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Kapitel 3

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Moamin Doriah, Hauptmann der Garde von Chasar, gab dem Kundschafter, der ihm soeben Bericht erstattet hatte, eine Handvoll Maruch. Der Batorianer stammelte Worte des Dankes, als er die Silbermünzen entgegennahm, und sich bis zum Boden verbeugte. Dabei vermied er es, den Hauptmann der Garde von Halef ibn Shahim anzusehen. Der kleingewachsene, dunkelhaarige Spion war zwar abgebrüht genug, abtrünnige Dörfer oder feindselige Nomadenstämme auszuspionieren. Aber das Gesicht Moamin Doriahs flößte ihm Angst ein. Das Messer eines Sumpfzwergs hatte Doriahs rechte Gesichtshälfte zerstört, die Augenhöhle war nurmehr ein leerer Krater. Dennoch hatte Doriah die Raserei des Zwergs aus dem Taufi überlebt und ihn zum Gehörnten geschickt. Die linke Wange des Hauptmanns zeigte die Spuren eines Jagdunfalls, der sich gleich beim ersten Ausritt nach seiner Genesung zugetragen hatte. Ein Wildschwein, das er im Jagdrevier des Khans von Chasar gestellt hatte, hatte ihn von den Beinen geholt. Bevor Doriah wieder auf den Füßen stand, hatte der Keiler mit seinen Hauern durch das gerade verheilte Gesicht gepflügt. Tengris sei Dank war das verbleibende Auge unverletzt geblieben, und so hatte Doriah trotz der zerfetzten Wange aufstehen und den Keiler mit einem wuchtigen Stoß des Jagdspeers auf den Waldboden nageln können. Erst dann hatte er sich erlaubt, das Bewusstsein zu verlieren.

„Steh auf, der Lohn war dir versprochen, du hast ein Recht darauf. An mir ist es, Dank zu erstatten, denn du hast für den Khan und die Ordnung, die der Ilkhan uns gegeben hat, dein Leben gewagt“, sagte er.

„Nicht nur mein Leben. Hätten die Nomaden mich entdeckt, wäre mir ein langsamer und qualvoller Tod sicher gewesen“, stimmte der Kundschafter zu.

Und bestimmt hast du das nicht für den Khan oder den Sultan getan, sondern für den ausgelobten Beutel Maruch, fügte Hauptmann Doriah in Gedanken hinzu. Dennoch - er legte Wert darauf, dass die Ehrlichen in seinen Diensten sicher sein konnten, auf den Rachni genau den zugesagten Lohn zu erhalten. Die Ordnung, die auf die Jahrzehnte der Unruhe nach dem Tod Cid Cadafs gefolgt war, galt Moamin Doriah als hohes Gut. „Und jetzt ab mit dir ins nächste Hurenhaus, du Bock. Wenn ich deine Dienste benötige, werde ich dich zu finden wissen“, sagte der Hauptmann und klang dabei freundlicher als seine Worte es waren.

Als er endlich allein war, dachte Moamin Doriah über die Ordnung nach, die in seinen Augen, oder besser in dem einen Auge, in Gefahr war. Wenn die Berichte der Spione stimmten, und das taten sie, denn er setzte die Männer und Frauen so ein, dass ihre Aussagen sich gegenseitig bestätigten, dann wuchs in Bual-Bator eine nicht zu unterschätzende Gefahr heran. Im Grunde seines Herzens widerstrebte ihm diese Heimlichtuerei. Er war Soldat und trat einem Gegner lieber auf offenem Feld entgegen. Aber der Khan hatte ihm befohlen, auch auf diese stille Art und Weise zu kämpfen. Und weil er damit dem Frieden und der Ordnung diente, bemühte er sich nach besten Kräften.

Bual-Bator hatte schon weniger fähige Khane gehabt als Halef ibn Shahim, dessen erster Berater er war. Und der musste immer dann seinen Widerspruch hinnehmen, wenn er gegen die neu geschaffene Ordnung verstoßen wollte. Doriah wusste, wie er in Chasar genannt wurde: der graue Khan. Er erhob sich und trat an das Fenster seines kargen Zimmers. Als Gardehauptmann standen ihm zwar Räume im Palast zu, er wollte sich aber nicht von Prunk und Intrigen ablenken lassen. Ihm genügte dieser Raum in der Garnison, der regelmäßig gekälkt und immer reinlich ausgefegt wurde aber kaum besser ausgestattet war als die Räume seiner Soldaten: Ein großer Tisch, ein paar harte Stühle, ein schmales Bett und ein Gestell mit Wasserkrug und Schüssel, um den Körper rein zu halten. Nur die wertvollen Landkarten und Pläne an den Wänden und auf der Tischplatte, alles kunstvolle Handarbeiten, unterschieden es von den Räumen der gemeinen Gardisten.

Doriah blickte durch die Glasscheibe auf den Exerzierplatz, hinter dem die zahllosen Mauern, Arkaden und Zwiebeltürme des neuen Palastes emporwuchsen. Der weiße Marmorbau war mit roten und silbernen Wimpeln geschmückt. Die Fahne mit dem Wappen des Herrscherhauses wehte träge auf der höchsten Kuppel und zeigte an, dass der Khan im Palast weilte.

