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Bedeutung für heute
ОглавлениеAls Dietrich Bonhoeffer von den Nationalsozialisten am 9. April 1945, also unmittelbar vor Kriegsende, im bayerischen KZ Flossenbürg hingerichtet wurde, war er gerade 39 Jahre alt. Dennoch ist er heute der im In- und Ausland wohl bekannteste und meist zitierte deutsche Theologe des vergangenen Jahrhunderts. Seine Faszinationskraft gerade unter der jüngeren Generation ist ungebrochen. Ursache dafür ist einerseits Bonhoeffers Glaubwürdigkeit: Er hat sein Leben für seine Überzeugung eingesetzt. Zum anderen ist es der spirituelle Gehalt der im Gefängnis entstandenen Texte, der sie bis heute aktuell sein lässt. Schließlich hat auch Bonhoeffers theologische Suche nach einer neuen Sprache, seine Forderung nach einer „nicht-religiösen Interpretation biblischer Begriffe“, angesichts von zunehmender Säkularisierung und Entkirchlichung nichts an Bedeutung eingebüßt.
Dietrich Bonhoeffers Worte besitzen bis heute Autorität, weil er für das, was er sagt, mit seiner ganzen Existenz einstand. Es ist viel, wenn das von einem Menschen gesagt werden kann, erst recht dann, wenn ihm das Nachteile bringt – bis hin zu Verhaftung, Gefängnis, Folter und Tod.
Dabei gewann der Gefängnisort für Bonhoeffer in spiritueller, theologischer und menschlicher Hinsicht wesentliche Bedeutung. Schon bei den Wüstenvätern im 4. Jahrhundert spielte das Bleiben in der Zelle für das geistliche Leben eine herausragende Rolle.12 Die Zelle sollte den Mönch lehren, nicht vor sich selbst davonzulaufen, sondern auch die problematischen Seiten des eigenen Charakters wahrzunehmen und in reifer Weise mit ihnen umzugehen. Es lag angesichts des erzwungenen Zellenaufenthalts im Gefängnis für Bonhoeffer nahe, Parallelen zum freiwilligen Leben in einer Mönchszelle zu ziehen. Tatsächlich führte er in seiner Gefängniszelle einen geistlichen Kampf, der in mancher Hinsicht an den Kampf des Antonius von Ägypten mit den Dämonen erinnert.13 Antonius war der erste christliche Mönch überhaupt. Wie für Antonius stellt sich auch für Bonhoeffer der geistliche Kampf in seiner Gefängniszelle wesentlich als Kampf mit verführerischen Gedanken, speziell mit der Macht der Erinnerungen dar. Bonhoeffer erkennt: „Aber die Dankbarkeit verwandelt die Qual der Erinnerung in eine stille Freude.“14 Dadurch wird er fähig, im Gefängnis ohne Bitterkeit über unerfüllte Wünsche zuversichtlich in der Gegenwart zu leben.
Im Brief an Eberhard Bethge vom 22.12.1943 schreibt Bonhoeffer, dass er in der „Imitatio Christi“ des Thomas von Kempen den Rat gefunden hätte: „Custodi diligenter cellam tuam, et custodiet te“ – „Halte treu Wacht über deiner Zelle, und sie wird Wacht halten über dich.“15 Der Bonhoeffer-Biograf Ferdinand Schlingensiepen sieht darin den Grund, warum Bonhoeffer sich in dieser Zeit morgens und abends zu bekreuzigen begann.16 Vielleicht muss diese Erklärung noch erweitert werden. Bonhoeffer versuchte seit der Entdeckung der Bergpredigt als konkreter Lebensanweisung den Brückenschlag über die Reformation hinweg zu mittelalterlichen und altkirchlichen spirituellen Einsichten und Methoden. Dabei entdeckte er den Grundsatz des geistlichen Lebens, dass nicht nur das Innere das Äußere prägt, sondern auch das Äußere das Innere beeinflusst. Da es trotz des Vorhandenseins einer Kirche im Gefängnis keine Gottesdienste gab, begann Bonhoeffer, in seiner Zelle regelmäßig für sich allein Andachten zu halten. In einem Brief an Eberhard Bethge vom 21.11.1943 schrieb er: „Ich habe die Anweisung Luthers sich ‚mit dem Kreuz zu segnen‘ bei Morgen- und Abendgebet ganz von selbst als eine Hilfe empfunden. Es liegt darin etwas Objektives, nach dem man hier besonderes Verlangen hat.“17 Rituale, sinnlich wahrnehmbare Gesten, sind gerade in persönlich schwierigen Zeiten eine große Hilfe für die Gestaltung des Glaubens. Um den Herausforderungen der Inhaftierung standzuhalten, brauchte Bonhoeffer innere und äußere Disziplin. Er hat diese bis heute gültige Erkenntnis beherzigt, indem er sich neben einem klar strukturierten geistlichen Leben auch einen klaren äußeren Tagesablauf verordnete: So stand er jeden Tag um 6 Uhr auf, wusch sich kalt ab, machte Turnübungen etc., um sich fit zu halten. Schon die alten Römer wussten: mens sana in corpore sano – ein gesunder Geist in einem gesunden Körper.
