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Vorwort zur 2., bearbeiteten Auflage
ОглавлениеObwohl kaum zu erkennen ist, dass mein Buch »Böse Falle ›Ehe für alle‹« eine große Leserzahl erreicht hat, waren die Wirkungen, bei denen, die Kenntnis von dieser Schrift erlangten, beachtlich und sollen an dieser Stelle nicht unerwähnt bleiben; wirken sie doch wie ein von höherer Stelle veranlasstes kolossales Quod-erat-demonstrandum dessen, was ich darin geschrieben und damit vor allem linken Kreisen einen Spiegel vorgehalten habe.
Im Juni 2018 wurde seitens des Hamburger »Writers' Room«, eines von der Kulturbehörde der Stadt Hamburg geförderten Vereins, der Autoren mit einem Schreibplatz und verschiedenen Fördermaßnahmen versorgt und bei dem ich mit im Vorstand saß, »Gesprächsbedarf« angemeldet. Ich hätte, so wurde mir verdeutlicht, mit meiner (der hier vorliegenden) Schrift mutmaßlich »vereinsschädigend« gewirkt. Schriftlich wurde mir und anderen Mitgliedern zur Kenntnis gebracht: »Wir haben erst am 29.06.2018 über die Existenz diese[r] Schrift erfahren, die wir als homophob, rassistisch und frauenfeindlich einstufen. Den Text fügen wir als PDF dieser Mail bei, so dass jede*r sich selbst ein Bild machen kann. [...] Die in der Schrift mitgeteilte Weltanschauung halten wir für unvereinbar mit unseren persönlichen Werten.« Selbstverständlich wende man sich nicht gegen das Freiheitsrecht auf eine eigene Meinung. Aber: »Die Machart des Textes [...] wirft die Frage auf, ob er nicht im Kern dazu verfasst wurde, um Ressentiments und Hass zu schüren.« Der Vorstand wies noch einmal auf die eigenen Werte hin: gegen »Homophobie«, gegen »jegliche Form von Rassismus« und »für die Selbstbestimmung von Frauen über ihren eigenen Körper«. Was fehlte, waren eindeutige Textbelege für die Vorwürfe. Welche Sätze wurden konkret beanstandet? Weder konnten meine Kritiker den Nachweis erbringen, dass ich falsch zitiert oder etwas Falsches behauptet hatte, noch fand eine sachliche Auseinandersetzung mit einzelnen Abschnitten des Textes und den darin vorgebrachten Argumenten statt. Das Problem bestand einzig und allein darin, dass die anderen Vorstandsmitglieder eine andere Meinung zum Thema »Ehe für alle« hatten als ich und diese für richtig und meine für falsch hielten. Der Vorstand legte mir aus diesem Grunde nahe, mein Vorstandsamt ruhen zu lassen, und betonte zugleich, dass dieser Schritt die Mitgliedschaft im Verein »zunächst« nicht berühre. Ich willigte ein. Gedeihliche Zusammenarbeit mit den anderen Vorstandsmitgliedern hielt auch ich nicht mehr für wahrscheinlich.
Nun hätte man denken können: Das war's. Das Vorstandsamt als Bauernopfer und Ruhe im Karton. Doch der durch meine Schrift ausgelöste Aufruhr wollte sich nicht legen. Menschen fühlten sich in meiner Gegenwart in dem Verein nicht mehr wohl. Ein homosexuell empfindendes Mitglied, das Drehbücher für »Tatort« schreibt und sich bis zum Zeitpunkt der Äußerung nie mit mir zusammen in den Vereinsräumlichkeiten aufgehalten hatte, äußerte, der »Writers' Room« sei für ihn immer auch ein »Schutzraum« gewesen und als solcher nicht mehr geeignet, wenn auch ich darin arbeiten dürfe. Der Geschäftsführer des Vereins kündigte den Nutzungsvertrag, der mit jedem Mitglied separat geschlossen wird, und forderte mich zur Rückgabe des Schlüssels auf, durch den jedes Mitglied Zutritt zu den Räumlichkeiten des Vereins hat. Die Mitgliedschaft endete damit faktisch, auch wenn ich natürlich offiziell nicht aus dem Verein ausgeschlossen wurde; dazu fehlte die rechtliche Basis. Auf einer Mitgliederversammlung räumte man mir großzügig ein zehnminütiges Rederecht ein, das ich dazu nutzte, einen Abschnitt aus dem ersten Kapitel des Römerbriefs zu zitieren, in dem Paulus sich zum Thema Homosexualität äußert. Es schloss sich die Bitte an, meine Glaubensüberzeugungen zu respektieren oder wenigstens zu tolerieren. Den Rest der Zeit verwandten die Vereinsmitglieder darauf, die Satzung so zu ändern, dass Menschen wie ich sich nie wieder in ihren Verein würden verirren können. Mein Vorschlag, einfach den Wortlaut des Grundgesetzes, etwa zur Frage der Diskriminierung (Artikel 3 GG), zu übernehmen, fand keine Mehrheit. Jeder kann sich vorstellen: Es war kein ganz leichter Tag für mich.
