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2. Deskriptive Ethik – Ansätze aus Philosophie, Psychologie und Soziologie

Die folgenden Abschnitte geben einen Einblick in das Gebiet der deskriptiven Ethik. Sie erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit, sondern wollen lediglich anhand einiger wichtiger Beispiele einen Eindruck vermitteln, welches Spektrum dieser Ethikbereich eröffnet und welche Beiträge hierzu aus unterschiedlichen Disziplinen geleistet worden sind.

Deskriptive Ethik scheint auf den ersten Blick nicht vorrangig Sache der Philosophie zu sein. Die Beschreibung faktischer Moralen würde man womöglich eher von anderen Wissenschaften erwarten, mit Blick auf die Moralüberzeugungen von Individuen etwa von der Psychologie oder der Erziehungswissenschaft, mit Blick auf die Moralvorstellungen in Kollektiven vor allem von Soziologie, Politikwissenschaft, Ethnologie, Geschichtswissenschaft, Kulturanthropologie oder Religionswissenschaft. Auch die Philosophie kann sich indessen in die deskriptive Ethik einbringen und eigenen Gewinn daraus ziehen: Philosophischer Sachverstand mag gefragt sein, um die genaueren begrifflichen, propositionalen und argumentativen Zusammenhänge freizulegen, die in beobachteten Moralen am Werk sind. Außerdem stellen manche philosophischen Autoren zunächst deskriptive Betrachtungen zur Beschaffenheit menschlicher Moralauffassungen an, um hieraus normative Überlegungen zu den Eckpunkten eines richtigen Moralsystems zu entwickeln (ein Beispiel gibt Abschnitt 2.1). Ein solcher Übergang von deskriptiver zu normativer Ethik lässt sich auch in anderen Wissenschaften beobachten: Zuweilen stellen diese ebenfalls nicht allein verschiedene Moralen dar, wie sie bei Individuen oder in Kollektiven faktisch vorkommen mögen. Vielmehr nehmen sie überdies mehr oder weniger offen Stellung dazu, wie diese Moralen in ihrem Inhalt oder in ihrer Wirkung zu bewerten sind (hierzu finden sich Beispiele in den Abschnitten 2.2 und 2.3). Der Zusammenhang von deskriptiver und normativer Ethik ist Thema einiger abschließender Bemerkungen (Abschnitt 2.4). Diese leiten in das nachfolgende Kapitel 3 zur Metaethik über.

2.1 Smith: Vom ›aufmerksamen Zuschauer‹ zum ›unparteiischen Zuschauer‹

Adam Smith (1723–1790) ist primär als Ökonom bekannt geworden. Insbesondere sein Werk An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations (1776) gehört zu den ersten Untersuchungen, die sich in wissenschaftlicher Form mit den Mechanismen der freien Marktwirtschaft auseinandersetzen. Smith hat aber auch als Moralphilosoph gearbeitet. Sein Hauptwerk in diesem Bereich ist The Theory of Moral Sentiments (1759). In diesem Buch entwickelt er einerseits eine normative Ethik utilitaristischen Typs (die in Kapitel 6 dieses Buchs noch einmal Thema ist), andererseits deskriptive Überlegungen zur Natur und Gestalt moralischer Empfindungen (wie es der Titel der Schrift andeutet). Dabei stehen deskriptive und normative Erörterungen in einem engen argumentativen Zusammenhang, der sich vor allem an Smiths Zentralbegriffen eines ›aufmerksamen Zuschauers‹ bzw. eines ›unparteiischen Zuschauers‹ nachzeichnen lässt.

(1) Smith stellt zunächst fest, dass reale Menschen in der Regel über die Fähigkeit verfügen, die Gefühle anderer, primär betroffener Menschen in gleichsam spiegelbildlicher, sekundär mitempfindender Weise in sich nachzubilden. Auf die Wahrnehmung freudiger Empfindungen reagieren sie mit eigener Freude, auf die Beobachtung fremden Leids mit mitleidenden Regungen. Dieses Nachempfinden nennt Smith ›Sympathie‹, und sie zeichnet einen Menschen als ›aufmerksamen Zuschauer‹ aus:

»Der Affekt, der durch irgendeinen Gegenstand in der zunächst betroffenen Person erregt wird, mag [...] welcher immer sein, stets wird in der Brust eines jeden aufmerksamen Zuschauers [attentive spectator] bei dem Gedanken an die Lage des anderen eine ähnliche Gemütsbewegung entstehen.« [SMITH, TMS, I.1.1, 4]

»Das Wort ›Sympathie‹ [sympathy] kann [...] dazu verwendet werden, um unser Mitgefühl mit jeder Art von Affekten zu bezeichnen.« [SMITH, TMS, I.1.1, 4]

Insofern Smith hier von dem üblichen faktischen Einfühlungsvermögen tatsächlicher Beobachter spricht, macht er eine primär deskriptive Aussage. Allerdings schwingt in diesen Ausführungen auch bereits eine gewisse normative Wertung mit. Jene Fähigkeit zur ›Sympathie‹ ist fraglos positiv zu beurteilen. Auf sie gründen sich »[d]ie sanften, die zarten, die liebenswürdigen Tugenden, die Tugenden aufrichtiger Herablassung und nachsichtiger Menschlichkeit« [SMITH, TMS, I.1.5, 27]. Ein ›unaufmerksamer Zuschauer‹, der sie vermissen ließe, wiese ein merkliches moralisches Defizit auf.

