Читать книгу Zehn kleine Mörderlein - Dietrich Novak - Страница 4

1. Kapitel

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Nichts Gutes ahnend, machten sich die Hauptkommissare Valerie Voss und Hinnerk Lange, die nicht nur ein unschlagbares Team waren, sondern auch privat ein Paar, auf den Weg zum Büro ihres neuen Abteilungschefs, Dr. Paul Zeisig. Dieser war ein etwas undurchsichtiger Mann, der kein Blatt vor den Mund nahm und gelegentlich seinen Ton nicht ganz unter Kontrolle hatte. Eigentlich etwas, das ihn mit Valerie verband, doch wenn es ernst wurde, hatte er einfach die besseren Karten. Außerdem entdeckte er an ihr, was ihn an ihm selbst störte.

Dass er auch immer für eine Überraschung gut war, bewies er an diesem Tag. Er hatte eine feierliche Miene aufgesetzt, die dem Anlass einer Beförderung angemessen war. Stattdessen hatte er aber anderes zu verkünden.

»Ich möchte Ihnen beiden ein Geschenk machen. Ein einwöchiger Aufenthalt in einem Schloss auf einer bretonischen Insel.«

»Danke, wie kommen wir zu der Ehre?«, fragte Valerie verblüfft.

»Man könnte es als eine Art Fortbildung betrachten, die ich natürlich nicht aus eigener Tasche bezahle. Und auch die Staatskasse wird damit nicht belastet, denn der Sponsor ist ein Millionär, für den die Kosten nur Peanuts sind.«

»Was hat der Mann für ein Interesse daran, uns zu belohnen?«, wollte Hinnerk wissen. »Anders gefragt: Worin besteht die Fortbildung?«

»Mich würde viel mehr interessieren, warum Sie der Meinung sind, dass wir uns fortbilden müssen?«, insistierte Valerie. »Unsere außergewöhnlich hohe Aufklärungsquote lässt diese Vermutung kaum zu.«

»Das ist wieder typisch Frau Voss. Erst mal losbellen. Warten Sie doch ab. Außerdem ist es immer von Vorteil dazuzulernen. Sie kennen das Sprichwort mit der Kuh?«

»Natürlich, aber es ist wenig schmeichelhaft, uns mit Rindviechern zu vergleichen.«

»Ach, papperlapapp. Niemand will Ihnen etwas Böses. Auch wenn das ein Trauma von Ihnen zu sein scheint. Sie haben die Gelegenheit, berühmte Kollegen aus dem Ausland kennenzulernen. Nach meiner Information welche aus Schweden, Italien, Österreich, Großbritannien, und den Beneluxstaaten. Mr. Finn ist daran interessiert, einen Mord aufzuklären, bei dem bisher alle Ermittler versagt haben. Das müsste doch Ihren Ehrgeiz anstacheln. Andernfalls ist es ein Spiel und für Sie eine willkommene Auszeit.«

»Von mir aus, solange ich dabei nicht in lächerlichen Rokokogewändern und mit gepuderten Perücken herumlaufen muss …«

»Wie witzig, nein, das verlangt niemand von Ihnen. Also, wollen Sie, oder soll ich Ihre Kollegen fragen?«

»Nein, ich denke, wir nehmen das Angebot an«, sagte Hinnerk. »Glauben Sie, Heiko Wieland und Marlies Schmidt kommen in der Zeit allein zurecht?«

»Meines Wissens gibt es keinen aktuellen Fall. Herr Wieland brennt ohnehin darauf, sich beweisen zu können, und Frau Schmidt scheint ihr Bürojob auch nicht mehr zu genügen. Somit tun Sie beiden einen Gefallen.«

»Wie gut, dass wir noch keine neue Minka angeschafft haben«, sagte Valerie, als sie zurück in ihr Büro gingen. »Ein Schlossaufenthalt könnte mir schon zusagen. Leider ist es mal wieder mit Arbeit verbunden.«

»Solange dabei ein saftige Belohnung herausspringt … Auf jeden Fall sind Kost und Logis frei, und sogar das Flugticket nach Lannion inklusive Mietwagen.«

Heiko und Marlies konnten nicht glauben, was ihnen ihre Kollegen da eröffneten.

