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Kapitel 4

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Auf seiner Flucht nach Norden kam Wulfiard dem Tengriswall näher und näher. Die schroffen Bergspitzen am Horizont wuchsen in die Höhe, bis sie die wenigen Wolken zu berühren schienen, die sich über dem Gebirge hielten. Kein Pass, kein Schotterweg, nicht einmal ein Schmugglerpfad führte über diesen Teil des Gebirgszuges. Wulfiard wusste, welche Länder dahinter lagen, wie die Ebenen hießen, auf die wieder Berge folgten und wieder fruchtbares Land. Viele Städte und Länder, so anders als Bual-Bator, hatte er besucht und war niemals lange geblieben. So viele Landstriche hatte er durchwandert, um möglichst viel Abstand zwischen sich und seine Sippe zu legen, und er war immer noch dabei, fortzugehen.

Von Fayum hatte er zunächst nach Südwesten gewollt, um schließlich von einem Hafen im Süden des Taufi ein Schiff zu einer der Halbmondinseln zu bekommen. Dann wäre er soweit von seiner Sippe entfernt, wie es nur möglich war. Aber es spielte keine Rolle, wann er sein Ziel erreichte, weil er gar nicht wusste, was er dort tun würde. Und da er neugierig darauf war, was es mit diesem Räuberkönig und Freund der Armen auf sich hatte, würde er sich eben erst in Shuyuk umsehen, bevor er weiter nach Süden ging.

Am Nachmittag holte er auf dem Karrenweg, der über die verbrannte, ockerfarbene Ebene führte, eine Gruppe hochgewachsener Männer ein, die in die gleiche Richtung wanderten wie er. Sie hatten helle Haut, helles Haar und trugen große Kiepen aus Weidengeflecht auf dem Rücken. Darin waren Ballen mit Leinenstoffen, aus Horn geschnitzte Bestecke und Würste von dunkler Farbe, die so hart wie Stein aussahen. Sicher stammten sie aus den Greiflanden, allerdings nicht aus Runland.

„Tengris zum Gruße!“, rief Wulfiard.

Die Männer betrachteten ihn stumm und marschierten unbeirrt weiter. „Zum Gruße!“, sagte der Anführer. Auch wenn ihre Begrüßung nicht besonders herzlich war, so hatten sie doch ehrliche Gesichter. Am Leib trugen die Kiepenmänner Blusen aus blaugefärbten Leinen und an den Füßen hölzerne Schuhe, die sicher sehr haltbar, aber fürchterlich unbequem sein mussten.

Wulfiard blieb nichts anderes übrig, als seinen Schritt zu beschleunigen, bis er mit dem Anführer gleichauf war.

„Wo kommt he wech?“ Der große Mann mit den Haaren, die noch blonder waren als Wulfiards, sprach in einem schwerfälligen, getragenen Tonfall.

„Ich stamme auch aus dem Norden, aber gerade komme ich aus dem Süden.“

Der Kiepenkerl nickte bedächtig. Fragte er deshalb nicht weiter nach, weil er es für unhöfliche Neugier hielt?

„Ist es recht, wenn ich mit euch gehe?“

„Twee Fäuste un een runländischer Langdolch mehr.“ Es war wohl selbstverständlich für den Anführer, dass der einsame Wanderer sich ihnen anschloss, um im Schutz der Gruppe zu reisen.

Dann wurde Wulfiard bewusst, dass es die Beobachtungsgabe des Mannes war, die ihm weitere Fragen nach seiner Herkunft ersparten. „Was tragt ihr da auf dem Rücken?“

„Kiepen sin dat“, sagte der Mann hinter dem Anführer.

Wulfiard ging an seiner Seite weiter. „Kiepen?“

„Sacht man bi uns im Quellreich so. Tuodden sin wir, wandernde Händler. Tragen darin unsere Waren.“ Die anderen Männer sahen den Sprecher an, als missbilligten sie seine Redseligkeit, und da schwieg auch er.

Die Kiepenkerle marschierten wortlos Stunde um Stunde, ohne ein Zeichen von Müdigkeit zu zeigen. Wulfiard stimmte leise ein fröhliches Wanderlied an, um sich in der stummen Gesellschaft die Zeit zu vertreiben. Nach der zwölften Strophe beendete er das Lied. Er erntete zwar keinen Applaus, aber immerhin zufriedenes Brummen und beifälliges Gemurmel. Wie um sich zu revanchieren begann der Anführer ein Lied mit einer getragenen Melodie, in das seine Kameraden bald einstimmten. Der Skalde war überrascht, dass diese schweigsamen Männer geübte Singstimmen hatten. Ihr Lied handelte von nebeligen Auen im Morgenlicht, heckendurchzogenen Ebenen und dem saftigen Grün ihrer Heimat. Es passte zwar kaum in diese heiße Gegend Bual-Bators, aber die Zeit verging schneller, während sie dem Pfad weiter nach Nordwesten auf die Berge zu folgten. Gerne hätte er das Lied aufgeschrieben, aber die Tuodden machten immer noch keine Anstalten, eine Rast einzulegen.

Aus dem flachen Land wuchsen sanfte Wellen empor, aus den Wellen wurden kleine Kuppen. Noch war der Boden kahl, steinig und sonnenverbrannt, aber hier und da lief nun ein Rinnsal den Hang hinunter. Spärliches Grün breitete sich von diesen kleinen Wasserläufen aus, und bald war mehr Grün als Grau und Ocker zu sehen. Wulfiard staunte nicht schlecht, als er in der Ferne künstlich angelegte Terrassen an den Berghängen sah, auf denen Weinstöcke in schnurgeraden Reihen standen. Hier wurde der trockene Rote angebaut werden, der in den Schänken ganz Bual-Bators die Kehlen hinunterfloss.