Die Gedanken des Gardehauptmanns galten aber den Vorkommnissen nördlich der Hauptstadt: Zwei weitere Dorfmurdirs waren in der letzten Woche auf offener Straße niedergestochen worden. Kaufleute wurden erpresst, ihre Karawanen geplündert, bis sie Schutzzahlungen an Ssadec Tabar leisteten. Wieviel Gold und Macht hat dieser Räuberfürst schon angehäuft? Ich brauche einen Mann, der bereit ist, sich in das Lager dieser Ssadesti hinein zu schleichen und mir Informationen zu beschaffen! Moamin Doriah wusste von solch einem Mann, aber es war fraglich ob er ihn für sich gewinnen konnte, denn dieser Mann hatte schon jetzt nichts mehr zu verlieren. Also musste er ihm etwas geben, für das es sich lohnte weiterzuleben. Entschlossen machte er sich auf den Weg in den Palast des Khans.

Als er das prachtvolle Gebäude mit den goldenen Dächern und arabeskengefüllten Fensterreihen erreichte, nahmen die Torwachen Haltung an. Er musterte ihre Uniformen und Waffen und fand alles sauber. Die Klingen der Hellebarden glänzten, der Schliff war makellos. „Sehr gut, Nazir, Tulachimen!“, sagte er, nickte ihnen zu und durchquerte den ersten einer schier endlosen Folge von ineinander verschachtelten Innenhöfen. In den äußeren Höfen taten Handwerker, Schlächter und Soldaten ihre Arbeit, es folgten die Höfe der Kunstschmiede und Seidenweber und zum Zentrum hin die der Maler, Sänger und Dichter. Gleichzeitig vermehrte sich die Zahl und die Schönheit der Damen, die sich kaum verschleiert im Schatten der Arkaden amüsierten.

Im innersten Hof spielten die zahlreichen Kinder des Khans. Unter ihnen waren auch die drei legitimen Töchter, die seine offiziellen Frauen ihm vor vier, fünf und sieben Jahren geschenkt hatten. Unter einem Baldachin, die drei Frauen zur Seite, saß Halef ibn Shahim auf ockerfarbenem Damast und ließ sich mit einem Wedel aus Straußenfedern zufächern. In den Gesichtern der hohen Familie spiegelt sich die Freude am Übermut der Kinder. Eine silbergefärbte Feder prunkte am Turban des Khans. Nur sein Vetter, der Ilkhan in der Goldenen Stadt, wie Gidda Khan il Khan auch genannt wurde, durfte eine goldene Feder tragen. Die Feder Halefs war mit einer diamantbesetzten Brosche befestigt, die gleichen Steine fanden sich auf dem honigfarbenen Kaftan. Darüber trug der junge Khan eine kurze Weste aus golddurchwirktem Brokatstoff. Dass er unter diesem prunkvollen Gewand nicht schwitzte, lag an den Wasserspielen im Hof, die die Hitze linderten. Geeistes Wasser und kühler Wein standen zudem bereit.

Moamin Doriah senkte das Haupt und wollte zwölf Schritte vor dem Khan das Knie beugen, wie die Etikette es befahl. Doch Halef ibn Shahim sprang auf, ging ihm mit federnden Schritten entgegen, und zog ihn bei den Schultern hoch. Der Khan war kaum dreißig Jahre alt, sein Körper muskulös und sehnig. Trotz seiner Stellung nahm er regelmäßig an den Waffenübungen der Garde teil. Dabei hatten Doriahs Männer die Anweisung, bei Androhung von Strafe, den Khan als ihresgleichen zu behandeln. „Moamin, mein Freund, wir halten hier keine offizielle Audienz, bleibt bitte stehen!“

„Danke, Herr!“

„Und nennt mich nicht Herr, wenn wir unter uns sind, darum habe ich Euch schon oft gebeten.“ Der junge Khan amüsierte sich über das steife Gehabe seines Hauptmanns und bot ihm einen Platz auf dem Diwan. Die Frauen zogen sich zurück, weil sie den Anblick des zerstörten Gesichts Doriahs nicht ertragen konnten. Ibn Shahim schüttete ihm eigenhändig einen kristallenen Pokal ein. „Ein trockener Roter von den Südhängen des Tengriswalls, Ihr mögt den süßen Quelltaler nicht, wie ich weiß.“

„Habt Dank, H…, mein Khan!“

Die Männer atmeten den Duft der Weine, ließen die edlen Tropfen im Kristall kreisen, nahmen noch einmal das Bukett auf und tranken dann in kleinen Schlucken. Als sie eine Weile dem Geschmack nachgesonnen hatten, sah der Khan den Hauptmann ohne Abscheu an. „Was führt euch zu mir?“

„Im Kerker des Büttels wartet ein junger Waffenschmied auf seine Hinrichtung. Ich brauche diesen Mann.“

„Ein sechsfacher Totschläger, ich habe von dem Fall gehört.“

„Er hat die Vergewaltiger seiner Braut erschlagen. Zweifelhafte Gaukler, schon oft wegen Betrügerei bestraft, so viele Finger waren ihnen bereits abgetrennt worden.“

„Ihr müsst die Tat dieses Schmieds nicht rechtfertigen, Hauptmann. Was wollt Ihr mit ihm anfangen?“

Moamin suchte nach Worten, um seine Gedanken und Schlüsse zu erklären. „Dieser Schmied hat sich nach der Tat ohne Widerstand verhaften lassen und sich vor dem Büttel nicht verteidigt, nicht einmal, als das Todesurteil gesprochen wurde. Ich glaube, dass dieser Mann mit dem Leben abgeschlossen hat. Und so einen Mann brauche ich für einen gefährlichen Auftrag.“

„Selbst dann, wenn Ihr ihn damit dem Gesetz entzieht?“ Halef ibn Shahim konnte sich den kleinen Seitenhieb gegen Doriah, der ihn oft über Recht und Gesetz belehrte, nicht verkneifen.

