenden Verfahren vertraut gemacht hat, kann unabhängig von seiner Herkunft die Wahrheitsfähigkeit von politikwissenschaftlichen Aussagen beurteilen und von seinem Standpunkt aus kritisieren.
Diese Aussagen sind – wenn es sich um solche einer empirischen Politikwissenschaft handelt – entweder an der Realität überprüfbar (falsifizierbar) oder aber – wenn es um Normen bzw. Verfahren einer normativen Politikwissenschaft geht – in ihrer Begründung durchsichtig und nachvollziehbar. Sie sind in einen theoretischen Rahmen eingebaut, der, so weit dies möglich ist, die grundlegenden Voraussetzungen und Annahmen der eigenen Forschung thematisiert. Der theoretische Rahmen dient der Orientierung und Reflexion des eigenen Forschens; er ermöglicht zudem den Bezug auf die Gesamtgesellschaft, weil er die Zusammenhänge von Politik und Gesellschaft modelliert, die dann wiederum überprüft werden müssen.
Definition
Politikwissenschaft
● Die Politikwissenschaft steht in einem kontinuierlichen, aber reflexiven Verhältnis zur politischen Realität.
● Sie macht methodisch überprüfbare Aussagen über Politik mit einem Anspruch auf Wahrheitsfähigkeit.
● Sie bezieht ihr Forschen auf einen theoretischen Rahmen.
● Sie systematisiert und verallgemeinert ihre Erkenntnis.
1.1.3 | Abhängigkeit der Erkenntnis |
Instrumente der Erkenntnis
Wie das Zusammenspiel aus methodischem Instrumentarium, theoretischem Rahmen und Erkenntnisgewinn aussehen kann, lässt sich an einem historisch-literarischen Beispiel erläutern. Bertolt Brecht beschreibt in seinem Schauspiel »Das Leben des Galilei« das Aufeinandertreffen von traditionalistischen Gelehrten und dem modernen Wissenschaftler Galilei. Während Galilei als Erfahrungswissenschaftler mit dem Blick durch sein Fernrohr neue Entdeckungen am Sternenhimmel macht, verweigern seine traditionalistischen Gegner den Blick durch das optische Gerät. Sie begründen das damit, dass dort nichts sein könne, weil die klassischen Autoritäten dies in ihren Schriften bereits bewiesen hätten. Durch Technik gestützte und systematisch verbesserte Beobachtung steht hier gegen die gehorsame Auslegung der überlieferten Tradition. Die Gelehrten folgen der Autorität der antiken Überlieferung und können daher nicht der technisch vermittelten eigenen Beobachtung vertrauen. Von ihrem Standpunkt aus ist der Glaube an das, was durch das Fernglas zu sehen ist, naiv. Derjenige, der dagegen erfahrungsgestützt argumentiert, wird wiederum ihren blinden Glauben an die überlieferte Autorität als naiv empfinden.
Verschiedene theoretische Raster, die auch Paradigmen (altgriech. für Ur- bzw. Musterbild) genannt werden, führen zu unterschiedlichen Methoden der Erkenntnisgewinnung (hier: Beobachtung und Kommentar) und wirken wie ein Filter für das, was als mögliche Antworten auf die gestellten Fragen zugelassen wird. Ein wesentlicher Unterschied zwischen den Positionen ist zudem, dass sie sich innerhalb der eigenen Konzeption unterschiedlicher Formen der Wissensverbesserung bedienen. Aus Beobachtungen abgeleitete Gesetzmäßigkeiten können durch abweichende Beobachtung korrigiert werden. Das ausschließlich auf Text basierende Wissen kann letztlich nur durch eine neue Lektüre korrigiert werden.
Zusammenfassung
Methoden
Unterschiedliche Verfahren der Forschung führen zu verschiedenen Begründungen von wahrheitsfähigen Aussagen und zu verschiedenen Ergebnissen.
