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2. Kapitel
ОглавлениеDer gemeinsame Sohn von Valerie und Hinnerk, Ben, lebte seit geraumer Zeit mit der Transsexuellen Lena zusammen. Lena war zwar als Junge geboren worden, hatte sich aber schon immer als Mädchen gefühlt. Nach mehreren geschlechtsangleichenden Operationen war sie kaum noch von einer biologischen Frau zu unterscheiden.
Ben hatte Lena im „Lebensstern“, der Bar über dem „Café Einstein“ in der Kurfürstenstraße kennengelernt, als mit Hinnerk dort eingekehrt war, weil dieser in mehreren Mordfällen im Transsexuellenmilieu ermittelte.* Nach einigen Anfangsschwierigkeiten hatten sich die beiden zusammengerauft und teilten nun sogar die
*siehe „Morphodit“, Band 10
Wohnung. Doch Bens Befürchtungen waren eingetreten. Nach wie vor gab es Animositäten bei Lena, besonders wenn es um andere Frauen ging.
»Wer ist das blonde Gift, mit dem du so vertraut umgehst?«, fragte Lena.
»Wen meinst du?«
»Stell dich bitte nicht dümmer als du bist. Ich wollte dich nämlich gestern von der Uni abholen. Und da kamt ihr beide Arm in Arm heraus.«
»Ach, du meinst Kathrin. Die studiert auch Film- und Theaterwissenschaften. Wir sind nur Kumpel, weil wir uns gut verstehen.«
»Das sah aber ganz anders aus.«
»Sag mal, spionierst du mir etwa nach?« Ben wurde langsam sauer. »Statt dich zu verstecken hättest du zu uns herüberkommen können. Dann hättest du bemerkt, dass da nichts ist mit Kathrin und mir. Du bist und bleibst meine Traumfrau.«
»Erhoffst du dir, von ihr das zu bekommen, was ich dir nicht bieten kann? Ein leibliches Kind?«
»Quatsch, wir sind uns doch einig, dass wir ein Kind adoptieren, wenn wir geheiratet haben.«
»Ich weiß nicht, ob ich einen Schürzenjäger heiraten möchte.«
»Jetzt reicht’s mir aber. Dann lässt du es eben bleiben. Ich habe keine Lust, mich zu Unrecht verdächtigen zu lassen. Ein bisschen mehr Vertrauen solltest du mir schon entgegenbringen.«
»Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser.«
»So denkst du über unsere Beziehung? Interessant. Muss ich künftig befürchten, dass du mein Handy kontrollierst?«
»Dann gib mir keinen Anlass dazu.«
»Ich höre mir das nicht länger an. Du spinnst doch. Kathrin ist nicht einmal mein Typ. Ich muss jetzt auch los in die Bar. Wenn ich nach Hause komme, hast du dich hoffentlich beruhigt.«
Ben griff seine Sachen und verließ türenknallend die Wohnung. Wenn er eins nicht leiden konnte, dann waren das unberechtigte Anschuldigungen. Er hatte eigentlich vorgehabt, den Job in der Gaybar aufzugeben, um mehr Freizeit zusammen mit Lena zu haben, aber jetzt war er direkt froh, dem Streit zu entkommen und in eine gänzlich andere Atmosphäre eintauchen zu können. Seine Laune war jedenfalls auf dem Nullpunkt. Wenn ihm jetzt noch einer der Schwulen dumm kommen würde … dann …
Im Hause Schindler gab es ebenfalls große Aufregung. Freilich aus einem ganz anderen Grund. Herbert, der zweite Mann von Karen, war ganz plötzlich zusammengebrochen. Wie schon in ihrer ersten Ehe mit Christoph, rief Karen zuerst Valerie an, wenn sie nicht weiterwusste. Und bei Christoph hatte sie reichlich Grund gehabt, weil er an Demenz erkrankt und schließlich nach langem Leidensweg in einem Pflegeheim verstorben war. Dort, wo Herbert seine erste Frau unter ähnlichen Umständen verloren hatte. So hatten sich Karen und Herbert kennengelernt.*
* siehe „Gottlos – Der Todesengel“, Band 5
»Val? Ich bin’s, Mama«, meldete sich Karen bei ihrer Tochter.