(2) Allerdings ist die Position der Sympathie bzw. des aufmerksamen Zuschauers für Smith noch unzureichend für eine vollgültige moralische Haltung. Insbesondere ist sie anfällig für Verzerrungen durch die Eigenliebe, falls man selbst von den fraglichen Entscheidungen und Handlungen betroffen ist. Die eigentlich moralische Perspektive wird erst mit jener völligen ›Selbstbeherrschung‹ erreicht, wie sie ein ›unparteiischer Zuschauer‹ aufbringen könnte:

»[...] nur durch das Auge dieses unparteiischen Zuschauers [impartial spectator] können die natürlichen Täuschungen der Selbstliebe richtiggestellt werden.« [SMITH, TMS, III.3, 203]

»[...] die ehrwürdigen und achtunggebietenden Tugenden [bestehen] in jenem Grade von Selbstbeherrschung [self-command], der uns durch seine wunderbare Gewalt über die unlenkbarsten Leidenschaften der menschlichen Natur in Erstaunen setzt.« [SMITH, TMS, I.1.5, 29]

Einfühlungsvermögen allein genügt nicht den Anforderungen von Smiths normativer Ethik. Erst wenn auch das Selbstinteresse des Handelnden überwunden und Unparteilichkeit zwischen den eigenen Wünschen und den mitfühlend erschlossenen Bedürfnissen anderer Betroffener erreicht ist, sind die Forderungen der Moral erfüllt. Entsprechend ist jene ›Selbstbeherrschung‹ noch weitaus höher zu schätzen als die Sympathie. Sie verkörpert »die erhabenen, ehrwürdigen und achtunggebietenden Tugenden, die Tugenden der Selbstverleugnung, der Selbstbeherrschung und jener Herrschaft über die Affekte, welche alle unsere Gemütsbewegungen dem unterordnet, was unsere Würde und Ehre und die Schicklichkeit des Betragens von uns fordern« [SMITH, TMS, I.1.5, 27]. Ein ›parteiischer Zuschauer‹, bei aller Einfühlung und Menschlichkeit, hätte noch nicht die volle Moralität erreicht.

(3) Mit welchen inhaltlichen Forderungen Smiths Modell eines ›unparteiischen Zuschauers‹ genauer einhergeht, erläutert Abschnitt 6.5: Dort wird nachgezeichnet, wie Smith aus seinem Ansatz das Moralprinzip des Utilitarismus zu gewinnen versucht. Die spezielle Verbindung von Sympathie und Unparteilichkeit im ›unparteiischen Zuschauer‹ läuft dann darauf hinaus, die Gesamtsumme an Glück über alle Betroffenen hinweg zu maximieren. Hier interessiert zunächst allein, auf welchem grundsätzlichen Weg Smith aus seiner deskriptiven Ethik eine normative Ethik entwickelt, nämlich über eine zunehmende Idealisierung: Reale Beobachter weisen im Allgemeinen bestimmte moralische Gefühle auf, insbesondere eine einfühlende Sympathie mit dem Leid oder der Freude anderer (deskriptive Ethik). Diese Sympathie ist als solche begrüßenswert, sie eröffnet eine moralisch wertvolle Perspektive. Aber sie muss erweitert werden, hin zur eigentlich moralischen Position der Selbstbeherrschung. Dies ist jene moralische Haltung völliger Unparteilichkeit gegenüber den Glücksempfindungen aller Betroffenen, wie sie ein idealer Beobachter zu einem Geschehen einnehmen würde (normative Ethik).

2.2 Kohlberg: Die sechs Stufen der Moralentwicklung

Psychologische Untersuchungen zur Moralität von Individuen finden sich bei einer Reihe von Autoren. Auf besonderes Interesse ist dabei die Frage nach der zeitlichen Entwicklung moralischer Einstellungen über verschiedene Lebensstadien hinweg gestoßen. Jean Piaget (1896–1980) hat sich in dieser Hinsicht als einer der ersten Psychologen intensiv mit der Moralentwicklung von Kindern auseinandergesetzt. Bekannter noch sind die Arbeiten von Lawrence Kohlberg (1927–1987) geworden, der diese entwicklungspsychologische Perspektive über die Kindheit hinaus bis in das Erwachsenenalter ausgedehnt hat.

(1) Zu diesem Zweck hat Kohlberg über Zeiträume von bis zu 30 Jahren umfangreiche Längsschnittstudien angestellt, deren Hauptbestandteil halbstrukturierte Interviews von ca. 45 Minuten Dauer waren. In diesen Interviews konfrontierte er seine Probanden mit kurzen Fallgeschichten, die moralische Dilemmasituationen zum Thema hatten. Beispielsweise standen darin gesetzliche Vorgaben in Konflikt mit menschlichem Wohlergehen, oder Solidaritätsbeziehungen gerieten in Widerspruch zu Wahrhaftigkeitspflichten. Ein typisches Fallbeispiel ist das sogenannte ›Heinz-Dilemma‹:

»In einem fernen Land lag eine Frau, die an einer besonderen Krebsart erkrankt war, im Sterben. Es gab eine Medizin, von der die Ärzte glaubten, sie könne die Frau retten. Es handelte sich um eine besondere Form von Radium, die ein Apotheker in der gleichen Stadt erst kürzlich entdeckt hatte. Die Herstellung war teuer, doch der Apotheker verlangte zehnmal mehr dafür, als ihn die Produktion gekostet hatte. Er hatte 200 Dollar für das Radium bezahlt und verlangte 2000 Dollar für eine kleine Dosis des Medikaments. Heinz, der Ehemann der kranken Frau, suchte alle seine Bekannten auf, um sich das Geld auszuleihen, und er bemühte sich auch um eine Unterstützung durch die Behörden. Doch er bekam nur 1000 Dollar zusammen, also die Hälfte des verlangten Preises. Er erzählte dem Apotheker, daß seine Frau im Sterben lag, und bat, ihm die Medizin billiger zu verkaufen bzw. ihn den Rest später bezahlen zu lassen. Doch der Apotheker sagte: ›Nein, ich habe das Mittel entdeckt, und ich will damit viel Geld verdienen.‹ – Heinz hat nun alle legalen Möglichkeiten erschöpft; er ist ganz verzweifelt und überlegt, ob er in die Apotheke einbrechen und das Medikament für seine Frau stehlen soll.« [KOHLBERG 1968–1984, 495]