Ich dachte eine Weile über diese für mich recht unerfreulichen Ereignisse nach und fragte mich: Woher kennst du das? Warum kommt dir das so bekannt vor? Schließlich dämmerte es mir: So ähnlich wie in diesem Verein muss es wohl im Wohlfahrtsausschuss zugegangen sein, damals, während der Französischen Revolution. Und auf einmal wurde mir klar: Er ist wieder da. Nein, nicht Adolf Hitler ist gemeint, die Witzfigur aus dem satirischen Bestseller von Timur Vernes, der die Fiktion eines in die Gegenwart remigrierten Führers in all ihren Konsequenzen durchexerzierte. Während Adolf Hitler in einem Land, das die Erinnerung an die Verbrechen der NS-Zeit mit einer Gründlichkeit und Präzision lebendig hält, die in der Gründlichkeit, mit der die Nazis ihre kranke Ideologie in eine noch krankere Politik überführten, eine fast schon ironisch anmutende Entsprechung findet, während also Adolf Hitler hierzulande keine Chance mehr hätte, ist da einer, ein anderer, einer, den man ebenfalls längst für politisch tot und dessen wirre Theorien man für erledigt hielt, durch die Hintertür zurückgekehrt in unser demokratisches Gemeinwesen, um es in seinen Grundfesten zu erschüttern. Die Rede ist von Jean-Jacques Rousseau, dem Urvater des Totalitarismus. Es ist nicht ganz leicht, ihn zu entdecken. Er hat sich auf leisen Sohlen wieder eingeschlichen in unseren Rechtsstaat, den er für das völlig falsche System hält, und jetzt sitzt er gut getarnt mitten unter uns. Mir persönlich ist er auch lange Zeit nicht aufgefallen. Bis er plötzlich, als mit allen nötigen Befugnissen ausgestatteter Repräsentant des »Writers' Room«, der ihn als Tugendwächter eingestellt hatte, vor mir stand und mir eröffnete, ich sei rassistisch, frauenfeindlich und »homophob«. Gelte hier denn nicht, wagte ich einzuwenden, wie in jedem Verein hierzulande, das Grundgesetz, das jedem von uns die Menschenrechte zusichert, für die gerade in seinem, Rousseaus, Jahrhundert und in seinem Land, Frankreich, so verbissen gekämpft worden war: Meinungsfreiheit, Glaubens- und Gewissensfreiheit, Pressefreiheit? Da lachte Rousseau nur und erwiderte, ich wisse wohl nicht, wer er sei.
Jean-Jacques Rousseau (1712-1778) ist der Erbfeind der liberalen, parlamentarischen Demokratie. In »Du contrat social« (»Der Gesellschaftsvertrag«) entwirft der Staatstheoretiker aus Genf den Grundriss für ein System, in dem das Prinzip der Volkssouveränität so ideal umgesetzt ist, dass es keiner Gewaltenteilung bedarf. Rousseau argumentiert: Der allgemeine Wille (die volonté générale) des Volkes ist beständig der richtige. Die einzige Aufgabe der Exekutivgewalt eines Staates besteht darin, diesen beständig richtigen Volkswillen auszuführen. Zuvor muss allerdings eine Erziehung des Volkes zur Tugend erfolgen, damit wirklich alle das Richtige erkennen und dann auch wollen. Der Begriff der Tugend (französisch »vertu«) ist von zentraler Bedeutung. Wer Rousseaus Tugendbegriff versteht, der versteht Rousseau. Tugend bedeutet für ihn die Kongruenz, die völlige Deckungsgleichheit, von Einzel- und Gemeinschaftswillen. Das Tugendhafte zu wollen sei, so der Philosoph, die wahre Freiheit. Wozu also noch Einzelgesetze, die Freiheiten des Individuums schützen? Für Rousseau wäre das ein Rückschritt in den Partikularismus, in Partei- und Grüppchenbildung mit dem Ergebnis, dass der allgemeine Wille sich im Kleinklein der Einzelfraktionen zerreibt.
