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3. Mai 2003: Simons erstes Spiel

Hannes hatte wirklich nicht viel Erfahrung mit Kindern, aber Simon kam ihm sehr klein vor. Der Junge schaute wieder zu ihm nach oben und musterte ihn. Dabei entblößte er eine Zahnlücke in seinem Unterkiefer. Die beiden vorderen Schneidezähne hatten sich verabschiedet und warteten auf ihre Nachfolger.

„Gut Simon, dann lass uns erst noch einmal reingehen. Hast Du schon gefrühstückt?“

Simon ging an Hannes vorbei und nickte. Als er in der Wohnung war, fiel ihm sofort der Tischkicker auf, der in Hannes’ Flur stand. Die Drehstangen befanden sich in einer Höhe, die nur unwesentlich niedriger als Simons Kopf war.

„Cool, das ist ein Fußballautomat, oder?“

Hannes musste lachen.

„Ja, kann man sagen, ein Fußballautomat. Das ist ein cooles Wort. Man kann auch Kicker dazu sagen!“

„Kicker“, murmelte, der Junge, drehte kurz an einer der Stangen und ging daran vorbei.

„Wohin?“, fragte er und drehte sich zu Hannes um.

„Gerade aus, in die Küche!“

Simon blieb vor dem Küchentisch stehen.

„Darf ich mich setzen?“

„Natürlich, klar. Du bist aber höflich!“

Simon hob den rechten Nasenflügel.

„Mama sagt, man soll immer fragen und sich nicht einfach setzen!“

„Das stimmt, da hat Deine Mama ganz recht!“

Hannes wollte sich nicht setzten, das Pulsieren in seinem Hintern war allgegenwärtig.

Simon legte seinen Rucksack auf den Tisch und zog ein Buch daraus hervor.

„Soll ich Dir vielleicht etwas vorlesen?“

„Nein, ich kann doch schon selbst lesen!“, antwortete der Junge selbstbewusst.

„Du musst was schreiben. Kinder dürfen nicht mit Fremden weggehen, nur mit Freunden oder Familienangehörigen!“

„Genau. Auf keinen Fall mit Fremden mitgehen!“, antwortete Hannes und setzte sich jetzt doch zu dem Jungen an den Tisch. Ähnlich wie im Taxi am frühen Morgen und am Badewannenrand vor einer guten Stunde verlagerte er sein Gewicht auf die linke Seite seines Hinterns.

„Hier, das ist mein Piraten-Freundebuch. Da stehen alle meine Freunde drin. Ich kann nur mit Dir mitgehen, wenn Du mein Freund bist. Also musst Du Dich auch in das Freundebuch eintragen!“

Simon blätterte eine Seite auf und legte Hannes sogar einen Stift dazu.

Der Kleine beeindruckte ihn schon jetzt. Er wusste, was er wollte, und war noch dazu ein helles Köpfchen. Für einen Erstklässler – älter konnte er auf keinen Fall sein – war er sehr gewieft. Ob er tatsächlich schon lesen konnte?

„Hier, das ist Deine Seite!“, sagte Simon und schob Hannes das Buch und den Stift zu.

Der Junge hatte einen grünen Hintergrund gewählt. Kein schlechtes Omen. Hannes nahm den Stift und begann die Seite langsam auszufüllen:

Name: Hannes Grün

Bekannt als: Eugene der Zeitreisende

Adresse: gleich gegenüber von Simon

Telefon: 0421 48 33 94

E-Mail: grünweißerhannes@web.de

Geburtstag: 02. Juli 1968

Sternzeichen: Krebs

Wir kennen uns: weil wir Nachbarn sind

Meine Hobbys: Werder Bremen, Musik, Lesen

Lieblingsschulfach: Sport

Ich bin ein Fan von: Werder und Simon

Das sollte es öfter geben: Auswärtssiege

Der coolste Film: Cool Runnings

Mein Lieblingssänger/Lieblingsband: AC/DC

Der absolut beste Song: Bayern hat verloren

Das stärkste Game: Kicker

Was ich gut kann: aus dem Toilettenfenster klettern

Was ich nicht leiden kann: Zwiebeln

Wen ich am liebsten habe: meinen Teddy

Meine Lieblingstiere: Hunde

Mein allergrößter Wunsch: die Meisterschaft 2004

Es war unglaublich, was die alles wissen wollten. Hoffentlich kamen derartige Bücher nie in die falschen Hände. Er schob Simon das Freundebuch und den Stift zurück. Dieser musterte den Eintrag kurz, dann klappte er das Buch zusammen und steckte es in seinen Rucksack zurück.

„Das lese ich mir heute Abend in Ruhe durch!“

„Gut. Hast Du Lust, Dir ein Werder-Spiel anzuschauen?“, fragte Hannes, stand auf und befreite seinen Hintern von den Schmerzen.

Simon nickte.

„Klar, warum nicht. Ehrlich gesagt, habe ich noch nicht so viel Ahnung, ich kenne auch noch nicht alle Spieler. Aber ich weiß, dass Werder letzte Woche gewonnen hat, stimmt’s?“

Hannes schüttelte langsam den Kopf.

„Nein, leider nicht, Simon. Sie haben 1:0 in Kaiserslautern verloren!“

„Na ja“, antwortete Simon, steckte seinen Stift in die Seitentasche seines Rucksacks und stand auf, „dann wird Werder eben heute gewinnen!“

Hannes lächelte.

„Glaubst Du?“

„Ja, ich glaube, Werder gewinnt. Die sind doch gut, oder?“

„Stimmt. Da hast Du recht, die sind gut. Dann lass uns gehen, oder?“

„Gut! Gehen wir. In meinem Bauch fängt es schon an zu kribbeln!“

Hannes machte sich mit dem Jungen gleich auf den Weg zum Stadion, denn er musste noch zwei Karten besorgen. Das Stadion war schon fast ausverkauft, also galt es, früh dran zu sein. Normalerweise saß er in Block 55, wo er eine Dauerkarte hatte. Aber dahin konnte er den Jungen nicht mitnehmen, denn links und rechts von ihm hatten Frank und Thomas ihre Plätze. Schließlich bekam er noch zwei zusammenhängende Plätze auf der Nordtribüne in Block 5. Auf dem Weg hatte Simon ihm viele Fragen gestellt und ebenso viele Antworten gegeben. So wollte er wissen, warum Werder eigentlich in Grün spiele, wer der beste Spieler wäre, warum Werder nicht jedes Spiel gewänne, wie hoch die Flutlichtmasten wären, ob das Stadion ein Dach hätte, wie oft Hannes schon im Stadion gewesen wäre und ob er, Hannes, auch gut Fußball spielen könne. Im Gegenzug erzählte Simon seinem neuen Freund, dass er am 30. Juli sieben Jahre alt werden würde, dass er aber schon in der zweiten Klasse wäre, weil er schon hätte lesen und schreiben können, als er in die Schule gekommen war. Simon hatte eigentlich in der ersten Klasse bleiben wollen, weil Oskar, sein bester Freund, auch in der ersten Klasse war. Aber die Lehrerin hätte ihm erklärt, dass es besser wäre, in die zweite Klasse zu gehen, weil es für ihn dann nicht so langweilig wäre.

„Und hatte die Lehrerin recht?“

Simon betrachtete einen betrunkenen Hertha-Fan, der am Osterdeich im Gras lag.

„Ich weiß es nicht, ich kann nicht sagen, ob sie recht hatte, ich durfte ja nur ein paar Tage in der ersten Klasse bleiben. Vielleicht wäre es dort auch besser geworden und nicht mehr so langweilig wie am Anfang!“

„Das stimmt, wie hättest Du das auch wissen sollen?“

„Warum schläft der Mann da?“, fragte Simon.

„Der? Ach das ist ein Hertha-Fan, weißt Du, die sind so!“

„Schlafen die immer?“

„Nicht immer, aber wenn sie viel Bier getrunken haben, dann schlafen sie eben gern!“, antwortete Hannes.

„Warum trinken die so viel Bier? Opa sagt, zu viel Bier macht dumm!“

Hannes überlegte.

„Es gibt eben welche, die sind nicht so schlau wie Dein Opa!“

„Ach so, dann haben sie vielleicht schon so viel Bier getrunken, dass sie vergessen haben, dass Bier dumm macht!“, konstatierte Simon, als sei es das Normalste von der Welt.

„Ist Hertha eine gute Mannschaft?“

„Sie sind nicht schlecht, in diesem Jahr. Deshalb ist es ganz wichtig, dass Werder heute gewinnt! Sag mal, hast Du vielleicht ein bisschen Durst?“

Simon blieb stehen und kratzte sich seinen braunen Haarschopf. Hannes fiel erst jetzt auf, dass der Junge strahlend blaue Augen hatte.

