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Teil I, Kap.1 Berliner Jahre 1938 - 1943
ОглавлениеDenke ich an meine Kinderjahre zurück, so sehe ich mich als Achtjährige. An mein Aus-sehen vor diesem Zeitpunkt kann ich mich nicht erinnern. Die wenigen Kinderbilder, die aus einer früheren Zeit stammen, zeigen ein Kind mit runden Backen und wachen Augen, aber ich habe nicht das Gefühl, dass ich dieses Kind bin, ich bin das andere, das mit auffallend weißblonden Haaren, geflochten in zwei starr abstehende Zöpfe, die verhassten Sommersprossen auf der Nase. Und so erbarmungswürdig dünn unter den wohlgenährten fränkischen Bauernkindern, denn zu dieser Zeit ist der Krieg schon zu Ende und wir sind nicht mehr in Berlin. Gleich vier Spitznamen trug mir dieses Aussehen ein: „Steckelesfuß“, der dürren Beine wegen, „Weiße“ (das ist in Franken der Name für Kühe mit hellem Fell), „Flickerpuppsche“, diesen Namen behielt sich mein Lehrer vor, angeregt dazu durch meine schnellen Bewegungen, und schließlich „Bachstelze“, für mich der erträglichste Name, der auf meine dünnen Beine anspielte, die ich gerne unter Trainingshosen versteckte, wenn es die Jahreszeit nur einigermaßen zuließ.
Kindheit, das ist in erster Linie der nur kurze Aufenthalt in diesem fränkischen Dorf Linden, abgeschnitten von allem, was das Leben sonst noch zu bieten hatte, für mich aber zum ersten und einzigen Male „Heimat“, Ort der ersten Liebe und vieler Träume vom späteren Leben und seinen Möglichkeiten.
Aber zurück zum Anfang. Meine Geburt muss unter dramatischen Umständen stattgefunden haben, diese Geburt hat meine arme Mutter fast das Leben gekostet. Oft und ausführlich wurde mir alles geschildert, meine arme blutende Mama, mit 32 Jahren damals bereits eine Spätgebärende, umringt von nicht weniger als vier Ärzten, an der Tür händeringend die Reimann-Großmutter, die wir Kinder später ihres Umfanges wegen auch „Kugeloma“ nannten. Nur mein Vater erscheint in dieser Szene nicht, ich weiß nicht, ob er abwesend war oder ob man ihn in dieser Erzählung einfach für nicht erwähnenswert hielt. Ich selbst erscheine auch nicht, wurde wohl irgendwo erst einmal abgelegt. Vielleicht hat die Distanz, die ich ein Leben lang zwischen meiner Mutter und mir fühlte, auch etwas mit diesen Geburtsumständen zu tun und nicht nur damit, dass wir uns so wenig ähnelten in unseren Wesenszügen.
Mama erholte sich und die Freude über die Erstgeborene wird sich sicher bald eingestellt haben. Noch herrschte Frieden in Deutschland, und Berlin muss für meine Eltern eine Stadt voller Chancen und Abenteuer gewesen sein. Aber da fällt mir noch ein anderes Ereignis ein. Vier Wochen nach meiner Geburt fand meine Taufe unter nicht alltäglichen Umständen statt. Auch das hat man mir so oft erzählt, dass ich es mir genau ausmalen konnte, den grauen Aprilmorgen, die Sandsteinkirche, in der ich heimlich, gegen den Willen des Vaters, getauft wurde. Dieser fröhliche, aufbruchbereite Vater trug mit Enthusiasmus die Ideen der neuen Zeit mit: ein neues Deutschland aufzubauen, mit neuen Menschen und neuen Zielen . In diesen Plan passte eine erzkonservative Taufe nicht.
Welche Konflikte mag meine arme Mutter durchlitten haben, denn eigentlich war sie ja auch für diese neue Zeit, aber schließlich drohte ihrem armen ungetauften Kinde nach den Lehren der katholischen Kirche bei einem plötzlichen Dahinscheiden zwar nicht gerade die ewige Verdammnis, aber die Pforten des Himmels würden ihm verschlossen bleiben und damit die Trennung von ihr, meiner lieben Mama.
Vergilbte Fotos zeigen sie, wie sie damals aussah, ein elegante Frau im Fohlenpelzmantel, auf dem Kopf einen Hut, zierlich von Statur, die winzigen Füße in kleinen Knopfstiefelchen. Wie stolz war sie immer auf diese kleine Schuhgröße, wenngleich sie dadurch oft gezwungen war, in der Kinderabteilung nach Schuhen zu suchen. Trotz augenscheinlicher Zartheit wusste sie sich durchzusetzen, und wenn es mit Hilfe von Launen war, die sie fast immer an das Ziel ihrer Wünsche brachten.