Vor ihnen, zur Rechten des Weges, der breiter geworden war und nun auch Karrenspuren zeigte, entdeckte Wulfiard ein steinernes Gebilde, wie er es in dieser Gegend noch nie gesehen hatte. Vier doppelt mannshohe, von unvorstellbaren Kräften glatt geschliffene Steine standen in genau abgemessenem Karree und trugen einen fünften, noch gewaltigeren Stein, der wie ein ovales Dach auf den Tragsteinen ruhte.

„De Fievsteen erinnert uns an de Riesengräber in de Heemat“, erklärte der Führer der Kiepenmänner, als sie die Steinsetzung erreicht hatten. Er sah Wulfiard an und schien auf etwas zu warten. Wulfiard verstand nicht, bis ihm auffiel, dass der Weg sich an der Steinsetzung teilte. Die Karrenspuren auf dem abzweigenden Weg waren tiefer und zahlreicher. „Ich will nach Shuyuk, welchen Weg muss ich nehmen?“

„Links geits op de Berge un dat Mirkashtal zu, in dem seit een paor Jaohrn de Mörder um Ssadec Tabar hausen.“ Der Kiepenmann spie auf den Boden. Das war die stärkste Gefühlsregung, die Wulfiard während des ganzen Tages bei diesen bedächtigen Männern beobachtet hatte.

„Un auf dem annern Wech is man in eene Stunde in Shuyuk.“

„Nun, dann habt Dank für eure Gesellschaft“, sagte Wulfiard und wollte sich nach rechts wenden.

„Möcht he lieber alleene in Shuyuk ankommen? Will he nich mit uns gesehen wern?“, fragte ihn der Anführer nun.

Wulfiard sah ihn verwirrt an, und die Mundwinkel des Mannes zuckten. Tatsächlich hatten die Kiepenmänner gar nicht gesagt, in welche Richtung sie wollten, fiel ihm ein. „Aber nein, entschuldigt, ich würde gerne mit euch bis nach Shuyuk gehen.“

Der Kiepenträger nickte, machte sich auf den Weg nach rechts und seine Kameraden folgten so schweigsam, wie sie es den ganzen Tag gewesen waren. Es war mittlerweile später Nachmittag, aber die Kiepenmänner schritten immer noch kräftig aus. Wulfiard, dem die Beine schwer wurden, schüttelte den Kopf und trottete hinterher.

Der Anführer, dessen Namen Wulfiard immer noch nicht kannte, sollte Recht behalten. Es verging kaum eine Stunde bis sie die ersten Lehmhäuser Shuyuks mit den typischen flachen, pultartigen Dächern sahen. Die Zisternen auf den Rückseiten, in die das seltene Regenwasser von den Dächern geleitet wurde, waren abgedeckt, damit das Wasser nicht verdunstete. Der kleine Ort hatte weder Stadtmauer noch Bazar, Frauen und Kinder in den engen Gassen musterten sie misstrauisch und verstohlen. Um den Dorfplatz vor dem Haus des Murdirs, dem einzigen Haus mit zwei Stockwerken, reihten sich die Werkstätten der Handwerker, zwei Handelskontore und ein paar Teestuben und Schänken.

Die Kiepenmänner blieben auf dem Platz stehen, der alle paar Wochen als Markt- und Richtplatz diente, und sahen Wulfiard an. Er wurde nicht schlau aus dem wortarmen Gebaren der Männer.

„Wir wern noch twee Stunden gehen und unner freiem Himmel öwernachten“, erklärte ihr Anführer.

„Dann ist jetzt wohl doch der Zeitpunkt gekommen, Abschied zu nehmen“, sagte Wulfiard.

„Joah“, antwortet der Mann, „und wenn he mal ins Quellreich kommt, frach er nach den Duorpen der Tuodden. In Riesenbeek wird he Avgust Hetlaak finden un bi hem willkuommen sin!“

„Danke, das werde ich tun“, sagte Wulfiard und sah die Tuodden der Reihe nach an. „Und euch allen einen guten Weg, den die Götter ebnen mögen!“ Da sie wie er von jenseits des Unsteten Pfads kamen, war es angemessen, die Götter der Greiflande anzurufen.

Wieder einmal antworteten die Männer mit Gebrummel, Kopfnicken, aber auch mit freundlichen Blicken aus hellblauen Augen. Dann wandten sie sich um und verließen den Marktplatz auf der anderen Seite. Erst jetzt fiel Wulfiard auf, dass der Anführer der Kiepenmänner ihm seinen Namen genannt hatte. Er hatte ihn sogar eingeladen, sein Gast zu sein. Anders als bei ähnlichen Abschieden hatte Wulfiard das Gefühl, dass Avgust Hetlaak es durch und durch ernst gemeint hatte.

Als die Kiepenträger den Platz verlassen hatten, war es früher Abend geworden. Zeit für eine Mahlzeit und einen erfrischenden Trunk, für den er nichts weiter zu bieten hatte, als seine Geschichten und seine Dichtkunst. Also musste er eine Schänke finden, in der man solche Kunst zu schätzen wusste. „Tengris zum Gruße! Ein Gedicht für einen Trunk, eine Mahlzeit für eine Geschichte!“, rief er, als er in das erste Wirtshaus trat.

Das bisschen Getuschel und Geflüster unter der niedrigen Decke verstummte. Wulfiards Augen gewöhnten sich an das Halbdunkel, und als er sah, dass unter den Gästen kaum jemand war, der noch alle Finger an den Händen hatte, dass einige Männer durchstochene Wangen hatten und auch das eine oder andere ausgebrannte Auge, die Strafen für falsches Zeugnis und Meineid, hielt er inne. In solch einer Spelunke würde er wohl kaum ehrlichen Lohn erhalten. „Mögen eure Geschäfte erfolgreich sein!“, sagte er und schloss die Türe.