»Mama, du weißt doch, dass ich während der Dienstzeit …«
»Bevor du weitersprichst: Es ist etwas passiert. Herbert ist zusammengebrochen.«
»Du hast hoffentlich gleich die Feuerwehr alarmiert?«
»Natürlich. Ich bin ja nicht völlig blöd.« Karens Stimme brach. »Es war so schrecklich, wie er da lag. Und der Hund ist nicht von seiner Seite gewichen und hat furchtbar gejault. Ich dachte, Herbert ist tot. Er hat sich vorher ans Herz gegriffen und war schneeweiß im Gesicht.«
»Das tut mir alles sehr leid. Wo bist du jetzt, Mama?«
»Draußen vor dem Deutschen Herzzentrum, dem ehemaligen Rudolf-Virchow-Krankenhaus. Drinnen darf man ja nicht telefonieren. Sie sagen, es sei vermutlich ein Herzinfarkt. Wenn er stirbt, will ich auch nicht weiterleben.«
»Mama, du hast Christophs Tod auch überwunden. Es ist nun mal der Frauen Los, dass sie ihre Männer begraben, weil wir meist um einiges älter werden. Und der Jüngste ist Herbert nun mal nicht mehr. Früher oder später wird …«
»Ich will das nicht hören. Mit fünfundsiebzig ist er noch in einem guten Alter. Heesters ist sogar über hundert geworden.«
»Das dürfte eher die Ausnahme sein. Was willst du jetzt machen? In der Klinik bleiben?«
»Was denn sonst? Zu Hause hätte ich keine ruhige Minute.«
»Möchtest du heute Abend zu uns kommen?«
»Damit ich euch die Ohren vollheule? Nein. Ich bleibe bei Herbert. Vielleicht stellen sie mir ein Zimmer zur Verfügung.«
»Gut, Mama. Dann melde dich bitte, sobald es etwas Neues gibt. Was ist eigentlich mit Cleo? Hunde dürfen doch nicht mit ins Krankenhaus.«
»Die ist völlig verstört. Tiere merken, wenn es etwas Ernstes ist. Zum Glück hat mir die Nachbarin sie abgenommen. Also, bis später! Wir telefonieren.«
Ehe Valerie sich versah, hatte Karen schon aufgelegt. Hinnerk sah Valerie grinsend an, sodass sie schon ahnte, dass jetzt wieder ein dummer Spruch kommen würde.
»Mich willst du aber noch nicht so schnell begraben, oder?«, fragte er.
»Doch in einem Blechsarg. Damit du hörst, wenn’s regnet. Oller Quatschkopf. Mama ist halb verrückt vor Sorge um Herbert. Und du machst Witze.«
»Entschuldigung. Was hat denn Herbert?«
»Einen Herzinfarkt. Dabei hatte er nie Herzprobleme, so viel ich weiß. So schnell kann’s gehen.«
»Mein Vater hatte auch schon einen«, sagte Heiko, der Kommissar aus Hessen. »Beinahe gefährlicher ist der zweite. Den überleben die Wenigsten.«
»Mama hat schon angekündigt, dass sie dann auch nicht mehr leben will«, sagte Valerie.