„Ein bisschen Durst hätte ich vielleicht, aber ich habe gar nichts zu trinken dabei!“

„Das ist kein Problem. Ich lade Dich ein, wir gehen ins Ambiente!“

„Al dente? So wie die Spaghetti?“

„Nein, ein bisschen anders. Das Café heißt so, Café Ambiente!“

Hannes blieb stehen, beugte sich zu Simon nach unten und zeigte auf das Café, das etwa 100 Meter vor ihnen in der Sonne lag.

„Jetzt holen wir schnell die Karten am Stadion ab und dann gehen wir in das Café und es gibt was zu trinken!“

„Gut!“, antwortete Simon und nahm Hannes’ Hand.

Hannes bestellte dieses Mal kein Bier. Simon hatte ihm klar zu verstehen gegeben, dass Menschen, die viel Bier tranken, dumm waren. Zugegeben eine etwas eindimensionale Betrachtung, für einen Sechsjährigen war es allerdings eine durchaus beachtenswerte Erkenntnis. Wie dem auch sei, Hannes wollte Simon mit gutem Beispiel vorangehen und bestellte deshalb nur einen Milchkaffee. Doch wahrscheinlich war sein vorbildliches Verhalten gar nicht zwingend vonnöten, denn Simon hatte keine Zeit, um auf Hannes’ Trinkgewohnheiten zu achten. Stattdessen schien er alles aufzusaugen, was um ihn herum geschah. Und das war eine Menge und hatte nahezu ausschließlich mit dem bevorstehenden Spiel zu tun. Der Junge betrachtete die Fans, die in immer größerer Zahl das Ambiente aufsuchten: Ihre Trikots, Schals, Mützen, die grün-weiße Bemalung in ihren Gesichtern. Dagegen war Hannes mit dem Trikot aus der Saison 2001/2002, ohne Werbung und Rückennummer, vergleichsweise unauffällig gekleidet. Hannes sah Simon an, dass er gerade dabei war, sich geistig Unmengen von Fragen zu notieren, die er früher oder später auch formulieren würde. Im Moment war der Junge allerdings viel zu sehr darauf bedacht, nichts zu verpassen. Er saß mit offenem Mund hinter seiner Apfelschorle und Hannes konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Die Vermutung lag nahe, dass Simon gerade einen Dominomoment – Hannes wusste nicht, ob es dieses Begriff tatsächlich gab – erlebte: Gerade fiel das erste Steinchen in Simons Fankarriere um. Und wer weiß, wenn Werder heute das Spiel gewinnen würde, am Ende hätten die Grün-Weißen einen neuen kleinen Fan dazugewonnen, und noch dazu einen sehr cleveren.

Als sie das Stadion erreichten, war es 13.30 Uhr. Es blieben noch zwei Stunden bis zum Spiel. Hannes liebte es, früh dran zu sein. Er konnte nicht verstehen, wie man erst auf den letzten Drücker ins Stadion kommen konnte. Dies hatte möglicherweise damit zu tun, dass er die Hälfte seines Lebens vorwiegend als Auswärtsfan verbracht hatte. Die wenigen Male, die er als Werder-Fan im Weser-Stadion hatte zubringen dürfen, hatte er deshalb ausgekostet wie andere ein Champions-League-Finale. Noch schlimmer war es in Hannes’ Augen jedoch, das Stadion vor dem Abpfiff zu verlassen.

Simon wurde langsam wieder gesprächiger:

„Die haben ja alle etwas Grünes an!“, dabei betrachtete er sein gelbes T-Shirt.

„Ja, damit zeigt man, wem man die Daumen drückt, weißt Du! Grün heißt Werder!“

„Ach so. Deshalb bist Du Werder-Fan, oder?“

Hannes stutzte.

„Wegen Hannes Grün, oder?“, hakte Simon nach.

„Ja, das stimmt. Das stimmt wirklich. Da, wo ich aufgewachsen bin, gab es Fans von Eintracht Frankfurt, dem 1. FC Nürnberg oder von Bayern München. Und ich wollte eine eigene Mannschaft haben, ich wollte kein Fan von diesen Mannschaften sein. Irgendwann habe ich dann erfahren, dass Werder immer in Grün-Weiß spielt und dann – patsch – war ich Werder-Fan!“

„Patsch!“, wiederholte Simon und lachte.

„Ich heiße Peterson. Aber ich bin trotzdem Werder-Fan!“

„Ja, das ist gut. Werder-Fan zu sein ist einfach das Beste!“

„Aber Kevin aus meiner Klasse sagt, Werder ist nicht gut; er sagt, Bayern ist am besten! Er sagt, Bayern gewinnt immer!“

Hannes blieb stehen und bückte sich zu Simon nach unten.

„Weißt Du was – dieser Kevin hat keine Ahnung. Alle Leute, die keine Ahnung haben, sind Bayern-Fans. Aber die wissen oft nicht, dass sie keine Ahnung haben!“

Simon hob wieder seinen rechten Nasenflügel.

„Du meinst, die wissen das gar nicht?“

„Nein, ich glaube nicht!“

Simon nickte.

„Dann können sie ja gar nichts dazu, eigentlich! So wie die Männer, die Bier trinken und davon dumm werden!“

Hannes fuhr Simon durchs Haar.

„Stimmt, genau so!“

Und bevor er aufstand, flüsterte er:

„Weißt du, woran man merkt, dass sie keine Ahnung haben?“

Simon sperrte erwartungsvoll den Mund auf.

„Pass auf, ich erkläre es Dir: Werder hat in dieser Saison zweimal gegen Bayern gespielt. Das erste Spiel war hier in Bremen, letztes Jahr im November. Und weißt Du, wie das Spiel ausging?“

Hannes zog die Augenbrauen hoch, schaute Simon tief in die Augen und machte eine Pause.

„Nein!“, flüsterte der Junge.

„Werder hat 2:0 gewonnen, durch ein Tor in der ersten und ein Tor in der zweiten Halbzeit!“

Simon lächelte über das ganze Gesicht.

„Und was war mit dem zweiten Spiel?“, fragte er.

„Das zweite Spiel war in München, im April, vor etwa drei Wochen. Da hat Werder auch gewonnen, und zwar mit 1:0!“

„Wirklich?“, fragte Simon.

„Wirklich! So, und jetzt frage ich Dich: Wenn Werder zwei Spiele gegen Bayern München hatte und beide gewonnen hat, wer ist dann besser?“

„Werder!“, antwortete Simon euphorisch.

„Werder. Und wenn ein Bayern-Fan sagt, Bayern sei besser als Werder, hat der Bayern-Fan dann Ahnung von Fußball?“

Simon schüttelte den Kopf.

„Siehst Du, das ist der Beweis: Ein Bayern-Fan hat keine Ahnung!“

„Aber er weiß es nicht!“, ergänzte Simon.

Hannes nickte und zog es vor, es zunächst dabei bewenden zu lassen. Er hatte in nur wenigen Stunden den Grundstein für das Fanleben des Jungen gelegt: Simon mochte die Grün-Weißen und hatte auch schon eine gewisse Antipathie für den FC Hollywood entwickelt. Es gab schlechtere Tage als diesen. Wenn jetzt doch nur noch ein Heimsieg dazukommen würde.

Hannes hatte sich die ganze Zeit vor den Jungen gekniet, jetzt bemerkte er, wie seine Arschnarbe wieder SOS funkte.

„Weißt Du, was wir jetzt unbedingt noch machen müssen, Simon?“

Der Junge schaute zu Hannes nach oben und schüttelte den Kopf.

„Wir müssen in den Fanshop gehen und Dir etwas Grün-Weißes kaufen!“

„Wirklich? Was ist ein Fanshop?“

„In einem Fanshop können die Fans, das sind die Menschen, die einer Mannschaft ganz fest die Daumen drücken, Dinge kaufen, die jedem zeigen, dass man seine Mannschaft toll findet!“

„Ah. So wie Dein T-Shirt, oder? Das ist grün. Hast Du das auch in einem Fanshop gekauft?“

„Genau, so wie mein T-Shirt!“

„Gut, dann müssen wir da jetzt hingehen. Meine Mama hat vielleicht nicht gewusst, dass man was Grünes tragen muss, wenn man zu Werder geht!“

„Das ist nicht schlimm. Wir besorgen Dir einfach etwas, Simon!“

„Gut. Ich habe Geld dabei in meinem Rucksack!“, antwortete der Junge stolz.

„Nein. Ich werde Dir etwas kaufen. Das ist ein Geschenk, schließlich bist Du heute das erste Mal im Stadion. Da bekommt man immer etwas geschenkt!“

Simon nickte.

„Meinst Du, so wie eine Schultüte, wenn man den ersten Schultag hat?“

Hannes musste lachen.

„Ja, genauso wie am ersten Schultag. Also, was ist, gehen wir weiter?“

„Gut!“, rief Simon glücklich und nahm wieder Hannes’ Hand.