»Wollt ihr das wirklich machen?«, fragte Marlies. »Irgendwie habe ich dabei ein komisches Gefühl.«

»Du und deine Gefühle, Lieschen«, zog Hinnerk sie auf. »In Anwesenheit so vieler Kollegen wird uns schon nichts passieren.«

»Ich verstehe Schmidtchen«, meinte Valerie. »So ganz koscher ist mir die Sache auch nicht. Das Ganze erinnert mich an den Film „Eine Leiche zum Dessert“. Da wollte auch jeder der Größte sein.«

»Das war eine Parodie, Schatz. Oder hast du schon mal im realen Leben etwas von einer Köchin gehört, die ein Roboter war?«

»Wenigstens sind alle Gäste am Leben geblieben. Im Gegensatz zu der Vorlage von Agatha Christie, wo niemand übrig bleibt.«

»Das sind ja rosige Aussichten«, feixte Hinnerk.


Zwei Tage später, an einem Sonntagnachmittag, flogen Valerie und Hinnerk vom Flughafen Schönefeld ab. Vor ihnen lag ein sechsstündiger Flug, der einen etwa dreistündigen Aufenthalt in Paris beinhaltete. Grund genug für Valerie, eine spitze Bemerkung darüber abzulassen.

»Ganz so großzügig scheint dieser Mr. Finn nicht zu sein, sonst hätte er einen Direktflug springen lassen.«

»Ich habe mich erkundigt. Es gibt keinen Direktflug von Berlin nach Lannion. Nicht einmal nach Brest. Und von dort sind es noch über eine Stunde Autofahrt«, meinte Hinnerk. »So machen wir einen Zwischenstopp in der Stadt der Liebe.«

»Und was nützt uns das? Bis zum Eiffelturm und zurück werden wir es kaum schaffen.«

»Das könnte bei der Verkehrslage knapp werden, aber was hältst du davon, wenn ich dich ins Café Eiffel zum Essen einlade? Dort soll es original französische Küche geben.«

»Einverstanden. Dann bleibt mir wenigstens der Stress erspart, ob wir unseren Anschlussflug schaffen.«

In Paris gelandet, wurden beide dann zum Teil entschädigt. Das Interieur des Café Eiffel stellte sich zwar als flughafentypisch heraus, aber immerhin hatte man von der elften Etage aus einen guten Rundblick. Und das Essen und der Wein waren mehr als annehmbar.

Als sie gegen 21 Uhr in Lannion ankamen, stand ein Mietwagen bereit, mit dem sie zirka eine halbe Stunde bis zur Bucht des Hafenortes brauchten. Von dort aus setzte sie ein Boot zur Insel über.

Valerie verschlug es angesichts des sandsteinfarbenen Schlosses mit seinen Rundtürmen und Rundbogenfenstern förmlich die Sprache, was selten vorkam.

»Das ist ja wie im Märchen«, sagte sie anerkennend.

»Und die Hexe ist auch schon im Anmarsch«, flüsterte Hinnerk.

Denn empfangen wurden sie von der Hausdame Mrs. Denver, die mit ihrer in der Mitte gescheitelten Frisur, den verhangenen Augen und der dunklen Robe durchaus ins Bild passte.

»Sie sind die Letzten«, sagte sie. Und es klang wie ein Vorwurf. »Die anderen Herrschaften haben sich schon im Rittersaal versammelt. Dort steht ein kleiner Imbiss für Sie bereit. Ich werde Sie zunächst dorthin führen, damit Sie sich bekannt machen können. Das Hausmädchen, Elsie, bringt Ihr Gepäck aufs Zimmer und wird Sie anschließend hinauf-führen.«

Im großen Saal hatte sich eine illustre Menge versammelt. Der Altersdurchschnitt musste in etwa fünfzig Jahre betragen, wie Valerie mit Kennermiene bemerkte. Sie konnte sich kaum die vielen Namen merken, zumal die Vorstellungsrunde plötzlich unterbrochen wurde, als ein Mann vor einem schwarzen Hintergrund erschien, der die Anwesenden durch seine Gestik um Ruhe bat. Sein Haar leuchtete fast unnatürlich weiß, und er trug einen feinen, teuren Anzug. Auf seinem teigigen Gesicht breitete sich ein süffisantes Grinsen aus.