»Jetzt wissen wir, woher unser Sohn den Hang zum Dramatischen hat«, meinte Hinnerk. »Ach nee, Ben ist ja Tyras Enkel. Der geht das Theatralische weitgehend ab, wenn ich mich nicht täusche.«
»Weiß ich nicht. So gut kenne ich sie noch nicht. Vor allem nicht so lange. Wie sie reagiert hat, als ihr Mann starb, kann ich nicht beurteilen. Auf jeden Fall neigen wir wohl alle zum Drama, wenn ein lieber Angehöriger in Lebensgefahr ist«, meinte Valerie. »Wer weiß, wie es den Eltern geht, die ihre Tochter vermissen? Dabei wissen sie noch nicht einmal, dass sie im Koma liegt.«
»Als Junkie hat sie wahrscheinlich längst den Kontakt zum Elternhaus abgebrochen. Wenn wir doch nur wüssten, wer sie ist.«
»Vielleicht sollten wir einen Presseaufruf starten, bevor es ein zweites Opfer gibt, von dem die Identität nicht feststeht«, sagte Hinnerk.
»Im Prinzip keine schlechte Idee«, meinte Valerie. »Nur machen wir dann den Täter erst recht rebellisch. Andererseits fordert er uns ja geradezu auf, ihn zu jagen. Wie soll man die platzierten Hinweise sonst deuten?«
»Entweder er will gefunden werden, oder ihm macht das Katz-und-Maus-Spiel Spaß«, sagte Heiko.
»Die Befürchtung habe ich allerdings auch. Mal sehen, wie weit der noch mit seinem Märchentick geht. Kommen als Nächstes entführte Kinder, die in einem Hexenhäuschen oder in einem Turm eingesperrt sind, à la Hänsel und Gretel oder Jorinde und Joringel?«, fragte Valerie. »Ganz zu schweigen von anderen Märchen, die mitunter an Grausamkeit nicht zu überbieten sind.«
»Das ist genau der Grund, warum Björn seinem Jan keine Märchen vorliest«, sagte Marlies, die Kriminalassistentin und gute Seele der Abteilung, deren hervorstechendstes Merkmal ihre naturkrause Haarpracht war.
»Ach richtig, du bist ja jetzt auch Mutter beziehungsweise Stiefmutter. Hoffentlich keine böse wie im Märchen«, zog Hinnerk sie auf.
»Hör bloß auf. Und das auf meine alten Tage«, sagte Marlies. »Aber was soll ich machen? Björn gab’s nur im Doppelpack.«
»Du bist bestimmt eine wunderbare Mutter, Schmidtchen«, sagte Valerie. »Ich freue mich aufrichtig für dich, dass du jetzt auch endlich eine kleine Familie hast. Du hattest es schon längst verdient.«
»Ja, Lieschen. Nachdem du schon einige Frösche zuvor geküsst hattest«, pflichtete Hinnerk seiner Frau bei.
»Ob das mit der Familie wirklich klappt, ist noch ungewiss«, sagte Marlies Schmidt. »Ich bin sozusagen noch in der Probezeit. Björn scheint mich wirklich zu mögen, und der kleine Jan zum Glück auch. Aber weiß man, wie’s noch kommt?«
»Ach, ein bisschen mehr Zuversicht, Schmidtchen«, sagte Valerie. »Dich muss man einfach mögen. Das haben Vater und Sohn scheinbar erkannt.«
»Was ist eigentlich mit der Mutter beziehungsweise Exfrau?«, fragte Heiko.
»Die ist an einem Krebsleiden verstorben. Da war Jan erst drei«, gab Marlies Auskunft.
»Oh, oh. Verstorbene sind manchmal eine größere Konkurrenz als Geschiedene«, meinte Heiko.
»Du hättest als Briefkastentante Karriere machen sollen mit deinen Weisheiten, du olle Unke«, sagte Valerie. »Bei Schmidtchen wird sich alles zum Guten fügen, weil sie es einfach verdient hat.«
»Danke«, sagte Marlies. »Auf jeden Fall ist es eine ganz neue Erfahrung. Wo ich Kinder doch so mag. Und Jan ist wirklich entzückend. Man merkt, dass er sich unbedingt eine Mama wünscht. Björn hatte wohl schon den einen oder anderen Versuch gestartet, aber ohne Erfolg. Glück für mich. Ich liebe jetzt schon beide sehr.«
Zwei Tage später erhielten Valerie und Hinnerk einen Anruf, der sie in Alarmbereitschaft versetzte.