Und mein ideenreicher, sonniger, immer fröhlicher, unrastiger Vater fand es sicher nicht wert, wegen einer heimlich durchgeführten Taufe einen Aufstand zu erheben.
Berlin l938, welcher Brennpunkt des Lebens für ein jungverheiratetes Paar, das endlich der Enge und Perspektivlosigkeit einer schlesischen Kleinstadt entflohen war. Unglaubliche Zukunftspläne bekamen die Menschen von einem Führer ausgemalt, der sich berufen glaubte, ein Volk, das deutsche, über alle anderen Völker der Erde zu erheben. Mein Vater, in die Partei eingetreten, war als Elektroingenieur bei der Organisation Todt beschäftigt.
(Diese Organisation baute die Reichsautobahn, war am Bau des Westwalls und ab 1940 am Bau der U-Boot -Stützpunkte beteiligt. Ab 1943 wurden unter ihrer Anleitung die Abschussbasen im nordfranzösischem Raum und die Luftschutzräume im deutschen Gebiet gebaut. Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter waren der O.T. unterstellt, auch KZ-Häftlinge wurden zum Arbeitseinsatz herangezogen. Ende 1944 zählte die O.T. 1.360.000 Arbeitskräfte, davon 22.000 KZ-Häftlinge. Sie waren brutalsten Behandlungen ausgesetzt. Die O.T. operierte eng mit der Gestapo und der SS.)
1939, im November, wird Rüdiger, mein Bruder, geboren. Es ist bereits Krieg. Aber noch spüren wir nichts davon, leben behaglich in einem gewissen Wohlstand. Nur Bananen gibt es nicht mehr, damit ärgere ich später meinen Bruder, indem ich mit einigem Hochmut sage: „Ich weiß, wie Bananen schmecken. Ich bin ein Friedenskind.“ Was sollte er dem entgegensetzen? Übrigens war ich über die Ankunft dieses Bruders, der wohl auch für meine Eltern etwas zu rasch auf die erste Geburt folgte, nicht begeistert, versuchte ihn sogar, nach Berichten der Familienangehörigen, einmal in der Wiege mit dicken Kissen endgültig zuzudecken. Die tiefe Vertrautheit, die uns heute verbindet, stellte sich erst später ein. Zwanzig Monate trennen uns nur, ein Grund, dass Trulle, das Kindermädchen aus Schlesien, in unsere Familie kam. Sie war ein gesundes, siebzehnjähriges Mädchen, das nichts so schnell aus der Ruhe brachte. Eigentlich hieß sie Gertrud, aber diesen Namen konnte sie nicht ausstehen, sobald wir sie später so nannten, war die Antwort stets: „Gertrud heißt mein Unterrock,“ dann drehte sie sich um, und es war nichts bei ihr zu erreichen. Meine hübsche, elegante Ziegler-Großmutter hatte dafür gesorgt, dass sie nach Berlin kam, und schon bald trug sie das schwarze Haar nach der Berliner Mode, lebte sich auch sonst so gut ein, dass sie keine Ferien mehr zu Hause in Schlesien verbringen wollte.
Denke ich heute zurück an Berlin, so fällt mir die große Wohnung ein , mit hohen Räumen, Stuck an den Decken, schwarze , schwere Möbel, wo jeder Kratzer laute Klagen bei der Mutter auslöste, eine Wohnung mit einer hellen Küche, wo wir beide, mein Bruder und ich, ewig essunlustig am Tisch saßen und von Trulle gefüttert wurden, zuerst geduldig, später gereizt, zum Essen gezwungen. Ich hatte sehr rasch rausgefunden, dass ich durch heftiges Würgen diese Fütterung abbrechen konnte, weil Trulle um den Erfolg aller Bemühungen bangte, während mein pausbackiger, liebenswerter Bruder alles in sich hineinstopfen ließ, das scheußliche Zuckerei eingeschlossen, das aus geschlagenem Eigelb und Traubenzucker bestand, übertroffen in seiner Scheußlichkeit nur von dem abendlichen Löffel Lebertran, damals noch echt und unverfälscht. In dieser Berliner Küche begegnete mir auch für Sekunden in der Vorweihnachtszeit das Christkind, so hell und deutlich zu erkennen, verschwand es gleich wieder hinter dem großen, weißlackierten Küchenschrank, nur die bunten Gardinchen vor den Schrankfenstern waren danach noch zu sehen. Niemand konnte mir dieses Erlebnis später ausreden. Es waren nur Sekunden, bis man mich von der Küchentür wegzog, die wegen der Weihnachtsvorbereitungen vor uns Kindern in dieser Zeit verschlossen blieb. Aber die Existenz einer anderen Welt war für mich zur Wirklichkeit geworden.
