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1. Kapitel

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Die Hauptkommissare Valerie Voss und Hinnerk Lange, die bereits zum zweiten Mal miteinander verheiratet waren und bereits einen gemeinsamen erwachsenen Sohn hatten, bekamen überraschend Besuch von ihrem Sprössling. Ben lebte seit Kurzem mit seiner Freundin, Lena, zusammen. Lena war als Junge zur Welt gekommen, hatte aber ihren Körper nie akzeptieren können. Mittlerweile war sie nach mehreren geschlechtsanpassenden Operationen von einer Frau nicht zu unterscheiden. Anfangs hatten sich beide erst zusammenraufen müssen, denn die Erkenntnis über Lenas Vergangenheit hatte Ben wie ein Schlag getroffen. Doch er war viel zu verliebt, um diese Traumfrau gehen zu lassen, und klärende Gespräche mit ihm nahestehenden Personen hatten seinen inneren Widerstand schließlich dahinschmelzen lassen. Sie hatten alle ganz Recht, wenn sie meinten, es käme nur auf den Mensch an und nicht auf das Geschlecht mit dem er geboren worden war.

Das Ehepaar Voss/Lange war schon von Berufswegen toleranter. Außerdem begriff sich Valerie nicht als ausgesprochene Hetera. Es konnte durchaus vorkommen, dass sie sich mitunter in eine Frau verliebte, wie unlängst in die schöne Rechtsmedizinerin Stella Kern und zuvor in deren Vorgängerin, Tina Ruhland. Tina war bei einem Autounfall ums Leben gekommen, und Stella war im Begriff, eine andere Frau zu heiraten, und wollte künftig mit Valerie nur noch freundschaftlich verkehren. Damit hatte eine vielversprechende Affäre ihr Ende gefunden.

Hinnerk nahm die gleichgeschlechtlichen Seitensprünge seiner Frau gelassen hin. Solange es sich „nur“ um eine Frau handelte … Wie er reagieren würde, wenn er in Konkurrenz zu einem Mann treten müsste, blieb dahingestellt. Bisher war dieser Fall zum Glück noch nicht eingetreten.

Bezüglich ihrer künftigen Schwiegertochter waren die Meinungen ambivalent. Im Gegensatz zu Hinnerk, der damit keine Probleme hatte, war Valerie nicht gerade begeistert. Nicht dass sie etwas gegen Transmenschen hatte … Sie mochte Lena und konnte Ben gut verstehen … Sie machte sich nur Sorgen, ob Ben auf Dauer mit den Umständen zurechtkommen würde. Vielleicht trauerte sie auch ein wenig der Chance nach, einmal Großmutter zu werden. Denn ein angenommenes Kind würde nicht die berühmten Voss/Lange-Gene aufweisen, sondern gänzlich fremde. Überlegungen, die sie weitgehend für sich behielt. Wie gesagt, sie mochte Lena sehr und fand sie ganz entzückend.

»Ich bringe euch Freikarten für die Premiere«, sagte Ben, nachdem sich alle mit Küsschen begrüßt hatten.

»Danke, meinte Hinnerk. »Hast du auch an deine beiden Omas gedacht? Ich glaube nicht, dass sie sich entgehen lassen, ihren Enkel auf der Bühne zu bewundern.«

Ben hatte nämlich zwei Omas, und zwar mütterlicherseits. Denn Valerie war als Säugling von Karen und ihrem Mann Christoph adoptiert worden, nachdem man damals der minderjährigen Tyra in Malmö gegen ihren Willen das Baby weggenommen hatte. In Schweden hatten sich Mutter und Tochter erst vor nicht allzu langer Zeit wiedergefunden, was Karen gelegentlich zu Anfällen von Eifersucht veranlasste.

»Papa, wir haben nur ein begrenztes Kontingent an Freikarten, und da Karen und Tyra nicht gerade am Hungertuch nagen …«

»Schon gut, schon gut. Dann werden wir ihnen die Karten schenken.«

»Blödsinn, Herbert wird sich nicht nehmen lassen, die Karten selbst zu kaufen«, sagte Valerie.

Herbert Schindler war der zweite Mann von Karen, den sie nach einigem Zögern nach Christophs Tod geheiratet hatte. Alle mochten den feinsinnigen, älteren Mann, der Karen förmlich auf Händen trug.

»Wenn deine Großeltern in die Vorstellung kommen, solltest du sie vielleicht vorwarnen«, meinte Lena.