Mit seiner Utopie eines Staates, der beständig nur den Willen des Volkskollektivs ausführt, weil er mit diesem praktisch identisch ist, und Gegenkräfte mit Gewalt dazu zwingen kann, sich diesem Willen unterzuordnen (»Jeder, der dem allgemeinen Willen den Gehorsam verweigert, soll von dem ganzen Körper dazu gezwungen werden«), hat Rousseau den kommunistischen Diktaturen den Weg bereitet und sich für alle Zeiten zum natürlichen Feind des Gegenmodells der repräsentativen Demokratie gemacht. Deren Verfechter halten Rousseaus allgemeinen Willen für ein realitätsfernes Konstrukt und setzen vielmehr darauf, dass richtige Politik sich aus dem Streit unterschiedlicher gleichberechtigter Interessengruppen herauskristallisiert und im Zweifelsfall einem Mehrheitsbeschluss folgt. Aus genau diesem Grunde haben große, die Entwicklung des Gemeinwesens auf lange Zeit bestimmende politische Entscheidungen in den westlichen Demokratien immer wieder zu großen Spaltungen geführt. Als Beispiele aus der Geschichte der Bundesrepublik mögen der Streit um die Notstandsgesetze, um die Ostverträge, um den NATO-Doppelbeschluss oder um den Abtötungsparagrafen 218 in Erinnerung gerufen werden: Immer ging es hoch her zwischen den – man muss schon sagen – bis aufs Blut verfeindeten politischen Lagern. Heftiger Streit ist, wenn es um viel geht, wie etwa aktuell im britischen Unterhaus bei der Debatte um den Brexit, der demokratische Normalfall. Wenn führende Kreise in Politik und Gesellschaft diesen Normalfall auf einmal als gefährliche »Spaltung der Gesellschaft« beanstanden, dann muss das befremden. Denn wer so argumentiert, teilt ganz offensichtlich Rousseaus Ablehnung des Pluralismus. Wer wie die SPD-Politikerin Manuela Schwesig Angst davor hat, dass gelebter Pluralismus eine Gesellschaft spalten könnte, der ist im System der liberalen, repräsentativen Demokratie schlicht an der falschen Adresse. Für Menschen, die mit unterschiedlichen Meinungen nicht umgehen, die nur mit einem für alle verbindlichen Konsens leben können, hat die Geschichte eine andere Gesellschaftsform hervorgebracht. In ihrer reinsten Form ist sie in der Demokratischen Volksrepublik Korea zu bewundern, wo, von den gespaltenen Zungen und Persönlichkeiten der Nomenklatura einmal großzügig abgesehen, keine Spaltungen vorkommen und jeder die Vorzüge einer uniformen, gleichgeschalteten und dissenslosen Zivilisation in ihrer ganzen Herrlichkeit genießen kann, sofern ihm der erzwungene Verzicht auf individuelle Freiheitsrechte diesen Genuss nicht verleidet.
Es ist kaum zu übersehen, dass die Vorstellung, es gebe letztlich nur eine beständig richtige Politik (eine schwarzrotgrüne Einheitspolitik sozusagen) in der Merkel-Ära eine Art fröhliche Wiederauferstehung gefeiert hat. Zu verdanken ist das wohl vor allem den Grünen, die sich selbst überaus geschickt als die Partei des Guten, Wahren und moralisch Richtigen zu inszenieren verstehen und an deren Werte und Überzeugungen sich die CDU unter Merkel in beispielloser Weise angenähert hat, sodass bei fast allen großen Streitfragen neuerdings parteiübergreifend Konsens herrscht. Klimapolitik, Atomausstieg, Wehrpflichtabschaffung, Euro-Rettungsschirm, vorgeburtliche Kindervernichtung, Homo-Ehe, Migration und Multikulti ... Alles wird als nicht mehr hinterfragbarer gesellschaftlicher Generalkonsens verkauft, ganz so, als sei das Zeitalter der Erkenntnis von Rousseaus volonté générale nun endlich doch noch angebrochen. Viel zu vieles ist in der Vergangenheit vom grün eingefärbten polit-medialen Establishment als alternativlos dargestellt worden. Wer heute keinen Streit mehr darüber zulassen möchte, ob es wirklich zukunftsfähig ist, jährlich 100.000 Ungeborene auf dem Altar des Feminismus zu opfern und die fehlenden Neubürger durch Scharen kulturfremder Zuwanderer zu ersetzen, wer nur noch den Streit darüber erlaubt, ob für diese Metzelei geworben werden darf oder nicht, wer keinen Streit mehr darüber zulässt, ob die D-Mark nicht doch stabiler war als der Euro, wer keinen Streit mehr darüber zulässt, ob Homosexualität nicht vielleicht doch eher Dekadenzsymptom als Normalität ist, wer nur noch verfügt und rügt statt zu diskutieren und zu tolerieren, der ist der Steigbügelhalter der Unfreiheit von morgen. Die Affinität zu Rousseaus utopischer Gesellschaftslehre liegt in der Natur der grünen Sache. Die Grünen sind die parlamentarischen Erben der Hippie-Kultur und der marxistisch motivierten Studentenrevolte Ende der sechziger Jahre. Sowohl für den Marxismus als politische Ideologie als auch für den naiven Zurück-zur-Natur-Sozialromantismus der Hippies war Rousseau prägend. In seinem Buch »Hypermoral« wirft der Philosoph Alexander Grau den Grünen vor, sich als moderne Volkserzieher zu gerieren. Der Weg vom Rousseau'schen Tugendbegriff zur rot-grünen Hypermoral von heute ist nicht weiter als der von Fix zu Foxi.