Als sie den Fanshop am Stadion verließen, war Simon Eigentümer eines grün-weiß-gestreiften Werder-Schals und eines grünen T-Shirts mit der Aufschrift 100 % Werder. Der Platz um das Weser-Stadion füllte sich immer mehr mit Fans, wobei vor allem jene, die in Fanutensilien gehüllt waren, Simon zu faszinieren schienen. Immer wieder drehte er sich um, schaute singenden Fans nach oder reckte seinen Hals, weil er glaubte, etwas verpassen zu können. Eine seltsame Form des Stolzes überkam Hannes, denn er wusste, dass er es war, der dem Jungen womöglich einen unvergesslichen Tag bescheren würde.

„Wann gehen wir denn rein?“, wollte Simon schließlich wissen.

„Wann Du möchtest, das Spiel beginnt in 45 Minuten, wir haben also noch etwas Zeit!“

„Oh!“, sagte Simon nur und stutzte.

„Was ist denn?“ Hannes beugte sich wieder zu ihm nach unten.

Der Junge betrachtete ehrfürchtig seinen Schal und fragte:

„Aber warum ist es denn schon so laut im Stadion?“

„Viele Fans sind jetzt schon drin, weißt Du, vor allem die aus der Ostkurve!“

„Ostkurve?“

Er ließ nicht locker, wollte alles ganz genau wissen. Also erklärte ihm Hannes, dass es verschiedene Arten von Fans gab, dass vor allen Dingen die, die in der Ostkurve standen, den größten Anteil an der Stimmung im Stadion hatten. Er klärte den Jungen darüber auf, was eine Dauerkarte war, was Gästeblock bedeutete, warum manche Fans lieber standen als saßen, und immer, wenn er das Gefühl hatte, Simon überfordert zu haben, nickte dieser nur und stellte eine weitere Frage.

„Und wenn man eine Dauerkarte hat, darf man jedes Spiel anschauen?“

„Genau!“

„Hast Du auch eine Dauerkarte?“

„Ja, ich habe auch eine Dauerkarte!“

Hannes glaubte Stolz in Simons Blick zu erkennen!

„Was ist, wollen wir reingehen!“

Simon nickte.

„Aber vorher essen wir noch eine Bratwurst. Damit wir auch genug Kraft zum Anfeuern haben, was meinst Du?“

„Gut!“, flüstere der Junge so leise, dass es Hannes wegen des stärker werdenden Lärms nur von seinen Lippen ablesen konnte. Immer wieder betrachtete Simon sein T-Shirt. Es ging ihm richtig gut.

Der erste Blick auf ein fast volles Stadion musste etwas Unbeschreibliches sein, wenn man Simons Gesichtsausdruck richtig deutete. Anders als vorher, als er konzentriert und wissbegierig alles betrachtete und einzuordnen suchte, war der Junge jetzt wie hypnotisiert, möglicherweise auch leicht überfordert aufgrund der Eindrücke, mit denen das Stadioninnere seine Sinne überfrachtete. Deshalb gab Hannes ihm zunächst auch genügend Zeit, sich mit der Situation anzufreunden. Nachdem der Kleine etwa zwei Minuten mit offenem Mund die Szenerie auf sich hatte wirken lassen, drehte er sich schließlich zu Hannes um. Er hatte rote Backen und seine blauen Augen schienen auf die doppelte Größe gewachsen zu sein.

„Gefällt es Dir?“, fragte Hannes

„Ja!“, rief Simon und lächelte.

Bis zum Beginn des Spiels erkundigte er sich noch über den Stadionsprecher (er wollte wissen, wo er saß, woraufhin ihm Hannes erklärte, dass Werder mit Arnie und Stolli zwei Stadionsprecher an verschiedenen Plätzen hatte, die sich beide meist am Spielfeldrand aufhielten), die Anzeigetafel, die Werbebanden, den Sinn der Eckfahnen – wofür Hannes nur schwer eine plausible Erklärung fand – eine überdimensionale Flasche Mineralwasser, die am Spielfeldrand stand, die vielen Kameras, den Premiere-Reporter, der unterhalb der Südtribüne ein Interview mit Klaus Allofs führte, und natürlich über die Spieler. Er wollte wissen, warum die sich warm machen mussten, weshalb sie bereits vor dem eigentlichen Spiel ein kleines Spiel veranstalteten, wer der beste Spieler war, warum nicht alle schwarze Schuhe trugen, ob es dem Torwart weh tat, wenn er einen Ball auf den Körper geschossen bekam, was die Spieler machten, wenn sie während des Spiels Durst bekamen oder auf die Toilette mussten, ob die Spieler auch ihre Familien mit ins Stadion nahmen und ob auch die Spieler selbst eine Eintrittskarte für das Spiel brauchten. Hannes machte es Spaß, mit dem Jungen über Fußball zu sprechen. Er kam sich vor wie ein Erfinder, der einem begeisterten Publikum seine neueste Errungenschaft präsentierte.

Schließlich fielen Simon die Einlaufkinder auf!

„Sind das die Kinder der Spieler?“

Hannes grinste.

„Nein, das sind Kinder, die in kleinen Vereinen Fußball spielen. Die Vereine schreiben Werder einen Brief und fragen, ob ihre kleinen Fußballer vielleicht mal mit den Spielern einlaufen dürfen, weißt Du!“ Hannes musste schreien, denn jetzt tobte das ganze Stadion.

Simon nickte und dann stand er, wie alle anderen Fans um ihn herum, auf und applaudierte den Spielern, als hätte er selbst schon seit zwei Jahren eine Dauerkarte.

Natürlich wünschte sich Hannes auch dieses Mal einen Werder-Sieg. Nur ein Sieg würde Werder weiter vom internationalen Geschäft träumen lassen. Außerdem konnte man so einem direkten Konkurrenten um die internationalen Plätze drei Punkte abjagen. Aber an diesem Samstag im Mai wünschte er sich den Sieg nicht nur für sich. Er wollte auch, dass Werder für Simon gewann. Hannes wollte nicht, dass der erste Stadionbesuch des Jungen mit einer Niederlage endete. Für ihn war die Fußballwelt noch unbescholten und Hannes hoffte, dass es auch so war, wenn sie das Stadion verlassen würden. Er wollte, dass sein kleiner Freund glücklich war.

Doch es lief alles andere als rosig. Denn obwohl Werder, wie schon in jenem denkwürdigen Spiel gegen Hannover, wie ein Tornado loslegte und die Hertha regelrecht in ihrer eigenen Hälfte einschnürte, gelang dieses Mal kein Tor in den Anfangsminuten. Micoud, Ernst und Ailton vergaben zu Beginn beste Chancen. Simon folgte dem Geschehen voller Aufmerksamkeit, dem Jungen entging nichts. Auch nicht, als Hertha mit der ersten Chance des Spiels nach 21 Minuten aus heiterem Himmel das 0:1 schoss. Im Block herrschte Grabesstille. Einzig Hannes’ Arschbacke zeigte Regung und pulsierte, als würde sie jeden Moment explodieren. Ob ein Fluch auf ihm lag?

„Keine Sorge, gleich schießt Werder auch ein Tor!“, rief Simon plötzlich und blickte zu Hannes nach oben.

„Glaubst Du wirklich?“, fragte Hannes, der froh war, dass der Junge da war. Sonst hätte er sicher zu diesem Zeitpunkt schon die Nerven verloren.

„Ja, ganz sicher. Man muss nur die Daumen drücken!“

Genau das tat er dann auch. Er presste beide Fäuste an seinen Mund, die Daumen gedrückt, und beobachtete Ailton dabei, wie er eine Ecke in den Strafraum schlug. Im Strafraum herrschte ein Getümmel, wie vor einem All-you-can-eat-Buffet, an dem lauter ausgehungerte Weightwatchers nach einer Woche Heilfasten die erste Mahlzeit zu sich nehmen durften. Der Ball wurde hin- und hergestochert wie eine Flipperkugel und dann drückte ihn Mladen Krstajic tatsächlich über die Linie des Hertha-Tores.

Hannes konnte es nicht glauben. Der Junge hatte tatsächlich recht behalten. Der Kleine erschrak fast ein wenig, als sich plötzlich alle um ihn herum von ihren Plätzen erhoben und die Erleichterung ob des schnellen Ausgleichs aus sich herausschrien. Hannes hob Simon hoch, der über das ganze Gesicht strahlte und ihm ins Ohr rief:

„Siehst Du, hab ich doch gesagt. Und jetzt gewinnen sie auch. Bald schießen sie noch ein Tor!“

Zu diesem Zeitpunkt war aus den Schmerzen an Hannes’ Arschnarbe nur noch ein leichtes Wimmern geworden, und als nur wenige Minuten später, dieses Mal nach einer Micoud-Ecke, Ludovic Magnin durch einen Flachschuss von der Strafraumgrenze mit seinem ersten Saisontor für Werders 2:1-Führung sorgte, glaubte er nicht nur, es bei dem Jungen mit einem Hellseher zu tun zu haben, seine Schmerzen hatten sich außerdem in Luft aufgelöst.