»Olle Petze. Jetzt hast du die ganze Überraschung verdorben«, maulte Ben.

»Moment mal, habe ich etwas nicht mitbekommen?«, fragte Valerie. »Um was für eine Überraschung handelt es sich dabei, und warum müssen die alten Herrschaften vorgewarnt werden? Du hast aber nicht zufällig die Absicht, auf offener Bühne zu kopulieren?«

»Das nicht gerade. Aber er wird in einer Szene völlig nackt sein«, sagte Lena.

»Ohne geht es ja heutzutage im Theater kaum noch«, meinte Hinnerk. »Wenn’s weiter nichts ist.«

»Du sprichst große Worte gelassen aus. Ich glaube nicht, dass mir gefällt, wenn mein Sohn allen seinen Schniedel zeigt«, insistierte Valerie. »Auch wenn er außerordentlich gut bestückt ist.«

»Woher weißt du? Wann hast du deinen Sohn zuletzt nackt gesehen?«, hakte Hinnerk nach.

»Als er nach seinem WG-Auszug vorüber-gehend wieder bei uns gewohnt hat. Und unter Hemmungen hat er noch nie gelitten. Jedenfalls, was das Nacktsein betrifft.«

»Ihr könnt euch wieder abregen. Ich werde nicht damit herumwedeln. Es ist auch keine Sexszene. Die Dramaturgie erfordert einfach in jenem Moment Hüllenlosigkeit.«

»Na, wenn die Dramaturgie es erfordert … Das scheint ja jetzt dein Thema zu sein, nachdem du dich entschlossen hast, Film- und Theaterwissenschaft zu studieren«, sagte Valerie. »Woher dieser Sinneswandel kommt, habe ich immer noch nicht begriffen. Wo einst Psychologie oder Geschichte im Gespräch waren.«

»Ich habe schnell gemerkt, dass mich die Geisteswissenschaften besonders interessieren. Vor allem aber die Film- und Theaterwissenschaft. Du weißt ja, wie gerne ich Filme gucke, und jetzt sind auch die Theaterstücke hinzugekommen. Jedenfalls habe ich mich für einen Kombi Bachelor Studiengang entschieden. Der beinhaltet Filmanalyse, Film- und Theatergeschichte, Gegenwartstheater, Theorie und Ästhetik.«

»Und wie lange wird das Studium dauern?«, wollte Valerie wissen.

»Die Regelstudienzeit beträgt vier Semester. Es gibt eine Grundlagenphase, eine Aufbau- und eine Vertiefungsphase. Danach erfolgt die Bachelorarbeit.«

»Und welchen Beruf kannst du anschließend ergreifen?«, fragte Hinnerk.

»Ich kann am Theater, an der Oper, beim Film, Fernsehen oder Rundfunk arbeiten. Aber auch in Bibliotheken, Archiven, Kunstvereinen oder anderen kulturellen Einrichtungen wie Verlagen und in der öffentlichen oder privaten Verwaltung. Ich könnte zum Beispiel Dramaturg, Redakteur, Lektor, Regisseur, Produzent oder freier Publizist werden. Sogar Intendant von Festspielhäusern. Aber zunächst will ich lieber kleine Brötchen backen.«

»Aber dass man als Hospitant selber mitspielt, ist wohl eher die Ausnahme, oder?«, fragte Valerie.

»Natürlich, das geht auch nur bei freien Theatergruppen, wie ich sie jetzt gefunden habe. Und auch nur, weil jemand ausgefallen ist und ich seinem Typ zufällig sehr nahe komme. Ein weiterer Glückumstand ist, dass es sich fast um eine stumme Rolle handelt, bis auf ein, zwei Sätze.«

»Also bessere Statisterie. Dann wird es wohl vorerst nichts mit der großen Schauspielkarriere«, witzelte Hinnerk.

»Es war nie meine Intension, Schauspieler zu werden …«

»Und dir macht es nichts aus, dass dein Freund sich im Adamskostüm präsentiert, Lena?«

»Äh, nö. Es ist ja sein Körper. Kussszenen würde ich heikler finden.«

»Schatz, das wären allenfalls Filmküsse.«

»Demnach kommt so eine Szene vor?«

»Nein, bisher jedenfalls nicht. Süß bist du, wenn du eifersüchtig bist.«


Einige Zeit zuvor

Cosima Deter und Myron Bick waren in ihrem angeheiterten Zustand bester Laune. Auf dem Weg zu ihren Zimmern kamen sie an der Tür von ihrem Kollegen, Janto Fehr vorbei. Ehe Myron sich versah, klopfte Cosima an Jantos Tür.