»Hier ist Polizeimeister Urs Richter«, meldete sich eine aufgeregte männliche Stimme. »Mein Kollege und ich haben entdeckt, dass die behelfsmäßige Tür zum Schwimmbad Lichtenberg aufgebrochen wurde. Bei der Begehung des Gebäudes fanden wir den Glassarg mit dem Mädchen darin.«
»Lebt es noch?«, fragte Valerie.
»Leider, nein. Da kommt jede Hilfe zu spät.«
»Wir sind gleich da. Fassen Sie bitte nichts an. Wir bringen die Kollegen von der Spurensicherung und der Rechtsmedizin mit.«
»Äh, ja. Ich warte dann am Eingang.«
»Man hat Schneewittchen gefunden«, sagte Valerie, als sie aufgelegt hatte. »Komm, wir müssen gleich los.«
»Darf ich auch mit?«, fragte Heiko.
»Wir können da nicht im Rudel auftauchen. Am besten, du hältst hier die Stellung.«
»Lass ihn nur«, meinte Hinnerk. »Im Stellung halten bin ich einsame Spitze.«
»Bitte, wie der Herr belieben.«
Valerie fuhr zum Teil schneller als die Polizei erlaubt. Sodass Heiko böse Kommentare abgab. Aber solange es noch ein Fünkchen Hoffnung gab, dass das Mädchen doch noch am Leben war …
»Wie geht es eigentlich unserem ersten Opfer?«, fragte Heiko. »Du hast doch vorhin mit der Charité telefoniert.«
»Unverändert. Sie ist randvoll mit Morphium und anderen Rauschmitteln. Die Ärzte sagen, es ist ungewiss, ob sie jemals wieder aufwacht.«
»Euer Sohn hat mich angerufen. Er würde gerne wieder bei uns einziehen.«
»Waas? Das kann doch nicht wahr sein.«
»Demnach bist du über den Stand der Dinge nicht informiert? Tut mir leid. Ich dachte, ihr wisst Bescheid.«
Ben hatte eine Zeitlang bei Heiko und seinem Freund Fabian zur Untermiete gewohnt. Denn die beiden verfügten über eine große Altbauwohnung am Kaiserdamm. Ben hatten zwei Zimmer mit Bad und einem eigenen Eingang zur Verfügung gestanden. Da Lena dort nicht mit einziehen gewollt hatte, waren sie in eine einfachere Wohnung in Hellersdorf gezogen.
»Das war ja ein kurzes Vergnügen mit den beiden«, meinte Valerie.
»Ich nehme das nicht so ernst. Stress in der Beziehung gibt es immer mal, wie ich gerade selbst erlebt habe. Vielleicht kriegen sie sich wieder ein.«
»Ist bei euch wieder alles im Lot?«
»Ja, seitdem der Fiedler Enno ausgezogen ist, bin ich eine Sorge los, ob Fabian es heimlich mit dem Untermieter treibt. Er hat scheinbar aus seinem Fehler gelernt und gibt sich wieder richtig Mühe mit uns.«
»Wie schön. Ich finde, ihr passt richtig gut zusammen. Was mag nur zwischen Ben und Lena passiert sein? Die waren doch so was von verknallt. Richtig neidisch hätte man werden können.«
»Das fragst du Ben am besten selbst. Er hat nur angedeutet, dass sie einen heftigen Streit hatten und er sich nicht gerne gängeln lässt.«
»Oh, oh, das hört sich nicht gut an. Da muss Lena einen wunden Punkt bei ihm getroffen haben. Du weißt ja, dass er sich nicht gerne was sagen lässt. Sonst würde er womöglich wieder bei uns wohnen. Sein Freiheitsdrang und der Wille zur Selbstbestimmung ist scheinbar bei ihm größer als die Liebe.«
»Bewerte das nicht über. Die beiden hat der Alltag eingeholt. Das ist der Lauf der Dinge. Aber wenn sie die Krise überwinden, haben sie gute Chancen, dass die Beziehung hält.«
Valerie fand später in unmittelbarer Nähe einen Parkplatz. Dort wo auch der Streifenwagen stand. Die Polizeimeister Urs Richter und Roland Wendland warteten auf der großen Freitreppe.