„Selbst dann“, bestätigte der Hauptmann ernst.

Der Khan nickte und nahm einen Schluck aus seinem Pokal. Als der Nachhall des süßen, beerigen Geschmacks verklungen war, lächelte er. „Dieser Ssadec Tabar im Verschwundenen Tal. Ihr wollt diesen Mann nach Shuyuk schicken.“

„Ja! Und mein Khan sollte diese Sache nicht auf die leichte Schulter nehmen. Die Dynastie der Shahim ist noch nicht genug gefestigt, als dass er die Rechtlosigkeit eines ganzen Landstrichs ignorieren dürfe.“

„Ihr habt Recht, Hauptmann. Allerdings sorge ich mich mehr um die Steuereinnahmen aus diesen Dörfern und Städten, die ich an meinen Vetter, den Ilkhan, weiterzuleiten habe. Was meine Herrschaft betrifft: Den einzigen Mann, der sie mir streitig machen könnte, betrachte ich als meinen Freund. Er sitzt im Moment an meiner Seite.“

Die Worte waren zu schlicht, als dass sie eitle Pose oder Schmeichelei hätten sein können. Moamin dankte dem Khan mit einem Kopfnicken. „Wenn Ihr einen Schreiber rufen könntet …“

„Ihr habt es wie immer zu eilig, Hauptmann. Schenkt Euch doch noch vom Wein ein!“

Doriah folgte der Aufforderung und der Khan hob eine Hand. Augenblicklich stand ein Diener hinter ihm. „Ein Schreiber soll ein Papier für die Übergabe eines Gefangenen aus dem Kerker ausfertigen. Es handelt sich um einen zum Tode verurteilten Schmied namens …“, der Khan sah den Gardisten an.

„Namens Rayol Jamsillah“, vollendete der den Satz.

Die beiden Aufseher im untersten Keller der Büttelei von Chasar waren Halbzwerge, wusste Moamin Doriah, und ihr menschlicher Teil war ihnen nach den Jahren in den Kerkerfluren kaum noch anzusehen. Sie liebten die stickige, feuchte Dunkelheit, in der sie die Herren waren. Und wie viele Wesen mit geringem Selbstwert ließen sie ihren Sadismus an den wehrlosen Gefangenen aus. Vom Zwergenteil zeugte auch der unsagbare Schmutz, der im Kerker herrschte. Sie weideten sich am Ekel und den Krankheiten der Häftlinge, den die Exkremente und Auswürfe hervorriefen, die vermodernden Essensreste und die daran zugrunde gegangenen Ratten, die in den Ecken verwesten.

Aber selbst diese vertierten, in schleimige Lumpen gewickelten Kreaturen senkten die Köpfe, als Doriah sie mit seinem verbliebenen Auge ansah. Der Anblick seines verunstalteten Gesichts flößte ihnen Angst ein, und sie krochen vor ihm im stinkenden Dreck. „Die Zelle am Ende des Ganges, Herr“, grunzte einer der beiden auf seine Frage.

Doriah passte auf, wohin er seine Schritte setzte, um seine Reitstiefel nicht allzusehr zu beschmutzen, und sah in die Zellen zu beiden Seiten des Ganges. Die Gefangenen darin waren selbst zu Dreck geworden, zu Abfall, der mal von anständigen mal von intriganten Leuten der Stadt entsorgt worden war. Ein einziger Mann unterschied sich von den in Fetzen gehüllten, von ihren eigenen Ausscheidungen beschmutzten Menschen. Es war der Schmied, der den nicht gerade kleinen Hauptmann um fast eine Elle überragte. Die breitschultrige Gestalt mit dem ungestutzten Vollbart stand in einer Ecke der Kerkerzelle, das Dutzend anderer Kreaturen hatte sich in der gegenüberliegenden Ecke zusammenge­drängt. Die offene Weste und die Bundhose des Schmieds, das bärtige Gesicht und die mächtige Brust waren noch nicht so verdreckt wie die der anderen Häftlinge. Die Augen des Mannes glänzten wach, im Gegensatz zu den stumpfen Lichtern der Hoffnungslosen um ihn herum. Als er das zerstörte Gesicht des Gardehauptmanns sah, erschrak er, fasste sich aber und blickte weiter in das Auge des Offiziers.

„Rayol Jamsillah?”

„Ja, Herr!“ Er sprach nicht unterwürfig, Herr war einfach die gebührende Anrede.

„Aufmachen!“

Einer der Halbzwerge öffnete die Gittertür und trat eilig zur Seite. Anscheinend hatte er mit den muskelbepackten Armen des Schmieds schon Bekanntschaft gemacht. Er ließ den Mann mit den typischen Funkenspuren seines Gewerbes auf der Haut nicht aus den Augen.