1.2 | Was heißt hier Politik? |
Autonomie und Funktionalität
Was also kann unter Politik verstanden werden? Selbst wenn man die alltagsweltlichen Vorstellungen von Politik als zu unscharf zurückweist und bestenfalls als Anknüpfungspunkte wissenschaftlicher Politikvermittlung gelten lassen will, so sieht man sich einer großen Vielzahl von Bestimmungen des Politischen gegenüber. Grob unterscheiden lassen sich dabei zunächst zwei Richtungen, von denen eine die Autonomie der Politik vertritt, während die andere deren bloße Funktionalität behauptet. In verschiedenen Spielarten ist damit gemeint, dass es entweder eine gewisse Eigengesetzlichkeit des Politischen gibt oder dass Politik als gesellschaftlich, kulturell bzw. vor allem ökonomisch bestimmte Realität verstanden werden muss, deren wesentlichen Entwicklungen von außen vorgegeben werden.
Zusammenfassung
Zwei Verständnisse von Politik
● Ist Politik ein eigenständiger gesellschaftlicher Bereich (Autonomie der Politik), so kann sie im Kern nur aus sich selbst erklärt werden, wobei andere soziale und kulturelle Faktoren nicht ausgeblendet werden dürfen.
● Ist das, was in der Politik geschieht, vollkommen von anderen gesellschaftlichen Bereichen abhängig (Funktionalität der Politik), so muss Politik von den dort ablaufenden Prozessen her verstanden werden und könnte auch tendenziell ersetzt werden.
Politik in der Moderne
Moderne Gesellschaften weisen zahlreiche mehr oder weniger klar erkennbare Teilbereiche auf, die sich zwar deutlich voneinander unterscheiden lassen, die aber zugleich eng miteinander verbunden sind. Die Art und Intensität der Verbindung hat sich im Laufe der Geschichte stark verändert.
Verdeutlichen lässt sich das an der Beziehung von Politik, Wirtschaft und Religion vom Mittelalter bis in die Gegenwart hinein. Auch eine mittelalterliche Gesellschaft hatte eine wirtschaftliche Sphäre (Subsystem), die nicht ohne Auswirkungen auf die Machtmöglichkeiten des Königs war. Der Herrscher eines großen und reichen Landes konnte mehr Glanz entfalten und mehr Macht gegenüber anderen ausüben, als dies bei einem armen Fürsten der Fall war. Trotzdem war die Herrschaft des Monarchen nicht in erster Linie durch den Erfolg der jeweiligen »Volkswirtschaft« gerechtfertigt, wie das gelegentlich in modernen Demokratien zu sein scheint, sondern zuallererst durch göttliche Gnade.
Dieses Verhältnis dreht sich in der Moderne fast vollkommen um. Religiöse Rechtfertigung ist für politische Herrschaft nicht mehr angemessen. Der moderne Verfassungsstaat basiert sogar auf der weltanschaulichen Neutralität der Verfassungsordnung. Ökonomische Leistungen werden dagegen für den modernen Staat wesentlich wichtiger. Politik greift steuernd in den Markt ein. Die Ökonomie produziert die nötigen materiellen Mittel, die vom Staat für die Erreichung politischer Ziele mit Steuern belastet werden können. Dieses wechselseitige Leistungsverhältnis bis hin zur Durchdringung der gesellschaftlichen Teilbereiche (Subsysteme) nennt man Interpenetration.
Definition
Gesellschaftliche Subsysteme
Moderne Gesellschaften haben in der gesellschaftlichen Entwicklung (= Evolution) zahlreiche gesellschaftliche Teilbereiche (= Subsysteme) ausgebildet, die für die Gesamtgesellschaft bestimmte Funktionen erfüllen und eigenen Gesetzmäßigkeiten folgen. Zwischen den verschiedenen Systemen bestehen mehr oder weniger dichte Verbindungen, wobei Leistungen ausgetauscht werden.
Damit drängt sich natürlich die Frage auf, was Politik für die anderen gesellschaftlichen Bereiche bzw. für die Gesamtgesellschaft leisten soll und kann. Das, was Politik für die Gesellschaft bedeuten kann, lässt sich ohne den jeweiligen historischen und kulturellen Kontext nur schwer bestimmen. Es ist abhängig von den Selbstdeutungen der jeweiligen Gesellschaft, den Erwartungen der Beherrschten und der Machthaber. Daher sollen zunächst einige klassische Politikbegriffe und deren orientierende Bedeutung vorgestellt werden.