»Welcome, Ladys und Gentleman. Bienvenue mesdames et messieurs. Willkommen, Damen und Herren! Ich bin Ihr Gastgeber Tigran Finn. Ich gehe davon aus, dass Sie vollzählig erschienen sind. Mrs. Denver wird das nachher anhand einer Liste überprüfen. Falls Sie sich noch nicht bekannt machen konnten, werden Sie später noch Gelegenheit dazu haben. Auch werde ich an einem der nächsten Tage noch etwas zu jedem Einzelnen von Ihnen sagen.«

»Der ist nicht echt«, flüsterte Valerie Hinnerk zu. »Ich wette, er ist nur eine 3D-Projektion, ein Hologramm.«

»Wenn Sie mich hier stehen sehen, bin ich vermutlich nicht mehr am Leben«, sprach Mr. Finn wie zur Bestätigung weiter. »Und es ist Ihre Aufgabe, meine Leiche, die sich noch auf der Insel befindet, und meinen Mörder zu finden, der mitten unter Ihnen weilt.«

Ein Raunen ging durch den Saal.

»Er oder sie wird es Ihnen nicht leicht machen und versuchen, sie nacheinander auszuschalten. Aber wer durchhält und vor allem überlebt, erhält ein Preisgeld in Höhe von 100.000 Euro. Der Scheck befindet sich dort in der kleinen Truhe. Wer jetzt schon kalte Füße bekommt, den muss ich leider enttäuschen. Eine Umkehr ist nicht mehr möglich. Für eine Woche wird kein Boot mehr von und zur Insel verkehren. Und ich darf Sie bitten, Ihre Handys, Smartphones, Tablets, Laptops und dergleichen Mrs. Denver auszuhändigen. Zuwiderhandlungen führen zur sofortigen Disqualifikation. Der hauseigene Telefon- und Internetanschluss ist deaktiviert. Sie werden also für sieben Tage von der Außenwelt abgeschnitten und ganz auf sich allein und Ihren berühmten Scharfsinn gestellt sein.«

Die Unruhe im Saal nahm orkanartige Ausmaße an. Mr. Finn beziehungsweise sein Abbild machte eine beschwichtigende Geste.

»Aber, aber, ich darf doch bitten! Verzeihen Sie mir den kleinen Spaß. Aber als reicher Mann hat man auch kein Geld zu verschenken. Vor allem, wenn man bereits tot ist. Und der Täter beziehungsweise die Täterin soll schließlich nicht ungestraft davonkommen. Noch ein paar letzte Anmerkungen möchte ich machen: Das Personal – die Hausdame Mrs. Denver, der Koch, Mr. Alex Porter, und das Hausmädchen, Elsie, – ist über jeden Verdacht erhaben und sollte nicht in Ihre Ermittlungen einbezogen werden. Am Morgen des siebten Tages wird der Notar, Mr. Morris, das Ergebnis Ihrer Ermittlungen abfragen, entsprechend überprüfen und dem Gewinner oder der Gewinnerin das Preisgeld aushändigen. Ich wünsche noch einen schönen Abend und Ihnen allen viel Erfolg!«

Das Hologramm begann, zu flackern und sich dann aufzulösen. Jetzt war es endgültig mit der Beherrschung der Anwesenden vorbei. Alles sprach wild durcheinander.