„Raus mit dir!“, sagte Doriah.

Der Schmied trat aus dem überfüllten Gelass auf den Gang und wartete.

„Du wirst mich in die Garnison begleiten“, stellte Doriah fest. Er erhielt keine Antwort, doch als er ging, folgte ihm der Schmied wortlos.

„Korporal Belan!“, rief Moamin Doriah, als sie den Hof der Garnison erreicht hatten.

Auf den Ruf hin unterbrach einer der Gardisten seine Schwertübungen und kam herbeigeeilt. Er sah ihn furchtlos aber respektvoll an, wie es alle Gardisten taten, die ihren Hauptmann kannten und schätzten.

„Dieser Mann darf sich im Hamam der Unteroffiziere reinigen und rasieren. Gib ihm saubere Kleidung aus der Kleiderkammer. Danach bringe ihn in zu mir, es hat keine Eile.“

Der Korporal war an eigenartige Befehle gewohnt und bedeutete dem Schmied, ihm zu folgen. Der sprach sein erstes Wort, seit Doriah ihn aus dem Kerker geholt hatte. „Danke!“

Als es an die Tür klopfte, war Doriah in das Studium der Landkarten vertieft. Rayol Jamsillah kam herein, der Korporal sah den Hauptmann fragend an. „Es ist gut, Belan“, sagte er und der Soldat schloss die Tür.

Der Schmied blieb am Eingang stehen. Die Spuren des Kerkeraufenthalts waren äußerlich getilgt: Er trug nun graue Wickelhosen und ein dunkelgrünes Wams, das ihm um die Schultern zu eng war. Etwas Größeres hatte der Fundus der Garnison nicht hergegeben. Sein schwarzer Vollbart war sauber geschoren.

„Setz dich, Schmied Rayol!“ Doriah zeigte auf einen Stuhl.

Der Schmied folgte der Aufforderung, wobei er ihn aufmerksam ansah.

„Ich bin Hauptmann Moamin Doriah von der Garde des Khans. Hast du eine Vorstellung, warum du hier bist?“

„Wahrscheinlich braucht ihr jemand, der dumm genug ist, sich in irgendeine Räuberhöhle oder ein Nomadenlager zu schleichen, damit er den Hals nicht auf den Richtblock legen muss. So prahlt mancher Mann in den Schänken und nennt sich Spion.“

Der Schmied war offensichtlich nicht dumm. „Und du glaubst, deshalb seiest du hier?“, fragte Doriah nach einer Weile.

„Eine andere Erklärung fällt mir nicht ein.“

„Du liegst nicht falsch, aber erzähl mir zuerst deine Geschichte!“

„Ich habe vor dem Büttel alles zugegeben, und es tut mir immer noch nicht leid, dass ich diese Schweine umgebracht habe. Ihr habt euch den falschen Mann geholt, denn ich fürchte den Tod nicht. Er wird eher eine Erlösung für mich sein.“

Doriah hatte so eine Antwort erwartet und sie bestätigte ihm, dass er den richtigen Mann ausgesucht hatte.

„Recht zu sprechen ist Sache des Khans und seiner Büttel. Es geht mir hier ausnahmsweise nicht um den Buchstaben des Gesetzes. Ich will erfahren, ob du trotz deiner Tat ein rechtschaffener Mensch bist.“

Die Worte schienen etwas in dem Schmied zum Klingen zu bringen. Und da er nichts Besseres vorhatte, als auf den Tod zu warten, begann er zu erzählen.

„Vor zwei Jahren beendete ich meine Lehrzeit als Waffenschmied und wurde von Jassim Muktada losgesprochen.“

Moamin Doriah kannte Muktada als Meister seines Fachs, als ehrenwerten Mann, der sich seine Lehrlinge sorgfältig aussuchte, denn er hatte einen Ruf zu verlieren. Dass Rayol bei Muktada als Lehrling angenommen worden war, sprach für ihn.

„Er bot mir an, als Geselle für ihn zu arbeiten, aber ich entschied mich für ein oder zwei Wanderjahre.“

„So? Etwas Besseres kann einem Waffenschmied in diesem Teil des Khanats doch kaum passieren, als in der Werkstatt des Jassim Muktada zu arbeiten. Warum gingst du fort?“

Der Schmied dachte eine Weile nach, als wenn er sich die Gründe selbst noch einmal erklären müsse. „Aus Angst.“

In die Augen des Mannes war eine Spur Entschlossenheit zurückgekehrt, ein Abbild der Erinnerung an die Zeit vor zwei Jahren. Doriah musterte die breite Brust und die gewaltigen Arme des Schmieds. „Angst? Du? Wovor?“

Wieder suchte Rayol Jamsillah nach Worten. „Vor einer Frau, vor mir selbst, vor meinem Glück.“

„Glück ist meiner Erfahrung nach das Resultat von Können und Fleiß“, warf Doriah ein.