Dieses Mal sprang Simon als erster im Block auf und umarmte Hannes. Kein Zweifel, der Kleine lernte sehr schnell.

In der 36. Minute bediente schließlich Frank Baumann Ailton mit einem Traumpass direkt in dessen Lauf, der versuchte den Hertha-Keeper auszutanzen und scheiterte knapp. Aber Charisteas sagte Danke und schob den Ball zum 3:1 ein. Das Spiel war gedreht, Simon tanzte und Hannes’ Schmerzen waren Lichtjahre entfernt in einer unbekannten Galaxie seiner Nervenbahnen verglüht. Anders als noch vor einigen Wochen ließ Werder an jenem Tag den Gegner nicht wieder ins Spiel zurückkommen. Auch nach dem Wechsel wurde das Spiel kontrolliert und in der 76. Minute, als sich Simon und Hannes bereits über die Nummern einzelner Spieler austauschten und gelegentlich schöne Kombinationen und Chancen mit Applaus kommentierten, hatte die Nummer 10 seine Sternstunde: Micoud ließ nahezu die gesamte Abwehr der Berliner wie Slalomstangen stehen, passte genau im richtigen Moment auf den mitgelaufenen Charisteas, der den Hertha-Torwart umspielte und zum 4:1 einschoss. Niemanden im Stadion interessierte mehr, dass Hertha noch zum 4:2 verkürzte.

Hannes wusste, dass Simon diesen Tag nie mehr vergessen würde, ebenso wie ihm klar war, dass Werder soeben die beste Rückrundenmannschaft geschlagen und somit wieder alle Chancen im Kampf um einen UEFA-Cup-Platz hatte.

Als die beiden nach dem Schlusspfiff ebenso glücklich wie die meisten Zuschauer das Stadion verließen, nahm Simon zum dritten Mal an diesem Tag Hannes’ Hand.

„Das war schön. Nimmst Du mich wieder einmal mit?“

Hannes lächelte, strich dem Jungen über den Kopf und sagte:

„Klar. Du bist doch jetzt ein echter Werder-Fan!“

Am Abend, als sich sein pulsierender Hintern wieder meldete, er das Gefühl hatte, nie wieder sitzen zu können und deshalb die Sportschau nur im Liegen genießen konnte, wurde Hannes plötzlich wieder von seinen Zukunftsängsten eingeholt. Dabei ging es dieses Mal nicht um Werder. Denn am Montag würde er sich Fräulein Silke erklären müssen, wohl wissend, dass es für sein Verhalten keine Erklärung gab. Bevor sich die Sache zu einem betriebsinternen Problem entwickeln konnte, würde er die Geschäftsleitung aufsuchen, um darüber Auskunft zu geben, dass er sich einen neuen Job zu suchen gedachte. Wie jedes Mal in den anderen Städten zuvor, würde man versuchen, ihn zu einem weiteren Verweilen in der Firma zu überreden, denn wie immer waren seine Zahlen sensationell. Er holte weit mehr für seinen jeweiligen Arbeitgeber heraus, als er diesen kostete (was trotzdem eine schöne Stange Geld war). Möglicherweise würde man auch ganz tief in die Schatulle greifen und einen großen Batzen zu seinem bisherigen Verdienst dazulegen, um Hannes zu einem Umdenken zu bewegen. Aber Hannes wusste gut genug, dass er gehen musste. Alles andere würde zu weiteren Komplikationen führen, mittlerweile hatte er genügend Erfahrung gesammelt. Für die nächste Zeit war nicht nur auf dem Rücken schlafen tabu – er musste wohl oder übel auch wieder die Stellenanzeigen der Tagespresse studieren. Die Türklingel riss ihn aus seinen Überlebensstrategien.

„Guten Abend, ich hoffe ich störe nicht!“

Sie sah müde und traurig aus.

„Nein, Sie stören nicht, ich hatte mir gerade noch die Sportschau angesehen!“

Hannes konnte dunkle Ringe unter ihren Augen erkennen.

„Ich halte Sie nicht lange auf, ich –“

„Sie halten mich nicht auf, Anna. Wollen Sie vielleicht auf einen Sprung reinkommen!“

Sofort wusste er, dass er einen Fehler gemacht hatte. Doch sie reagierte nicht so, wie er befürchtete.

„Nein, schon gut, vielleicht ein andermal. Um ehrlich zu sein, muss ich jetzt erst einmal den Tag allein verarbeiten!“

Hannes dachte an seinen Tag. Er brauchte die Sportschau, um die Ereignisse abzurunden und zu verarbeiten, was in Annas Fall sicher ungleich schwieriger war.

„Es tut mir leid, ich weiß nicht, was ich sagen soll. Es war bestimmt sehr schwer, oder?“

„Es war vielleicht der schlimmste Tag meines Lebens. Aber das, was Sie für Simon gemacht haben, wiegt so vieles auf, wissen Sie. Ich habe den Jungen noch nie so gesehen. Er hat mir einen Vortrag über Ostkurven und Ballkinder gehalten, mir von Micoud und Charisteas vorgeschwärmt und davon, dass Werder zwei Stadionsprecher hat. Er ist so glücklich. Ich wollte mich einfach bei Ihnen bedanken, Hannes!“ Dann fummelte sie einen Zwanzig-Euro-Schein aus ihrer Jeans.

„Hier, das ist für die Auslagen, den Schal und das T-Shirt. Er hat beides mit ins Bett genommen!“

„Nein, keine Chance. Wir sind Freunde, Simon und ich. Das geht in Ordnung!“

„Sind Sie sicher?“

Hannes nickte.

„Jetzt gehen Sie rüber in Ihre Wohnung und ruhen sich aus. Sie haben wirklich einen tollen Jungen und wenn Sie wollen, nehme ich ihn gern wieder mit zu Werder!“

„Wissen Sie, was er gesagt hat?“, fragte Anna und Hannes sah sie das erste Mal lächeln.

„Nein!“

„Er hat gesagt, wenn er so groß wie Hannes ist, dann möchte er auch eine Dauerkarte haben!“

Hannes grinste.

„Ist das nicht verrückt?“

„Nein, eine Dauerkarte bei Werder ist das Normalste von der Welt. Jeder sollte eine haben! Die gibt es übrigens auch schon für Kinder!“

„Na gut. Dann werde ich mich wohl in Sachen Fußball noch etwas weiterbilden müssen!“

„Haben Sie Simon von seinem Opa erzählt?“

Anna schüttelte den Kopf.

„Ich konnte es einfach nicht. Ich konnte ihm den Tag nicht kaputt machen!“

„Seine Welt ist die schönste Welt, die man sich vorstellen kann, glaube ich!“, antwortete Hannes und dachte an seine bevorstehende Jobsuche.

Annas Augen begannen wässrig zu werden, doch sie biss auf die Zähne.

„Dann noch mal vielen Dank, Hannes!“

„Ich habe es wirklich sehr gerne gemacht!“, antwortete er.

30. Juli 2003: Kindergeburtstag mit Papageien-Outfit und Entfesselungskünstler

Der Saisonabschluss ging schließlich, trotz zweier weiterer Siege in Stuttgart (das immerhin Vizemeister – obwohl von Magath trainiert – wurde) und zuhause gegen Schalke, den Bach hinunter, weil man sich im letzten Spiel in Mönchengladbach eine 1:4-Klatsche abholte. Hannes hatte so sehr unter den Folgen jener Niederlage zu knabbern, dass er sich am selben Abend schließlich betrunken hatte, denn der Rausch war in solchen Fällen der kleine Bruder des Vergessens. Es war nicht von der Hand zu weisen, dass der Schiri – er hieß im übrigen Stark und kam aus Bayern – nicht unbedingt für Werder gepfiffen hatte (Markus Daun wurde in einem Zweikampf, der eher an Körperverletzung denn an Fußball erinnerte, krankenhausreif getreten, ohne dass sein Gegenspieler auch nur eine gelbe Karte dafür gesehen hätte, und Frank Verlaat wurde wegen einer sehr zweifelhaften Notbremse, die wohl nur Stark gesehen hatte, kurz vor der Halbzeit vom Platz gestellt). Hannes wurde an diesem Abend das Gefühl nicht los, dass dieser Schiedsrichter Werder vermutlich in Zukunft noch öfter vorgesetzt werden würde und jene unter dessen Leitung ausgetragenen Spiele vermutlich auch künftig unter keinem guten Stern stehen würden. Wie gern hätte sich Hannes getäuscht. Dennoch hatte sich die Mannschaft in Hannes’ Augen selbst um den verdienten Lohn der Aufholjagd der letzten Wochen gebracht.

Trotz seines Rausches meldete sich die Wahrheit am Morgen danach bitter wieder zurück, wobei sie mit emotionaler Leere einherging, trug sie doch den schmerzhaften Namen UI-Cup. Auf den Punkt gebracht, bedeutete dies nichts anderes als Tingeln über die Dörfer Europas während der Vorbereitung, uninteressante Spiele gegen vermeintlich leichte Gegner, bei denen man sich nur blamieren konnte, und gleichzeitig weniger Zeit zum Trainieren für das Team. Was für eine Werder-Saison befand sich da in ihren Geburtswehen? Hannes ahnte nichts Gutes.