Kohlberg ließ seine Probanden Einschätzungen abgeben, wie man sich in Fällen der geschilderten Art verhalten solle. Vor allem fragte er eindringlich nach den Begründungen, die sie für ihre Entscheidungen angeben konnten. Das Hauptergebnis, das er aus diesen Studien ableitete, lautet wie folgt: Jeder Mensch, unabhängig von Kultur oder Geschlecht, durchläuft eine feste Stufenfolge von Typen moralischer Urteile. Die Reihenfolge der absolvierten Stufen ist stets dieselbe, insbesondere können keine Stufen während der Entwicklung übersprungen werden. Rückfälle kommen in der Regel nicht vor, allerdings werden die höchsten Stufen von den meisten Menschen nicht erreicht.

(2) Genauer identifiziert Kohlberg drei Niveaus mit jeweils zwei Stufen der moralischen Entwicklung. Das Gesamtschema von insgesamt sechs Stufen hat er gelegentlich leicht modifiziert und ergänzt, in seinen wesentlichen Komponenten aber beibehalten [vgl. KOHLBERG 1968–1984, 26f., 51–53, 128–132].

Auf dem präkonventionellen Niveau bewegen sich üblicherweise Kinder bis zum Alter von ca. neun Jahren, aber auch jugendliche oder erwachsene Straftäter. Diese Ebene zeichnet sich durch eine strikt egozentrische Moralität aus, deren Urteile sich allein an den direkten Konsequenzen für den Handelnden selbst orientieren. Die 1. Stufe ist auf die Vermeidung von Strafe ausgerichtet (how can I avoid punishment?). Moral wird hier als bloßer Gehorsam gegenüber bestehenden Autoritäten konzipiert. Als erlaubt gilt, was von Mächtigeren zugelassen wird, Verhaltensregeln werden als zu befolgen angesehen, um Sanktionen zu vermeiden. Auf der 2. Stufe kommen die bewusste Erkenntnis fremder Bedürfnisse und die gezielte Befriedigung eigener Bedürfnisse hinzu (what’s in it for me?). Dies umfasst die negative Strafvermeidung der vorangehenden Stufe, ergänzt sie aber um das positive Abzielen auf mögliche Belohnungen. Zudem werden nun fremde Wünsche wahrgenommen und befriedigt, damit die eigenen Wünsche beachtet und zufriedengestellt werden, so dass Moral insgesamt als ein Austausch von Gefälligkeiten verstanden und gelebt wird, gemäß dem Motto ›Wie du mir, so ich dir‹.

Auf dem konventionellen Niveau befindet sich ein Großteil der Jugendlichen und Erwachsenen. Die ichbezogene Haltung der vorangehenden Ebene wird hier durch eine gemeinschaftsbasierte Moralität abgelöst, die auf einer ernsthaften Identifikation und aufrichtigen Loyalität mit den Vorstellungen und Strukturen des persönlichen Umfelds bzw. der Gesellschaft insgesamt beruht. Die 3. Stufe ist durch das Bewusstsein fremder Erwartungen und das Bestreben nach entsprechender Anerkennung geprägt (Mentalität des good boy/nice girl). Moralische Stellungnahmen rekurrieren nicht länger auf die materiellen Konsequenzen, die Handlungen in Form von Strafe oder Belohnung nach sich ziehen, sondern auf den sozialen Respekt, den man für das eigene Verhalten in seiner Umgebung findet. Die Rollenvorgaben des Beziehungsumfelds werden dabei unhinterfragt akzeptiert, Zustimmung oder Ablehnung anderer sind direkter Maßstab des Handelns und unmittelbare Quelle von Selbstwert- bzw. Schuldgefühlen. Auf der 4. Stufe dominiert die Auffassung, dass bestimmte Regelungen für das gemeinschaftliche Zusammenleben unentbehrlich und deshalb einzuhalten sind (Bedeutung von law and order). Im Vordergrund steht nicht mehr der Wunsch nach Billigung durch nahestehende Bezugspersonen, sondern das Bekenntnis zur Relevanz sozialer Normen. Moralische Bewertungen stützen sich wesentlich darauf, dass die Einhaltung von ›Gesetz und Ordnung‹ notwendig ist, um den Erhalt der bestehenden Gesellschaft zu sichern, deren Gefüge ohne kritische Distanz bejaht wird.

Das postkonventionelle Niveau erreicht nach Kohlberg nur eine Minderheit von Erwachsenen. Hier emanzipiert sich Moralität von vorgegebenen Erwartungen und Ordnungen, um stattdessen auf unabhängige Standards mit übergeordneter Gültigkeit zu rekurrieren. Auf der 5. Stufe ist die Einhaltung freier Übereinkommen zum Vorteil der beteiligten Individuen der relevante Maßstab (von ca. 25% aller Erwachsenen erreicht). Es wird nicht länger jede Norm anerkannt, auf der die bestehende gesellschaftliche Struktur beruht, sondern es werden nur solche Normen gebilligt, die auf soziale Übereinkunft zurückgehen und dem allgemeinen Nutzen dienen. Zentraler Referenzpunkt moralischer Stellungnahmen ist das durch solche Vereinbarungen zu realisierende ›größte Glück der größten Zahl‹. Die 6. Stufe stellt universelle Prinzipien sehr abstrakter Natur in den Vordergrund (von unter 5% aller Erwachsenen erreicht). Moral wird nun nicht mehr als freie Verabredung zum größtmöglichen Vorteil verstanden, sondern als verbindliches Set von allgemeingültigen Grundsätzen, denen gesellschaftliche Übereinkünfte auch ungeachtet ihres etwaigen Nutzens zu entsprechen haben. Ihr Inhalt sind dabei fundamentale ethische Prinzipien wie die Anerkennung gleicher Menschenrechte oder die Achtung der unverletzlichen Menschenwürde.