„Dennoch konnte ich mein Glück kaum fassen. An dem Tag meiner Lossprechung hielt ich um die Hand von Gaiana, der Tochter des ältesten Gesellen Muktadas an. Und Fahd ibn Fahd gewährte mir die Bitte, ohne Bedingung, ohne Brautgeld, ohne Morgengabe, denn ich war mittellos.“

„Der alte Geselle kannte deinen Fleiß und deine Fähigkeiten.“ Der Hauptmann fühlte sich bestätigt, aber der Schmied zuckte nur mit den Schultern.

„Noch am selben Abend war ich Gast im Hause Fahds. Gaiana und ihre Mutter hatten ein Festmahl zur Feier meiner Lossprechung zubereitet. Auch ihre drei Brüder feierten mit uns. Alle waren mir zugetan und die Hochzeit sollte schon zwei Monate später stattfinden.“

„Und du dachtest, das ginge zu schnell und fingst an zu grübeln, was du nicht alles verpassen würdest“, sagte Doriah, der auch einmal jung gewesen war.

Rayol sah ihn erstaunt an. Dass der Gardehauptmann seine damaligen Gefühle so genau nachvollziehen konnte, hatte er nicht erwartet. „Im Grunde war es Jassim Muktada, der mir diese Flausen in den Kopf gesetzt hatte. Er hatte in der Werkstatt oft und gerne von seinen Reisen durch das südliche Scimmien berichtet, von seinen Erlebnissen in fremden Ländern, und was er von anderen Meistern gelernt hatte.“

Jetzt, als es um seine Arbeit ging, begann der junge Schmied leichter zu reden. Sein Beruf musste ihm viel bedeuten, erkannte Doriah.

„Muktada bedauerte oft, dass er nie bei den Schmiedemeistern des Nordens gewesen war, geschweige denn bei den Zwergen in den Weißen Marken. Die sollen eine besondere Art der Stahlläuterung kennen. Angeblich verfüttern sie die Späne geschmiedeten Eisens an Hühner, indem sie sie unter die Körner mischen. Was sie ausscheiden verfüttern sie wieder an sie, wieder und wieder, was den Stahl besonders rein …“

„Du bist also auf Reisen gegangen und hast die Frau, die dir versprochen war, zurückgelassen?“, unterbrach Doriah das Fachgesimpel, das ihn unter anderen Umständen durchaus interessiert hätte. Aber er wollte das Gespräch in eine bestimmte Richtung lenken.

„Gaiana versprach, auf mich zu warten, und ihre Brüder standen mit ihrer Ehre dafür ein, dass sie bis dahin unberührt bliebe. Ich ging leichten Herzens, dachte nur an Abenteuer und ferne Länder und blickte nicht zurück.“ Rayol versank in Gedanken, und Moamin Doriah ließ ihm ein paar Augenblicke.

„Ich erlernte die Kunst der blutigen Läuterung von einem wandernden Zwergenschmied. Beim Alten Tengris, hatte dieser Kerl eine Kraft! Aber bald zog es mich zurück nach Chasar. Ich Troll brauchte drei Monde, bis ich begriff, dass dieses Ziehen in meiner Brust Heimweh und Sehnsucht nach Gaiana war. Nach und nach beschlich mich Angst, daheim etwas verändert vorzufinden, einen Fehler gemacht, Gaiana trotz der Brüder schutzlos zurückgelassen zu haben. Ich machte mich auf den Weg, aber es dauerte vier weitere Monde, bis ich zurück nach Chasar kam.“

Aus dem Protokoll des Büttels wusste Doriah, dass dem Mädchen Gewalt angetan worden war, als der Schmied von seinen Wanderjahren zurückkehrte.

„Gaianas Familie hegte keinen Groll gegen mich. Der Vater hatte ihnen erklärt, warum Wanderjahre für einen Waffenschmied so bedeutsam sind. Noch am Tag meiner Rückkehr gaben sie ein Fest, zu dem alle Gesellen der Werkstatt und die Nachbarn eingeladen wurden. Ein Lamm wurde geschlachtet, der Wein floss in Strömen. Sogar einen Trupp Akrobaten und Spielleute hatten sie kommen lassen. Als wir einen Moment unbeobachtet waren, bedeckte Gaiana mein Gesicht mit heißen Küssen und schwor, sich für mich aufgespart zu haben. Mein Glück war vollkommen, aber der Abend sollte eine böse Wendung nehmen.

Die Gaukler und Akrobaten waren verwegen, gelenkig, geschickt mit ihren Schwertern beim Schattenfechten und vor allem hinterlistig, weil sie nur auf Diebstahl und Raub aus waren. Weiß der Gehörnte, wo sie herkamen! Ihr Anführer war ein rothaariger, sehniger Mann, hochgewachsen, mit kraftvollen Bewegungen und durchbohrten Wangen, dem Zeichen, dass er schon einmal für eine Fälschung bestraft worden war. Zum Schluss ihrer Vorführung jagten sie auf ihren Reitkamelen durch die Gasse, in der das Fest stattfand. Aus den Sätteln bückten sie sich nach abgelegter Kleidung, Waffen und allem, was von Wert schien. Ehe wir uns versahen hob der Anführer in vollem Galopp auch Gaiana in seinen Sattel. Die wilde Jagd ging bis zum Ende der Gasse, und wir alle hielten es für einen Scherz. Erst als die Reiter mit meiner Verlobten nicht wiederkamen, ahnten wir, dass etwas nicht stimmte.