»Hallo, schläfst du schon? Die Nacht ist nicht allein zum Schlafen da«, kicherte Cosima und strich sich eine dunkle Locke aus dem Gesicht.

»Jetzt lass doch! Wahrscheinlich hat er wieder mit seiner Allergie zu tun«, sagte Myron, ein gutaussehender Enddreißiger mit blonden, kurzen Haaren und kleinen Lachfältchen um die hellen Augen.

»Ach, der soll nicht so langweilig sein. Schlafen kann er noch, wenn er tot ist.«

»Wir könnten noch einen Drink auf meinem Zimmer nehmen. Dazu brauchen wir Janto nicht.«

»Das könnte dir so passen, du Charmeur. Auch wenn sich die meisten Frauen deiner unwiderstehlichen Ausstrahlung nicht entziehen können, ich bin die Ausnahme von der Regel. Ein Techtelmechtel unter Kollegen bringt nur Komplikationen. Altersmäßig passt Janto eh besser zu mir.«

»Das Greenhorn? Du brauchst einen Mann mit Erfahrung. Da bin ich mir ziemlich sicher.«

»Schon möglich, aber bestimmt nicht dich.«

Cosima drückte die Klinke herunter, und die Tür gab tatsächlich nach. Auf leisen Sohlen schlich sie sich ins Zimmer.

»Hey, du Schlafmütze. Aufwachen!«

Kurz darauf stieß Cosima einen gellenden Schrei aus und rettete sich in die Arme von Myron, der noch immer auf dem Flur stand. Nebenan wurde eine Tür geöffnet, und eine nur leicht bekleidete Rothaarige namens Berlind, die mehr zu Myrons Altersgruppe passte, machte ein böses Gesicht.

»Mach nicht solchen Krach. Andere wollen nicht um ihre Nachtruhe gebracht werden.«

»Da, da … stimmt was nicht«, stotterte Cosima. »Janto liegt bewegungslos in seinem Bett und sieht so seltsam aus.«

»Das liegt daran, dass er tot ist, meine Liebe«, sagte Myron, der inzwischen im Zimmer nachgesehen hatte.

»Waaas?« Cosima fing wieder an zu schreien, woraufhin Berlind ihr eine Ohrfeige verpasste.

»Spinnst du?«, beschwerte sich Cosima und hielt sich die Wange.

»Ich wollte nur verhindern, dass du das ganze Haus wachmachst.«

Mittlerweile waren noch mehr Pensionsgäste auf den Flur getreten. Unter ihnen der junge Frieder Dilger, der mit seinen Sommersprossen und den strohblonden Haaren seine nordische Herkunft nicht verbergen konnte. Weiterhin Marlit Calmer, eine überschlanke Frau mit vom Schlafen verstrubbelten, brünetten Haaren und dunkelbraunen, kalten Augen, Irmine Rade, jenseits der vierzig, vollschlank mit dünnen, blonden Löckchen, Anselm Epke, ein blasser Endvierziger mit gehetztem Gesichtsausdruck und Apollo Tomkins, der mit seinen blondierten Haaren beinahe geschlechtsneutral wirkte.

»Seid ihr jetzt völlig durchgeknallt, mitten in der Nacht so einen Lärm zu veranstalten?«, fragte Anselm übergangslos.

»Cosima hat so geschrien, weil Janto etwas passiert ist«, verteidigte Myron seine Kollegin.

»Dann ruft einen Arzt oder die Feuerwehr, aber steht hier nicht untätig herum«, sagte Irmine.

»Ein Arzt wird da kaum noch etwas ausrichten können. Janto ist offensichtlich tot.«

Die Frauen pressten die Hände vor den Mund, und die Männer sahen sich ratlos an.

»Dann müssen wir die Polizei rufen«, brach Anselm das Schweigen.

»Schon geschehen«, sagte die rundliche Wanda Kubaschewski, ihres Zeichens Wirtin der Pension. »Bis die Leute eintreffen, geht bitte auf eure Zimmer, meine Lieben. Und haltet euch von Jantos Zimmer fern. Auf keinen Fall darf jemand etwas anfassen.«

»Du bist gut, Wanda. Du glaubst doch nicht, dass einer von uns heute Nacht noch Ruhe findet«, sagte Erko Baringhaus, der mit seiner sonoren Stimme und den eisgrauen Haaren gerne den Typ des reifen Gentlemans verkörperte.