1.2.1 | Klassische Politikbegriffe |
Perspektiven und praktische Folgen
Für eine Einteilung, wie sie in Abbildung 1 vorgenommen ist, müssen immer Vereinfachungen und Zuspitzungen vorgenommen werden. Es versteht sich von selbst, dass ein empirisch-analytisches Wissenschaftskonzept im Dienste einer emanzipatorischen Politik stehen kann und es ist ebenso selbstverständlich, dass dieses Konzept nicht blind sein muss gegenüber Werten und Normen. Unterschiedlich sind allerdings die zentralen Aspekte. Bei einem empirisch-analytischen Vorgehen läge der Schwerpunkt auf der Untersuchung von Ursachen und ihren Wirkungen und nicht primär auf der idealen Umsetzung von Normen. Dagegen findet ein normativer Ansatz seine wesentliche Bezugsdimension in dem erkennbaren Bezug der praktischen Politik zum Sollen (moralische Rechtfertigung, Verfassung etc.). Während eben dieses Sollen den empirisch arbeitenden Kollegen zunächst als soziales Faktum interessiert, geht es in einem normativ orientierten Diskurs nicht um das bloße Faktum einer Regel, sondern zuerst um ihre Begründbarkeit und dann um ihre Wirkungen auf den politischen Prozess.
Selektive Wirkung
Das lässt sich am Beispiel einer Revolution zeigen. Der normativ-(ontologisch) arbeitende Wissenschaftler wird ein solches Ereignis zunächst unter dem Aspekt betrachten, welche Form legitimer Herrschaft durch diese umgestürzt wurde. Er wird nach der Begründung der neuen Herrschaft fragen und diese einer Kritik im Lichte bestimmter Ordnungsideale unterziehen. Die Dimension des sozialen Kampfes, die der dialektische Ansatz besonders betonen würde, käme dabei naturgemäß eher weniger in den Blick. In der kritisch-dialektischen Perspektive wiederum wäre die zentrale Frage, welche gesellschaftlichen Gruppen als Träger der Umwälzungen nun verstärkt politisch partizipieren können und ob sich die sozialen Verhältnisse verbessert haben. Für die empirisch-analytische Wissenschaft wären zunächst einmal die konkreten Bedingungen, unter denen es zu einer Revolution kommt, von Interesse. Sie fragt, ob sich aus der Beobachtung Aussagen über deren Verlaufsgesetzlichkeit ableiten lassen und wie für zukünftige Entwicklungen (je nach Standpunkt) hier Vorsorge getroffen werden kann. Dass all dem wesentlich verschiedene theoretische Konzepte von Politik zugrunde liegen, wird uns noch weiter beschäftigen (→ vgl. Kapitel 2.1).
Abb. 1 |
Die drei klassischen Politikbegriffe
Zusammenfassung
Auswirkung der Politikbegriffe auf die Forschung
Die Vorstellung, die von Politik bereits vor dem Beginn der eigentlichen Forschungstätigkeit existiert, führt dazu, dass der Gegenstand unter einer bestimmten Perspektive behandelt wird (selektive Ausrichtung).
1.2.2 | Die drei analytischen Dimensionen der Politik |
Polity – Politics – Policy
In der gegenwärtigen Situation der Politikwissenschaft, die sich als eine moderne empirische Sozialwissenschaft versteht, hat sich aus dem empirisch-analytischen Ansatz eine andere Feineinstellung des Politikbegriffes ergeben, die vom Fach insgesamt akzeptiert wird. Dabei wird Politik als gesellschaftlicher Teilbereich verstanden, der für die Gesamtgesellschaft allgemeinverbindlich Entscheidungen trifft. Die Qualität dieser Entscheidungen wird nicht vorwegnehmend beurteilt. Allerdings werden drei analytische Dimensionen der Politik unterschieden. Gemeint ist die Unterscheidung nach Polity, Politics, Policy (s. Abb. 2).
Nutzen der Differenzierung
Das Konzept der analytischen Dimensionen des Politischen geht davon aus, dass sich diese drei Aspekte in jedem politischen Phänomen mehr oder weniger deutlich identifizieren lassen. Es bildet einen wesentlichen Ausgangspunkt moderner Politikwissenschaft. Die Differenzierung des Politikbegriffs in diese drei Dimensionen erlaubt, Beziehungen zwischen diesen Teilaspekten herzustellen. Dies ist etwa der Fall, wenn die Art und Weise der Interessenauseinandersetzung (Politics) durch die Vorgaben der Polity erklärt werden sollen. So ermöglichen beispielsweise das Recht auf freie Meinungsäußerung (Art. 5 GG) und die Versammlungsfreiheit (Art. 8 GG) bestimmte Formen des öffentlichen Protestes. Gäbe es diese Garantien nicht, sähen die Politics völlig anders aus.