Natürlich stiegen Gaianas Brüder und ich sofort auf die Kamele und Dromedare, die wohlhabende Nachbarn herbeigeholt hatten. Aber es dauerte lange, bis wir die Spur der Halunken aufnahmen und ihr Nachtlager weit außerhalb der Stadt fanden. Wir schlichen uns an den Kreis der erbärmlichen Zelte heran. Die Kerle saßen um ein Feuer, brieten eine stinkende Hammelkeule und ließen eine Flasche Taufifusel kreisen. Gaiana war nicht auszumachen, aber als wir sahen, dass ein Mann aus einem der Zelte kam, ein paar unflätige Worte über sein …“, Rayol Jamsillah kam ins Stocken, „… über seinen dreckigen Schwengel grölte und grausames Gelächter erntete, schwante uns Fürchterliches. Ein anderer Mann ging auf das Zelt zu, in dem wir Gaiana vermuten mussten, und nestelte bereits an seinem Hosenbund. Erbarmungslose Wut verdrängte alle Vorsicht, wir zogen unsere Schwerter und rannten brüllend auf das Gesindel zu. Den Mann, der sich als nächster an Gaiana vergehen wollte, hieb ich mit einem einzigen Schlag entzwei. Die anderen Schweine waren so überrascht, dass wir vier von ihnen ohne Gegenwehr töteten. Danach stand das Verhältnis nur noch zwei zu eins gegen uns. Wir waren blind vor Verzweiflung und spürten keine Schmerzen. Die beiden älteren Brüder fielen, aber ich tötete noch fünf von diesen Hunden. Mit dem Jüngsten Rücken an Rücken schlug ich um mich, und als nur noch der Anführer übrig war, schwang er sich auf sein Kamel und floh.“

Hauptmann Doriah hatte schon oft Männer im Blutrausch erlebt und konnte sich gut vorstellen, wie der Schmied mit seinen gewaltigen Kräften unter diesen Verbrechern gewütet hatte. Gegen einen solchen Berserker hätte auch der härteste Mann seiner Garde schlechte Chancen gehabt.

Rayols Augen sahen an einen weit entfernten Ort. „Er ritt geradewegs in die Arme der Stadtwache, die von der Familie alarmiert worden war. Ich ging zu dem Zelt hinüber, das die schrecklichen Schandtaten bedeckt hatte, und fand meine liebliche Gaiana in zerfetzten Kleidern und mit blutigem Schoß. Ihre Augen waren offen, aber sie sprach nicht, sie sah mich nicht, sie erkannte auch nicht ihren kleinen Bruder, der aus vielen Wunden blutete. Gaianas Vater stand auf einmal hinter mir, und ich übergab ihm seine Tochter, denn in diesem Moment packten mich die Wachen.

Ich konnte erst wieder klar denken, als ich drei Tage später vor dem Büttel stand. Ich leugnete meine Taten nicht, und als ich hörte, dass Gaiana in den vergangenen Tagen weder die Augen geschlossen, noch ein Wort gesagt hatte, war mir mein Leben gleichgültig. Im Hospital des Jungen Tengris hatte man nichts für sie tun können und dem Vater der vielfach geschändeten Tochter empfohlen, auf die Zeit zu vertrauen. Für den sechsfachen Totschlag wurde über mich das Todesurteil verhängt. Dem kleinen Bruder musste nach dem Kampf eine Hand abgenommen werden, und er ging ohne weitere Strafe aus.“

Das bärtige Gesicht Rayols verbarg seinen Schmerz, aber Moamin Doriah vermochte hinter diese Maske zu sehen. Er konnte die Rachetat nachvollziehen, hätte selbst vielleicht nicht anders gehandelt. Aber der Schmied hatte gegen das Gesetz verstoßen, indem er sich zum Richter und Henker erhoben hatte. Ewige Blutrache war der Grund für die endlosen Unruhen der letzten Jahre und war von der Familie der Shahim geächtet worden.

Die Männer schwiegen eine Weile, dann ergriff der Hauptmann das Wort. „Du hast das Recht selbst in die Hand genommen und sechs Männer erschlagen.“

„Ich leugne es nicht.“

„Diese Verbrecher verdienten den Tod und hätten nach einer ordentlichen Verhandlung am Dorn gezappelt, bis ihnen die Augäpfel geplatzt wären. Auch wenn du gegen das Gesetz verstoßen hast, halte ich dich für einen ehrlichen Mann. Für das, was sie deiner Verlobten angetan haben, gibt es keine passende Strafe.“

Der Schmied nickte mit unendlichem Hass in den Augen. Wehe dem letzten Vergewaltiger, wenn er ihn in seine Pranken bekam. Doriah verschwieg, dass der Anführer der Gauklertruppe entkommen war, denn jetzt kam es darauf an, Rayol Jamsillah auf seine Seite zu ziehen. „Ich könnte dich vor dem Tod bewahren.“

„Der Tod ist mir egal. Ich konnte meine Geliebte nicht schützen, jetzt erträgt sie ein schlimmeres Schicksal als den Tod. Wäre ich nicht auf Wanderschaft gegangen, hätte es kein Fest gegeben. Ohne Fest keine Akrobaten. Und Gaiana hätte diese stinkenden Tiere nicht auf sich ertragen müssen. Für mich gibt es im Diesseits nichts mehr. Hängt mich an den Dorn oder schlagt mir den Kopf ab, es soll mir gleich sein.“