Dabei war Rousseaus staatstheoretisches Konzept bereits zweiunddreißig Jahre nach dem Erscheinen seines »Contrat social« brutal gescheitert. Der von den Jakobinern durchgeführte Praxistest der Jahre 1793/94 erlangte als »La terreur« traurige Berühmtheit. Die Jakobiner mit ihren schillernden Galionsfiguren Danton, Marat und Robespierre nahmen für sich in Anspruch, den allgemeinen Willen des Volkes zu kennen. Wer sich ihnen widersetzte, war damit automatisch – so lehrte es Rousseau – ein Gegner der Freiheit und musste im Interesse des Volkes beseitigt werden. Robespierre, der Chefideologe der Französischen Revolution, maßte sich an, Rousseaus Tugendbegriff tagesaktuell auszulegen und jeden, der dagegen verstieß, enthaupten zu lassen. In Gestalt des Wohlfahrtsausschusses hatten überaus effiziente Rousseau-Jünger die neuzeitliche Variante der Tyrannis aus der Taufe gehoben. Die Jakobiner unter den studentischen Revoluzzern von 1968 wählten später ebenfalls Terror und Gewalt, um ihre Vision einer gerechteren Gesellschaft durchzusetzen, und gründeten die R.A.F. Die anderen wurden Grüne. Und diejenigen, die sich nicht der Parteipolitik verschrieben haben, verbreiten linksrotgrüne Propaganda in Schulen, Zeitungen, Online-Foren, »Tatort«-Drehbüchern und ... Hamburger Kulturvereinen.
Es muss beunruhigen, dass in unserer pluralen Demokratie seit einiger Zeit Begriffe die öffentliche Debatte prägen, die wirken wie Giftpfeile aus Robespierres Arsenal zur Abwehr der Tugendzerstörer, Begriffe, die mit jakobinischem Eifer gegen fundamentale Grundrechte in Stellung gebracht werden, um vermeintlich unzulässige Diskussionen, Diskussionen, in denen der linksliberalen Orthodoxie die Gefolgschaft versagt wird, von vornherein abzuwürgen. Solche Begriffe sind Rassismus, Nationalismus, Populismus, Hetze, Frauenfeindlichkeit sowie die unakademische Wortschöpfung »Homophobie«, eine missverständliche Analogiebildung zu Xenophobie, die Menschen stigmatisiert, die aus ästhetischen, ethischen oder irgendwelchen anderen Gründen Homosexualität für verfehlt halten. Rassismus ist in unserer Gegenwartsdebatte nicht mehr nur die Diskriminierung von Menschen mit anderer Hautfarbe, Rassismus ist vor allem auch die Ablehnung einer multikulturellen, kosmopolitischen Staatsdoktrin. Er tritt zumeist im dubiosen Duett mit Nationalismus auf. Als Populismus, in besonders kritischen Fällen auch als Hetze wird einfach alles bezeichnet, was den schwarzrotgrünen Konsens in Frage stellt. Und welchen Karriereknick es bedeuten kann, öffentlich feminismuskritische (also frauenfeindliche) Positionen zu vertreten und damit eine weitere heilige Kuh der Grünen und Linken der Schlachtbank zuzuführen, davon weiß die ehemalige Tagesschau-Sprecherin Eva Herman ein Liedlein zu singen. Wie eine Erfindung Rousseaus zur pädagogischen Behandlung des Volkes wirkt, um ein letztes Beispiel zu nennen, die jedes Jahr durchgeführte Wahl zum »Unwort des Jahres«, bei der selbsternannte Tugendwächter untugendhaften Begrifflichkeiten und damit stellvertretend den »falschen« Gesinnungen, für die sie stehen, unter dem Beifall der medialen Meinungsvervielfältiger das Stigma »Unwort« anheften dürfen. Wenn derjenige Teil der Gesellschaft, der über die entscheidenden Instrumente der Meinungslenkung verfügt, die Deutungshoheit über eigentlich strittige Fragen für sich reklamiert, der Allgemeinheit dazu qua Propaganda einen Konsens verordnet, durch diesen Konsens versucht individuelle Freiheitsrechte wie das Recht auf eine eigene Meinung auszuhebeln und Opposition als Spaltpilz diffamiert, dann ist das nichts anderes als die Wiedergeburt des Rousseau-Theorems vom beständig richtigen Willen, den Politik nur noch umzusetzen habe. Widerspruch gegen den Gemeinwillen wird für unzulässig, ja absurd erklärt, Opposition erscheint obsolet.