»Also gut. Wer will, versammelt sich im Frühstücksraum. Ich koche einige Kannen Kaffee. Aber tut mir den Gefallen und verhaltet euch ruhig. Hysterie bringt uns im Moment nicht weiter.« Wanda drehte sich auf dem Absatz um, und die meisten folgten ihr.

Als Valerie und Hinnerk später eintrafen, war die Spurensicherung schon mitten in der Arbeit. Manfred Hoger begrüßte Valerie und Hinnerk.

»Hallo, männliche Leiche, Name: Janto Fehr, zweiundzwanzig Jahre alt, wohnhaft in Düsseldorf Oberkassel. Das Zimmer war unverschlossen, und es gibt keine Kampfspuren. Handy und Laptop haben wir schon sichergestellt. Leider sind beide passwortgeschützt. Aber wir haben ja unsere Experten. Dauert nur etwas länger.«

Auch die Rechtsmediziner Knud Habich und Stella Kern waren schon aktiv.

»Puh, der sieht ja zum Fürchten aus«, sagte Valerie. »Ist das dicke Etwas in seinem Mund die Zunge oder ein Fremdkörper?«

»Die Zunge, die zum Erstickungstod geführt hat, wie es aussieht«, sagte Stella. »Guten Morgen übrigens.«

»Von einem guten kann mal wohl kaum sprechen. So langsam stehen mir diese Nachteinsätze bis hier.« Valerie hielt ihre ausgestreckte Hand dicht über dem Kopf.

»Was meinst du, wie es mir geht?«, fragte Knud. »Aber das ist nun mal der Normalfall. Nur der frühe Vogel fängt den Wurm.«

»Todeszeitpunkt?«, fragte Hinnerk.

»Vor ein bis zwei Stunden. Die Leichen-starre beginnt gerade erst an den Augenlidern.«

»Glaubt ihr, man hat ihn erdrosselt?«

»Eher nicht. Es gibt keine Würgemale am Hals. Und selbst ein Kopfkissen dürfte nicht die Ursache gewesen sein, da keine punktförmigen Einblutungen in den Augen vorhanden sind. Allerdings kommt es vor, dass keine Petechien entstehen, wenn der Kopf in etwas Weiches gedrückt wird.«

»Woran kann er dann erstickt sein?«, fragte Hinnerk.

»Ich meine, mehrere Einstiche in seiner Zunge entdeckt zu haben. Höchstwahrscheinlich von einer Wespe.«

»Aber die müsste dann hier doch noch rumschwirren …«

»Ich wette, wir finden sie, oder das, was davon noch übrig ist, in seinem Magen. Er wird sie verschluckt haben«, sagte Stella.

»Demnach ein bedauerlicher Unglücksfall. Und wir sind hier fehl am Platze «, sagte Valerie.

»Entschuldige, wenn ich widerspreche. Wer würde sich wohl seelenruhig schlafen legen, wenn er eine Wespe im Zimmer hat?«

»Er könnte doch ein Schlafmittel genommen haben und das Insekt zunächst nicht bemerkt haben.«

»Oder jemand hat seinen Dämmerzustand ausgenutzt und ihm das Insekt beigebracht. Zum Beispiel mithilfe eines umgestülpten Glases über dem Mund. Dafür sprechen auch die feinen Zuckerkristalle um die Nase. Wahrscheinlich hat man das Insekt mithilfe einer Zuckerlösung gefangen.«

»Pfui Deibel, wie hinterhältig. Dann war er also Allergiker und hat einen anaphylaktischen Schock erlitten?«

»Das ist gut möglich. Aber mehrere Stiche in die Zunge können sie so anschwellen lassen, dass man daran erstickt, auch ohne Allergiker zu sein. Es befand sich auch kein Notfallset in seiner Nähe.«

»Das könnte jemand entsorgt haben«, sagte Valerie. »Damit kommt eine Menge Arbeit auf uns zu, denn jeder Pensionsbewohner könnte potenziell der Täter sein.«

»Ja, man hat’s nicht leicht, aber leicht hat’s einen«, meinte Hinnerk.

»Deine Kalendersprüche haben mir jetzt gerade noch gefehlt.« Valeries Ton war unverhältnismäßig scharf, aber sie war gelinde gesagt etwas mit der Situation überfordert. Sie hatte zwar befürchtet, die Exgeliebte am Tatort anzutreffen, aber bis zuletzt gehofft, der Kelch würde an ihr vorübergehen.