Berlin, das ist auch der Balkon mit dem Jugendstilgeländer, auf das mein kleiner Bruder einmal kletterte, als er unbewacht war. Hoch oben, im vierten Stock, wollte er ein Stückchen mehr von der Welt sehen.
Er löste damit den Ohnmachtsanfall Trulles aus. Erstaunlich in solchen Momenten die Reaktion meiner Mutter, die erst das Kind rettete und sich erst dann ebenfalls einer Ohnmacht überließ. Berlin, ich erinnere mich der Spaziergänge in Parks mit Trulle, rausgeputzt wir Kinder in Matrosenkleid und Matrosenanzug, mein Bruder mit der dunkelblauen Schiffchenmütze auf dem Kopf. Und die Unart von uns wohlerzogenen Kindern erschöpfte sich darin, dass Rüdel ab und zu sein Schiffchen vom Kopf riss und in die Büsche warf. Strafen erfolgten auf solche „Untaten" keine.
Von l938 bis 1943 dauerten diese Kindertage, das Bild der Mutter bleibt schemenhaft, keine Erinnerungen an Spiele oder Gespräche mit ihr, erst später wieder im Luftschutzkeller. Aber da saß Rüdel auf ihrem Schoß, ich immer daneben, so scheint es mir. Der Vater eigentlich immer unterwegs, als Ausbilder und Verwaltungsinspektor mit geheimzuhaltenden Aufträgen, ständig irgendwo. Ab und zu ein kurzer Besuch, ein Mann in Uniform, der die Wohnung mit Frohsinn, Leben und viel Unruhe füllte, der mit uns wilde Spiele spielte, sodass ich einmal dabei über die Schwelle im Schlafzimmer stürzte und mir einen Vorderzahn so beschädigte, dass er schwarz wurde und ich diesen Makel bis zum Zahnwechsel ertragen musste.
War Vaters Bleibe länger als drei Tage, fing er an die Wohnung umzuräumen, zum großen Ärgernis meiner Mutter, die nichts so liebte wie Ruhe und die alte Ordnung in allen Dingen. Auch begeisterte meinen Vater das gesellschaftliche Leben in Berlin, Theater- und Opernbesuche; aber jeder Besuch, jedes Unternehmen, die nicht lange vorher angekündigt wurde, steigerten sich für meine Mutter zum Problem, und nicht selten musste Trulle an ihrer Statt, sogar manchmal in einem ihrer eleganten Kleider, mit meinem Vater ausgehen, weil sich meine Mutter nicht dazu durchringen konnte. Später, als mein Vater schon tot war, pflegte meine Mutter zu sagen, dass ihre Ehe nur deshalb so glücklich verlief, weil unser Vater von 13 Ehejahren insgesamt nur 4 zu Hause war.
Berlin bedeutet jedoch auch die erste Erfahrung von Angst und Lebensbedrohung, schlimmer als in späteren Jahren, denn als Kind konnte ich mir ja über meine Gefühle nicht klar werden, ich konnte zur Bewältigung meiner Ängste noch nicht den Kopf zur Hilfe nehmen, etwas, was ich erst viel später lernte. Es war auch niemand da, der mir Erklärungen lieferte, was da geschah, mit Bomben und Fliegern, mit der Dunkelheit, die plötzlich im Keller herrschte, wenn der Strom ausfiel und das tiefe Brummen der Bomber die Luft erfüllte. Was war das, das mir schon bei den ersten Heultönen des Fliegeralarms die Luft abstellte, das mich später auf der Kellerbank vor Zittern regelrecht hüpfen ließ? Alle freundlich angebotenen Süßigkeiten der Hausbewohner trösteten nicht und lenkten nicht ab. Der Krieg hatte uns eingeholt, die vertraute Welt der Kindheit in eine bedrohte Welt verwandelt.
Später, als längst Erwachsene, konnte ich noch viele Jahre keine Sirenen hören, ohne in Tränen auszubrechen.