Und selbstverständlich ist es im Licht von Rousseaus apodiktischem Tugendbegriff nur folgerichtig, wenn ein führender SPD-Politiker, der sogar Kanzler werden wollte, Gift und Galle spuckend einen seiner politischen Wettbewerber auf den (Zitat:) »Misthaufen« wünscht und für diesen jakobinischen Versuch der Delegitimierung parlamentarischer Opposition statt öffentlicher Kritik öffentliches Schulterklopfen erntet. Ersetzt man die Vokabel Misthaufen durch Guillotine, man könnte glatt vergessen, dass diese Worte nicht 1794 im Pariser Wohlfahrtsausschuss gefallen sind, sondern 2018 im Deutschen Bundestag. Dass man die Äußerung von Martin Schulz, obwohl er sich als politisches Leichtgewicht entpuppt hat, nicht auf die leichte Schulter nehmen darf, beweist ein Blick in das Buch »Wie Demokratien sterben« von Steven Levitsky und Daniel Ziblatt. Die Harvard-Professoren haben darin Symptome dafür aufgelistet, dass eine politische Kraft die Stützpfeiler einer Demokratie zum Einsturz zu bringen trachtet. Die Leugnung der Legitimität einer konkurrierenden politischen Kraft, also genau das, was Martin Schulz mit seinem Diktum vom »Misthaufen« bezweckte, steht auf ihrer Liste ganz oben. Ein zweites Kriterium ist die Bereitschaft zur Einschränkung von Grundfreiheiten, etwa durch Pressezensur oder die Behinderung der Opposition. Wer würde da nicht sofort denken an das umstrittene Netzwerkdurchsetzungsgesetz oder den Straftatbestand der »Hassrede«, durch die unbequeme Äußerungen als Verstöße gegen einen vom Establishment durchgesetzten Weltoffenheit-und-Toleranz-Tugendbegriff unterdrückt werden können? Den folgenden Kommentar eines Facebook-Nutzers stufte das soziale Netzwerk als Hassbotschaft ein: »Die Deutschen verblöden immer mehr. Kein Wunder, werden sie doch von linken Systemmedien mit Fake-News über ›Facharbeiter‹, sinkende Arbeitslosenzahlen oder Trump täglich zugemüllt.« Facebook löschte den Eintrag. Nichts kann die gewaltige Gefahr, die den bürgerlichen Freiheiten durch das Netzwerkdurchsetzungsgesetz droht, besser illustrieren als dieses Fallbeispiel. Nach Maßgabe der eigenen Parteipräferenz oder Weltanschauung wird gelöscht, was nicht genehm ist: Facebook als Robespierre des 21. Jahrhunderts. Ein Gerichtsbeschluss (Landgericht Berlin, Az. 31O21/18) war nötig, um den Nutzer in sein Menschenrecht auf freie Meinungsäußerung wieder einzusetzen. Vor diesem Hintergrund muss das, was vermeintlich lupenreine Demokraten wie Martin Schulz in der Auseinandersetzung mit Oppositionellen in der jüngeren Vergangenheit von sich gegeben haben, jeden wirklichen Demokraten in Alarmbereitschaft versetzen.
