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Einführung von Peter Zimmerling Entstehung und Hintergrund
ОглавлениеWährend der beiden letzten Jahre im Gefängnis wurden Dietrich Bonhoeffers Glaube und Leben einer außerordentlichen Bewährungsprobe ausgesetzt. Einblick in sein Ringen geben vor allem „Widerstand und Ergebung“ und „Brautbriefe. Zelle 92“, die beiden Briefsammlungen aus der Haft, die postum als Bücher erschienen sind.1 Sie enthalten zusammen mit dem letzten Band der Gesamtausgabe der Werke Dietrich Bonhoeffers2 alle Texte, die während der Gefängniszeit entstanden sind.
Die im vorliegenden Buch wieder abgedruckten Gebete, Gedichte und Gedanken enthalten den Kernbestand an Texten Bonhoeffers aus dem Gefängnis, der schon 1945, also unmittelbar nach dem Krieg, erstmals erschienen ist.3 Die Texte wurden vom Ökumenischen Rat in Genf veröffentlicht, um an das Martyrium Bonhoeffers und der anderen Mitglieder der Bekennenden Kirche zu erinnern. Es sollten sechs Jahre vergehen, bis eine erste erweiterte Sammlung der Gefängnistexte unter dem Titel „Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft“ 1951 erschien. Bonhoeffers Freund und theologischer Gesprächspartner Eberhard Bethge (1909–2000) hatte als Erbe von dessen Nachlass die Auswahl vorgenommen. Es fehlte darin neben den Briefen der Adressaten auch der Briefwechsel Bonhoeffers mit seiner Verlobten Maria von Wedemeyer, die dessen Veröffentlichung nicht zugestimmt hatte. In einer erweiterten Neuauflage von „Widerstand und Ergebung“ aus dem Jahr 1970 wurden immerhin die Briefe der Adressaten mit veröffentlicht. Die Brautbriefe von Dietrich Bonhoeffer und Maria von Wedemeyer wurden erst 1992 nach dem Tod der Verlobten als eigenständiges Buch publiziert.
„Widerstand und Ergebung“ fand weltweite Resonanz. Es erschienen nicht nur eine Fülle von Auflagen auf Deutsch, sondern nach und nach weltweit Übersetzungen in den wichtigsten Sprachen (bis hin zu chinesischen, japanischen und koreanischen Ausgaben). „Widerstand und Ergebung“ wurde zu einem religiösen Klassiker. Das Gedicht „Von guten Mächten wunderbar geborgen“ avancierte zu einer der beliebtesten geistlichen Dichtungen des 20. Jahrhunderts.4
Beim Lesen des vorliegenden Buches fragt man sich unwillkürlich, wie es möglich war, dass Bonhoeffer trotz der Extremsituation des Gefängnisses – vor allem am Anfang und am Ende seiner Inhaftierung musste er jederzeit damit rechnen, hingerichtet zu werden – Texte verfassen konnte, die eine derart hohe theologische Qualität und spirituelle Dichte erkennen lassen. Bonhoeffer hatte ja in der Haft nicht nur eine, sondern eine Reihe von Herausforderungen zu bewältigen: an erster Stelle die Trennung von der Familie, mit der Bonhoeffer bis dahin gewohnt war, das Leben zu teilen. Die Bonhoeffers bildeten einen regelrechten Familienclan, bestehend aus Eltern, Großmutter, Geschwistern und deren Ehepartnern, Neffen und Nichten, Tanten und Onkel. In der Familie stand man bedingungslos füreinander ein. Die Nazi-Diktatur, in deren Ablehnung sich alle einig waren, hatte die Familie noch näher zusammengeschlossen. Dazu kam die Trennung von Maria von Wedemeyer, einer 18-jährigen Frau, mit der Bonhoeffer sich unmittelbar vor der Verhaftung verlobt hatte. Erst jetzt lernte er sie durch Briefe und Sprecherlaubnisse näher kennen. Ihre Prägung war so ganz anders als, er es von seinen Familienmitgliedern her kannte: gefühlsstark, intensiv, unmittelbar. Dadurch wurde er herausgefordert, noch einmal neu über seine Vorstellungen vom eigenen Leben und vom Mannsein nachzudenken. Eine zusätzliche Herausforderung stellte in diesem Zusammenhang die besondere Gestalt der Frömmigkeit der Verlobten dar: Viele Mitglieder der Familie Maria von Wedemeyers, auch sie selbst, waren mit der wenige Jahre zuvor entstandenen Evangelischen Michaelsbruderschaft eng verbunden.5 Marias Vater, der im Krieg bereits gefallen war, hatte 1931 als einziger Laie zu den sieben Gründungsmitgliedern der Bruderschaft gehört. Während Bonhoeffer von Karl Barth her eine wortorientierte Spiritualität vertrat, war die Frömmigkeit der Michaelsbrüder symbol- und ritualgeprägt, also sinnlich ausgerichtet. Eine weitere Herausforderung des Gefängnisaufenthalts bestand darin, dass Bonhoeffer hier erstmals in näheren Kontakt mit säkularen, religionslosen Menschen kam. Die Begegnung mit ihnen war neben der Beziehung zu Maria von Wedemeyer eine Art Auslöser und Katalysator für neue theologische Überlegungen, die ihn nach seinem Tod weltweit bekannt machten. Last, not least machte Bonhoeffer besonders in den ersten Monaten die Trennung von Eberhard Bethge, seinem mehrjährigen engen Freund und im Laufe der Zeit unverzichtbar gewordenen theologischen Gesprächspartner, schwer zu schaffen. Als dank der Hilfe eines Gefängniswärters der konspirative Briefwechsel zwischen beiden begann, wurde dieser zum Resonanzraum seiner revolutionären theologischen Gedanken zum religionslosen Christentum und zur nicht-religiösen Interpretation religiöser Begriffe.