»Ich brauche erst einmal ein großes Glas Wein«, sagte Valerie. »Du auch?«

»Wir sollten einen klaren Verstand bewahren, damit wir morgen nicht tot aufwachen.«

»Wie schön, dass du deinen Humor nicht verloren hast. Ich kann gar nicht so viel trinken, wie ich kotzen könnte. Und falls wir diesen Irrsinn überleben, werde ich Dr. Zeisig die Flötentöne beibringen. Das kannst du mir glauben. Der hat das alles scheinbar nicht genügend hinterfragt. Oder er legt es darauf an, uns loszuwerden.«

»Ich würde dringend davon abraten, das zu trinken«, sagte ein makellos gekleideter, älterer Herr mit einem viel zu großen Kopf für seinen schmächtigen Körper. Sein gezwirbelter Schnurrbart, die schwarz gefärbten, pomadisierten Haare und seine gestelzte Aussprache zusammen mit dem französischen Akzent gaben ihm etwas Dandyhaftes, fast Lächerliches. »Ich darf mich kurz vorstellen: Mein Name ist Hector Oiseau.«

»Angenehm, Hauptkommissar Lange, und das ist meine Frau Valerie Voss, ebenfalls Hauptkommissarin.«

»Enchanté, Madame.«

»Sie sind Franzose?«, fragte Hinnerk.

Monsieur Oiseau verzog angewidert das Gesicht.

»Nein, ich bin gebürtiger Luxemburger, lebe aber in London.«

»Dann arbeiten Sie für Scotland Yard?«

»Nicht für den Yard, aber gelegentlich mit ihm zusammen. Ich bin Privatdetektiv.«

»Wie interessant. Dann brauchen Sie im Gegensatz zu uns nur die Fälle zu übernehmen, die Sie interessieren. Warum warnen Sie uns vor dem Wein? Glauben Sie, er könnte vergiftet sein?«

»In diesem Haus halte ich alles für möglich.«

»Aber es haben schon andere davon getrunken, die das offensichtlich vertragen haben …«

»Aus dieser Karaffe bisher nicht. Wenn Sie sicher gehen wollen, sollten Sie eine angebrochene von der Tafel nehmen.«

»Das ist ein guter Vorschlag. So machen wir es.«

Hinnerk nahm zwei neue Gläser, griff sich eine halbvolle Karaffe und erntete dafür einen bösen Blick von einem der Gäste am Tisch.

»Hat Ihnen der andere Wein nicht geschmeckt? Hat er Kork?«, fragte der kahlköpfige ältere Herr mit den kalten Augen, der zu seinem dunklen Anzug eine rote Fliege trug.

»Wir haben noch gar nicht probiert. Monsieur Oiseau warnte uns davor«, sagte Hinnerk schuldbewusst.

»Ich kann mir nicht vorstellen, dass am ersten Abend schon Leute gemeuchelt werden. Bitte bedienen Sie sich! Ich wollte Ihnen den Wein nicht vorenthalten. Er gehört ja nicht mir. Ich bin übrigens Laurenz Markgraf. Richter in Pension aus Wien.«

»Hauptkommissar Hinnerk Lange aus Berlin. Wie schön, dass die k. u. k. Monarchie auch vertreten ist.«

»Oh, das sind wir schon seit 1918, nach dem für Österreich-Ungarn verlorenen Ersten Weltkrieg, nicht mehr. Leider, möchte man manchmal sagen.«

»Ich weiß, entschuldigen Sie den Scherz.«

»Die heutige Republik, die sogar das Deutsche Reich überstand, erklärte nach dem Ende der alliierten Besatzung 1955 seine dauernde Neutralität und trat den Vereinten Nationen bei. Ich bin aber bestimmt nicht der Einzige, der sich mitunter den Kaiser zurückwünscht. Doch das ist ein anderes Thema. Die aufregende Dame mit dem weißblonden Engelshaar gehört zu Ihnen?«

»Ja, das ist meine Frau, Hauptkommissarin Voss.«

»Glückwunsch. Es tritt nur eine Dame mit ihr in Konkurrenz. Die Kriminalkommissarin Marita Berg aus Öland, die zwar auch blond ist, aber weniger engelsgleich.«

Hinnerk musste lachen.

»Täuschen Sie sich nicht. In meiner Frau steckt manchmal ein kleiner Teufel.«

»In welcher aufregenden Frau nicht? Aber lassen Sie sich nicht abhalten. Sie wartet schon auf den Wein.«

Hinnerk ging mit den beiden Gläsern zu Valerie hinüber und wurde schon ungeduldig erwartet.