»Hallo, wir müssen in die dritte Etage in den ehemaligen Saunabereich«, sagte Richter und zog seinen Ärmel über das Handgelenk, um das große Pflaster zu verbergen. »Haben Sie Taschenlampen dabei? Da drinnen ist es zum Teil sehr finster.«
»Nö, aber unsere Handys mit Taschenlampenfunktion«, sagte Valerie. »Was ist mit Ihrem Arm? Haben Sie sich verletzt?«
»Ach nein, meine Frau und ich haben uns das gleiche Tattoo stechen lassen. Bei ihr ist alles gut gegangen, nur meins hat sich leicht entzündet.«
»Das sollte sich ein Arzt ansehen. Damit ist nicht zu spaßen.«
»Ja, ich weiß. Ich habe schon einen Termin vereinbart.«
Über den alten Treppenaufgang mit Eisengeländer ging es nach oben. Heiko hätte gerne in die beiden Schwimmhallen einen Blick geworfen, aber die mögliche Rettung des Mädchens ging vor. Im Saunabereich gab es einen türkis gefliesten Raum mit weißen Deckenbalken. In der Raummitte befand sich ein achteckiges Becken, das man über fünf Stufen von den Stirnseiten aus betreten konnte. Vermutlich hatte es einst als Kaltwasserbecken zur Erfrischung nach dem Saunagang gedient.
Auf dem Boden des Beckens stand ein Glassarg, in dem eine junge Frau lag. Sie hatte ebenholzfarbene, lange Haare und einen blutrot geschminkten Mund, der in großem Kontrast zu ihrer milchig weißen Haut stand.
»Wer hat denn den Deckel abgenommen? Sie etwa?«, fragte Valerie entgeistert.
»Ja, wie hätten wir sonst feststellen können, ob das Mädchen noch lebt?«, fragte Urs Richter.
»Das sieht man doch auf den ersten Blick, dass es keine Atmung mehr hat. Na bravo! Jetzt haben Sie überall Ihre Fingerabdrücke verteilt und mögliche Spuren verwischt.«
»Sei nicht so streng mit ihnen«, meinte Hinnerk. »Sie wollten nur helfen. Ich wette, es gibt ohnehin keine verwertbaren Spuren. Wie habt ihr denn den Deckel entfernen können? Gab es da einen Klappmechanismus?«
»Nein, wir haben das Silikon gelöst, mit dem die Glasflächen zusammengehalten werden. Das war gar nicht so einfach«, sagte Roland Wendland.
»Da hat sich jemand richtig viel Mühe gemacht«, meinte Hinnerk. »Aber das ist ein geschickter Schachzug, erst vor Ort die Teile zusammenzufügen. Hier, wo man nicht gestört wird.«
»Hallo, wo seid Ihr?«, hörte man eine weibliche Stimme rufen.
Und Valeries Herz machte einen kleinen Hüpfer, weil sie sofort Stella Kern erkannte, die Rechtsmedizinerin, mit der sie kurzzeitig ein Verhältnis gehabt hatte, bis Stella eine andere Frau kennengelernt hatte, die sie sogar heiraten wollte. Die Trennung war schon eine Weile her, aber bei Valerie saß der Stachel noch immer tief. Dabei konnte sie Stella sogar verstehen, denn Valerie hätte Hinnerk nicht ihretwegen verlassen.
»Puh, hat mal jemand probiert, ob der Fahrstuhl funktioniert?«, stöhnte Kollege Knud Habich, als sie oben ankamen.