Wir leben in einer Gesellschaft, in der Einschränkungen des Lebens wie Schwierigkeiten, Misserfolge, Leiden, Krankheit und Schmerzen ausschließlich als Störungen betrachtet werden, die möglichst schnell zu beseitigen bzw. zu überwinden sind. In der Konsequenz werden alle Formen von Lebenseinschränkung verdrängt. Sie sind im allgemeinen Bewusstsein nicht länger integraler Bestandteil des Lebens, sondern lediglich lästige Störungen. Dadurch ist den meisten Menschen die Fähigkeit abhandengekommen, mit ihnen schöpferisch umzugehen. Während die moderne Leistungsgesellschaft das Bewusstsein für den Wert von Leiden und Schwierigkeiten weithin verloren hat, kann uns der inhaftierte Bonhoeffer zu einem anderen und – wie ich meine – humaneren Umgang mit ihnen verhelfen. Seine Deutung von Leiden und Misserfolg nahm ihnen ihre Sinnlosigkeit. Bonhoeffer erkannte, dass Leiden die Chance zur Reifung beinhaltet. Er war überzeugt, dass es ihn christusähnlich werden ließ. Die Folge war eine positive Einstellung zum Leiden. Der englische Literaturwissenschaftler C. S. Lewis beschreibt diese Erkenntnis mit einem einprägsamen Bild: „Gott flüstert in unseren Freuden, er spricht in unserem Gewissen; in unseren Schmerzen aber ruft er laut. Sie sind Sein Megafon, eine taube Welt aufzuwecken.“18
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Bonhoeffer als „guter Deutscher“, der im Kampf gegen Hitler zum Märtyrer geworden war, zum Brückenbauer zwischen den ehemals verfeindeten Völkern Europas. Sein Zeugnis half verbitterten Ausländern, ihren Hass gegen alles Deutsche zu überwinden. Außerdem wurde er zum geistlichen Lehrer von Christen aller Konfessionen. Das Gedicht „Von guten Mächten wunderbar geborgen“ ist mehrfach vertont worden und wird heute in allen Konfessionen gesungen. Bonhoeffers Überlegungen zum Widerstand gegen staatliches Unrechtshandeln haben die Widerstandsbewegung gegen das Apartheidregime in Südafrika19 genauso wie das Engagement der Solidarnosc gegen den Staatskommunismus in Polen20 inspiriert. Bonhoeffers Texte stellen bis heute eine prophetische Mahnung an eine müde gewordene und angepasste westliche Christenheit dar. Immer wieder fordert er zum ungeteilten Gehorsam gegen Gottes Gebot auf. Die Verkündigung der Kirche darf nicht im Unverbindlichen stecken bleiben. Sie muss Gottes Willen in die konkrete Situation hinein auslegen. Nur wenn sie das wagt, wird ihr Wort Vollmacht gewinnen und sowohl von Christen als auch von Nichtchristen ernst genommen werden.
Schließlich sind auch Bonhoeffers theologische Neuentdeckungen im Gefängnis weiterhin aktuell. Überlegungen von Jürgen Habermas, dem Altmeister der deutschen Philosophie, fordern die Religionen dazu auf, die hermeneutische Herausforderung anzunehmen, die eigenen religiösen Überzeugungen in eine für alle verständliche säkulare Sprache zu übersetzen.21 Umgekehrt trägt Habermas den säkularen Mitgliedern der Gesellschaft auf, sich in religiöser Hinsicht als hör- und lernfähig zu erweisen. Diese Aufforderung wiegt auch deswegen schwer, weil sie von einem bekennenden „religiös Unmusikalischen“ ausgesprochen wird. In Zukunft wird eine entscheidende Aufgabe von Theologie und Kirche darin bestehen, sich an dieser großen zweiseitigen Aufgabe zu beteiligen: das Gespräch zwischen religiös Musikalischen und religiös Unmusikalischen in Gang zu bringen. Es muss heute das primäre Interesse von Theologie und Kirche sein, die eigenen religiösen Vorstellungen und Werte in die zunehmend entkirchlichte und säkulare Gesellschaft hinein zu vermitteln.
Bonhoeffers Ringen um eine nicht-religiöse Interpretation biblischer Begriffe, die Ebeling schon vor vielen Jahren zurecht als christologische Interpretation charakterisiert hat,22 könnte hier zum Vorbild werden. Im Gefängnis, inmitten einer bereits weithin säkularen Umgebung, erkennt Bonhoeffer, dass die traditionellen christlichen Begriffe wie Versöhnung, Erlösung, Wiedergeburt und Heiliger Geist nicht mehr tragen. Der Grund dafür ist in seinen Augen ein geschichtlicher: Diese Begriffe sind dem Weltbild einer durch und durch religiösen Zeit verhaftet, in der der christliche Glaube noch eine unhinterfragte Selbstverständlichkeit darstellte. In der mündigen Welt der Moderne haben diese Begriffe jedoch ihre Kraft verloren, weil sie nicht mehr verstanden werden: Der Glaube hat seine selbstverständliche Prägekraft für die Lebensauffassung der meisten Menschen verloren. Die traditionellen christlichen Begriffe sind darum schlicht nicht mehr fähig, in der heutigen Wirklichkeit zu zünden. Trotz dieser schonungslosen Diagnose ist für Bonhoeffer die Sache des christlichen Glaubens jedoch keineswegs verloren. Er hofft auf eine ganz neue Sprache, vertraut darauf, dass sie Menschen in Zukunft geschenkt wird, um das Evangelium wieder vollmächtig verkündigen zu können.