Er nutze die fußballlose Zeit, um sich einen neuen Job zu suchen. Und wie immer ging es auch dieses Mal ganz schnell. Eigentlich ging es ein bisschen zu schnell, denn man hatte von Hannes erwartet, seine Tätigkeit bereits zum 1. Juli anzutreten, doch es war ihm gelungen, noch etwas Zeit zu gewinnen und seinen Antritt um zwei Monate hinauszuzögern. Wie gewohnt legte er auch in seinem neuen Tätigkeitsfeld Wert darauf, sein eigener Chef zu sein. Ab 1. September würde er somit Regionalmanager Premium Brands einer international anerkannten und sehr beliebten Spirituosenmarke sein, dessen Aufgabe es sein würde, im Verkaufsgebiet Nord (Hamburg, Bremen, Hannover, Sylt), die darin angesiedelten Top-Imagekunden zu betreuen oder zu erschließen.

Das Vorstellungsgespräch, das er mit einer Frau Gaby Hansen geführt hatte, die Mitte 40 und durchaus attraktiv war, dauerte nicht einmal eine halbe Stunde. Danach gab ihm Frau Hansen zu verstehen, dass er den Job so gut wie sicher hätte, auch wenn er sich noch gedulden müsse, bis man ihm die Zusage schriftlich zukommen lassen würde, was allerdings in spätestens drei Tagen der Fall sein würde. Am Ende drückte sie ihm ihre Visitenkarte in die Hand, auf deren Rückseite sie noch in Hannes’ Beisein ihre private Handynummer schrieb, mit dem Hinweis, Hannes solle nicht zögern, falls er noch Fragen hätte, man könne diese jederzeit noch bei einem Glas Wein besprechen. Bevor er Frau Hansens Büro verließ, schenkte diese ihm noch ein Lächeln, drückte ihm etwa sieben Sekunden die Hand und ließ ihn wissen, dass sie sich auf die gute Zusammenarbeit freue. Schon am nächsten Tag kam die Zusage. Hannes hatte wieder eine Beschäftigung. Doch zunächst blieben ihm noch zwei sehr kostbare Monate, um ohne jegliche Verpflichtungen den Schmerz der letzten Saison zu verarbeiten. Er konnte sich geistig auf den UI-Cup einstellen und Wahrscheinlichkeiten abwägen, an deren Ende das UI-Cup-Intermezzo ein Happy End hatte und Werder schließlich doch noch in den UEFA-Cup rutschen würde.

Simon war schnell Hannes’ Freund geworden, schließlich hatte er sich in dessen Freundschaftsbuch verewigt. Deshalb hatte Hannes auch eine Einladung zu Simons Geburtstagsfeier erhalten. Es war nicht so, dass die beiden sich jeden Tag sahen, doch ein- bis zweimal in der Woche hatte Hannes den Jungen meist getroffen, mit ihm über Fußball gefachsimpelt und über Werders Chancen im Hinblick auf die neue Saison. Simon hatte Hannes erzählt, dass ab jetzt die Zahl 6 seine Lieblingszahl war, weil er mit 6 das erste Werder-Spiel im Stadion hatte verfolgen dürfen. Ab und zu hatte der Junge auch bei Hannes geklopft, um das Spiel mit dem Fußballautomaten, wie er den Kicker genannt hatte, zu erlernen. Hannes hatte das Gefühl, dass seine neuer Freund auch gern öfter bei ihm geläutet hätte, dass ihn Anna aber davon abhielt, weil sie nicht wollte, dass Simon Hannes auf die Nerven ging. Anna war eine sehr angenehme Nachbarin, und das lag nicht nur daran, dass sie Hannes noch nicht auf dessen Ähnlichkeit mit dem schönen James angesprochen hatte. Sie war weder aufdringlich noch pseudo-intellektuell und schon gar nicht aufgesetzt witzig. Anna stand mit beiden Beinen im Leben, sie schien die Doppelbelastung Job und alleinerziehende Mutter gut im Griff zu haben, und von Woche zu Woche verblasste der traurige Ausdruck um ihre Augen etwas mehr, was zeigte, dass sie den Tod ihres Vaters allmählich zu verarbeiten begann. Wenn Hannes mit ihr redete, ging es meist um Simon oder Werder oder um beides zusammen. Anna machte Fortschritte auf der bisher unbewohnten Insel Mutter eines Fans. Mittlerweile war ihr klar, dass Simons neue Leidenschaft nicht nur ein kleines Techtelmechtel war, sondern wahre Liebe, ein Bund, der geschmiedet wurde, um vielleicht ewig zu halten. So überraschte es Hannes schließlich auch nicht, als Anna auf seine Frage, was er Simon zum Geburtstag schenken könne, antwortete, dass ihr Sohn sich wohl am meisten über irgendetwas von Werder freuen würde.

Also hatte sich Hannes einige Tage vor Simons großem Tag auf den Weg zum Fanshop am Weser-Stadion gemacht. Doch wenn er ganz ehrlich war, ging es ihm dabei nicht nur um Simon, denn Werder hatte die neue Saison mit einem outfitmäßigen Ausrufezeichen eingeläutet, welches die Fans schnell in zwei Lager gespaltet hatte: das Papageien-Trikot.

Das neue Trikot war zwar eng anliegend wie sein Vorgänger, dennoch unterschied es sich in einem Merkmal ganz entscheidend von dem Trikot der letzten Saison: Werder brach nämlich mit der Tradition. Denn zum obligatorischen Grün-Weiß gesellte sich die Trendfarbe Orange, in der die Ärmel des neuen Trikots gehalten waren.

Normalerweise scheute sich Hannes nicht, neue Wege zu beschreiten. Das hatte ihm in seinem Job schon so manche Bonuszahlung eingebracht. Wenn es allerdings um sein Leben mit Werder ging, war Hannes Traditionalist. Man hieß als Fan nicht sofort alles Neue gut, was im Verein passierte, besonders dann nicht, wenn dieses Neue nicht aus der Fankultur, sondern aus einer Marketing-Idee entstanden war. Dabei ging es nicht nur um fundamentale Veränderungen wie den Verkauf des Stadionnamens, sondern auch das Betreten von Neuland bei der Trikotgestaltung.

Trotzdem war die Sichtweise des Vereins in diesem Fall auch nicht ohne, insbesondere für jemanden, der beruflich im Marketingsektor sein Nest gebaut hatte und damit ziemlich viel Geld verdiente. Werder wollte etwas riskieren, ein Ausrufezeichen setzen, einen Farbtupfer in den Ligaalltag bringen, auffallen, neue Wege beschreiten. Aber ob der UI-Cup dafür die richtige Plattform bieten würde? Hannes wollte nicht pessimistisch wirken, doch er hatte das Gefühl, dass man sich bei sportlichen Misserfolgen in der Orange-Ära ziemlich blamieren würde.

Trotzdem gefiel ihm das Papageien-Trikot in punkto Ästhetik und Design, auch wenn er zunächst einmal beschloss, die Finger davon zu lassen. Das alte Puma-Trikot aus der Meistersaison 1992/1993 war noch ebenso gut in Schuss wie das grüne Kappa-Trikot aus dem letzten Jahr, das nicht einmal über einen Aufdruck eines Sponsors verfügte. Aber das neue Trikot war ein schönes Geschenk für Simon. Der würde sich sicher freuen und in der Schule würde er damit voll im Trend liegen.

Gegen 14.30 Uhr am 30. Juli klingelte Hannes nicht gänzlich frei von Werder-Unbehagen an der Tür seines kleinen Gastgebers. Die Aufregung war natürlich nicht mit der eines Bundesligaspiels zu vergleichen, dennoch war es nicht von der Hand zu weisen, dass er spätestens um 17.30 Uhr die volle Konzentration für Werder aufbringen musste. Bisher jedenfalls hatte es Werder geschafft, Hannes’ anfängliche UI-Cup-Skepsis zu zerstreuen. Zum einen war der erste Gegner mit dem OGC Nizza verhältnismäßig attraktiv gewesen, man hatte zum zweiten keine Horrortour in einen entlegenen Winkel Aserbeidschans zu bewerkstelligen, bei dem man das Flugzeug mit dem Fallschirm verlassen musste. Nach einem torlosen 0:0 hatte man Nizza ausgerechnet durch ein Micoud-Tor vor vier Tagen mit 1:0 aus dem Wettbewerb geworfen. Im Klartext bedeutete dies nichts anderes, als dass man nur noch eine Runde vom Finale entfernt war und es so aussah, dass es doch noch ein UEFA-Cup-Happy End geben würde. Vorher allerdings musste heute eine gute Ausgangsposition für das Rückspiel gelegt werden. Hannes war gerade dabei, über den seltsamen Namen des Gegners zu grübeln: FC Superfund. Was auf einen Südseeschatz hindeutete, war eine österreichische Gemeinde mit 6134 Einwohnern, 1670 Häusern und eine Fläche von ganzen 12,48 Quadratkilometern mit einem hohen landwirtschaftlichen Anteil, wie es auf der Homepage des Ortes Pasching hieß. Man durfte natürlich keinen Gegner dieser Welt auf die leichte Schulter nehmen, aber wenn man das Für und Wider abwägte, dann musste es doch wohl mit dem Teufel zugehen, wenn Werder heute in Pasching nicht den Grundstein für den Finaleinzug legen würde. Als er sich gerade auf einen realistischen Prozentsatz für ein erfolgreiches Abschneiden festlegen wollte, hatte Simon schon die Türe aufgerissen!