So ganz anders erlebte mein Bruder diese Zeit. Als Nachsatz zum allabendlichen Gebet fügte er oft hinzu: „Und, lieber Gott, lass heute Nacht die lieben Engländer wieder kommen!" Für ihn hatte der Krieg den Vorteil, dass es nachts Pralinen und Zuckerstangen gab. Krieg bedeutete Zuwendung von Seiten der Mutter und die Freundlichkeit der Hausbewohner. Wie sehr habe ich ihn damals schon um diese Sichtweise beneidet und auch um die Art, wie er sich die Herzen der Menschen eroberte. Ein Kinderbild aus dieser Zeit fällt mir ein, das ihn in einer kleinen weißen Spielschürze zeigt, mit dicken Backen, dunklem Haar und strahlenden Augen, einfach liebenswert. Ich stehe auf diesem Bild neben ihm, das Gesicht zu ihm gewendet, die Haare zur Tolle um einen Kamm gewickelt, wie Kinder das eben damals so trugen, ernst und wenig kindlich aussehend.
Während wir die Fliegerangriffe im Keller abwarteten, hielt Trulle mit anderen Hausbewohnern das Dach nass, um den Brandbomben „der lieben Engländer" eine Chance weniger zu bieten.
Mit den Erinnerungen an Berlin ist auch die Erfahrung verbunden, dass Menschen sterblich sind. Wir Geschwister, die wir keine anderen Kinder zu Spielkameraden hatten, wohl auch aus diesem Grunde eine so enge Vertrautheit miteinander entwickelten, dass noch unsere späteren Ehepartner damit ihre Probleme bekamen, uns begegnete doch ab und zu im Treppenhaus ein kleines Mädchen. Dieses Kind erkrankte eines Tages an Diphterie, einer gefürchteten Krankheit, und starb auch daran. In Erinnerung ist mir die schreckliche Angst meiner Mutter geblieben. Jeden Tag wurden wir nach unserem Ausflug in den Park gewissermaßen in Sagrotan gebadet, durften weder Türklinken noch das Treppengeländer berühren. Wir erkrankten nicht. Insgesamt, so scheint mir, waren wir doch trotz aller Zartheit recht gesunde Kinder, wurden vom Vater auch zu regelmäßigen Arzt- und Zahnarztbesuchen angehalten, denen sich auch unsere Mutter fügen musste.
Noch litt niemand wirklich Not, noch gab es fast alles zu kaufen, und die Lebensmittel, die es nicht mehr gab, vermissten wir nicht. Noch versprach die Politik eine glänzende Zukunft, noch war man überzeugt, das neue Reich, die neue Welt lasse sich mit Hilfe aller verwirklichen, es gehörte nur Mut dazu, Tapferkeit und die anderen bewährten deutschen Tugenden, und zu diesen musste man nur rechtzeitig erzogen werden. Die Selbstbeherrschung war einer dieser Charakterzüge, die trainiert werden konnten.
Und so sehe ich meinen Bruder und mich im Wohnzimmer, wir stehen vor meinem Vater, er hatte jedem von uns einen Bleistift in die Hand gegeben, den wir mit ausgestrecktem Arm so halten mussten, dass die Spitze auf ihn zeigte. Unser Vater hielt eine Stoppuhr in der Hand, von der er ablas, wie lange jeder von uns seinen Bleistift in dieser Position halten konnte.
Aufruhr und Furcht erfüllten mich bei diesem Vorgang, mehr meines Bruders als meinetwegen. Ich konnte den Sinn nicht erkennen, ich wusste nicht, welche Folgen es haben würde, wenn wir den Bleistift vorzeitig sinken ließen, denn Folgen musste es doch haben, alles schien von großer Wichtigkeit zu sein. Fast war ich enttäuscht, als dann nichts geschah, mein Vater uns nur die Zeit angab, die wir ausgehalten hatten; aber die Zeit sagte uns nichts, sie drückte unsere Gefühle ja nicht aus, sagte nichts darüber, welche Ewigkeit wir ausgehalten hatten mit langsam schwer werdendem Arm.
Geblieben ist mir, wohl von dieser Episode herrührend, ein tiefes Misstrauen gegen feierliche Rituale kirchlicher oder weltlicher Art, deren Sinn und Zweck so oft undurchschaubar sind. Wie oft bin ich ihnen in meiner Religion noch begegnet, bis ich mich endlich auch davon befreit habe.