In der nächsten Schänke entbot er den gleichen Gruß, aber was er dort sah, waren ausgemergelte Männer, bis auf die Knochen abgemagerte Frauen, auf verwanzten Strohsäcken liegend, hölzerne Näpfe mit Normolcheiern vor sich. Hin und wieder langte einer der lebenden Toten in seine Schale, versuchte eines der glitschigen Kügelchen zu greifen, und wenn er es nach endloser Jagd im Rund endlich erwischt hatte, stopfte er es sich in den Mund und zerquetschte es mit einem leisen Plopp. Die Augen des erfolgreichen Jägers begannen zu glänzen, und er sank auf seine dreckige Liegestatt.

„Verschwinde!“, hörte Wulfiard, ohne zu erkennen, woher das unwirsche Wort kam.

Aus dem dritten Wirtshaus hörte Wulfiard Gesang, und wenn er auch kein Wort verstand, so glaubte er, endlich den richtigen Ort gefunden zu haben. Um den einzigen Tisch des winzigen Raumes, in dem Wulfiard nicht einmal aufrecht stehen konnte, saßen etwa ein Dutzend langbärtige, kleinwüchsige Männer. Ihre Gesichter und Hände waren noch grau von der Arbeit in den Minen der Berge. Den Staub in ihren Kehlen spülten sie mit Bier herunter, knallten die großen Tonkrüge auf die Tischplatte und sahen ihn an.

„Ein Lied für einen Trunk …“, begann Wulfiard.

„Sing uns das Lied vom Hauer vor der güldenen Strecke!“, forderte einer der kleinen Männer ihn auf.

Da er die Lieder dieser Zwerge nicht kannte, verließ er die winzige Pinte, straffte trotz der drei vergeblichen Versuche die Schultern und ging zur nächsten Schänke hinüber, die sogar Fenster aus Glas hatte. Der Lehmputz war frisch gekälkt, das bunt gemalte Kneipenschild zeigte ein Kamel, das aus einem Weinfass soff. Wulfiard klopfte sich den Staub von Hemd und Hose, rückte die Tasche mit den Federn und Pergamentrollen zurecht und stieß die Tür auf.

Die Einrichtung unterschied sich kaum von den Dutzenden, ja Hunderten von Wirtshäusern, die er auf seiner Reise durch Scimmien betreten hatte. Auf der Theke thronte ein angeschlagenes Fass Bier, Bänke und Stühle verteilten sich um Tische verschiedener Größe. Die Oberflächen waren von unzähligen Ellbögen und Hosenböden poliert worden.

Der Batorianer hinter der Theke, dessen Schnürhemd erstaunlich sauber und dessen Gesicht erst kürzlich rasiert worden war, sah auf und musterte ihn. Seine immer noch gute Kleidung war staubig, was bei Reisenden ja nicht ungewöhnlich war. Doch an den Utensilien, die aus Wulfiards Tasche schauten, war er schnell als Haimamud erkennbar, der kaum mit Geld zahlen würde. Die Gäste des Betrunkenen Kamels, eine bunte Mischung ehrbarer Händler, Handwerker und Bauern aus der Gegend, sahen ihn wohlwollend an, widmeten sich aber bald wieder ihren Gesprächen und Geschäften.

Gleich beim Eintreten hatte Wulfiard die friedfertige und ausgelassene Stimmung rechtschaffener Leute gespürt, die die Mühsal des Tages hinunterspülten. Die Gespräche schwollen auf und ab, aus Ecken und Winkeln erschallte Gelächter. Dem Wirt fiel die Kinnlade hinunter, als Wulfiard zur Theke schritt, einen der Bierkrüge vom Tropfbrett nahm, sich in die Mitte des Raumes stellte und den leeren Krug in die Höhe hielt. Die Gäste wandten sich ihm zu, die Gespräche verstummten, ein jeder war neugierig, was wohl nun kam. Wulfiard zögerte und trieb die Spannung bis auf die Spitze, bis er mit wohlklingender Stimme, so dass man ihn auch im hintersten Winkel des Schankraumes hören konnte, in der Sprache der Batorianer deklamierte:

“Der Wirt, der den Gästen Gutes will,

füllt dem Skalden den Krug ganz schnell.

Mit süßem Wein oder frischem Biere

dem Haimamud er die Kehle schmiere.

Denn wenn der Dichter die Gäste erfreut,

der Wirt es ganz bestimmt nicht bereut!“

Einen Moment lang herrschte Stille, dann wurde geklatscht, mit Knöcheln auf Tischplatten geklopft und Bravo gerufen. Die Augen aller richteten sich auf den Wirt: Würde er geizig sein und den Haimamud hinauswerfen? Oder wollte er seinen Gästen etwas bieten und hielt ihn frei?

Der Wirt, ein Mann von kleiner Statur mit einem deutlichen Bauchansatz und schwarzem Haar, in das sich graue Strähnen mischten, verzog keine Miene. Aber in seinen Augen blitzte ein gutmütiger Humor, denn Wulfiard hatte gezeigt hatte, dass er sich auf einen treffenden Reim verstand.

„Wein oder Bier schütte ich dir ein,

sag, was darf es sein?“

Der Reim war etwas holperig, aber er erntete von seinen Gästen trotzdem Applaus. Ob reicher Händler oder Halbfreier, Wulfiard bemerkte, dass alle Leute in der Schänke nun den kunstvollen Dialog zwischen ihm und dem Wirt verfolgten. Da er nach der langen Wanderung des Tages mehr Durst auf ein kühles Bier als auf schweren Wein hatte, antwortete er:

„Bier! Der Spruch des Wirtes saß,

doch achte er der Verse Maß!“

Wieder lachten die Gäste, die das kleine Schauspiel offenbar recht vergnüglich fanden. Der Wirt füllte zwei Krüge mit Bier, baute sich neben Wulfiard auf, der fast einen Kopf größer war als er, und hob den Krug in seiner Rechten.