Abb. 2 |
Analytische Dimensionen der Politik
Zusammenfassung
Nutzen des analytischen Politikbegriffs für die Forschung
● Mit der Differenzierung in die drei analytischen Dimensionen von Politik (Polity, Politics und Policy) lässt sich derjenige Teilbereich deutlicher benennen, der gerade gemeint ist.
● Die Differenzierung ermöglicht es, die besondere Ausprägung eines Teilbereichs durch einen anderen Teilbereich zu erklären.
1.3 | Analytische Bausteine der Systemforschung |
1.3.1 | Kategorienbildung mit System |
Beschreibung
Wie jede andere Wissenschaft auch benötigt die Politikwissenschaft analytische Werkzeuge. Eine empirisch-analytische Politikwissenschaft (→ vgl. Kapitel 1.2.1), die darum bemüht ist, Erkenntnisse aus der Beobachtung zu gewinnen, braucht Kategorien, um die beobachtete Wirklichkeit für die Analyse, aber auch für die Beschreibung handhabbar zu machen. Dabei werden Teile der beobachteten Wirklichkeit zunächst voneinander abgegrenzt und zueinander in Beziehung gesetzt. Im einfachsten Fall erlaubt dies eine systematische Beschreibung.
Anspruchsvoller ist es, wenn mit einer oder mehreren Kategorien eine andere Kategorie erklärt werden soll. Als Beispiel kann folgender angenommener Erklärungszusammenhang gelten: Spenden von Wirtschaftsverbänden an politische Parteien sorgen dafür, dass sich die Parteien bei ihren Entscheidungen nach den Interessen dieser Wirtschaftsverbände richten. Um einen solchen Erklärungszusammenhang formulieren zu können, reicht es nicht, diesen Vorgang ein einziges Mal beobachtet zu haben. Für eine solche nicht nur für eine Partei und eine Situation geltende Aussage ist es notwendig, die entsprechende Beobachtung in einer wiederkehrenden Zahl von Fällen zu machen und nicht nur im Zusammenspiel von einem Wirtschaftsverband und einer Partei. Vielmehr müssen mehrere Wirtschaftsverbände und mehrere Parteien betroffen sein. Darüber hinaus muss das jeweilige Verhalten auf eine nachvollziehbare und verlässliche Weise »gemessen« werden (→ vgl. Kapitel 1.1.2).
Erklärung
Prognose
Gelangt man zu der Erkenntnis, dass der ermittelte Erklärungszusammenhang robust ist, können vorsichtige Prognosen aufgestellt werden. Wird z. B. beobachtet, dass eine bestimmte Partei regelmäßig Spenden in nennenswerter Höhe von verschiedenen Verbänden der deutschen Wirtschaft erhält und fortgesetzt eine Politik im Interesse dieser Verbände betreibt, dann kann prognostiziert werden, dass die Partei den Interessen der Wirtschaft gegenüber besonders aufgeschlossen sein wird, wenn sie weiterhin Geldmittel von den Wirtschaftsverbänden erhält. Voraussetzung hierfür ist natürlich, dass sich der entsprechende Erklärungszusammenhang vorher in der Realität bewährt hat, er also vorläufig bestätigt wurde. Man spricht hier von Vorläufigkeit, weil man nie weiß, ob es in der Realität nicht einen Fall geben wird, der belegt, dass der Zusammenhang nicht immer oder nicht mehr gilt.
Messung
Zur »Messung« und zur Überprüfung von vermuteten Zusammenhängen hält die empirische Forschung einen Werkzeugkasten mit relativ ausgereiften methodischen Instrumenten bereit. Hier geht es vor allem um den Aspekt, dass eine systematische Wissenschaft analytische Werkzeuge benötigt, um die Realität handhabbar zu machen. Dabei soll insbesondere eine Auseinandersetzung mit Kategorisierungen und ihrem Nutzen erfolgen.