Selbstbeherrschung wurde auch anders erzwungen, mein Bruder war hierbei öfters als ich das Opfer. So wurden ihm, dem Unruhigen, einmal mit einem dünnen Zwirnsfaden die Beine während des Mittagessens an ein Tischbein des großen Esszimmertisches gebunden, auch diesmal ohne bekannt zu geben, was geschehen würde, wenn der Faden reißt. Ich erinnere mich, dass ich nicht weiteressen konnte, denn die Tränen stiegen mir in die Augen. Natürlich gab es keine Strafen, als der Faden tatsächlich riss. Insgesamt wurden wir liebevoll erzogen und umsorgt, was allerdings solche Szenen nicht ausschloss, die gehörten wohl zum Erziehungsprogramm der damaligen Zeit.
Da fand ich es schon weniger schlimm, dass meinem Bruder, dem Linkshänder, eines Tages ein eigens für ihn angefertigtes Lederband, fast eine Art steifer Handschuh, so um die linke Hand befestigt wurde, dass er diese nicht mehr gebrauchen konnte, er also zum Greifen nur noch die rechte Hand hatte. Auf diese Weise sollte er zum Rechtshänder umerzogen werden. Die Prozedur hatte immerhin noch etwas Sportliches, wurde auch in vielfältiger Weise von meinem pfiffigen Bruder unterlaufen.
Inwiefern dies alles bei ihm Nachwirkungen zeigte? Manchmal haben wir, viele Jahre später, darüber gesprochen und sind zu der Einsicht gekommen, dass uns diese Erziehung einerseits Kummer erspart hat, weil uns unsere Disziplin vor so mancher Unüberlegtheit bewahrte, dass sie uns aber auch ein ganzes Stück Leben nicht leben ließ, das sich andere ohne großes Überlegen zugestanden haben, nicht selten auf unsere Kosten.
Mehr beschäftigt mich die Frage, weshalb unser so geliebter und bis zuletzt bewunderter Vater solche Handlungen einleitete und ausführte. Als Antwort kann ich mir nur denken, dass er, der damals noch so überzeugte und begeisterte Anhänger des Führers und seiner Ideen, keinerlei Gedanken daran verwendete, wieweit diese Erziehung sinnvoll war und was sie wohl bei seinen Kindern auslöste.
Die Rolle meiner Mutter ist mir hierbei unklar, ich weiß nur, sie duldete es, ob sie es gut hieß, darüber nachdachte, ich weiß es nicht.
Während bei meinen Eltern noch der unanfechtbare Glaube an eine glorreiche Zukunft herrschte, waren meine Großeltern väterlicherseits von Anfang an davon überzeugt, dass von diesem Adolf nur Unheil ausgehen werde. Mutig versuchte jeder auf seine Art als überzeugter Katholik das Tagesgeschehen mit seinem Gewissen in Einklang zu bringen: mein Großvater als Lehrer, Großmutter in ihrem Familienalltag. Bisweilen nahm das Aufbegehren meiner temperamentvollen Großmutter sogar gefährliche, ja heroische Züge an, so, als sie die zweimaligen Versuche, vor ihrem Haus eine Hitlereiche zu pflanzen, mit großem Pomp und weißgekleideten Jungfrauen, dass sie diesen Versuch dadurch vereitelte, indem sie den neugesetzten Baum jeweils in der darauffolgenden Nacht mit Petroleum begoss. Der Erfolg blieb nicht aus, der Baum ging ein, und man suchte für das dritte Bäumchen einen neuen Standort.
Ach, meine Großeltern, noch spielten sie kaum eine Rolle in meinem Leben, obgleich ich für meine Großmutter schon damals Bewunderung empfand. Später habe ich von ihr gelernt, wie man sich tapfer bei Schicksalsschlägen verhält, die Freude am Leben nicht verliert. Ich habe von ihr auch übernommen, wie man sich mit Charme und Zähigkeit durchsetzt. Ihre frühe Liebesgeschichte zu einem Tunichtgut, dem Bruder meines Großvaters, den sie nicht heiraten durfte, diese traurige und nur jeweils in Bruchstücken angedeutete Liebesgeschichte bewegt mich bis heute. Mein Großvater war ein Leben lang stolz darauf, sie durch die Ehe mit ihm, dem Ehrbaren, vor einer großen Dummheit bewahrt zu haben.
Wieweit die bedrohlicher werdenden politischen Geschehnisse je Gegenstand der Gespräche zwischen meinen Eltern wurden, kann ich nicht wissen. Aber ich denke mir, dass meine unpolitische Mutter gar nicht erfahren wollte, was sich in Wahrheit ereignete. Sie wird wohl die stets rosarot gefärbten offiziellen Nachrichten für das allein Gültige genommen haben. Ansonsten ging es uns ja gut, noch gut.