Die sechs Stufen der moralischen Entwicklung nach Kohlberg
Präkonventionelles Niveau1. Stufe: Strafvermeidung durch Gehorsam2. Stufe: Bedürfnisbefriedigung durch Austausch
Konventionelles Niveau3. Stufe: Erwartung und Anerkennung4. Stufe: Gesetz und Ordnung
Postkonventionelles Niveau5. Stufe: freie Übereinkunft zum allgemeinen Nutzen6. Stufe: universelle Prinzipien abstrakter Natur

Bei der Einordnung, auf welcher dieser sechs Moralstufen sich eine bestimmte Person befindet, ist nicht so sehr entscheidend, für welche Handlungsalternative sie sich in einem gegebenen Fallbeispiel entscheidet, sondern vielmehr, welche Form der Begründung sie hierfür angibt. Dies lässt sich an dem oben zitierten ›Heinz-Dilemma‹ leicht verdeutlichen: Lehnt jemand den Diebstahl ab, weil der Ehemann sonst eine Haftstrafe riskiert, so befindet er sich auf der 1. Stufe. Lehnt er ihn hingegen ab, weil er das Eigentum anderer Personen für grundsätzlich unantastbar hält, so bewegt er sich auf Stufe 6. Man kann auf dieser 6. Stufe den Diebstahl freilich auch befürworten, indem man erklärt, dass das Lebensrecht der Frau die Besitzansprüche des Apothekers prinzipiell überwiegt. Ebenso gut kann man ihn indessen auf Stufe 1 befürworten, indem man anführt, dass der Ehemann andernfalls Sanktionen seitens seiner Frau zu befürchten hat.

(3) Auf den ersten Blick scheint Kohlbergs Stufenmodell ›normativ neutral‹ zu sein: Keine der möglichen Antworten auf seine Fallbeispiele wird von ihm als moralisch richtig oder falsch vorausgesetzt. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich allerdings, dass sein vermeintlich ›rein deskriptives‹ Schema sehr wohl mit normativen Wertungen einhergeht: Ganz offensichtlich zeigen die verschiedenen Begründungsformen auf den einzelnen Stufen einen zunehmenden Fortschritt in der moralischen Entwicklung an, ein Verharren auf niederen Stufen hat als Symptom eines moralischen Defizits zu gelten. Kohlberg mag sich daher zwar enthalten, bestimmte Lösungen seiner Fallbeispiele als korrekt oder verfehlt auszuweisen. Aber ohne Zweifel schätzt er bestimmte Argumentationsmuster als höherstufig oder niederrangig ein.

Man könnte hierauf entgegnen, dass Kohlberg nichts weiter als eine faktische Abfolge wiedergebe, auf die er in den moralischen Argumentationen seiner Probanden gestoßen sei. Solch ein Resultat zu präsentieren und durch entsprechende Klassifikationen aufzuarbeiten, sei ein rein deskriptives Vorgehen ohne jegliche normative Einlassungen. Tatsächlich aber spricht Kohlberg eben nicht nur von einem Nacheinander, das in den Moralurteilen von Menschen zu beobachten ist (d.h. von einem bloßen ›Früher‹ oder ›Später‹); dann wäre auch denkbar, dass man die späteren Stadien als niederrangig gegenüber den früheren erachtete, also die vorgefundene zeitliche Entwicklung, zumindest ab einer bestimmten Phase, als einen moralischen Verfall interpretierte (wie man etwa den Lebenszyklus eines Organismus ab einem gewissen Zeitpunkt als eine Abwärtsbewegung ansehen mag). Vielmehr spricht Kohlberg von Stufen, die Menschen in ihrer Moralität erreichen können (also von einem objektiven ›Niedriger‹ oder ›Höher‹); er behauptet einen eindeutigen Fortschritt in jener Entwicklung, hin zu ständig überlegenen Formen von Moralität (mit abschließendem Höhepunkt auf der 6. Stufe).

Ersichtlich ergänzt Kohlberg seine empirischen Befunde also um eine moralische Bewertung. Ähnlich wie Smith vollzieht damit auch er einen Übergang von deskriptiver Ethik zu normativer Ethik. Und tatsächlich lässt sich sein Ansatz innerhalb der normativen Ethik recht eindeutig lokalisieren: In den beiden höchsten Stufen erkennt man unschwer Moralauffassungen, die primär durch den Utilitarismus (Stufe 5) bzw. durch den Kantianismus (Stufe 6) vertreten werden. Indem Kohlberg Stufe 6 als überlegen gegenüber Stufe 5 darstellt, bekennt er sich unmissverständlich zu einer Deontologie kantianischen Typs (vgl. Kapitel 5). Eine Teleologie utilitaristischen Zuschnitts erscheint bei ihm demgegenüber als defizitär, als Festhalten an einer unterentwickelten Moral (vgl. Kapitel 6).