»Ich löse mich ja schon in Luft auf«, sagte Hinnerk. »Vielleicht haben die Kollegen von der Spusi etwas im Gemeinschaftsbad gefunden.«

Hinnerk ging erneut auf Manfred Hoger zu, und er sollte Recht behalten mit seiner Vermutung.

»Ja, im Bad fanden wir ein Notfallset. Allerdings gänzlich ohne Fingerabdrücke. Eigentlich ein Unding, da das Opfer kaum Handschuhe getragen haben dürfte. Und das man so etwas im Bad vergisst, halte ich auch für unwahrscheinlich.«

»Demnach erhärtet sich die Mordtheorie. Damit man das Indiz nicht in seinem Zimmer findet, hat es der Täter hier im Bad deponiert und die Fingerabdrücke sorgfältig entfernt.«

»Dann macht mal. Falls wir noch etwas Auffälliges finden, sage ich Bescheid«, sagte Manfred.

Im Zimmer des Toten schwiegen sich die beiden Frauen an, bis Valerie das peinliche Schweigen brach.

»Und, bist du glücklich? Habt ihr schon geheiratet?«

»Nein, vorerst noch nicht. Ich hätte dir sonst eine Einladung geschickt«, meinte Stella mit trockenem Mund. »Und ja, ich bin glücklich. Auch wenn es mir leidtut, dir wehgetan zu haben.«

»Komm, das hatten wir doch schon. Du hast es ja nicht mit Absicht getan. Denke ich jedenfalls. Außerdem bin ich Kummer gewohnt.«

»Entschuldigt, wenn ich störe«, sagte Hinnerk. »Wie wollen wir denn jetzt vorgehen bei der Befragung der Pensionsgäste? Einzeln oder gemeinsam?«

»Das kommt drauf an, ob sich alle im Gemeinschaftsraum versammelt haben, oder ob sich welche auf ihr Zimmer zurückgezogen haben.«

»Sowohl als auch, denke ich. Soll ich die Zimmer aufsuchen, und du befragst die gemeinsam versammelten?«

»Das wäre eine Möglichkeit. Wir können es aber auch zusammen machen. Die Pension wird ja nicht Dutzende von Zimmern haben. Vielleicht sollten wir ohnehin bei der Wirtin anfangen.«

»Einverstanden. Dann los!«

Im Frühstücks- oder Gemeinschaftsraum klapperten Tassen, und mehrere Stimmen sprachen aufgeregt durcheinander. Es gab aber auch Gäste, die stumm verharrten und wie erstarrt wirkten.

»Meine Damen und Herren, darf ich einen Moment um Ihre Aufmerksamkeit bitten!«, sagte Hinnerk. »Wir sind Hauptkommissare vom LKA und würden Ihnen gleich ein paar Fragen stellen. Anfangen würden wir aber zunächst mit Frau Kubaschewski. Können wir uns irgendwohin zurückziehen?«

»Ja, bitte kommen Sie mit in meinen Salon. Bis gleich, Kinder!«

In Wandas Salon schien die Zeit stehen geblieben zu sein. Das äußerte sich im Interieur, aber auch an unzähligen Fotos und Plakaten. Alle zeigten eine dralle, ein wenig aufreizend wirkende Person.

»Sind Sie eine Bühnenberühmtheit? Muss man Sie kennen?«, fragte Hinnerk.

»Ach, das ist lange her. Zu DDR-Zeiten war ich als Wanda Kubana auf allen Bühnen zu Hause, doch nach der Wende … Na ja, inzwischen bin ich in einem Alter … Jetzt kümmere ich mich um die jüngere Generation. Das sind alles meine Kinder. So kommt es mir jedenfalls vor.«

»Demnach führen Sie eine reine Künstlerpension?«, fragte Valerie.