Anders mag es wohl meinem Vater ergangen sein. Erste Zweifel müssen ihn schon damals gequält haben, was den künftigen Verlauf, vielleicht sogar das Ende des „Tausendjährigen Reiches“ betraf. Eine Szene ist mir noch so lebendig in Erinnerung, als habe sie sich erst gestern abgespielt: Mein Vater, meine Mutter und wir Kinder im Schlafzimmer der Wohnung in Berlin, mein Vater versucht meiner Mutter die Handhabung einer Pistole zu erklären, damit sie erst uns, dann sich selbst erschießt, falls die Russen Berlin erobern würden. Das Bild an sich löst keinen Schrecken aus, wohl auch damals nicht, es wirkte, anders als das Anpassen der Gasmasken, spielerisch, nicht bedrohlich. Wahrscheinlich wussten wir Kinder auch nicht, dass die Folge von Erschießen der Tod ist. Das helle Schlafzimmer ist mir in Erinnerung geblieben, Vater und Mutter am Fenster, im Sonnenlicht.
Eine andere Erinnerung taucht auf, die mich tief beeindruckt hat. Es ist der 20. April l943, Hitlers Geburtstag. Mein Vater hatte mich mitgenommen zur Reichskanzlei, mich ganz alleine. Hier fand in den Abendstunden ein Fackelzug statt. Vor dem Gebäude drängten sich die Menschen, und ich durfte von Vaters Schultern aus das Geschehen verfolgen. Oben, auf dem Balkon, stand der Führer, wahrscheinlich hatte er, wie immer, den rechten Arm ausgestreckt, aber er beeindruckte mich nicht, viel faszinierender war das Schauspiel, das auf dem Platz stattfand: Musik, Fackeln, Aufmärsche der Hitlerjugend mit Fahnen und dann die BDM-Mädchen, in dunklen Röcken und weißen Söckchen, die blonden Haare zu Zöpfen geflochten. Ach, wie beneidete ich sie um diesen Auftritt, nichts wünschte ich mir sehnlicher, als dabei sein zu dürfen. Als hätte der Vater meine Wünsche erraten, sagte er: „Siehst du, Piepe (sein Kosename für mich), bald wirst auch du dabei sein“. In dieser Nacht erschien es mir doch eine arge Strafe, so lange auf das Großsein warten zu müssen. Noch Jahre später war es mein Wunsch, die blonden Haare in Zöpfe geflochten zu tragen, aber seltsamerweise konnte es mein aus dem Krieg heimgekehrter Vater nicht leiden, er wollte immer eine andere Frisur an mir sehen, und so flocht ich mir die Haare manchmal erst, wenn ich auf dem Weg in die Dorfschule von Linden war. Ob ihn in diesem Falle die Erinnerung in anderer Weise eingeholt hatte?
Keiner konnte damals ahnen, wie nahe der Zeitpunkt gerückt war, an dem für uns alle ein neuer Lebensabschnitt beginnen sollte. Für meinen Vater war wohl inzwischen die Hoffnung, dass alles noch ein gutes Ende nehmen könnte, geschwunden. Es muss dazuhin eine weitere Belastung gekommen sein, nämlich die Bedenken, was seine damalige Tätigkeit anging. Er hat nie darüber gesprochen, worin diese Tätigkeit bestand. Auf die wenigen Fragen meiner Mutter pflegte er nur zu antworten: „Wenn ich dir nichts sage, kannst du nichts erzählen“. Auch nach dem Krieg hat er darüber kein Wort verloren. Mir ist nur in Erinnerung, dass l945 in Österreich, da war mein Vater noch an der Front, eine meiner Tanten gehässig zu meiner Mutter sagte: „Na, wenn uns hier die Russen erwischen, dann hängt dein Mann als Erster und du und die Kinder mit ihm“.
Die Selbstzweifel hatten meinen Vater schließlich dazu bewogen, sich l943 an die Front zu melden. Vorher jedoch bestand er darauf, dass wir, meine Mutter, Trulle, mein Bruder und ich, Berlin für eine bestimmte Zeit verlassen sollten, um nach Schlesien zu den beiden Großelternpaaren zu fahren und so den zu erwartenden Bombenangriffen zu entgehen. Es wurde ein Abschied für nunmehr fast 6o Jahre, erst 2003, im Frühling, sollte ich meine Geburtsstadt wiedersehen.