Eine schlichte Feststellung, ohne die Absicht, Mitleid zu erheischen, erkannte Moamin Doriah. Und deshalb ist er genau der Mann, den ich brauche. „Gerade weil der Tod dir gleichgültig ist, brauche ich, braucht der Khan deine Dienste.“

„Warum gerade meine? Ich bin weder Soldat noch Spion.“

„Das will ich dir erklären, aber lass mich ein wenig ausholen.“ Der Hauptmann sah sich in seinem kargen Raum und, bis sein Blick auf der Landkarte von Shuyuk hängenblieb. „Bis vor einigen Jahren hat ein Großgrundbesitzer namens Ssadec Tabar immer wieder gegen den Ilkhan in Gidda und den Khan von Chasar intrigiert und böse Gerüchte in Umlauf gesetzt. Mehrmals hat Halef ibn Shahim ihn ermahnt, aber er hat keine Ruhe gegeben und wurde schließlich von seinem Land vertrieben. Er floh und fand Unterschlupf in der Nähe von Shuyuk, am Fuße des Tengriswalls. In ganz Scimmien warb er Söldner, Beutelschneider und Totschläger an. Sogar aus den Greiflanden fanden Männer und Frauen zu ihm. Es heißt, er herrsche wie ein König über seine Horde in einem verschwundenen Tal. Zunächst vermutete ich, er sei zu einem der vielen Wegelagerer geworden. Aber inzwischen weiß ich, dass auch ehemals ehrbare Handwerker, Bauern und Reisige in die engen, verwinkelten Täler im Westen ziehen. Offenbar strebte Tabar nach mehr als Beute und Reichtum. Dieser selbsternannte Räuberkönig will der neuen Ordnung möglichst viel Schaden bereiten, um sich so für den Verlust von Stand und Land zu rächen. Dabei ist der Frieden nach den Erbfolgekriegen immer noch äußerst brüchig und eher ein unsicherer Waffenstillstand, wie du weißt. Ob dieser sogenannte Räuberfürst seinen Reichtum mit den Armen und Elenden teilt, wie oft behauptet wird, oder ob das nur Blendwerk ist, um seine Anhänger gefügig zu machen, kann ich nicht abschätzen. Doch Tabar schickt unablässig Meuchelmörder, Räuber und Erpresser aus. Einflussreiche Personen in den Dörfern und Städten im Norden werden beseitigt oder korrumpiert. Ein Flechtwerk von Anhängern ist entstanden, das ihm immer frechere Schritte erlaubt. Kannst du dir vorstellen, was passiert, wenn wir diesen Mann weiter schalten und walten lassen?“

Rayol Jamsillah nickte.

„Daher brauche ich jemand, der sich dieser Bande zum Schein anschließt und in dieses sogenannte Verschwundene Tal hineinkommt, wie es allerorts flüsternd und gar ehrfurchtsvoll genannt wird. Wenn es nicht gelingt, Tabar zu beseitigen, so muss ich wenigstens von seinen Mitteln und Plänen erfahren. Dazu benötige ich einen tollkühnen und kaltblütigen Mann, dem der Tod gleichgültig ist!“

Rayol musste nicht lange über eine Antwort nachdenken.

„Der schnelle Tod unter dem Beil, selbst der am Dorn ist mir gleichgültig. Ich sehne ihn sogar herbei, denn ich habe ihn verdient.“

Doriah hatte noch einen Trumpf. „Wo ist deine Verlobte jetzt?“

„Sie dämmert im Hause ihrer Eltern vor sich hin. Einen Medicus kann sich die Familie nicht leisten, auch wenn Meister Jassim Muktada versprochen hat, einen Teil des Preises zu tragen. Nun stirbt sie Tag für Tag ein kleines Stück, denn sie schläft und isst nicht und ihr Körper siecht dahin.“ Die Worte des jungen Schmiedes waren immer leiser geworden, schließlich erstickte seine Stimme.

Hauptmann Doriah nickte und stand auf. „Ich habe mit dem Medicus und den Schamanen des Khans gesprochen. Sie halten es für möglich, einen Vergessenszauber auszuüben, so dass deine Gaiana nicht mehr an das denken muss, was ihr angetan wurde. Im Kloster des jungen Tengris könnte man sie durch einen Blickzauber dazu bringen, ihren inneren Frieden zu finden. Wenn sie wieder isst und schläft und zu Kräften kommt, werden die Geweihten ihr behutsam erklären, was passiert ist und wie sie damit leben kann.“

Zum ersten Mal erschien Hoffnung im Blick Rayols. „Und ihr würdet das veranlassen, wenn ich mich bereit erkläre, nach Shuyuk zu gehen?“ Er sprach mit flehendem Unterton.

Doriah wusste, dass er sein Ziel erreicht hatte. „Das würde der Khan für deine Gaiana tun. Und bevor wir dich in die Höhle des Ogers schicken, werden wir dich einiges lehren, was dir deinen Auftrag auszuführen hilft.“

Rayol Jamsillah war aufgesprungen. „Verfügt über mich, Hauptmann. Für Gaiana will ich gerne Folter und Qual riskieren.“

Viermal hatten die Tengrissöhne zu- und wieder abgenommen, als Rayol Jamsillah sein Bündel packte. Er wollte nicht mehr mit sich führen, als es für einen Schmied in den Wanderjahren üblich war. Sein prachtvolles Schwert, das ihm als sein Gesellenstück überlassen worden war, war das einzig Bemerkenswerte an ihm. Abgesehen von dem mächtigen Brustkorb und den gewaltigen Armen natürlich.