Kategorien
Wie müssen Kategorien gebildet werden, damit sie auch tatsächlich einen Erkenntnisgewinn bringen? Kategorien sollten einen gewissen Allgemeinheitsgrad aufweisen. Sie sollten also mehr als einen einzigen Fall abdecken. Sinnvoll ist es, sich auf eine Gruppe von ähnlich gelagerten Fällen zu konzentrieren. Die Ähnlichkeit bezieht sich dabei auf das mit der Kategorie erfasste Merkmal. Bei der Kategorie »Wirtschaftsverband« z. B. ergibt sich die Ähnlichkeit erstens aus der Charakterisierung als Verband und zweitens aus der näheren Bestimmung, dass Interessen der Wirtschaft wahrgenommen werden. Definiert man Verbände in einer ersten Annäherung als Organisationen, welche die Interessen ihrer Mitglieder im öffentlichen Raum vertreten, welche aber keine Regierungsbeteiligung anstreben, dann ist eine wichtige Abgrenzung gegenüber Parteien gefunden. Gegenüber dieser anderen wichtigen Institution im öffentlichen Raum zur Interessenwahrnehmung wäre die Definition also trennscharf. Man wird kaum eine Institution finden, die definitionsgemäß sowohl Verband als auch Partei ist. Denn entweder strebt die Organisation eine Regierungsbeteiligung an oder nicht. Das eine Mal ist sie eindeutig Partei und das andere Mal eindeutig Verband.
Im betrachteten Fall geht es jedoch nicht nur um einen Verband, sondern um einen, der die Interessen der Wirtschaft vertritt. Hier könnte man den Bundesverband der Deutschen Industrie, Handwerksverbände, den Bundesverband der Freien Berufe oder die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände nennen. Kategorisierungen sind allerdings nur dann sinnvoll, wenn mit ihnen ein Unterschied beschrieben, erklärt oder prognostiziert werden kann. Dies ist beispielsweise der Fall, wenn die Aussage getroffen wird, dass Wirtschaftsverbände häufig einflussreicher sind als Freizeitvereine. Eine Unterscheidung einzuführen und dann nicht mehr mit dieser zu arbeiten, ist hingegen meistens wenig sinnvoll.
Zusammenfassung
Kategorienbildung
● Kategorien sollten einen gewissen Allgemeinheitsgrad aufweisen und sich trennscharf von einander abgrenzen lassen.
● Wenn mit einer Kategorisierung anschließend nicht mehr gearbeitet wird, deutet dies darauf hin, dass sie möglicherweise entbehrlich ist.
1.3.2 | Forschungsheuristiken |
Akteurorientierte Ansätze
Zur Analyse politischer Zusammenhänge wird häufig auf methodologische Anleitungen zurückgegriffen (Methodologie = Lehre von den wissenschaftlichen Methoden). Es werden also Anleitungen herangezogen, die theoretisch fundierte Methoden zur wissenschaftlichen Erkenntnisgewinnung enthalten. Sie arbeiten meist mit bestimmten Variablen und Kategorisierungen, die die Forschung anleiten sollen. So wird beispielsweise vorgeschlagen, hauptsächlich vom Handeln der zentralen Akteure auszugehen. Akteure sind damit die handelnde Einheit. Dies können einzelne Individuen wie der Bundespräsident, der Bundeskanzler, ein Ministerpräsident, der Vorsitzende eines Verbandes, aber auch Institutionen sein wie beispielsweise der ADAC, der Bundesrat, die Finanzministerkonferenz oder die Europäische Kommission. Akteurorientierte Ansätze beziehen sich also auf das Handeln der Akteure. Dabei wird jedoch nicht das Handeln nur eines Akteurs betrachtet, sondern vor allem wie die verschiedenen Akteure miteinander umgehen und sich u.U. gegenseitig beeinflussen.
Die methodologischen Anleitungen, in denen die zentralen Variablen sowie die expliziten und impliziten Hypothesen über ihr Verhältnis zueinander enthalten sind, kann man auch als Forschungsheuristiken bezeichnen. Hiervon gibt es in der Politikwissenschaft eine ganze Reihe. An dieser Stelle werden zwei dieser Forschungsheuristiken näher betrachtet:
1 der Rational Choice-Ansatz, der bestimmte Annahmen über das Verhalten der Akteure macht und Vorkommnisse auf das Handeln von Akteuren zurückführt,
2 der akteurzentrierte Institutionalismus, der davon ausgeht, dass materielle Politik nicht nur von Akteuren, sondern auch von den Institutionen beeinflusst wird, die die Akteure umgeben.