Ein wichtiger geistlicher Grund dafür, warum es Bonhoeffer gelang, das Schicksal der Inhaftierung in kreative persönliche, spirituelle und theologische Erkenntnisse zu verwandeln, war die Tatsache, dass er die Jahre im Gefängnis als eine mystische Gleichgestaltung mit Christus erfuhr.6 Bereits vorher liebte er Menschen, die gescheitert waren. Darum wurde im Gefängnis ein Traum für ihn wahr: Er gehörte dort selbst zu den Gescheiterten, die die Ereignisse der Weltgeschichte von unten erlebten. Bonhoeffer schrieb in „Nach zehn Jahren“: „Es bleibt ein Erlebnis von unvergleichlichem Wert, dass wir die großen Ereignisse der Weltgeschichte einmal von unten, aus der Perspektive der Ausgeschalteten, Beargwöhnten, Schlechtbehandelten, Machtlosen, Unterdrückten und Verhöhnten, kurz der Leidenden sehen gelernt haben …, dass das persönliche Leiden ein tauglicherer Schlüssel, ein fruchtbareres Prinzip zur betrachtenden und tätigen Erschließung der Welt ist als persönliches Glück.“
Bonhoeffer hat seine Leiden weder gesucht noch sich selbst zugefügt. Sie sind ihm widerfahren. Indem er sie als von Gott geschickt interpretiert, eröffnet sich ihm ein schöpferischer Umgang mit ihnen. Trotz seiner Inhaftierung verbittert er nicht. Dass sein Schicksal von Gott kommt, gibt ihm die Kraft, es zu ertragen.7 Die Texte aus dem Gefängnis offenbaren an vielen Stellen, dass es Bonhoeffer nicht leicht gefallen ist, zu dieser Sicht zu gelangen. Er hat sich zunächst gegen sein Schicksal aufgelehnt. Erst im Lauf der Zeit wurde ihm klar, dass das Gefängnis der Weg Gottes mit seiner Seele war. Dieser Glaube befähigte Bonhoeffer am Ende der Gefängniszeit, den Märtyrertod zu sterben.