2.3 Luhmann: Moral und funktionale Differenzierung

Die Moralität von Kollektiven ist Thema einer großen Anzahl soziologischer Untersuchungen. Hierbei kann es sowohl um die Entstehung und Gestalt spezifischer Moralen in bestimmten Epochen oder Regionen gehen als auch um die grundsätzliche Bedeutung von moralischen Überzeugungen in menschlichen Gemeinschaften. Als einer der ersten Moralsoziologen gilt Émile Durkheim (1858–1917), der vor allem die Bindungskraft der Moral für die Gesellschaft hervorhob. Niklas Luhmann (1927–1998) äußert sich in dieser Hinsicht skeptischer, indem er moralischen Einstellungen kaum soziale Integrationskraft und eher ein erhebliches Konfliktpotential attestiert.

(1) Grundlage für Luhmanns Betrachtung von Moralität ist ein systemtheoretischer Ansatz, in dem die Interaktionen innerhalb einer menschlichen Gesamtgesellschaft sowie die Wirkungsweisen ihrer sozialen Unterbereiche als Tätigkeiten und Wechselbeeinflussungen von Systemen begriffen werden. Dieser Zugang zeichnet sich nicht so sehr durch empirische Untersuchungen im Sinne konkreter Feldforschung aus, sondern eher durch begriffliche Arbeit auf recht abstraktem Niveau. Deren Ziel ist jedoch eine umfassende Beschreibung faktischer Gesellschaftsstrukturen, u.a. mit Blick auf die Rolle der Moral in der Gesellschaft. In diesem Sinne betreibt auch Luhmann deskriptive Ethik, wobei sein Ausgangspunkt die folgende Definition von Moral ist:

»Die Gesamtheit der faktisch praktizierten Bedingungen wechselseitiger Achtung oder Mißachtung macht die Moral einer Gesellschaft aus. [...] Moral ist also ein Codierprozeß mit der spezifischen Funktion, über Achtungsbedingungen Achtungskommunikation [...] zu steuern.« [LUHMANN 1978, 51]

Moral wird hier eindeutig als ein soziales Phänomen gefasst, als ›Moral einer Gesellschaft‹. Genauer wird sie über ihre soziale Funktion definiert, als Bedingungsgefüge für die Zuweisung von ›Achtung oder Missachtung‹. Angesichts dieser Funktion ist Moral grundsätzlich universell anwendbar: Achtung oder Missachtung ist eine sehr elementare Einstufung, die in unterschiedlichsten gesellschaftlichen Bereichen greifen kann, innerhalb von privaten Beziehungen wie Freundschaft oder Liebe ebenso wie gegenüber öffentlichen Systemen wie Wirtschaft oder Politik. Allerdings gerät diese universelle moralische Einstufung nach Luhmann unweigerlich in Schwierigkeiten, sobald die verschiedenen sozialen Bereiche auseinander driften und selbständig werden. Eben dies ist nach Luhmann in modernen Gesellschaften zunehmend der Fall: Private Beziehungen und öffentliche Systeme entkoppeln sich voneinander, die öffentlichen Systeme ihrerseits differenzieren sich gegeneinander aus. Luhmanns Grundthese ist, dass Moral vor diesem Hintergrund nicht mehr, wie es ihr früher noch gelungen sein mag, sämtliches Verhalten in einen einheitlichen Horizont integrieren kann. Insbesondere vermag sie nicht, die verschiedenen gesellschaftlichen Systeme zu koordinieren und deren spezifische Operationen in einem bestimmten, moralischen Sinne zu bündeln. Dies wird zwar regelmäßig von ihr erwartet, aber es übersteigt notwendig ihre Möglichkeiten [LUHMANN 1987, 317–325].

(2) Moderne Gesellschaften sind nach Luhmann in verschiedene Teilsysteme ausdifferenziert. Wichtige Beispiele sind Wirtschaft, Politik, Wissenschaft oder Recht. Hierbei handelt es sich nicht um kleinere Untereinheiten aus separaten Personengruppen (so wie Gesellschaften früher in streng abgegrenzte Clans oder Adelshäuser, Schichten oder Stände eingeteilt waren). Vielmehr handelt es sich um hochspezialisierte Funktionssysteme mit besonderen Aufgaben (wobei ein und dieselbe Person durchaus verschiedenen Systemen gleichzeitig angehören kann und einige Systeme sogar ausnahmslos sämtliche Gesellschaftsmitglieder erfassen). Die Wirtschaft regelt den Güterverkehr und vermindert dadurch Knappheit. Die Politik ermöglicht kollektiv bindende Entscheidungen und sichert dadurch die Handlungsfähigkeit der Gesamtgesellschaft. Die Wissenschaft generiert Theorien und erzeugt dadurch Wissen. Das Recht klärt wechselseitige Erwartungen und verschafft dadurch Sicherheit bezüglich fremden Verhaltens [vgl. LUHMANN 1998, 595–618].

Diese Funktionssysteme sind nicht aufeinander reduzierbar, d.h. sie können sich in ihrer Aufgabenerfüllung nicht wechselseitig ersetzen. Insbesondere üben sie je eigene Kommunikationsformen aus, indem sie mit jeweils besonderen ›Codes‹ operieren. Codes sind binäre, d.h. zweiwertige Unterscheidungsschemata, welche die Wahrnehmung eines gegebenen Systems orientieren und damit die Komplexität seiner Kommunikation erheblich verringern. Genauer handelt es sich um Präferenzcodes, bei denen innerhalb des gegebenen Systems der eine Wert des Codes bevorzugt, der andere gemieden wird. Die Zuweisung des Codes erfolgt über das jeweilige ›Programm‹ des Systems. Dieses Programm legt fest, wie in dem gegebenen System die beiden Werte des Codes zugesprochen werden. Die Wirtschaft etwa operiert mit dem Code ›haben/nichthaben‹ und folgt dabei dem Programm des Marktes (jedenfalls in einer Marktwirtschaft). Die Politik verwendet den Code ›machtüberlegen/machtunterlegen‹ und weist ihn durch das Programm der Wahl zu (jedenfalls in einer Demokratie). Der Code der Wissenschaft lautet ›wahr/falsch‹, attestiert gemäß den vorherrschenden Theorien. Der Code des Rechts heißt ›recht/unrecht‹, zugesprochen nach den geltenden Gesetzen [vgl. LUHMANN 1998, 359–393].