»Na endlich, ich dachte schon, du hörst überhaupt nicht mehr auf zu quatschen«, sagte Valerie.

»Ich musste mich doch wenigstens vorstellen, wenn ich ihm schon die Karaffe vor der Nase wegschnappe.«

»Mein Gott, es ist ja nicht die einzige auf dem Tisch. Wer ist er denn?«

»Ein pensionierter Richter aus Wien. Über die Blondine, die da etwas verloren herumsteht, habe ich erfahren, dass es sich um eine Kripokommissarin aus Öland handelt.«

»Die passt doch hervorragend in dein Beuteschema mit ihren flachsblonden, verrutschten Locken. Ich kann mich an diese Frisuren nicht gewöhnen. Die Frauen sehen immer aus, als kämen sie gerade aus dem Bett. Willst du sie eventuell trösten?«

»Spinnst du? So geschmacklos, vor deinen Augen etwas mit einer anderen anzufangen …«

»Das war ein Joke. Haben Sie Ihren Humor an der Garderobe abgegeben, Herr Lange?«

»Bei dir weiß man nie …«

»Hast du die Alte gesehen? Die muss doch schon seit Ewigkeiten im Ruhestand sein. An irgendjemand erinnert sie mich. Und der schnöselige Typ, der der Jüngste von uns allen zu sein scheint, kommt auch aus Deutschland. Der melancholisch aus der Wäsche guckende Schwarzhaarige dürfte Italiener sein und der Blonde mit dem markanten Gesicht eher Skandinavier. Aber dass sich auch ein Pfaffe unter den Gästen befindet, mutet etwas seltsam an.«

»Warum? Offensichtlich gibt es noch mehr unter ihnen, die sich detektivisch betätigen. Wahrscheinlich braucht er das Geld für die Renovierung seiner Kirche.«

»Wie ich sehe, bekommt Ihnen der Wein«, machte sich Hector Oiseau erneut bemerkbar.

»Hört sich fast an, als würden Sie es bedauern«, sagte Valerie.

»Aber ich bitte Sie, Madame! Ich will das Preisgeld auf legale Weise und nicht durch Mord verdienen.«

»Wie beruhigend. Was halten Sie von unserem Gastgeber?«

»Ein unsympathischer Bursche, wie so viele Millionäre. Und sein Auftritt ist ein uralter Schaustellertrick, eine Weiterentwicklung des sogenannten Pepper's ghost, einer Methode, die bereits im 19. Jahrhundert von dem britischen Erfinder John Pepper erdacht wurde, um dreidimensionale Illusionen zu erzeugen. In der modernen Variante wirft ein Projektor an der Decke ein herkömmliches Video auf einen spiegelnden Boden. Dieser wiederum reflektiert das Geschehen auf eine transparente Folie oder Glasplatte, die darüber in einem Winkel von etwa 45 Grad angebracht ist. Stimmen Winkel und Abstände, lässt sich so eine erstaunlich plastische und echt wirkende Darstellung erzielen, wie wir uns alle überzeugen konnten. Das eitle Gehabe sagt viel über seine Person aus. Ich weiß nicht so recht, was ich von alldem halten soll.«

»Da geht es Ihnen wie uns«, meinte Hinnerk.

»Wollen wir jetzt allen brav das Pfötchen geben oder abwarten, bis sie es tun? Ich würde mich lieber aufs Zimmer zurückziehen. Die Vorstellungsrunde können wir auch morgen beim Frühstück erledigen.«

»Ganz deiner Meinung. Entschuldigen Sie uns, Monsieur Oiseau?«

»Aber bien sûr, eine angenehme Nachtruhe wünsche ich.«

»Merci, ebenfalls. Hoffentlich ist es nicht die letzte«, flachste Valerie. Aber so recht wohl war ihr dabei nicht.