Der Junge grinste Hannes an. Sofort sah dieser die Zahnlücke. Seitdem er Simon das letzte Mal gesehen hatte, hatte er auch einen seiner beiden oberen Schneidezähne verloren. Trotz einer Außentemperatur von über 30 Grad hatte Simon seinen Werder-Schal umgebunden, wobei sich Hannes nicht sicher war, ob der Junge dies ihm zuliebe tat.

Es gab Kuchen, eine Schokoladentorte mit sieben Kerzen, Kakao für Simon, Kaffee für Anna und Hannes und natürlich Geschenke. Hannes mochte seinen kleinen Freund wirklich gern, der, als er das Werder-Trikot ausgepackt hatte, zunächst vor lauter Freude nicht einmal mehr sprechen konnte. Dann schaute er seine Mutter mit einem so zufriedenen, glücklichen Gesichtsausdruck an, wie ihn Hannes noch nie bei einem Menschen gesehen hatte. Seine Mutter lächelte und schüttelte dabei den Kopf. Dann erst schaute Simon zu Hannes, der so tat, als würde er in seiner halbvollen Kaffeetasse nach irgendwelchen Wahrheiten suchen. Simon blickte wieder zu seiner Mutter, wieder nickte Anna. Dann erst stand ihr Sohn auf, ging mit dem Trikot zu Hannes und drückte ihn.

„Vielen Dank, das ist das allertollste Geschenk, das ich bekommen habe, vielen Dank!“

„Schon gut!“, antwortete Hannes gerührt, der über die Schulter des Jungen hinweg Anna anlächelte.

Simon löste seine Umarmung und nahm sein neues Trikot in die Hand. Wahrscheinlich hätten die meisten Jungs in seinem Alter das Trikot sofort getragen. Aber Simon brauchte noch einen Moment. Er drehte das Trikot um und sah, dass es beflockt war. Wobei er natürlich das Verb „beflocken“ noch nicht kannte.

„Wow, da ist ja eine Nummer drauf!“, flüsterte er. „Sieh mal, Mama!“

„Und noch dazu Deine Lieblingszahl!“, antwortete Anna und strich ihrem Sohn, der sich an Hannes gelehnt hatte, über den Kopf.

„Meine Lieblingszahl“, wiederholte er leise und fügte hinzu: „Baumann, 6!“

Hannes schloss kurz die Augen. Er wünschte sich, nur für eine Stunde mit Simon tauschen zu können. Diese Form von Glück und Zufriedenheit musste wunderbar sein.

„Ist er gut?“, fragte Simon.

Hannes öffnete die Augen und sah, dass der Junge eine Antwort erwartete.

„Gut? Der Kuchen?“

Simon lächelte.

„Du machst Witze über mich, stimmt’s?“

Hannes schüttelte den Kopf.

„Nein, das würde ich mir nie erlauben! Ist wer gut?“

Simon kratze sich am Haarschopf. Dann drehte er sein neues Trikot wieder um und zeigte Hannes die Rückennummer.

„Baumann, die Nummer 6. Ist er ein guter Spieler?“

Hannes stützte das Kinn auf seiner rechten Hand ab.

„Gut? Ob Baumann gut ist? Ob Frank Baumann ein guter Spieler ist?“

Simon öffnete den Mund, so wie er es immer tat, wenn er gespannt zuhörte.

„Na hör mal: Frank Baumann ist der wichtigste Spieler der Mannschaft. Er ist der Kapitän, der Boss. Er ist ein sehr guter Spieler, einer der besten, wenn Du mich fragst!“

Es war das Wort Kapitän, auf das sich der Junge stürzte!

„Hat er ein Schiff?“

Hannes lachte. Anna hob hilflos die Schultern.

„Nein, er hat kein Schiff. Aber er ist der Chef im Team, so wie der Kapitän auf einem Schiff. Deshalb nennt man den Chef in einer Fußballmannschaft auch Mannschaftskapitän oder nur Kapitän. Es ist einfach ein Vergleich, man will damit ausdrücken, dass er etwas zu sagen hat!“

Simon nickte.

„Das heißt, man könnte ihn auch Pilot nennen, oder?“

Der Junge war einfach klasse.

„Ja, das hätte man eigentlich machen können, warum nicht!“ Er wusste, dass Simon gleich fragen würde, warum man ihn nicht Pilot, sondern ausgerechnet Kapitän nannte. Deshalb versuchte er gleich eine passende Erklärung nachzuschieben.

„Es könnte daran liegen, dass es damals, als der Fußball erfunden wurde, noch gar keine Flugzeuge gab. Damals sind die Leute noch nicht geflogen, man hat große Entfernungen mit dem Schiff zurückgelegt!“

Simon lächelte glücklich. Es schien, als akzeptierte er die Erklärung.

Sie machten sich auf den Weg ins Kino, wo Simon, der das Trikot trug, obwohl es mindestens zwei Nummern zu groß war, drei weitere Gäste erwartete: Oskar, seinen besten Freund, der mit Simon in die erste Klasse gekommen war, und Fiona und Jan, die beide mit Simon in die zweite Klasse gingen. Simon hatte sich „Das Dschungelbuch 2“ gewünscht und die vier Kinder hatten ihren Spaß. Hannes erinnerte sich daran, als er damals vor mehr als 30 Jahren den ersten Teil des Dschungelabenteuers selbst mit seinem Bruder, seiner Schwester und seiner Mutter im Kino gesehen hatte. Dabei wurde er von einem Anflug von Melancholie heimgesucht, was sich allerdings schnell legte, denn als sie aus dem Kino kamen, stellte er fest, dass er nur noch gute 20 Minuten bis zum Beginn des Spiels hatte. Anna hatte ihn gefragt, ob er noch zum Abendessen bleiben wolle, sie würde Pizza machen für die Kinder, da würde sicher noch etwas für ihn abfallen.

Doch Hannes war im Gegensatz zu James Duncan, seinem Hollywood-Double, ein schlechter Schauspieler. In seinem Kopf hatte sich bereits der grün-weiße Virus ausgebreitet, den seine Adern schon den ganzen Tag durch seine Blutbahnen gejagt hatten. Hannes wusste, dass er nichts dagegen tun konnte, und bevor er eine fadenscheinige Erklärung für seine Unpässlichkeit zum Besten geben musste, rückte er gleich mit der Wahrheit heraus. Er würde die Einladung gerne annehmen, aber Werder hätte jetzt gleich das vielleicht wichtigste Spiel des Jahres. Dabei beäugte er Simon, der gerade in einer ausgelassenen Diskussion mit den anderen Kindern den Film noch einmal Revue passieren ließ. Anna verstand ihn, das sah er in ihren Augen. Sie verstand ihn wirklich. Und sie tat ihm den Gefallen, nicht darauf hinzuweisen, dass er das Spiel auch in ihrer Wohnung anschauen konnte. Dafür war Hannes dankbar. Er sah, dass Simon glücklich war und dass es dem Jungen nichts ausmachen würde, wenn er für den Rest des Abends auf seinen erwachsenen Freund würde verzichten müssen. Es würde dem Kleinen allerdings schon etwas ausmachen, wenn Hannes beim Betrachten des Spiels die Nerven verlieren und um sich schreien würde. Simon würde Hannes jetzt nicht vermissen.

„Es ist kein Problem, wirklich! Sie haben so viel für den Jungen getan!“

„Danke, ich weiß, dass Sie denken, ich sei verrückt und wahrscheinlich bin ich das auch. Aber ..!“

„Schon gut, wahrscheinlich wird der Mann mit der Nummer 6 in einem Jahr genauso weit sein!“

Hannes lächelte. Sie verstand ihn.

„Wissen Sie, ich denke es ist Zeit, das Sie über Bord zu werfen, finden Sie nicht?“, fragte Hannes.

Anna lächelte und streckte Hannes die Hand entgegen.