Diese funktionale Ausdifferenzierung moderner Gesellschaften hat viele Vorteile: Sie stellt eine Form von Arbeitsteilung dar, in der unterschiedlichste Aufgaben von hochspezialisierten Teilsystemen bewältigt werden können. Sie hat aber auch zur Folge, dass es nur sehr begrenzte Möglichkeiten für eine gezielte Beeinflussung gesellschaftlicher Prozesse gibt: Es existiert keine zentrale Regelungsinstanz für die Gesamtgesellschaft, und es kommt zu keiner wechselseitigen Koordination der Teilsysteme. Dies liegt insbesondere daran, dass sich Funktionssysteme durch ihre ›operative Schließung‹ auszeichnen: Eigene Operationen folgen stets vorhergehenden Operationen des gleichen Typs, nicht den Vorgaben anderer Systeme.

Zwar kann jedes System auf seine Umwelt Bezug nehmen, zu der auch die jeweils anderen Systeme gehören. Es kann also zweifellos über die anderen Systeme kommunizieren. Aber es tut dies allein in seiner speziellen Kommunikationsform, mit seinem Code und gemäß seinem Programm. Es kann daher nicht mit den anderen Systemen kommunizieren, nicht deren Bewertungen beeinflussen oder diese in die eigenen Bewertungen aufnehmen. Gewiss existieren ›strukturelle Kopplungen‹ zwischen Systemen und ihrer Umwelt, durch die ein System in einem anderen System bestimmte Reaktionen oder Resonanzen hervorrufen kann. Doch es gibt keine geteilte Kommunikationsform, die eine gemeinsame, kontrollierte Ausrichtung der Teilsysteme oder gar der Gesamtgesellschaft ermöglichen würde.

Funktionssysteme und Kommunikationsformen nach Luhmann
SystemFunktionCodeProgramm
WirtschaftMinderung von ökonomischer Knappheithaben/nichthabenMarkt
PolitikKapazität zu bindenden Entscheidungenmachtüberlegen/machtunterlegenWahl
WissenschaftErzeugung von Wissenwahr/falschTheorien
RechtKlärung von Erwartungenrecht/unrechtGesetze

Diese Liste ist nicht vollständig: Es gibt noch weitere Teilsysteme, etwa Religion oder Erziehung, mit ihren eigenen Funktionen, Codes und Programmen. Die Moral gehört allerdings nicht dazu: Moral hat zwar eine Funktion, nämlich die Zuweisung von Achtung und Missachtung. Eben diese Funktion ist aber zu allgemein und zu fundamental, als dass sich Moral damit zu einem klar definierten Teilsystem ausdifferenzieren könnte. Ihre Allgemeinheit und Fundamentalität bedeutet damit nach Luhmann keineswegs einen Vorteil. Im Gegenteil, fehlende Ausdifferenzierung macht die Moral zu einer weit weniger beständigen und wirksamen Erscheinung als die skizzierten Funktionssysteme. Vor allem aber kann auch die Moral nicht steuernd in jene Systeme eingreifen.

Auch Moral hat einen Code, nämlich gut/schlecht. Mit diesem binären Präferenzcode vollzieht sie ihre spezifische Zuweisung von Achtung oder Missachtung. Er unterliegt seinerseits bestimmten Programmen, nämlich den jeweils herrschenden Moralvorstellungen in einer Gesellschaft. Jene Moralvorstellungen können sich durchaus auf Geschehnisse in anderen Funktionssystemen beziehen und ihnen entsprechend die Werte gut/schlecht zuweisen. Aber sie können nicht die Codes dieser anderen Funktionssysteme programmieren. Vielmehr folgen deren Codes eigenen Programmen, worin gerade der Sinn funktionaler Ausdifferenzierung besteht [vgl. LUHMANN 1978, 57–59, 88–91].

In einer funktional ausdifferenzierten Gesellschaft ist es daher nach Luhmann eine verfehlte Erwartung, dass Moral kontrolliert auf die einzelnen Teilsysteme einwirken und diese zu moralischen Funktionsvollzügen bewegen könnte. Moral kann nicht bestimmen, wie die Wertzuweisungen in den anderen Systemen erfolgen, da diese Systeme weitgehend autonom agieren, gemäß ihren je eigenen Aufgaben. Insbesondere ist es nach Luhmann ein irriger Gedanke, dass zunächst Moral die Politik bestimmen könnte, etwa über demokratische Wahlen oder geeignete Beratung, und anschließend die Politik die anderen Funktionssysteme kontrollieren sollte, etwa die Wirtschaft über das Recht. Erstens ist die Politik nicht moralisch zu programmieren, da sie alles externe Geschehen, mit dem sie konfrontiert wird, und insbesondere alle moralischen Forderungen, die an sie herangetragen werden, in ihre spezifische Sprache von Macht oder Ohnmacht, von Regierung oder Opposition übersetzt. Diese Übersetzung ist stets verlustbehaftet, so dass sich moralische Forderungen niemals in ihrer unverfälschten Gestalt in die Politik transferieren lassen. Zweitens ist die Politik ihrerseits nur ein Teilsystem, keineswegs die Spitze oder das Zentrum der Gesellschaft, und kann daher mit ihren Beschlüssen zwar sicherlich Effekte in anderen Systemen erzeugen, aber kaum gezielte Absichten verwirklichen oder konkrete Vorgaben umsetzen. Versuche etwa, mit rechtlichen Regelungen wie Steuergesetzen politische Ziele in der Wirtschaft durchzusetzen, misslingen regelmäßig, weil die Wirtschaft alle politischen bzw. rechtlichen Vorgaben in ihren Code, d.h. in die Frage von Haben oder Nichthaben, von Zahlen oder Nichtzahlen, überträgt und diese Übertragung immer unvollkommen bleibt. Der ganze Ansatz einer Moralisierung der Politik und einer Politisierung anderer Systeme ist damit nach Luhmann hinfällig [LUHMANN 2002, 7–14, 111–118].