In einer der letzten Besprechungen im Führerhauptquartier befahl Hitler am 5. April 1945, dass Oster, Canaris, Dohnanyi und Bonhoeffer als Mitarbeiter des Amts Abwehr – einer Militärbehörde, die offiziell militärische Spionage und Spionageabwehr betrieb, deren leitende Mitarbeiter aber Hitler zu beseitigen versucht hatten – nicht überleben sollten. Bonhoeffer war vorher aufgrund von Luftangriffen aus Berlin ins Konzentrationslager Buchenwald verlegt worden. Anfang April hatte man ihn nach Regensburg und Schönberg im Bayerischen Wald gebracht. Von dort wurde er am 8. April ins KZ Flossenbürg geholt, wo er im Morgengrauen des 9. April erhängt wurde. Unmittelbar vor dem Abtransport zur Hinrichtung nach Flossenbürg trug Bonhoeffer einem englischen Offizier, Payne Best, der mit ihm zusammen gefangen war, Grüße an den englischen Lordbischof George Bell auf. Best, der als Nachrichtendienstoffizier dafür professionell geschult war, erinnerte sich nach dem Krieg genau an Bonhoeffers Worte, zumal dieser sie ihm zweimal zum Auswendiglernen vorgesprochen hatte.8 „Nach meiner besten Erinnerung waren dies Dietrichs genaue Worte: ‚Bitte überbringen Sie diese Nachricht von mir an den Bischof von Chichester, sagen Sie ihm, für mich ist dies das Ende, aber auch der Anfang – mit ihm glaube ich an den Grundsatz unserer universalen christlichen Brüderlichkeit, der über allem Hass zwischen den Völkern steht, und dass unser Sieg gewiss ist …‘“9 Diese letzte erhaltene Nachricht zeigt, dass Bonhoeffer seiner der Erde zugewandten Theologie und Spiritualität bis zum Tod treu geblieben ist. Er stirbt im Glauben an seine persönliche Auferstehung, wie es der allein bekannt gewordene erste Teil der Worte bezeugt: „Für mich ist dies das Ende, aber auch der Anfang.“ Dabei geht seine Hoffnung aber über die persönliche Auferstehung hinaus. Bonhoeffer stirbt, indem er – gegen den äußeren Augenschein – festhält am Vertrauen auf den endgültigen Sieg des Reiches Gottes auf Erden über allen Unfrieden und Hass zwischen den Völkern. Ein kurz vor der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands geradezu irrwitziger Gedanke! Dies umso mehr, wenn man sich vor Augen hält, dass die Siegermächte den Plan verfolgten, Deutschland zu einem Agrarland zu machen, damit von ihm nie wieder ein Krieg ausgehen könne. Auf dem Weg zum Agrarstaat wären unweigerlich Millionen von Deutschen verhungert. Bonhoeffers Vertrauen entspricht mystischer Glaubenszuversicht, die von der Gleichgestaltung mit dem Schicksal Jesu Christi abgeleitet ist: victor quia victima – der Sieg des Lebens wird allein durch die Niederlage des Kreuzestodes hindurch errungen. Die bedingungslose Kapitulation Deutschlands ist in Bonhoeffers Augen der einzig mögliche Weg zu einem Neuanfang.
Dass Bonhoeffer im Gefängnis vom Glauben an einen persönlichen und gemeinschaftlichen Neuanfang getragen wurde, belegen auch die Erinnerungen Fabian von Schlabrendorffs, einem der wenigen aus dem engeren Kreis der Verschwörer gegen die Nazi-Diktatur, die den Krieg überlebt haben.10 Im Gefolge des Scheiterns des Attentats auf Hitler am 20. Juli 1944 saß dieser zusammen mit Bonhoeffer seit Herbst 1944 im Untersuchungsgefängnis der Gestapo in der Prinz-Albrecht-Straße in Berlin. Beide nutzten während dieser Zeit jede Gelegenheit, um sich auszutauschen. „Dietrich Bonhoeffer berichtete mir von seinen Vernehmungen. Wie er gleich beim ersten Mal mit der Folter bedroht wurde, in welch erpresserischer Weise die Verhandlungen selbst durchgeführt wurden. Der Ausdruck, mit dem er seine Vernehmungen kennzeichnete, war kurz und bündig: widerlich! … Aber er ließ sich äußerlich nichts anmerken. Immer war er guter Laune, immer gleichbleibend freundlich und gegen jedermann zuvorkommend, sodass er zu meinem eigenen Erstaunen binnen kurzer Frist seine nicht immer von Menschenfreundlichkeit erfüllten Wärter psychisch kaptiviert hatte. In dem Verhältnis zwischen uns war bezeichnend, dass er eher immer der Hoffnungsvolle war, während ich zuweilen unter Depressionen litt. Immer war er es, der einem Mut und Hoffnung zusprach, der nicht müde wurde zu wiederholen, dass nur der Kampf verloren ist, den man selbst verloren gibt. Wie viel Zettel hat er mir zugesteckt, auf denen der Bibel entnommene Worte des Trostes und der Zuversicht von seiner Hand geschrieben waren. Auch seine eigene Lage schilderte er optimistisch.“11 Bonhoeffer hatte offensichtlich die innere Kraft, dem zu Depressionen neigenden Schlabrendorff neue Zuversicht zu vermitteln. Dazu bediente er sich zum einen des Mittels des gesunden Menschenverstands: „Nur der Kampf [ist] verloren …, den man selbst verloren gibt.“ Zum anderen gebrauchte er theologisch-geistliche Mittel: Er steckte ihm Zettel zu, auf denen er biblische Worte des Trostes und der Zuversicht handschriftlich notiert hatte, also solche Bibelworte, die Schlabrendorff aufgrund seiner Gemütslage gerade brauchte.