Der einäugige Moamin Doriah, hatte ihm gerade noch einmal seine Befehle eingebläut, die Namen von anderen Kundschaftern, die sich unerkannt in und um Shuyuk aufhielten, abgefragt und ihn im Namen von Recht und Ordnung auf den Weg geschickt. Aber bevor Rayol sich auf die mehrtägige Wanderung nach Shuyuk machte, wollte er seiner Gaiana einen letzten Besuch abstatten.

Am Eingang zum Kloster begrüßte ihn eine Geweihte mit einem freundlichen Lächeln. Er war in den vergangenen Monaten so oft wie möglich hergekommen, und die meisten Geweihten im Kloster wussten, was seiner Verlobten widerfahren war. Rayol Jamsillah ging durch die Säulenhalle, vorbei an den Altären mit abstrakten Abbildern des weiten Himmels, der Regenwolken und blühenden Bäume und Blumen, die den jungen Tengris versinnbildlichten. Die meisten dieser Avatare des einen Gottes waren in Gold gehämmert oder aus bunten Kristallen gelegt und standen für die Macht, die man den Aspekten des jungen Tengris in der Hauptstadt des Khanats zumaß. Rayol kniete vor dem hohen, in Emaille ausgeführten Regenbogen nieder und trug stumm seine Bitte um Genesung seiner geliebten Gaiana vor. Sein Opfer, getrocknete Blütenblätter, nahm der Gott wohlwollend an, was er an der senkrechten Rauchsäule erkannte, die von der Glut des Opferfeuers aufstieg.

Nach einer letzten Fürbitte stand er auf, verließ die Säulenhalle durch das seitliche Portal und stand im Schatten eines Wandelgangs, der einen sonnendurchfluteten Hof umgab. Auf der anderen Seite gingen zahlreiche Türen zu den Kammern der Geweihten und Gäste des Klosters ab. Eines dieser kleinen Zimmer teilte sich Fatuma mit Gaiana. Die alte Geweihte wachte Tag und Nacht über sie und nahm die verstörte junge Frau auch in den Kräutergarten mit, den sie seit vielen Jahren am Rande des Innenhofes pflegte. Dort fand Rayol sie auch an diesem Vormittag. „Seid gegrüßt, ehrwürdige Fatuma!“

Die Geweihte erhob sich mit einem Ächzen und wischte sich die Hände an der Schürze ihres hellgrünen Habits ab. „Rayol, ich freue mich dich zu sehen, und Gaiana sicher auch.“

Er betrachtete seine Verlobte, die auf einem Stuhl in der heilsamen Wärme saß und ihre Hüterin ansah. Ihre körperlichen Wunden waren gut verheilt, nicht einmal Narben waren zurückgeblieben. Der Medicus des Khans hatte ihm berichtet, dass sie, wenn ihr Geist wiederhergestellt war, sogar wieder die Freuden der Liebe würde verspüren können. Rayol wusste auch, dass Gaiana bei seinem Anblick nicht mehr als ein Gefühl des Erkennens verspürte. Der Blickzauberer hatte sie mit der Kraft seiner Augen und seines Willens so eingestellt, dass sie nur die guten Gefühlsregungen in ihrer Umgebung wahrnehmen konnte. Deshalb hatte man auch Fatuma an ihre Seite gegeben, deren immerwährende Sanftmut sich bereits heilend auf Gaianas Gemüt ausgewirkt hatte. Offensichtlich spürte die Kranke Rayols Freude über ihr gesundes Aussehen, denn sie lächelte, als er näher kam.

Er nahm ihre Rechte und streichelte sie. Zu seiner Überraschung hob sie die andere Hand und strich durch seinen dichten Bart. „Gaiana, mein Liebling, ich muss noch einmal fort. Diesmal habe ich eine Pflicht zu erfüllen, ein Versprechen, das ich gegeben habe, damit man dich hier gesund pflegen kann. Ich kann nicht schwören, dass ich zurückkomme, aber ich werde vorsichtig zu sein.“ Er sprach auch zu Fatuma, denn sie sollte wissen, was er zu tun hatte. Das Lächeln in Gaianas Gesicht hatte nicht aufgehört und Rayol sah die Geweihte an.

„Sie lächelt jetzt oft. Der Medicus und der Blickzauberer meinen, dass sie ihre Sinne bald ein wenig weiter öffnen können. Auch der Anblick von Tengris Schöpfung wird ihr Gemüt aufhellen. Vielleicht, wenn Ihr zurückkehrt …“

„Ich danke Euch, Fatuma. Bitte versteht, dass ich in den nächsten Monaten nicht nach ihr schauen kann.“

„Es ist gut, Schmied Rayol. Wir sind hier im Kloster nicht von der Welt abgeschnitten. Schließlich leben wir Mauer an Mauer mit dem Khan.“

Das Verschwundene Tal

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