Moral kann keinen kontrollierenden Einfluss auf die verschiedenen Teilsysteme nehmen und deren jeweilige Funktionen auf kein sinnvolles Ziel hinordnen. Eher schon erzeugt sie schädliche Irritationen in den anderen Systemen. Entsprechend hat sie auch keine Integrationskraft für die Gesamtgesellschaft. Stattdessen weist sie ein hohes Streitpotential auf, führt zu Abstoßung und Verfeindung, erschwert mögliche Lösungen und befeuert bestehende Konflikte. Sie mag eine allgemeine Alarmierfunktion ausüben, wenn es zu gesamtgesellschaftlichen Fehlentwicklungen kommt (etwa in Form von sozialen Ungleichheiten oder ökologischen Krisen). Auch hier bleibt ihre Wirkung aber beliebig und inflationär, weil sie keine eindeutigen Kriterien anzubieten hat und lediglich bestehende Empörung aufheizt. Sie mag gegebene Warnsignale verstärken, wenn bestimmte Funktionssysteme durch systemfremde Einflüsse unterlaufen werden (etwa in Gestalt von Korruption in Wirtschaft oder Politik). Selbst hier aber, wo sie ohnehin keine eigenständige Perspektive eröffnet und nur eine abhängige Bedeutung hat, bleibt ihr Vorgehen utopisch und aufgeladen, indem sie die Illusion einfacher Entscheidungen weckt und Entrüstung über medienwirksame Skandale schürt [LUHMANN 1987, 121f., 318, 325; LUHMANN 1998, 248, 403–405].

(3) Mit dieser Deutung von Moral wirkt Luhmanns Modell alles andere als normativ intendiert oder auch nur anschlussfähig: Moral erscheint als hilflos, sogar als abträglich für moderne Gesellschaften. Normative Überlegungen zur angemessenen Gestalt moralischer Überzeugungen wirken vor diesem Hintergrund naiv und verfehlt. Dennoch lässt sich fragen, ob dieser skeptischen Auffassung von Moral nicht womöglich eine verborgene normative Perspektive zugrunde liegt: Immerhin ist jene Ablehnung von Moral selbst ein Urteil. Die Frage ist, ob dieses Urteil nicht in letzter Konsequenz moralischer Art ist.

So scheint Luhmann zunächst die funktionale Ausdifferenzierung moderner Gesellschaften, an der Moral angeblich scheitert, tendenziell positiv zu bewerten: Möglicherweise erkennt er in ihr einen Selbstzweck, dahingehend dass sie einen höheren historischen Entwicklungsstand anzeigt, möglicherweise betrachtet er sie als Mittel, um bestimmte wünschenswerte Effekte zu erzielen. In beiden Fällen lägen bestimmte moralische Stellungnahmen zugrunde, nämlich dass jene geschichtliche Entfaltung an sich selbst gut ist bzw. dass die erreichten Vorteile tatsächlich erstrebenswert sind. Auch sein Vorwurf, Moral heize gesellschaftliche Konflikte an, bringt einen normativen Maßstab ins Spiel: Dass derartige Konflikte zu vermeiden sind, mag eine verbreitete und nachvollziehbare Auffassung sein. Das ändert aber nichts daran, dass es sich um eine Bewertung moralischer Art handelt.

Gelegentlich erklärt Luhmann auch, dass gerade das unkoordinierte Operieren der einzelnen Teilsysteme den Erfolg und sogar das Überleben der Gesamtgesellschaft gefährden könne: Die funktionale Ausdifferenzierung lasse zuweilen fehlerhafte Kommunikation, irrationale Effekte, zu wenig oder zu viel Resonanz zwischen den Systemen sowie unzureichende oder falsche Reaktionen auf die Umwelt entstehen. Auch in diesen Einschätzungen sind nicht allein deskriptive Darstellungen, sondern normative Wertungen am Werk, nämlich dass bestimmte Arten von Zusammenwirken und zumindest das Fortbestehen der Gesamtgesellschaft wünschenswert sind. Und möglicherweise könnte, anders als Luhmann meint, Moral doch hilfreich sein, um diesen Gefahren zu begegnen: Womöglich müsste es eine Moral sein, die durch die Ergebnisse von Luhmanns deskriptiver Ethik geeignet aufgeklärt über ihren begrenzten Einfluss und ihre potentielle Schädlichkeit ist. Dies ließe aber Raum für eine positive Rolle von Moral, deren Grundsätze und Kriterien eine geeignete normative Ethik im Anschluss an Luhmanns implizite Wertungen ausarbeiten könnte.