Rational Choice-Ansatz
Mit dem Rational Choice-Ansatz werden Ereignisse im Wesentlichen auf das Handeln von Akteuren (= die jeweils Handelnden) oder Akteursgruppen zurückgeführt. In solchen Handlungstheorien werden Akteure als die zentralen Gestalter der Umwelt betrachtet. Sie handeln auf der Basis von vorher getroffenen Entscheidungen. Damit dies überhaupt möglich ist, wird davon ausgegangen, dass sie eine gewisse Wahlfreiheit besitzen. Zentrale Annahme des Rational Choice-Ansatzes ist jedoch, dass die Akteure rational handeln; mit anderen Worten, die Akteure haben klare Vorlieben und Ziele (Präferenzen) und verfügen über alle wichtigen Informationen, um diesen Vorlieben und Zielen entsprechend entscheiden zu können. Dies heißt dann auch, dass den Akteuren alle wichtigen Handlungsmöglichkeiten bekannt sind und sie auch abschätzen können, welche dieser Möglichkeiten ihnen den größten Nutzen bringt. Dass diese Annahme nicht besonders realistisch ist, wurde vielfach kritisiert. Allerdings machen ihre Verfechter geltend, dass sie so lange mit dieser Annahme arbeiten können, bis es einen Ansatz gibt, der die tatsächlich beobachtbaren Ergebnisse menschlichen Handelns besser erklären und prognostizieren kann. Wenn die Erklärungskraft groß sei, wäre es nicht schädlich, so zu tun, als ob die Annahme tatsächlich gegeben sei.
Das grundlegende Problem, das schon Hobbes umtrieb, nämlich die Annahme, dass die reine Verfolgung von Eigeninteressen ins Chaos führt, wenn nicht ein gegenseitiger Vertrag geschlossen wird greift für die Verfechter des Rational Choice-Ansatzes unter Hinweis auf Adam Smith und sein grundlegendes Werk »The Wealth of Nations« (1776) nicht. Smith und mit ihm die klassische und neoklassische Wirtschaftswissenschaft nehmen nämlich an, dass sich das größte Gemeinwohl einstellt, wenn die Akteure nur ihre Eigeninteressen verfolgen. Allerdings gilt dies nur unter gewissen Annahmen wie dem Schutz des Eigentums, der Freiheit des Handels usw., weswegen auf den Leviathan des Thomas Hobbes nicht ganz verzichtet werden kann (→ vgl. Kapitel 2.3.2).
Rational Choice-Ansätze gehen also von rationalen Erwartungen der Akteure aus und führen Entwicklungen wie beispielsweise den vielfach beklagten Bürokratisierungsprozess auf Entscheidungen dieser Akteure zurück. Will man entsprechende Prozesse erklären, müsste man – folgt man der »Forschungsanleitung« des Rational Choice-Ansatzes – die Vorlieben und Ziele sowie die daraus resultierenden Entscheidungen der beteiligten Akteure analysieren.
Akteurzentrierter Institutionalismus
Einen anderen »Bauplan« für Forschungsanstrengungen gibt der akteurzentrierte Institutionalismus an die Hand. Er sagt, dass nicht nur die Akteure betrachtet werden sollen, sondern auch die Institutionen, die diese umgeben. Auch wird nicht davon ausgegangen, dass Akteure stets rational handeln; es wird auch nicht so getan, als ob sie dies täten. Vielmehr werden beispielsweise die Handlungsorientierungen (z. B. Wohlstand, Reputation oder Nächstenliebe) der Akteure betrachtet und es wird berücksichtigt, dass diese nur über begrenzte Kapazitäten der Informationsverarbeitung verfügen. Dabei interessieren insbesondere die aus Einzelakteuren zusammengesetzten Akteure (z. B. Verbände und Unternehmen), denn sie verfügen über verhältnismäßig großen Einfluss auf Politikprozesse und damit auch auf das Ergebnis politischer Auseinandersetzungen.