Das Zimmer stellte sich als recht komfortabel und stilvoll mit seinen alten Möbeln und dem Himmelbett heraus. Valerie öffnete probeweise den alten Schrank. Falls ihr ein muffiger Geruch entgegenschlagen sollte, würde sie ihre Sachen lieber im Koffer lassen, beschloss sie. Doch ihre Sorge war unbegründet. Es roch nur leicht nach Lavendel. Das galt auch für die Matratze und das Bettzeug, die zusätzlich tadellos rein waren.

Wenig später krochen Valerie und Hinnerk unter die gemeinsame Decke, stopften sich Kissen in den Rücken und streckten die Beine aus.

»Was meinst du? Hätten wir lieber absagen sollen?«, fragte sie.

»Nö, die sehen doch alle ganz harmlos aus. Vielleicht ist dieser Mr. Finn der einzig paranoide unter ihnen«, meinte Hinnerk.

»Aber wenn es stimmt, was er sagt, und er wirklich tot ist, muss einer ein Mörder sein. Wir sollten sie alle genau unter die Lupe nehmen.«

»Dasselbe haben die anderen auch vor. Nur einer wiegt sich in fälschlicher Sicherheit. Doch es müsste doch mit dem Teufel zugehen, wenn nicht einer von uns ihm draufkommt.«

»Den Herrn der Finsternis lassen wir mal lieber aus dem Spiel. Mir reicht die Erfahrung mit dieser Sekte in Köpenick.*«

»Es war ja auch nur bildlich gemeint. Dass der Alte das Personal ausgeklammert hat, schmeckt mir gar nicht. Einer von ihnen hätte doch am ehesten Gelegenheit gehabt, ihn umzubringen.«

»Diese Elsie scheint mir der Typ schüchternes Reh zu sein. Sie hat kaum gewagt, dich anzusehen, als sie uns zum Zimmer geführt hat. Aber stille Wasser gründen bekanntlich tief. Und dieser Mrs. Denver traue ich erst recht nicht über den Weg. Sie ist so eine Mischung aus der „seltsamen Gräfin“ und dieser

Hausdame aus „Rebecca“. Beide hatten einen Sprung in der Schüssel. Über den Koch, Mr. Porter kann ich mir noch kein Urteil erlauben, da er bisher nicht in Erscheinung getreten ist.«

»Wie ich sehe, bist du schon so richtig in deinem Element. Was mich anbelangt, gönne ich mir jetzt eine Mütze voll Schlaf. Die nächsten Tage dürften anstrengend werden.«

*siehe Teil 9 „Böse Mächte“

»Was glaubst du, was ich tue? Polka tanzen?«


Als Valerie und Hinnerk am nächsten Morgen herunterkamen, war im Rittersaal ein Frühstücksbuffet aufgebaut, das keine Wünsche übrig ließ. Deutsche, Engländer, Franzosen, Italiener und Skandinavier konnten voll auf ihre Kosten kommen. Elsie war unentwegt bemüht, für frischen Kaffee und Tee zu sorgen, denn es hatten sich schon einige Herrschaften versammelt.

Am Kopf der Tafel thronte Hector Oiseau mit frisch gewichstem Schnurrbart. Die ältere Dame stellte sich als Miss Margaret Clarke aus Molesworth, einem Dorf in der Grafschaft Cheshire, vor, der leicht schnöselig wirkende jüngere Mann als Dr. Klaus-Gustav Wörner aus Ulm, der italienische Beau als Carlo Moretti aus Mailand und der Blonde mit dem markanten Gesicht als Oscar Wallin aus Stockholm. Der Pfarrer oder Pastor schien einen gesegneten Schlaf zu haben, denn er kam erst später. Das galt auch für Marita Berg und den Richter Laurenz Markgraf, die als Letzte erschienen.

Valerie saß neben dem blonden Kommissar aus Stockholm, der schon vor dem Frühstück irgendwelche undefinierbaren Pillen schluckte. Außerdem hatte er eine leichte Alkoholfahne, wie Valerie auffiel.