„Der erste gegen den Durst der Reise!“

Wulfiard nahm den Krug mit Dank entgegen und hob ihn ebenfalls in die Höhe.

„Auf den edelmütigen und spendablen Wirt!“, rief er und leerte den Humpen in einem Zug. Das Bier war kühl, das Fass kam wohl aus einem Eiskeller, und wie immer schienen die ersten Schlucke die köstlichste Labsal zu sein, die nach einem durchwanderten Tag denkbar ist. Und da der Wirt schon einen zweiten Krug bereithielt, musste er sich den Trunk nicht einmal aufsparen. Die Gäste waren inzwischen in so ausgelassener Stimmung, dass sie sogar applaudierten, als er den leeren Krug mit einem inbrünstigem Ahhhh! absetzte.

„Der zweite Krug für eine Geschichte!“, rief der Wirt, und augenblicklich verstummte das Gelächter und Gejohle im Schankraum. Eine gespannte Stille machte sich breit, denn Geschichten, von weitgereisten Skalden erzählt, waren eine willkommene Unterhaltung in einem verschlafenen Städtchen wie Shuyuk. Ein Krug Bier für eine Geschichte ist etwas unter Wert, dachte Wulfiard, aber wo es nun so gut begonnen hatte, wollte er nicht zurückstecken. Und genau genommen waren es ja sogar zwei Krüge, die er dafür erhielt. „Eine Geschichte, jawohl, eine kurze, denn ich bin vom langen Weg sehr hungrig. Mein Name ist Wulfiard von Gandra, vor siebzehn Monaten bin ich in höchster Gefahr über den Unsteten Pfad aus den Greiflanden gekommen. Nicht nur Geschichten erzähle ich, für jeden von euch finde ich einen passenden Vers. Der erste von euch, der sich meldet, hat Glück, denn nicht mehr als einen gefüllten Teller kostet ihn ein Pergament“, er klopfte auf seine Tasche, „auf dem ich den Vers verewigen werde.“ Wulfiard hatte sich einen freien Stuhl herangezogen, den er mit dem Rücken zur Theke aufstellte. Er setzte sich auf die Lehne und war so von jedermann zu sehen. „Doch bevor ich mit der Geschichte von dem Flickschuster beginne, der dem Gehörnten ein Schnippchen schlug, solltet ihr eure Becher füllen lassen!“ Er warf dem Wirt einen kurzen Blick zu, um ihm zu zeigen, dass er sein Publikum im Griff hatte.

Als die Arme der Gäste mit Bechern, Krügen und Pokalen in die Höhe schossen, sah der auch sehr zufrieden aus. „Los, los, los, Sello! Das ist die Gelegenheit zum Geldverdienen. Verteile geschwind die Getränke!“, scheuchte er seinen Schankgehilfen, einen stumpfsinnigen, pickeligen Jungen, der wohl mit ihm verwandt war. Selbst dieser tumbe Gehilfe erkannte, dass dies ein besonderer Abend werden würde, und so sputete er sich, die Gäste zu bedienen.

„… und als der Gehörnte die vielen zerschlissenen Schuhe sah, die der Flickschuster bei sich trug, dachte er, dass der sie selbst abgelaufen habe. Er wurde zornig, weil es demnach noch tausend Meilen bis zu dem Tengristempel sein mussten, den er zerstören wollte. Vor Wut ließ er die vier kleinen Steine in seiner Linken fallen. Aber nur für den Gehörnten waren sie klein, denn die Teile, die noch aus dem Boden schauten, waren immerhin so hoch wie ein Bergtroll. Der Gehörnte presste den großen Brocken in seiner rechten Faust vor Wut zusammen, bis er vollständig rund und glatt war. Dann ließ er auch ihn fallen und verschwand mit gewaltigen Schritten, so dass der Flickschuster ihn nach wenigen Augenblicken schon nicht mehr sah. Der Stein aber landete auf den vier kleineren und bietet dem Wanderer bis heute Schutz vor Regen und Schatten in der Mittagsglut. Ihr wisst, wo dieser Fünfstein steht und wo diese Geschichte sich zugetragen hat“, endete Wulfiard.

Für die Dauer einiger Herzschläge herrschte Stille im Schankraum, bis die Gäste aus der Welt zurückgekehrt waren, in die sie entführt worden waren. Dass die Geschichte sich ganz in der Nähe zugetragen haben sollte, begeisterte sie umso mehr. Applaus brach aus und endete erst, als der Wirt einen neuen Humpen Bier für Wulfiard brachte. Die Gäste merkten, dass auch sie ausgetrunken hatten und hielten Krüge und Becher in die Höhe. Der Wirt und sein Schankgehilfe beeilten sich, den Wünschen nachzukommen.

„Noch eine Geschichte!“

„Erzähl weiter!“

„Wirt, schenk ihm Dattelbrand ein, auf meine Kosten!“

„Ein Gedicht aus deiner Heimat!“

Solche und andere Rufe waren zu hören, aber Wulfiard schüttelte den Kopf. „Erst muss ich etwas essen. Wem ist ein Gedicht ein Stück Lammkeule wert?“

Wulfiard hatte erwartet, dass die eben noch begeisterten Gäste vornehme Zurückhaltung zeigten, wenn es ums Bezahlen ging. Aber er wusste auch, dass er einen Mann aussuchen und ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken musste, um seine Kunst in Brot zu verwandeln. Wenn erst einer eine Münze springen ließ, würden sich auch die anderen nicht lumpen lassen. Er sah sich um und entschied sich für einen Mann mit einem gutmütigen Grinsen und einem mächtigen Bauch, der sich unter seiner Dschellabah wölbte. „Mein Freund, was ist dein Beruf?“

„Ich bin Kesselflicker. Und ich wüsste nicht, was es über mich zu reimen gibt. Wenn du ein paar Verse findest, will ich dir gerne dein Essen bestellen“, antwortete der Mann.