Verräterisch in Richtung Rousseauismus weisen auch die bei Suhrkamp veröffentlichten und an Jean-Claude Juncker adressierten Überlegungen David van Reybrouks zum Thema EU. Der Holländer stellt das System der demokratischen Abstimmung grundsätzlich in Frage. Wahlen, »um aus dem Gemeinwillen eine Regierung und deren Politik zu bestimmen«, hält er für eine »altmodische Methode«. Die Väter des Grundgesetzes scheinen geahnt zu haben, dass der große Aufklärer aus Genf dem parlamentarischen System noch einmal gefährlich werden könnte. Den Begriff Tugend kennt das Grundgesetz nicht. Dort, wo Rousseaus Erben, die Apostel der Hypermoral, ihn gern installieren würden, steht bereits ein anderer Begriff und versperrt den Weg: Freiheit. Zweitens sieht Artikel 21 ganz ausdrücklich vor, dass die Parteien bei der politischen Willensbildung des Volkes mitwirken. Wer sich jemals gefragt hat, warum der Gesetzgeber hier das Wort Wille dem Wort Meinung vorgezogen hat, der findet die Antwort einmal mehr beim Autor des »Gesellschaftsvertrags«. Hinter der Formulierung steckt die klare Absage an die von Rousseau entworfene und von David van Reybrouk wieder ausgegrabene Utopie vom beständig richtigen Gemeinwillen, der schon vorher da ist und von der Politik nur wie ein reifer Apfel gepflückt zu werden braucht. Das Konzept der liberalen Demokratie kennt keinen beständig richtigen Willen, sondern der muss erst gebildet werden. Er kristallisiert sich heraus aus dem Streit, den die Parteien stellvertretend für die Gesellschaft als gleichberechtigte Wettbewerber untereinander austragen. Und man kann eigentlich nur hoffen, dass sie noch streiten. Wer dagegen den politischen Dissens wegen der Polarisierung, zu der er bei wichtigen Streitfragen führen kann, beklagt, der muss sich fragen lassen, was er will: parlamentarische Demokratie oder Wohlfahrtsausschuss. Rousseau jedenfalls reibt sich bereits die Hände. Er wittert Morgenluft.
Manches von dem, was ich in dem kleinen Rousseau-Exkurs nur kurz angerissen habe, wird im nachfolgenden Text vertieft. Es geht also nicht nur um Sinn oder Unsinn der »Ehe für alle«. Es geht ganz grundsätzlich immer auch um das fundamentale Menschenrecht auf eine eigene Meinung. Der Umgang mit Kritikern der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare ist ein Testfall für unsere Demokratie. Das ist der Subtext dieses Buches, dessen erste Ausgabe 2017 als Kindle-Edition erschien und das gerade einen kleinen Sturm zu überstehen hatte: Im März 2019 wurde mir von Amazon-KDP, dem Verleger der E-Book-Fassung von »Böse Falle ›Ehe für alle‹« mitgeteilt, dass man mein KDP-Konto gelöscht habe. Alle meine Publikationen, auch einige Deutsch-Lehrwerke, waren mit sofortiger Wirkung nicht mehr lieferbar. Begründung: Ich hätte gegen Urheberrechte verstoßen. Auf Nachfrage wurde mir mitgeteilt, sogar auf Englisch von der Hauptzentrale, man könne die Vorwürfe nicht präzisieren. Mein Verstoß ergebe sich aus den KDP-Veröffentlichungsrichtlinien, zu denen man mir mit selbiger E-Mail noch einmal einen Link schicke. In einer letzten Mitteilung hieß es, man habe meine Einwände, dass ich der Rechteinhaber aller von mir veröffentlichten Werke sei, geprüft und sehe keinen Anlass, die Entscheidung zurückzunehmen. Ich durfte mich nach einer neuen Veröffentlichungsplattform umsehen. Jeder, der jetzt auf seinem technischen Gerät »Böse Falle ›Ehe für alle‹« liest, liest das Ergebnis eines zähen Kampfes. Aber er kann erst mal aufatmen: Noch ist die Festung Pressefreiheit nicht geschleift. Aber klar ist auch: Sie hat schon bessere Tage gesehen.
Als kleine Bonus-Beigabe findet sich im Anhang zu diesem Digitalbuch ein Text, wie ihn Autoren im »Writers' Room« dank neuer Satzung wohl nicht mehr verfassen dürfen, jedenfalls nicht ohne ex cathedra verordnetes schlechtes Gewissen.
Es lebe die Freiheit!
Dietmar Mehrens 25. April 2019