2.4 Zum Zusammenhang von deskriptiver und normativer Ethik

Die drei vorangehenden Abschnitte haben keine vollständige Darstellung der deskriptiven Ethik gegeben, sondern nur einige prominente Beispiele in ihren wesentlichen Komponenten skizziert. Es gibt abweichende Ansätze in Moralphilosophie, Moralpsychologie und Moralsoziologie. Nicht zuletzt sind die spezifischen Befunde von Smith, Kohlberg und Luhmann gelegentlicher Kritik von anderer Seite ausgesetzt.

Bei Smith etwa wird nachgefragt, ob das menschliche Einfühlungsvermögen in der Tat bevorzugt auf fremde Freude mit eigener Freude, auf fremdes Leid mit eigenem Leid antwortet, statt dass vielleicht eher umgekehrt Neid bzw. Schadenfreude typische Gefühlreaktionen auf derartige Primärempfindungen sind. Mit Blick auf Kohlbergs Arbeiten wird sowohl die grundsätzliche Relevanz von Stufenmodellen als auch die behauptete Unabhängigkeit seines Entwurfs von Kultur und Geschlecht kontrovers diskutiert. Luhmanns Konzeption gibt Anlass zu Zweifeln, ob ein vergleichsweise starres Schema von weitgehend strukturgleichen Systemtypen die ganze Vielfalt der sozialen Wirklichkeit einzufangen vermag und ob die Einstufung der Moral als einerseits allumfassend, andererseits wirkungslos ihrer Rolle in der Gesellschaft vollständig gerecht wird.

Die jeweiligen Anklänge normativer Ethik, die in den drei Beispielen auftauchten, sind selbstverständlich ebenso wenig unumstritten: Der Utilitarismus, auf den Smiths Ansatz hinausläuft, wird nicht von jedem geteilt. Der Kantianismus, den Kohlbergs Modell favorisiert, ist nicht allgemein akzeptiert. Der Skeptizismus, der sich in Luhmanns Theorie ausdrückt, findet Befürworter wie Gegner. Entsprechend werden die Vorzüge und Nachteile dieser Positionen in späteren Kapiteln noch genauer erörtert. Wichtig zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist lediglich, dass die jeweiligen Übergänge von deskriptiver zu normativer Ethik in den drei Beispielen auf grundsätzlich korrekte Weise stattfinden – nämlich indem die normative Bewertung der deskriptiven Beschreibung hinzugefügt wird, als unabhängige Ergänzung eigenständiger Art.

Formal problematisch wäre demgegenüber, wenn das normative Urteil unmittelbar aus dem deskriptiven Befund folgen sollte: Smith mag feststellen, dass reale Menschen zumeist ›aufmerksame Zuschauer‹ sind, und er mag hervorheben, dass die ideale Position eines ›unparteiischen Zuschauers‹ demgegenüber moralisch überlegen wäre; aber er kann Letzteres nicht aus Ersterem schließen. Kohlberg mag bemerken, dass Individuen in ihrer Entwicklung eine bestimmte Abfolge des moralischen Urteils durchlaufen, und er mag behaupten, dass diese zeitliche Abfolge einen moralischen Fortschritt darstellt; aber er kann Letzteres nicht aus Ersterem ableiten. Luhmann mag aufzeigen, dass moralische Einstellungen in modernen Gesellschaften eher konfliktverschärfend als integrierend wirken, und er mag anmerken, dass diese Konstellation ein Problem ist; aber er kann Letzteres nicht aus Ersterem folgern. Der Grund ist, dass normative Aussagen nicht ohne Weiteres aus faktischen Aussagen deduzierbar sind – auch nicht aus faktischen Aussagen über bestehende Moralvorstellungen. Dieser Zusammenhang wird in Abschnitt 3.1 genauer erläutert, unter der Überschrift des Sein-Sollen-Fehlschlusses bzw. des naturalistischen Fehlschlusses.

Fragen und Aufgaben

1.Bei einem Schiffsunglück sieht ein Beteiligter sein eigenes Leben, das seiner Angehörigen und das fremder Menschen bedroht. Versuchen Sie, an diesem Beispiel die unterschiedlichen Perspektiven des ›aufmerksamen Zuschauers‹ und des ›unparteiischen Zuschauers‹ nach Adam Smith zu verdeutlichen.

2.Ordnen Sie die folgenden Urteile den sechs Stufen der Moralentwicklung nach Lawrence Kohlberg zu. Es kann sein, dass manche Stufen mehrfach belegt werden und andere Stufen gar nicht vorkommen: (a) »Man sollte mehr in die Sozialhilfe investieren, weil ärmere Menschen auch zur Gesellschaft gehören und die Belastungen für die reicheren Menschen nicht sonderlich groß wären.« (b) »Es ist richtig, seinen Dienstpflichten nachzukommen, weil ohne den Einsatz von allen ein Betrieb nicht funktionieren kann.« (c) »Es ist falsch, seine Freunde anzulügen, weil sie es einem früher oder später heimzahlen.« (d) »Man sollte mehr in die Sozialhilfe investieren, weil jeder Mensch einen Anspruch auf Mindestversorgung hat.« (e) »Es ist richtig, seinen Dienstpflichten nachzukommen, weil man nur so die eigene Karriere voranbringen kann.« (f) »Es ist falsch, seine Freunde anzulügen, weil man sich damit irgendwann vor ihnen lächerlich macht.«

3.Wie würde Niklas Luhmann den folgenden Vorgang innerhalb seiner Systemtheorie rekonstruieren: Eine Wählergruppierung setzt sich aus moralischen Gründen dafür ein, dass ein Gesetz für höhere Benzinsteuern verabschiedet wird.

Einführung in die philosophische Ethik

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