Wulfiard musste nicht lange überlegen. Ein paar Zeilen, die sich auf jeden Mann ummünzen ließen, hatte er immer parat:

„Das Kesselflicken ist wahrlich Kunst,

es füllt nicht die Börse, aber den Wanst.

Heut´ sitzt der Flicker im gastlichen Haus

und sieht für euch alle ganz harmlos aus.

Doch morgen wird er bei euren Weibern klopfen,

um nicht nur die Löcher der Kessel zu stopfen!“

Die Gäste, die schon reichlich getrunken hatten, brachen in tosendes Gelächter aus. Wulfiard hatte den Dicken richtig eingeschätzt, denn er nahm ihm die Zote nicht übel. „Wirt, bring diesem blonden Halunken zu essen! Und du, Haimamud, spitz die Feder und schreib mir diesen Vers auf!“

Während Wulfiard schrieb und nebenbei an einer zarten und gut gewürzten Lammkeule kaute, kehrte Ruhe im Schankraum ein. Zwar schauten einzelne Gäste immer wieder zu ihm herüber, aber er ließ sich nicht beim Essen stören.

Schon während er die Geschichte vom Flickschuster erzählt hatte, waren neue Gäste durch die Tür gekommen und mit Schscht! und Pssst! begrüßt worden. Die Neuankömmlinge hatten sich möglichst still ihre Plätze gesucht. Vielleicht hatte es sich im Dorf herumgesprochen, dass ein Haimamud im Betrunkenen Kamel seine Kunst zum Besten gab.

Einer der Gäste, die während Wulfiards Vortrag hereingekommen waren, hatte sich einen Platz in einer dunklen Nische gesucht. Der Mann war überaus kräftig und hätte sogar gegen die mächtigsten Krieger aus Wulfiards Sippe bestehen können. Er schien etwas zu verbergen, denn die Augen in dem starren Gesicht wanderten unter halb gesenkten Lidern unablässig hin und her. In das Gesicht waren, soweit das durch den dichten Bart erkennbar war, zahlreiche schwarze Spuren eingebrannt, die nur von jahrelanger Arbeit an Esse und Amboss herrühren konnten. Die Hände aber waren zu sauber, als dass er vor kurzem sein Handwerk ausgeübt hätte.

Wulfiard, zu dessen Kunst auch gehörte, kleinste Regungen in den Gesichtern seiner Zuhörer zu beobachten, war nicht entgangen, dass der Schmied zusammenzuckte, als ein hagerer Mann mit vernarbten Wangen, schmutzigrotem Turban und einem goldverzierten Natterzahn in der Schärpe eintrat. Unbändiger Hass glühte in den Augen des Schmieds auf, und Wulfiard glaubte, der Mann würde sich jeden Moment auf den Neuankömmling stürzen, während er davon erzählte, wie der Flickschuster den Gehörnten hereinlegte. Dann riss der Kerl sich zusammen und zog sich weiter in den Schatten seiner Nische zurück, sodass das Narbengesicht ihn nicht sehen konnte.

Der Hagere hatte sich einen Platz an einem Fenster gesucht, und um ihn herum war ein Halbkreis leerer Stühle und Bänke entstanden. Die Gäste vermieden es, in seine Richtung zu sehen, und Sello, der pickelige Schankgehilfe, weigerte sich, die Bestellung des unheimlichen Mannes aufzunehmen. Der Wirt musste selbst hingehen, und nach einer knappen Antwort flüsterte der Mann eine Frage, wobei er mit einem Kopfnicken zu Wulfiard hinüber deutete.

Der war verwundert, dass ein einzelner Ssadesti sich so offen und unbehelligt an einem öffentlichen Ort zeigen konnte. Die Bande dieses Ssadec Tabar musste in dieser Gegend viel Einfluss besitzen. Aber jetzt galt es, den nächsten Krug und vielleicht ein paar Münzen zu verdienen! „Habt Dank, Kesselflicker, für diese reiche Speise! Sie war so gut gewürzt, dass ich wieder einen gewaltigen Durst verspüre.“

Der Dicke grinste und nahm das handgroße Stück Pergament entgegen, das Wulfiard mit den Versen beschrieben hatte. In den Monaten, die er sich in den Bual-Bator herumtrieb, hatte er auch die schwierige Schrift beherrschen gelernt.

„Dafür musst du mit einem anderen deinen Spaß treiben, Haimamud.“

Wulfiard nickte, nahm seinen leeren Humpen und stellte sich wieder in die Mitte des Raumes.

„Wer ist der nächste?“, rief er, und augenblicklich hatte er wieder die Aufmerksamkeit aller Gäste. „Wer füllt mir den Krug, damit ich die nächste Geschichte erzählen kann? Keiner? Ich weiß, wer es sein wird“, rief er, drehte sich mit einem Ruck um und fasste den Mann mit den schwellenden Muskeln ins Auge, der aus seiner Nische heraus das Geschehen beobachtete.

„Ein Schmied sitzt in der Ecke so still.

Ich frage mich, was er wohl hier will?“

Die Augen der Gäste und Zuhörer wandten sich dem Mann in dem dunkelgrünen Wams zu, dem das gar nicht recht zu sein schien.

„Will er wohl eine Werkstatt eröffnen?

Und seltsames Volk mit Schwertern bewaffnen?“

Wulfiard war erstaunt, wie diese Worte wirkten, obwohl er sie mit Bedacht gewählt hatte. Viele Gesichter wandten sich dem Ssadesti zu und sofort wieder von ihm ab. In nicht wenigen war Bestürzung, ja Erschrecken zu lesen. Der Ssadesti warf einen Blick auf den Schmied, der ihm den Rücken zuwandte, zog die Stirn kraus, wandte sich ab und sah aus dem Fenster.