Wie schon erwähnt, werden neben diesen Akteuren auch Institutionen in die Analyse einbezogen. Dabei wird ein weiter Institutionenbegriff zugrunde gelegt. Es werden nicht nur die Institutionen wie der Bundestag, der Bundesrat und das Bundesverfassungsgericht mit den jeweils geltenden Verfahrensregeln (etwa: was schreibt das Grundgesetz über den Gesetzgebungsprozess vor?) betrachtet. Vielmehr interessieren auch die vielen formellen und informellen Regeln, die helfen, Verhalten zu erklären oder vorherzusagen. Dazu gehört das Demonstrationsrecht genauso wie beispielsweise der Umstand, dass im Bundestag im Rahmen der Aussprache über den Haushalt des Bundeskanzleramts immer auch eine Generaldebatte über die Politik der jeweiligen Bundesregierung stattfindet.
In welchem Verhältnis stehen Akteure und Institutionen im akteurzentrierten Institutionalismus zueinander? In einer eher kurzfristigen Betrachtung muss man davon ausgehen, dass Akteure innerhalb eines gegebenen institutionellen Kontextes handeln. Die Institutionen können das Handeln der Akteure fördern, aber auch hemmen und kanalisieren. Ist beispielsweise für die Verabschiedung eines Gesetzes die Zustimmung des Bundesrats erforderlich und besitzen die Parteien, die die Bundesregierung tragen, nicht die erforderliche Mehrheit im Bundesrat, ist die Bundesregierung in ihrer politischen Gestaltungsfähigkeit beschränkt. Auch wenn Institutionen als kurzfristig nicht veränderbar betrachtet werden müssen, können sie doch in einer mittel- und längerfristigen Perspektive auch selbst Gegenstand der politischen Auseinandersetzung mit dem Ziel einer Veränderung werden. Ein gutes Beispiel hierfür sind die Bemühungen um die Reform des deutschen Föderalismus (→ vgl. Kapitel 3.5.3).
Leistungen von Forschungsheuristiken
Welche Leistungen erbringen Forschungsheuristiken wie der Rational Choice-Ansatz und der akteurzentrierte Institutionalismus für den Forschungsprozess? Sie leiten diesen an. Sie sagen, auf welche Faktoren insbesondere zu achten ist. Allerdings erschließt sich aus dem Hinweis, dass im Wesentlichen Akteure (Rational Choice-Ansatz) bzw. Akteure und Institutionen (akteurzentrierter Institutionalismus) wichtig sind, noch kein genauer Bauplan für die eigene Forschung. Konkrete systematisierende Anleitungen müssen erst aus der jeweiligen Fragestellung entwickelt werden. Möchte man beispielsweise wissen, wie verschiedene Formen des Föderalismus (→ vgl. Kapitel 3.5) auf die Reformfähigkeit eines Nationalstaats wirken, leitet sich daraus ab, welche institutionellen Vorgaben genauer zu betrachten sind. Dies können beispielsweise die Regeln sein, aus denen sich das Ausmaß der Beteiligung der Länder an der Gesetzgebung des Bundes ergibt. Wichtig ist auch die Eigenständigkeit der Länder, die sich z. B. anhand der Gesetzgebungskompetenzen und dem Ausmaß ihrer Finanzhoheit ablesen lässt.
Neben den institutionellen Gegebenheiten wirken jedoch auch andere Faktoren auf die Reformfähigkeit eines Nationalstaats. Folgt man dem akteurzentrierten Institutionalismus, sind auch die wichtigen Akteure zu betrachten. Damit gelangen die Verbände ins Blickfeld und ihre Fähigkeit, den politischen Prozess zu beeinflussen (→ vgl. Kapitel 3.1). Wichtig für die Reformfähigkeit dürfte auch das Parteiensystem sein und die Chance, stabile Mehrheiten im Parlament zu organisieren (→ vgl. Kapitel 3.2). Von Interesse könnte zudem die Weltmarktoffenheit sein. Im jeweiligen Forschungsdesign (= Plan für eine systematische empirische Forschung) müssten diese verschiedenen, als relevant herausgearbeiteten Variablen berücksichtigt werden. Wie dieses Forschungsdesign im Einzelnen zu gestalten ist, wird in entsprechenden Methoden-Lehrveranstaltungen und Lehrbüchern vermittelt.
Zusammenfassung
Was leisten Forschungsheuristiken?