»Du glaubst wohl noch an den Weihnachtsmann?«, lachte Valerie. »In diesem Haus funktioniert nichts mehr. Keine Wasser- und Stromzufuhr, gar nix.«
»Na ja, baden wollte ich ja auch nicht. Da schwärmt wohl einer für Märchen«, sagte Knud, als er die Inszenierung sah. »Ich fürchte nur, dass wir kein Apfelstück in ihrer Kehle finden werden, das sie nach der Entfernung wieder zum Leben erweckt.«
»Sieh an, der Kollege ist spitzfindig«, sagte Stella. »Und so witzig …«
»Für den nötigen Bierernst habe ich ja dich.«
»Ja, einer muss doch der Buhmann sein. Dann wollen wir mal! Weibliche Leiche, zwischen fünfundzwanzig und dreißig Jahren, seit etwa ein bis zwei Stunden tot, keine Anzeichen von Gewaltanwendung, vermutlich betäubt und durch den Sauerstoffmangel erstickt. Genaueres nach der Obduktion.«
»Das ist doch nicht ihr eigenes Haar, oder?«, fragte Hinnerk.
»Nein, eine Perücke als Teil der Inszenierung. Ich gehe nicht davon aus, dass sich im Nebenraum noch sieben Kleinwüchsige verstecken.«
»Oh, Frau Kern hat ihren Humor wiedergefunden«, sagte Hinnerk spitz und kassierte dafür einen bösen Blick von Valerie.
»Unter den gegebenen Umständen ist das mehr Galgenhumor, Herr Kollege. Ich beneide Sie nicht um die Aufgabe, den vermutlich gestörten Täter ausfindig zu machen. Aber wie heißt es so schön? Man wächst mit den Aufgaben.«
»Könnt ihr jetzt bitte aufhören?«, fragte Valerie, peinlich berührt.
»Hallo, ist jemand zu Hause?«, fragte Manfred Hoger von der Spurensicherung, der gerade mit seinem Team eintraf. »Na, habt ihr schön alle Spuren verwischt?«
»Entschuldige mal!«, sagte Valerie säuerlich. »Wir können schließlich nicht fliegen. Außerdem lag es im Bereich des Möglichen, dass die Frau noch lebt.«
Urs Richter grinste breit, weil Valerie ihn und seinen Kollegen unerwartet in Schutz nahm. »Ja, wir werden dann wohl nicht mehr gebraucht«, sagte er.
»Nein, und die anderen auch nicht«, sagte Hoger. »Aber bevor Sie gehen, hinterlassen Sie bitte noch Ihre Fingerspuren und eine DNA-Probe für den Abgleich. Ich meine, Sie beide, meine Herren. Von den Hauptkommissaren liegen mir die Proben vor.«
»Ach, und ich hätte so gern an deinem Stäbchen gelutscht«, witzelte Hinnerk.
»Witzbold. Wenn du sonst nichts zum Lutschen hast …«
»Wir erwarten dann Eure Berichte«, sagte Valerie. »Und Ihnen beiden vorerst vielen Dank.«
»Oh, bitte gern. Jederzeit wieder«, sagte Urs Richter. »Diesmal gibt es wohl keinen neuen Hinweis? Ein weiterer Mord scheint vorerst nicht geplant zu sein. Offensichtlich bekommen Sie eine Atempause.«
»Über das schmale Brett gehe ich noch nicht«, meinte Valerie. »Vielleicht bekommen wir bald Post.«
»Was einen eventuellen Hinweis angeht: So weit sind wir noch nicht. Die Leiche ist noch nicht eingehend untersucht worden. Ich meine, was die Dinge angeht, die sie womöglich bei sich trägt«, meinte Manfred.
»Das dünne Kleidchen dürfte kaum Taschen aufweisen. Und von einer Handtasche ist auch nichts zu sehen«, sagte Stella. »Bleibt noch die Möglichkeit, dass die Tote auf irgendetwas liegt. Das werden wir wissen, wenn wir sie umgedreht beziehungsweise abtransportiert haben.«
»Also, dann viel Erfolg. Macht’s gut miteinander«, verabschiedete sich Valerie.
»Dito«, erklang es vielstimmig.