„Oder will er des Skalden Laune erhellen

und ihm einen vollen Krug noch bestellen?“

Die letzten Worte lösten die Anspannung, die plötzlich spürbar geworden war. Der Wirt begann laut zu lachen, und auch wenn es etwas gekünstelt klang, stimmten die Gäste ein. Immer noch traf der eine oder andere schnelle Blick den hageren Mann in dem schmutzigweißen Burnus mit der breiten Schärpe. Der tat, als ginge ihn das nichts an und starrte weiter aus dem Fenster.

„Lass dich nicht lumpen, Schmied!“

„Lass die Luft aus seinem Becher!“

„Wir wollen noch eine Geschichte hören.“

Bei so vielen ermunternden Zurufen konnte der Mann nicht anders. Er zeigte ein griesgrämiges Gesicht, stand auf und bahnte sich seinen Weg durch die volle Schänke zu Wulfiard hinüber, der sich hingesetzt hatte. Auf dem Weg ließ er sich an der Theke einen vollen Humpen vom Wirt geben, den er vor Wulfiard abstellte. Dabei beugte er sich zu ihm hinunter und legte ihm eine seiner riesigen Hände auf die Schulter. Für die Leute um sie herum mochte das wie eine freundschaftliche Geste wirken, aber Wulfiard durchzuckte ein Schmerz, der ihm fast den Atem raubte. Der Daumen des Schmieds bohrte sich mit unwiderstehlicher Kraft in das weiche Fleisch oberhalb seines Schlüsselbeins. Dennoch ließ sich Wulfiard nichts anmerken. „Nun, da kann ich ja wohl nicht anders, Haimamud. Hier ist dein Bier, aber beim nächsten Mal treibe deinen Schabernack nicht mit mir.“ Der Schmied sprach so, dass niemand mithören konnte.

Als Wulfiard nickte, ließ der Mann ihn los. „Aber natürlich! Willst du dich nicht setzten, Freund, und ich schreibe die Verse für dich auf?“, fragte er laut.

Der Bärtige mochte ihm an Kräften überlegen sein, aber mit diesen Worten zwang er ihn, sich niederzulassen, damit seine Ablehnung nicht das Aufsehen erregte, das er ja vermeiden wollte.

Der dicke Kesselflicker beugte sich herüber. „Ich habe dich noch nie hier gesehen, Schmied. Kommst du von weit her?“

„Von Chasar, aber sagt, was ist das für ein Mann in dem weißen Burnus, den alle so verstohlen beobachten?“, erwiderte der.

Will der Schmied von seiner eigenen Person ablenken? Wulfiard schien es, als tue er absichtlich unwissend. Wollte er nur in Erfahrung bringen, ob die Leute in Shuyuk allesamt Anhänger dieses Ssadec Tabar waren?

Das Gesicht des Kesselflickers wurde bei der Frage des Fremden zu einer Maske, und er kniff die Augen zusammen. „Hast du noch nie von Ssadec Tabar gehört, Schmied? Er ist der mildtätige Helfer der Elenden, der Gönner der Armen, der Herrscher über das Mirkashtal, der bald den Norden Bual-Bators in die Freiheit führen wird“, sagte der Kesselflicker, wobei er einen schnellen Blick in die Richtung des Räubers warf.

„Mirkashtal?“ Auch Wulfiard tat ahnungslos, denn er hatte schon von den Tuodden von diesem Tal gehört. Die Antwort des Dicken hatte für ihn wie auswendig gelernt geklungen.

„Das Verschwundene Tal wird es genannt, denn niemand ist in der Lage, es aufzufinden“, erklärte der Dicke. „Aber es ist nicht ratsam, zuviel Interesse an diesem Ort zu zeigen.“

„Was passiert denn dann? Der Mann da drüben scheint doch ganz harmlos zu sein“, sagte Wulfiard in naivem Tonfall.

„Seht ihr den Natterzahn in seiner Schärpe?“ Der Kesselflicker hatte sich weit vorgebeugt, so dass er jetzt beinahe in die Ohren Wulfiards und des Schmieds sprach. „Mit diesen Dolchen haben schon zahlreiche Bürger, Geweihte des Jungen wie des Alten Tengris, Büttel, ja selbst Murdirs Bekanntschaft gemacht, wenn sie den Wünschen Tabars nicht entgegengekommen sind. Es ist ihre Erkennungszeichen: Wer einen silbernen Natterzahn trägt, hat schon mindestens zwölf Mal im Namen Tabars gemordet. Der hier trägt sogar einen Dolch mit goldenem Griff, weil er die doppelte Anzahl Männer und Frauen ins Jenseits geschickt hat.“ Der Kesselflicker, der offenbar keine Anhänger der Ssadesti war, deutete auf die Gänsefeder, mit der Wulfiard in der Zwischenzeit den Vers für den Schmied niedergeschrieben hatte. „Eine seltsame Feder hast du da. Benutzt man solche in deiner Heimat?“

Auch der Schmied war interessiert und betrachtete das Schreibgerät. Wulfiard gab sie dem Kesselflicker in die Hand, aus der Innenseite der steifen Weste zog er eine weitere Feder hervor. Mindestens ein Dutzend in verschiedenen Farben steckte darin. Die Federn waren mit einem Metallröhrchen versehen, das eine schräge Spitze besaß. In das konische Ende passten die Federkiele hinein, und weil dieser Aufsatz etwa halbfingerdick war, konnte Wulfiard das Schreibgerät besser fassen. Die Vorrichtung hatte den Vorteil, dass mehr Tinte ins Innere passte und die Spitze der Feder nicht mehr nachgeschnitten werden musste. Wulfiard war stolz auf seine Erfindung, die allerdings ein Geheimnis barg, das er den beiden nicht verriet.