„Das ist schön!“, sagte sie und fügte hinzu „Simon mag Dich wirklich!“

Nicht wenige hätten in diesem Moment vielleicht nachgehakt, was schon mit einem Wort möglich gewesen wäre. Simon?, hätte diese Einwortfrage lauten können, oder nur Simon? Und es war nicht so, dass Hannes unsensibel war oder dass er mit einer fünf Zentimeter dicken, emotionalen Hornhaut gestraft war. Es lag nicht einmal nur an Werder. Es lag an all dem. Er hatte einen wirklich schönen Nachmittag erlebt, sich wohlgefühlt in der Gegenwart des Jungen und auch in der Gegenwart von dessen Mutter. Aber so, wie er sich jetzt wohlfühlt, so war es schön. Es tat gut, einmal keine Spielchen machen zu müssen, sich nicht beim Überqueren einer Brücke an der Seite einer Frau fragen zu müssen, ob das Wasser wohl tief genug, die Strömung ungefährlich genug und die Wassertemperatur hoch genug war, um durch einen Sprung in den Fluss der emotionalen Umklammerung jener Frau zu entkommen. Anna klammerte nicht, und das war angenehm. Ja, Hannes ging sogar so weit, anzunehmen, dass der Satz Simon mag Dich wirklich mit keinerlei Hintergedanken formuliert worden war und Anna es genau so meinte, wie sie es sagte. Sie war nicht auf einen Doppelpass aus, sie schlug einfach einen Befreiungsschlag. So gelang es Hannes denn auch, sich einfach nur umzudrehen und zu gehen, sich gut zu fühlen, weil er sich auf das Spiel freuen konnte und wusste, dass er Anna nicht vor den Kopf gestoßen hatte.

Fünf Minuten bevor das Spiel begann, hatte er sich eine Apfelschorle eingeschenkt und den Fernseher eingeschaltet. Er hatte es noch geschafft, pünktlich zum Spiel. Ein gutes Omen, wie er glaubte. Es war immer noch mindestens 30 Grad heiß, er hatte die Tür zu seinem Balkon geöffnet und von draußen wehte angenehm warme Luft in sein Wohnzimmer, auf dessen Boden er sich in voller Länge ausgebreitet hatte. Auf dem Bildschirm war der Dorfplatz der Österreicher zu sehen und im Vordergrund blendete die Regie gerade die Aufstellung des FC Superfund ein. Namen, mit denen Hannes rein gar nichts anfangen konnte. Manche hörten sich typisch österreichisch an, fand Hannes. Der Name der Torwarts, Schicklgruber, zum Beispiel. Hoffentlich würde dieser in den nächsten knapp zwei Stunden im Mittelpunkt des Geschehens stehen. Dann gab es noch Spieler, die auf Namen wie Hörtnagel, Baur, Riegler oder Kiesenebner hörten. Klang irgendwie wie der Kader der nationalen österreichischen Ski-Abfahrtsmannschaft. Wenn es heute um Skifahren gehen würde, dann würde Werder mit Sicherheit den Kürzeren ziehen. Aber man traf sich, um Fußball zu spielen, und da durfte man keine Gnade mit jenen Halbamateuren haben.

Dann stockte Hannes plötzlich der Atem, denn er las den Namen des Mittelstürmers des FC Superfund: Glieder, Eduard Glieder. Edi Glieder, wie ihn der Reporter nannte. Ob das wirklich der Name des Spielers war? Hannes’ Fantasie begab sich sofort auf eine Reise und hielt Ausschau nach Berufszweigen, in denen Menschen, die Edi Glieder hießen, zu Ruhm und Ehre kamen. Dabei stürzte er sich bewusst nicht auf jene bestimmte Form der Schauspielerei. Schließlich erschien in dem Kino seiner Fantasie der Name auf einem überdimensionalen Werbebanner eines Pariser Varietés oder eines Spielcasinos in Las Vegas. Und aus imaginären Lautsprechern seiner Einbildung konnte er die Stimme eines Promoters klar und deutlich vernehmen: Heute live bei uns auf der Bühne, exklusiv, die einzige Show in der Stadt, der österreichische Entfesselungskünstler, der Mann, der alle Ketten sprengt, Mister Gummi, das letzte Glied in der Kette, the one and only: Eeeeeeeeeediiiiiiiiiiii Glieeeeeeeeeeeeedeeeeeeeer!

Das Spiel lief bereits, als Hannes’ Edi-Glieder-Vision endlich verblasste. Dieser Edi Glieder sollte die Werder-Abwehr in Verlegenheit bringen? Vor dem sollte man sich fürchten? Hannes hatte eher Mitleid mit ihm. Edi Glieder konnte vielleicht in eine schwere Kette gehüllt, die mit fünf Vorhängeschlössern gesichert an einem Hornschlitten fixiert war, eine Bobbahn hinuntergeschubst werden und würde es fertig bringen, nicht nur das Gefährt mit 120 Stundenkilometern sicher ins Tal zu balancieren, sondern gleichzeitig dem Schlitten in der kurzen Zeit entfesselt und ohne jeglichen Kratzer wieder zu entsteigen. Das traute Hannes dem Mann, der Edi Glieder hieß, durchaus zu. Aber Tore gegen Werder? Das UI-Cup-Finale verhindern? Niemals. Hannes lehnte sich zurück und wartete geduldig auf das erste Tor.

Zu seiner Verwunderung machte allerdings zunächst einmal der FC Superfund Pasching von sich reden. Die Österreicher gingen sehr aggressiv und engagiert auf dem Platz zu Werke und hatten einen quirligen Mittelfeldspieler, der Werder in der erste halben Stunde ganz schön beschäftigte. Hannes konnte es sich nur so erklären, dass Schaafs Taktik aufgrund der Hitze darin bestand, den Gegner erst einmal kommen zu lassen. Die Dorftruppe sollte sich wohl zunächst müde laufen, dann würde man sie auskontern, eiskalt zuschlagen. Als Indiz dafür, dass Schaaf seiner Truppe einen Auswärtssieg zutraute, wertete Hannes die Tatsache, dass die aktuelle Nummer 2, Pascal Borel, im Tor stand und nicht etwa Werders Neuzugang Andreas Reinke. Auch Frank Baumann saß nur auf der Bank und wurde vom jungen Tim Borowski ersetzt. Der Werder-Kapitän hatte angeblich leichte Knieprobleme.

Immer wieder holte Hannes der Name Edi Glieder ein. So konnte er sich gar nicht darüber aufregen, dass sein Team auch nach einer halben Stunde, abgesehen von einem Freistoß von Mladen Krstajic, noch nicht eine nennenswerte Chance zu verzeichnen hatte. Der Reporter fing schon an, auf der Underdog-Nummer herumzureiten, dass man die wacker kämpfenden Alpenkicker nicht unterschätzen dürfe, dass alles andere als ein Werder-Sieg einer Sensation gleichkommen würde. Hannes hasste solche Reporter. Der Mann am Mikrofon wollte Werder schlechtreden. Konnte der Amateur nicht sehen, dass Werder die Alpenbomber absichtlich kommen ließ? Werder spielte intelligent, routiniert, abgeklärt, das Team teilte sich seine Kräfte ein, schließlich dauerte ein Spiel 90 Minuten. Hannes spürte, dass der SVW bald zuschlagen, und damit dem kommentierenden, sogenannten Fußballexperten das Maul stopfen würde. Dann würde der Typ umschwenken, von einer souveränen Vorstellung des Favoriten sprechen, der den Gegner hatte sich müde laufen lassen. Hannes konnte sich voll und ganz auf seinen Instinkt als Fan verlassen, der ihm sagte, dass noch vor der Halbzeit das erste Tor fallen würde.

In der 36. Minute erzielte ein Spieler mit dem Namen Horvath das 1:0 für den FC Superfund Pasching. Er umdribbelte die halbe Mannschaft der Grün-Weißen wie Slalomstangen. Horvath war wohl kein Abfahrtsläufer, sondern eher in den technischen Skidisziplinen zuhause. Wahrscheinlich hatte er auf die gleiche Art und Weise auch schon den einen oder anderen Weltcupslalom gewonnen, im Winter, wenn der Fußball zu wenig abwarf, um davon zu leben oder gar eine Familie zu ernähren. Vom Strafraum hatte er dann abgezogen und die Kugel fand den Weg ins Werder-Gehäuse, ohne dass es Borel möglich gewesen wäre, dies erfolgreich zu verhindern. Man musste kein Hellseher sein, um sich vorzustellen, dass sich der Junge morgen in das goldene Buch der Stadt Pasching eintragen durfte, vorausgesetzt Pasching war eine Stadt und man verfügte dort über ein goldenes Buch. Der Reporter jedenfalls setzte zum Sarkasmus an, und es war nicht von der Hand zu weisen, dass dieser wohl in Bayern-Bettwäsche schlief. Hannes drehte ihm sofort den Ton ab. Doch er war noch immer guter Dinge. Wenn nicht in den verbleibenden acht Minuten, dann würde man spätestens in der zweiten Halbzeit eine andere Werder-Mannschaft zu Gesicht bekommen. Da würde das Team die Skifahrer in ihre fußballerischen Schranken verweisen.