»Ich höre, Sie kommen aus Stockholm«, sprach sie ihn an. »Meine Mutter hat in der Västerlånggatan in der Altstadt Gamla Stan ein Antiquitätengeschäft.«

»Ja, da gibt es einige nette, kleine Läden. Ich bin öfter dort, weil ich alte Dinge schätze und liebe. Meine Frau hatte dafür leider kein Verständnis.«

»Warum hatte? Lebt sie nicht mehr?«

»Doch, sie erfreut sich bester Gesundheit. Wir sind geschieden.«

»Schade. Das war ich auch. Aber ich habe meinen Mann ein zweites Mal geheiratet.«

»Das soll gelegentlich vorkommen, ist bei uns aber ausgeschlossen. Ich gehe davon aus, dass Ihre Mutter eine Deutsche ist. Was hat sie nach Stockholm verschlagen?«

Valerie lachte.

»Nein, Tyra ist ebenso in Schweden geboren wie ich. Ich bin nur in Deutschland aufgewachsen.«

»Sind Sie gebürtige Stockholmerin?«

»Nein, meine Mutter stammt aus Malmö, und dort habe ich auch das Licht der Welt erblickt.«

»Interessant, dort habe ich am Anfang meiner beruflichen Laufbahn als Polizist gearbeitet. Dann haben Sie schwedisches Blut in den Adern. Werden Sie irgendwann nach Schweden zurückgehen?«

»Das ist gut möglich. Zum Beispiel, wenn mir Tyra ihren Laden vererbt.«

Hinnerk räusperte sich.

»Mein Mann hört das nicht gerne. Andererseits weiß er, dass ich immer das tue, was mir gefällt. Haben Sie Kinder, Herr Wallin?«

»Ja, eine Tochter. Sie eifert mir beruflich nach. Aber anders als mein Vater akzeptiere ich das.«

»Ich kenne das Problem. Unser Sohn Ben ist auch nicht mit unserer Berufswahl einverstanden. Und meine Mutter lässt keine Gelegenheit aus, sie mir vorzuwerfen.«

»Hätten Sie lieber ins Antiquitätengeschäft einsteigen sollen?«

»Wie? Ach so, ich meine nicht Tyra, sondern Karen, meine Adoptivmutter. Aber das ist eine andere Geschichte.«

»Es ist sicher nicht einfach, zwei Mütter zu haben.«

»Mitunter, doch es gibt Schlimmeres.«

Während Valerie sich mit Kommissar Wallin unterhielt, versuchte Hinnerk, sich ein Bild von den anderen Teilnehmern zu machen. Miss Clarke, die Valerie etwas respektlos als die Alte bezeichnet hatte, machte einen auffällig harmlosen Eindruck. Man hätte sie in Deutschland durchaus als Kaffeetante bezeichnen können. Ihre eisgrauen Löckchen und die vielen feinen Fältchen ließen sie als liebe Oma erscheinen. Doch dazu passten die wachen hellen Augen nicht, denen nichts im Raum und an ihren Mitmenschen entging. Als sie ihr Tischnachbar korrekt mit Ms Clarke ansprach, verbesserte sie ihn sogleich.

»Oh, sagen Sie bitte Miss. Ich bin stolz darauf, ein Fräulein zu sein und schätze die neue Bezeichnung, die nicht erkennen lässt, ob es sich um eine ledige oder verheiratete Frau handelt, nicht sehr. Außerdem befürchte ich immer, dass bei „Ms, also in der Lautsprache mizzz die Spucke meines Gegenübers in meinem Gesicht landet.«

Der schnöselige Typ machte ein Gesicht, als hätte man ihn nicht nur verbal abgewatscht. Dr. Wörners Augen blickten ebenso wachsam, aber eher ein wenig ruhelos, hinter seinen Brillengläsern. Sein an sich hübsches Gesicht ließ ihn durch einen stets leicht arroganten Ausdruck weniger sympathisch wirken, stellte Hinnerk fest.

Der schwarzhaarige Commissario Moretti, den Valerie als melancholisch aus der Wäsche guckend beschrieb, machte durch seine weichen Gesichtszüge und den offensichtlich ebenfalls gefärbten Haaren einen fast geschlechtsneutralen Eindruck. Die piepsige Stimme verstärkte das noch. Dagegen sah Heiko fast wie ein Bauarbeiter aus.