Eingehend betrachteten die Männer Wulfiards Erfindung, waren sie doch von Berufs wegen mit Metall befasst. Der Kesselflicker staunte, wie fein und gleichmäßig die Röhrchen gearbeitet waren, und prüfte die Spitze mit dem Zeigefinger. Sofort zeigte sich ein kleiner Blutstropfen auf der Kuppe. „Beim Alten Tengris, die muss ein sehr geschickter Feinschmied hergestellt haben“, rief er und steckte den Finger in den Mund.

„Diese Federspitzen habe ich selbst ersonnen und sie taugen auch zu anderen Zwecken“, sagte Wulfiard, verriet aber nicht mehr. „Ein Goldschmied in Runland hat sie mir angefertigt. Er war so begeistert von der Idee, dass ich kaum etwas bezahlen musste, weil ich ihm die Erlaubnis erteilte, die Spitzen als seine Erfindung auszugeben.“

Auch der Schmied betrachtete die Messingarbeit genau und nickte anerkennend. Dabei hielt er sich immer so, dass er dem Ssadesti den Rücken zukehrte.

Die anderen Gäste hatten mitbekommen, dass der fremde Skalde satt war. Rufe nach einer neuen Geschichte wurden laut, und Wulfiard nahm gerne wieder den erhöhten Platz auf der Stuhllehne ein, denn es war ihm ganz recht, von dem seltsamen Schmied fortzukommen. Als die Leute jubelten, stellte sich eine innere Zufriedenheit ein, die er nur an wenigen Abenden verspürte. Hier erhielt er Lob und Anerkennung, ohne dass er Blut vergießen musste, wie seine Sippe es in der fernen Heimat verlangt hatte. „Hört die Geschichte von dem Krieger, der in Echsenblut badete und so unverwundbar wurde …“

Die Schänke war nun bis auf den letzten Platz gefüllt, der Wirt und sein Gehilfe kamen kaum nach, die Wünsche der Gäste zu erfüllen. Wulfiard erkannte an seinem zufriedenen Gesichtsausdruck, dass er um ein Nachtlager nicht würde betteln müssen.

Der Applaus nach dem Ende seiner Geschichte war gerade abgeebbt, als hinter der Theke eine junge Frau erschien, bei deren Anblick Wulfiard beinahe das Herz stehen geblieben wäre. Sie war anmutig, auch wenn ihr die Üppigkeit einer Medeme oder die gefährliche Leidenschaft einer Sharina fehlte. Vielmehr war eine Zartheit und Reinheit an ihr, die in ihm augenblicklich den Wunsch hervorrief, sie zu beschützen. So wie der Ssadesti mit dem narbigen Gesicht Angst um sich herum verbreitete, so schien um diese Schönheit mit den großen braunen Augen und den langen dunkelbraunen Haaren eine Aura der Vornehmheit und Friedfertigkeit zu sein. Wäre sie größer und spitzohrig gewesen, er hätte sie für eine bronzehäutige Elfenfrau gehalten, die in den Wäldern der Greiflande lebten. Die Geräusche in der Schänke schienen leiser zu werden, Schimpfworte und Flüche wurden nur noch geflüstert, niemand schnäuzte mehr in den Ärmel oder spuckte auf den Boden.

„Geh zurück in deine Kammer!“, hörte Wulfiard den Wirt zischen, der wohl ihr Vater war. Aber hinter der zarten Anmut verbarg sich ein resolutes Wesen, denn die Tochter griff nach den vollen Humpen und trug gleich sechs davon zum nächsten Tisch.

Diese Frau muss ich kennen lernen, dachte Wulfiard, koste es, was es wolle. Sicher ist sie nicht so unbescholten, wie sie tut, und hat die Liebe schon kennen gelernt. Und schließlich bin ich ein Skalde, weitgereist und unwiderstehlich. Er stand auf, als die Schöne auf ihn zu kam. Im Kerzenlicht leuchteten dunkelrote Reflexe in ihrem Haar auf wie Glut unter der Asche. Der dicke Kesselflicker griff nach seinem Arm, um ihn zurückzuhalten, denn er hatte die Blicke Wulfiards gesehen. „An Shehera wirst du dir die Zähne ausbeißen, mein Freund“, sagte er, aber Wulfiard hörte nicht auf ihn.

„Eine Jungfrau, so rein wie eine Meeresbrise,

graziös wie eine Hindin auf schattiger Wiese,

erscheint dem einsamen Mann wie ein Traum,

in diesem heißen Land glaubt er’s kaum.

Hält sie für des Jungen Tengris Gruß,

erhofft sich von ihr einen einzigen Kuss!

Die Gäste waren gespannt, wie die Wirtstochter auf den gutaussehenden Fremden und seine Verse reagieren würde. Ihre Mundwinkel zuckten, spöttisch oder anerkennend, das wusste Wulfiard nicht zu deuten. Ihre Blicke blieben an seinem goldblonden Haar hängen.

Es war nun so still, dass man den Lärm aus den anderen Schänken um den Marktplatz hören konnte. Wie würde Shehera antworten? Sie tat es auf eine Weise, die Wulfiard zum ersten Mal seit Monaten die Sprache verschlug:

„Ein Skalde, der meint, nur reimen zu müssen,

und schon kann er eine jede küssen,

der denkt wie der Hahn auf dem Haufen Mist,

dass er von allen der bunteste ist!“

Die Spannung der Gäste löste sich in brüllendem Gelächter auf. Niemand hatte damit gerechnet, dass Shehera dem Haimamud ausgerechnet mit Versen das Wasser reichen konnte. Wulfiard erkannte, dass es keinen Zweck hatte, mit einem weiteren anzüglichen Reim zu antworten, denn die schöne junge Frau in dem knöchellangen Rock hatte die Gäste auf ihrer Seite. Er verbeugte sich daher vor ihr und spendete als erster Applaus.