»In der Hauptsache schon. Hin und wieder verirrt sich auch einmal ein Gast hierher, der noch nie Bühnenluft geschnuppert hat.«

»Daher der Name „Thalia“. Wie lange gibt es Sie schon?«

»Seit den frühen Achtzigern. Damals war die Miete noch ein Bruchteil von heute. Vielleicht auch, weil die Straßenbahn direkt am Haus vorbeifuhr. Aber mein alter Mietvertrag bewahrt mich vor dem Schlimmsten. Wie lange noch, sei dahingestellt. Ich habe immer gehofft, man würde mich eines Tages mit den Füßen zuerst raustragen.«

»Das ist ein gutes Stichwort«, sagte Valerie. »Wem von Ihren „Kindern“ würden Sie einen Mord zutrauen?«

»Keinem, ehrlich gesagt. Wollen Sie damit andeuten, Janto sei ermordet worden?«

»Der Verdacht drängt sich auf. Letzte Gewissheit wird der Autopsiebericht bringen.«

»Nein, wie schrecklich! In meinem Haus. Könnte es sich nicht doch um einen Unglücksfall handeln? Ich meine, er war schließlich starker Allergiker …«

»Umso merkwürdiger, dass sich sein Notfallset nicht in seiner Nähe, sondern im Bad befunden hat«, sagte Hinnerk. »Es sei denn, der Täter hat es dort deponiert. Was können Sie uns über diesen Janto sagen?«

»Ach Gott, er war ein besonders hübscher junger Mann, der wie die meisten hier von einer großen Karriere träumte. Sein Handicap stand ihm dabei etwas im Weg, weil er ständig irgendwelche Medikamente nehmen musste, die ihn mitunter auch etwas benommen machten. Bei der Truppe um Merlin Arus ist er erst seit etwa einem Jahr. Aber wenn sie in Berlin gastieren, wohnen sie immer bei mir.«

»Befand sich dieser Merlin auch auf dem Flur, als man Janto gefunden hat?«

»Nein, jetzt, wo Sie es sagen … Merkwürdig, ich habe ihn nicht gesehen.«

»Wer gehört sonst noch zu der Gruppe?«

»Yola Ahlert – die beiden waren wohl mal ein Paar und haben die Gruppe gegründet –, Erko Baringhaus, Berlind Ebeler, Irmine Rade, Anselm Epke, Marlit Calmer, Myron Bick, Cosima Deter, Apollo Tomkins und Frieder Dilger. Wobei ich die Aufzählung vom Alter her absteigend genannt habe.«

»Demnach handelt es sich um eine gemischte Gruppe, von Jung bis Alt.«

»Alt? Merlin und Erko dürften so Mitte, Ende fünfzig sein. Das ist doch noch kein Alter. Janto war jedenfalls der Jüngste, gleich nach Frieder, Apollo und Cosima. Es ist durchaus von Vorteil, wenn die Rollen mit Schauspielern unterschiedlichen Alters besetzt werden können, ohne allzu viel Maske machen zu müssen. Merlin mag es auch, wenn hin und wieder ein junger Mensch frischen Wind in das Ensemble bringt.«

»Und ausgerechnet dieser Frischling musste jetzt sein junges Leben lassen …«

»Ja, furchtbar, nicht? Das Schicksal geht eben eigene Wege.«

»Gab es irgendwelche Eifersüchteleien innerhalb der Gruppe?«

»Nicht über das übliche Maß hinaus, so viel ich weiß. Sicher, jeder hält sich heimlich für den Begabtesten und meint, den größten Applaus zu bekommen. Um diese Diskussionen zu vermeiden, bedient man sich eines Tricks: Alle treten gemeinsam zur Verbeugung an die Bühnenrampe. Etwas ungewöhnlich, aber es funktioniert.«

»Danke vorerst, Frau Kubaschewski. Wir werden bestimmt noch einmal auf Sie zukommen. Aber jetzt wollen wir die anderen nicht länger warten lassen.«

»Verständlich, sie werden sich ohnehin schon gegenseitig zerfleischen.«

»Eine Frage noch: Ist Ihnen heute Nacht etwas Ungewöhnliches aufgefallen? Haben Sie Stimmen gehört oder ist Ihnen jemand auf dem Gang begegnet?«

»Nein, es geht immer mal eine Zimmertür, weil sich die beiden Toiletten und das Gemeinschaftsbad auf dem Flur befinden. Ich bin vor dem Fernseher eingedöst und erst durch die Unruhe auf dem Gang wachgeworden. Cosima, die den armen Janto gefunden hat, schrie ja wie am Spieß. Das alarmierte auch die anderen.«

»Danke, dann trotzdem noch eine gute Nacht. Wenn auch eine kurze.«

»Ja, Ihnen auch. Zum Glück gibt es niemanden, der schon um sechs frühstücken will. Sonst könnte ich gleich aufbleiben. Ob ich noch etwas Schlaf finde, weiß ich nicht. Dazu geht mir zu viel im Kopf herum. Also, viel Erfolg! Hoffentlich finden Sie schnell den Schuldigen.«

Thalia

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