Als Father Green dann endlich erschien, betrachtete Hinnerk auch ihn interessiert. Der Gottesmann hatte ein pausbäckiges Gesicht mit leicht geröteten Wangen, als käme er gerade aus der Sommerfrische oder wäre im Dauerlauf zur Tafel gekommen. Sein schwarzes Gewand spannte über dem Bauch. Er war also den leiblichen Genüssen durchaus zugetan. Inwiefern er mit seinen Hobbyermittlungen erfolgreich war, konnte Hinnerk nicht beurteilen, denn zur Recherche fehlte ihm sein Smartphone.

Valerie zog es nach draußen. Sie wollte nach dem Frühstück unbedingt die Insel erkunden. Hinnerk war mittlerweile derart in ein Gespräch mit dem irischen Priester vertieft, dass er noch bleiben wollte. Er würde später nachkommen, meinte er.

Valerie war noch nicht lange unterwegs, als ihr Miss Clarke begegnete.

»Wie schön, meine Liebe, dass ich Sie treffe«, sagte die alte Lady. »Ist das nicht ein wahres Paradies? So recht ein Ort zum Sterben.«

»So eilig habe ich es damit eigentlich nicht«, meinte Valerie.

»Ich weiß, Sie haben ja auch noch mehr als das halbe Leben vor sich. Ich könnte mir für mich vorstellen, inmitten der herrlichen Landschaft meine letzte Ruhe zu finden. Will aber gerne noch etwas warten und schon gar nicht durch Mörderhand enden. Es gibt hier zwei Sandstrände und sehr romantische Felsküsten. Trotz der salzhaltigen Luft gedeihen auf der Insel über zweihundert unterschiedliche Baum-, Strauch- und Blumenarten. Wussten Sie, dass der Erbauer des Schlosses der Autor des berühmten Romans Quo Vadis ist?«

»Nein, bisher nicht. Verzeihen Sie, wenn ich das sage, aber warum genießen Sie nicht Ihren wohlverdienten Ruhestand, statt hier auf Mörderjagd zu gehen?«

»Ich kann nicht anders. Das ist meine Leidenschaft. Sehr zum Verdruss von Inspector Cook. Dabei habe ich ihm schon geholfen, mehrere Mordfälle aufzuklären. Gelernt habe ich das nicht. Ich war nie in Diensten der Polizei und betreibe es nur hobbymäßig. Bei uns in Chester gibt es nämlich den Thursday Night Club, eine Diskussionsrunde, die sich mit ungeklärten Verbrechen befasst.«

»Wie kommt es, dass Sie so gut Deutsch sprechen?«

»Finden Sie? Danke. Ich hatte eine deutsche Erzieherin, müssen Sie wissen.«

»Ach daher. Und, haben Sie schon eine Ahnung, wo sich die Leiche von Mr. Finn befinden könnte?«

»Ich habe da so meine Vermutung. Eher im Haus als hier draußen, wenn Sie mich fragen. Das wäre zu auffällig gewesen.«

»Wissen Sie, was ich mich die ganze Zeit frage? Wie konnte dieser Mr. Finn so sicher sein, ermordet zu werden?«

»Vielleicht, weil er den Mörder und dessen Motive kannte.«

»Aber warum hat er ihn dann nicht angezeigt und sich in Sicherheit gebracht?«

»Ich denke, weil er insgeheim der Meinung war, den Tod verdient zu haben. Er wird auch nicht wirklich davon überzeugt gewesen sein, dass einer von uns den Täter überführt. Dafür spricht auch das verhältnismäßig hohe Preisgeld. Vielmehr dürfte es seine Intension sein, uns alle lächerlich zu machen und uns Unfähigkeit zu bescheinigen. Außerdem glaube ich, dass mindestens einer der Gäste sich eine falsche Identität zugelegt hat. Ich meine, außer dem Mörder.«

»Das ist ein interessanter Gedanke. Die nächsten Tage werden zeigen, ob einer sein Gesicht verliert.«


Zehn kleine Mörderlein

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