Als die Leute sich wieder ihren Gesprächen zuwandten, näherte er sich Shehera. Er sah, wie ihr Vater misstrauisch her­­übersah, und hielt daher gebührend Abstand. „Einer Frau wie dir begegnete ich nie zuvor“, sagte Wulfiard. Worte, die ihm bei anderen Frauen leicht von den Lippen kamen, schienen ihm auf einmal banal und albern. Zum ersten Mal wusste er nicht, ob er das richtige sagte, aber er fuhr mit leiser Stimme fort. „So anmutig wie eine Lilie. Das … das ist eine Blume aus meiner Heimat. Sicher … sicher hältst du mich für einen Bruder Leichtfuß, aber erlaube mir, dich morgen wiederzusehen, schöne Shehera!“

Während sie sich die langen Haare hinter die Ohren strich, musterte die Batorianerin sein Gesicht. Vielleicht las sie darin, dass seine Worte keine dahingeworfenen Phrasen waren, vielleicht fand sie ihn, den großgewachsenen, blonden Fremden durchaus einen zweiten Blick wert. „Ich hole morgen Wein von einem Bauern an den Hängen des Tengriswalls ab. Du kannst mitkommen, auf dem Eselskarren ist Platz für zwei. Auf dem Rückweg wirst du aber laufen müssen, sonst schafft das alte Grautier es nicht“, sagte sie mit weicher Stimme.

„Ich danke dir! Morgen werde ich zur Stelle zu sein.“ Er würde noch ihren Vater um Erlaubnis fragen - ein Gedanke, der ihm zum ersten Mal im Leben kam. Aber Shehera war auch nicht wie andere Frauen.

Inzwischen waren die drängenden Rufe nach einer weiteren Geschichte wieder lauter geworden. Wulfiard setzte sich wieder auf die Stuhllehne und hob den leeren Humpen. „Wenn mir einer den Durst austreibt, der mich wie ein Damön befallen hat, dann werde ich euch erzählen, wie eine Handvoll Runländer eine zehnfache Übermacht Korsaren besiegte, die ihr Dorf plündern wollten. Und bestellt auch selbst, damit euch der Durst später nicht ablenkt.“

Der Wirt nickte zu diesen Worten, und gleich zwei Gäste waren bereit, für die kriegerische Geschichte zu zahlen. Wulfiard stellte einen Krug zwischen seine Füße auf die Sitzfläche, den zweiten trank er in einem Zug aus. Während er erzählte, verließ der Ssadesti das Betrunkene Kamel, und der sonderbare Schmied vertiefte sich in ein geflüstertes Gespräch mit dem Kesselflicker. Da der Räuber verschwunden war, getraute der Dicke sich wohl, mehr über diese Horde zu erzählen.

Der Abend wurde noch lang und fröhlich, auch wenn Wulfiard traurig war, als sich die schöne Shehera zurückzog. Bis dahin war er mit den Augen unentwegt ihren Bewegungen gefolgt und hatte zu ergründen versucht, warum ihr Anblick solch eine Wirkung auf ihn hatte.

Als die Gäste nach und nach heim gegangen waren, war Wulfiard mit dem Wirt allein. „Hat sich das Geschäft für dich gelohnt, Wirt?“

„Ja, und ich weiß, was du jetzt fragen wirst: Du suchst ein Nachtlager.“

Wulfiard glaubte, eine echte Glückssträhne zu haben. Also wollte er versuchen, noch etwas mehr herauszuschlagen.

„Nun ja, das auch. Aber glaubst du nicht, dass mir ein Lohn dafür gebührt, das ich deine Einnahmen verdoppelt habe?“

„Nun lass mal gut sein, Haimamud. Ich habe doch gesehen, dass du das eine oder andere Bronzestück für deine Geschichten und Verse eingesteckt hast.“

„Na ja.“ Wulfiard grinste. „Einen Versuch war es wert.“

„Dafür biete ich dir ein sauberes Bett. Im linken Zimmer am Ende des Flures schläft zwar schon ein Mann, aber er hat nur für ein Bett bezahlt. Das andere kannst du haben.“

Das ist doch schon etwas, dachte Wulfiard, der gewohnt war, sich das Bett mit vier oder fünf Fremden teilen zu müssen oder im Stall zu schlafen. „Hab´ Dank, äh …“

„Mein Name ist Hodscha ibn Rastu Birscha ibn Melahat. Oder einfach Hodsch“, sagte der Wirt, „und wenn du magst, unterhalte morgen meine Gäste wieder. Solange keine Langeweile aufkommt, soll es mir recht sein. Aber lass deine Finger von meiner Tochter, sonst wird dir das schlecht bekommen. Wie bist du übrigens über den Unsteten Pfad gekommen?“

„Ohne Gefahr, aber hinter mir sind Waffenschmuggler in die Tiefe gestürzt.“

Hodsch nickte. „Ein gerechtes Urteil. Aber wer hat es gesprochen und ausgeführt? Der Berg selbst?“

„Ich weiß es nicht. Vielleicht lebt ja doch ein Zauberer im Tempel über dem Nordtor.“

„Ja vielleicht.“ Hodsch schwieg eine Weile, bis er gähnen musste. „Denk daran: Lass die Finger von meiner Tochter!“

„Natürlich! Nochmals Danke, Hodsch, und eine gute Nacht!“

Das Gästezimmer war leicht zu finden, schließlich hatte das Betrunkene Kamel nicht mehr als fünf davon. Ein Licht hatte Hodsch ihm nicht mitgegeben, und so betrat Wulfiard im Dunkeln das Zimmer. Er hatte die Tür gerade hinter sich geschlossen, als er eine Klinge an seiner Kehle spürte.

Das Verschwundene Tal

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