Kurz darauf sah Hannes, dass Glieder in einen Zweikampf mit Ismaël, Werders Neuzugang aus Frankreich, verwickelt wurde. Der Entfesselungskünstler löste sich, wie sollte es auch anderes sein, aus der Umklammerung, fiel, und der Schiri zeigte auf den Punkt. Zum Glück konnte Hannes den Reporter nicht frohlocken hören, das Szenario hatte Stummfilmcharakter und wirkte surreal, als sei es eine Inszenierung einer lokalen Theatergruppe mit dem Titel: Als der Fußball seine Sprache verlorBilder sagen mehr als Worte! Doch alles war real: Es gab tatsächlich einen Elfmeter für die Statisten, und Edi Glieder hatte ihn herausgeholt. Den Elfmeter wohlgemerkt. Aber dann überspannte der Glieder Edi wohl sichtlich den Bogen, denn er selbst legte sich den Ball zur Ausführung auf den Punkt. Hatte es sich denn noch nicht bis nach Österreich herumgesprochen, dass eine der goldenen Regeln der ungeschriebenen Fußballgesetzte lautete, dass der gefoulte Spieler nie selbst zur Ausführung eines Strafstoßes antreten sollte? Hannes begann zu beten. Wenn Glieder es jetzt nicht brachte und versagte, würde das Spiel die entscheidende Wendung nehmen. Doch Glieder versenkte das Ding – eiskalt. Es hieß 2:0. Jetzt wurde es langsam ernst, das Spiel in einer derartigen Konstellation noch zum Kippen zu bringen, würde verdammt schwer werden. Das Gute daran war, dass es nicht mehr schlimmer kommen konnte. Gleich war Halbzeit und dann musste man das Ruder eben mit der Brechstange herumreißen.

Doch es kam schlimmer.

Weitere drei Minuten später schlug ein Verteidiger namens Rothbauer einen diagonalen Pass über geschätzte 500 Meter auf den Schützen des 1:0. Hätte nicht der Hochsommer noch immer ganz Europa im Griff gehabt, wäre der Ball sicher schneebedeckt aus dem Himmel gefallen. Wieder überlief Horvath die Werder-Abwehr und legte mit viel Übersicht präzise quer auf Glieder. Es war einer der Bälle, die selbst der echte James Duncan auf einer seiner Zeitreisen im Tor untergebracht hätte, und natürlich ließ sich Eduard G. nicht zweimal bitten. Er schob das Objekt der Begierde lässig über die Linie. Hannes in seiner Wohnung, außerstande, auch nur ein Wort zu sprechen, geschockt, auf einem emotionalen Fußballnullpunkt verharrend, demoralisiert, betrachtete er die beiden Zahlen, die den Halbzeitstand widerspiegelten: 3:0. Das einzig Positive war in diesem Moment, dass er den Reporter nach wie vor nicht hören konnte. Wie um alles in der Welt konnte man sich nur so vorführen, so düpieren lassen? Wollte Werder es spannend machen? Gut, jeder wusste, dass Werder schon die verrücktesten Spiele gebogen hatte, wahre Wunder vollbracht hatte, wenn es sich um internationale Spiele gehandelt hatte. Einmal, im ersten Champions-League-Jahr, hatte man gegen Anderlecht sogar einmal einen 0:3-Pausenstand noch in einen 5:3-Sieg umgewandelt. Aber das waren alles Flutlichtspiele im heimischen Weser-Stadion gewesen, irgendwann im Frühjahr, wo die Spieler voll im Saft gestanden hatten. Nein, das Ding war gelaufen. Vielleicht konnte man noch das eine oder andere Tor machen, das Ergebnis so gestalten, dass die Europacup-Arithmetik die Chance auf ein Weiterkommen beim Rückspiel etwas erhöhte. Doch auch in der zweiten Halbzeit herrschte das gleiche Bild: Glieder, immer wieder Glieder.

Der Hans Krankl des FC Superfund wurde an jenem schwülen Abend geboren und wirbelte munter weiter. Hannes war so perplex, dass er vergaß, sein Bier zu öffnen. Was war das hier? Hatten die Österreicher zur Vorbereitung auf dieses Spiel in dreitausend Meter Höhe mit Medizinbällen einen Fußballtennismarathon gespielt? Sie schienen im Gegensatz zu Werder nicht müde zu werden. In der 68. Minute hätte es fast 4:0 geheißen, doch dieses Mal verhinderte Borel mit einer guten Parade die Katastrophe. In diesem Moment befasste sich Hannes mit der nahen Zukunft. Er würde morgen nicht einfach weitermachen können wie bisher. Das Scheitern im letzten Bundesligaspiel gegen Gladbach vor gut zwei Monaten war eine Sache, das konnte man, mit Mühe zwar, noch einigermaßen wegstecken. Aber diese Schmach der Edi-Glieder-Festspiele zu Pasching war eindeutig zu viel. Sie würde an Werder haften, nicht nur morgen, über die ganze Saison hinweg. Noch in 20 Jahren würde das Wort Pasching an Werder haften wie das Etikett Made in Taiwan an einem billigen Trikotimitat. Nur dass diese Werder-Elf keine B-Truppe war. Man würde, wenn die Saison in die Hosen gegangen war, immer wieder auf dieses Spiel zu sprechen kommen, vom Anfang vom Ende sprechen. Die Reportage, die Hannes nicht hören konnte, würde für ewig Zeugnis ablegen von der schlimmsten Vorführung, seit der erste Fußball bremischen Boden berührt hatte. Die Latteks, Hoeneß, Breitners und Weißbier-Waldis der Nation würden ein Fest feiern. Der Mann, der die Bildzeitungsschlagzeilen erfand, war gerade dabei, die Demütigung in kurze prägnante Worte zu fassen, die sich in die Seele eines jeden Fans brennen würden. Eine Schlagzeile wie

Superfund macht Werder rund

würde morgen die Gazetten füllen.

Nur das Double am Ende der Saison würde die Scharte ausmerzen können, aber daran glaubte wahrscheinlich nicht einmal Edi Glieders Oma. Hannes rechnete stattdessen schon einmal zusammen, wie viele Punkte man brauchte, um definitiv am Ende der Saison dem Abstieg zu entrinnen.

Einzig ein Spielabbruch konnte jetzt die Katastrophe noch abwenden. Hannes versuchte im Hintergrund des Spielfeldes Berge zu erkennen, Berge auf denen Schnee lag, potenzielle Lawinen entstehen konnten, die möglicherweise auf das Spielfeld rutschen konnten.

Er war noch klar genug, um sich der Tragweite seiner Gedanken bewusst zu werden. Das Spiel war verloren. Und er musste eine Entscheidung treffen, wie es morgen weitergehen sollte.

Es war schließlich Micoud, der Hannes noch einmal aus seiner von Selbstmitleid gespeisten Lethargie erwachen ließ, denn er hatte sich im Strafraum der Glieders durchgesetzt und wurde gefoult. Der Schiri zeigte sofort auf den Punkt. Hannes rechnete – es blieb noch genug Zeit. Die Österreicher hatten in der ersten Halbzeit binnen neun Minuten drei Tore gemacht. Jetzt blieben noch 18 Minuten, die doppelte Zeit also. Schaffte Werder womöglich noch die Sensation? Hannes kniete sich vor den Fernseher und betete, als Charisteas den Ball auf den Elfmeterpunkt legte.

„Bitte! Harry, bitte!“, flüsterte Hannes. Doch auch Schicklgruber nutzte die Chance, um Heldenstatus zu erwerben in jenem denkwürdigsten österreichischen Fußballfest seit Cordoba 78. Er hielt den Elfmeter des Griechen.

Jetzt verlor Hannes die Nerven. Er sprang auf, rannte durch sein Wohnzimmer, trat nach einer Gießkanne, die erst wieder in der Küche Bodenkontakt bekam. Dann zog er sein altes Portas-Werder-Trikot aus dem Schrank, ein Relikt längst vergessener Tage, eine Trophäe, die keine mehr war, mehr Fluch als Segen. Hannes zog daran, er riss an dem Trikot wie ein Hund, der zwei Jahre auf der Lauer gelegen hatte und endlich das Hosenbein des Briefträgers erwischt hatte. Es hörte sich gut an, wie der Stoff zerriss und Hannes fing an, dazu zu schreien. Wie der Terminator persönlich, Österreichs ganzer Stolz, pulverisierte er das Trikot schließlich in unzählige Stücke, vernichtete es unwiederherstellbar, so wie die elf Glieders es mit Werders UI-Cup-Chancen machten. Und er schrie dazu, schrie, schrie. Dann ließ er die Trikotfetzen fallen. Sein Puls raste, er schwitzte, er war heiß.

Er hasste Fußball.

Drei Minuten vor dem Ende machte Baur das 4:0 nach einer Ecke. Dabei blieb es.

Double

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