Eine Forschungsheuristik hilft, die jeweils relevanten Variablen zu ermitteln. Sie weist den Forschungsprozess in die »richtige« Richtung. Die tatsächlich erklärungskräftigen Variablen ergeben sich aus der Forschungsfrage. Sie können nicht ohne Vorkenntnisse, die aus der einschlägigen Literatur gewonnen werden müssen, benannt werden. Das konkrete Forschungsdesign schließlich legt fest, wie die Untersuchungsfälle auszuwählen sind.
Lernkontrollfragen
1 | Was unterscheidet die Politikwissenschaft von einem Alltagsverständnis von Politik? |
2 | Welche zentralen Aspekte geben die klassischen Politikbegriffe vor und was folgt aus diesen für die konkrete Forschung? |
3 | Welche Ausdifferenzierung hat der empirisch-analytische Politikbegriff gefunden? |
4 | Nennen Sie bitte Beispiele für eine Beschreibung, eine Erklärung und eine Prognose. |
5 | Erfüllt Ihrer Meinung nach die Unterscheidung von Polity, Policy und Politics die Kriterien für eine sinnvolle Kategorisierung? (Diskussionsfrage; gut geeignet für Arbeitsgruppen.) |
6 | Welche Funktion erfüllen Forschungsheuristiken? Verdeutlichen Sie dies anhand von Beispielen. |
Literatur
Alemann, Ulrich von/Forndran, Erhard (2005), Methodik der Politikwissenschaft, 7. Auflage, Stuttgart.
Eingeführtes Lehrbuch zur Methodik der Politikwissenschaft, in dem neben vielen praktischen Fragen (Arbeitstechniken, Aufstellung eines Forschungsplans, Arten der Erhebung von Daten usw.) auch die klassischen Politikbegriffe behandelt werden.
Behnke, Joachim/Baur, Nina/Behnke, Natalie (2010), Empirische Methoden der Politikwissenschaft, 2. Auflage, Paderborn u.a. Systematisch aufgebautes Methodenlehrbuch, das ausgeprägt mit politikwissenschaftlichen Beispielen arbeitet.
Böhret, Carl/Jann, Werner/Kronenwett, Eva (1988), Innenpolitik und politische Theorie, 3. Auflage, Opladen, insbesondere S. 1–12. Immer noch äußerst lohnendes Lehrbuch, in dem auf den hier interessierenden ersten Seiten die unterschiedlichen Politikbegriffe sehr schön verdeutlicht werden.
Braun, Dietmar (1999), Theorien rationalen Handelns in der Politikwissenschaft. Eine kritische Einführung, Opladen.
Lehrbuch, das in einen wichtigen Theoriebereich der Politikwissenschaft einführt. Es werden sowohl die Grundlagen der ökonomischen Theorie der Politik als auch Anwendungen in einzelnen Teilbereichen dargestellt.
Frantz, Christiane/Schubert, Klaus (Hrsg.) (2010), Einführung in die Politikwissenschaft, 2. Auflage, Münster.
Amerikanischen »Textbooks« nachempfundenes, großformatiges Lehrbuch, das in seinem Aufbau den drei Dimensionen des wissenschaftlichen Politikbegriffs folgt. Der Band ist mit seinen zahlreichen Karikaturen, Grafiken und Fotos sehr anschaulich.
Habermas, Jürgen (1968), Erkenntnis und Interesse, Frankfurt/Main.
Habermas wendet sich in seinem Buch gegen die Vorstellung von einer »objektiven Erkenntnis«. Denn jedes Bemühen um Erkenntnis sei von theoretischen Grundannahmen und vom jeweiligen Interesse an einer spezifischen Erkenntnis vorgeprägt.
Mayntz, Renate/Scharpf, Fritz W. (1995), Der Ansatz des akteurzentrierten Institutionalismus, in: Renate Mayntz/Fritz W. Scharpf (Hrsg.), Gesellschaftliche Selbstregelung und politische Steuerung, Frankfurt/Main u. a., S. 39–72. Der zentrale Aufsatz, in dem der Ansatz des akteurzentrierten Institutionalismus erstmalig von den seinerzeitigen Direktoren des Max- Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung in Köln entwickelt wird. In dem Sammelband, in dem der Aufsatz erschienen ist, finden sich weitere Beiträge, in denen der Ansatz bereits angewandt wurde.