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Kapitel 1

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Ein paar Kilometer weiter in der Hauptstadt war noch eine andere Frau von trüben Gedanken erfüllt. Eine Frau, die ein gänzlich anderes Erscheinungsbild aufwies. Valerie Voss, ihres Zeichens Kriminalkommissarin, fiel auf den ersten Blick auf. Dafür sorgten ihre tadellose Figur, ihr hübsches Gesicht und ihre weißblonden Haare. Ihre moderne, legere Kleidung wies nicht unbedingt auf ihren Beruf hin. So kleideten sich unzählige andere Frauen in der Stadt, auch wenn sie mitunter weniger attraktiv waren. Trotzdem gab es zwei Gemeinsamkeiten zwischen Valerie und ihrer Geschlechtsgenossin, von der Valerie zu diesem Zeitpunkt noch keine Ahnung hatte. Auch Valerie brannte für ihre Überzeugung und wollte für etwas mehr irdische Gerechtigkeit in dieser Welt sorgen. Nur stand sie dabei auf der Seite der „Guten“ und erhielt bei ihrer Mission die Unterstützung eines gewaltigen Polizeiapparates.

Nicht immer war ihr Bemühen von Erfolg gekrönt. Es gab eine hohe Dunkelziffer von nicht aufgeklärten Mordfällen, auch wenn die offizielle Statistik anderes berichtete. Doch das konnte Valerie nicht dazu veranlassen aufzugeben. Obwohl sie vor wenigen Wochen nahe daran gewesen war.

In jenen Tagen hatte sich etwas ereignet, das jede Kommissarin an ihre Grenzen führen musste. Wenn der Beruf und das Privatleben eine Durchmischung erfahren, stellt man alles infrage. Valeries Geliebter Alex war des Mordes an mehreren Menschen verdächtigt worden, und durch ihr Zögern hatte sie ihm unabsichtlich zur Flucht verholfen. Viel schlimmer waren die Folgen gewesen, in deren Verlauf ihr Geliebter und dessen Zwillingsbruder ums Leben gekommen waren. Auch sie hatte dabei kurzzeitig in Lebensgefahr geschwebt und war nur um ein Haar davongekommen.

Beinahe das Schlimmste an der Geschichte war jedoch, dass Valerie bis zum heutigen Tage nicht mit Bestimmtheit sagen konnte, ob wirklich ihr Geliebter der Täter gewesen war, oder doch sein Bruder. Beide hatten ein Verwirrspiel mit ihr getrieben, das nie aufgeklärt worden war.

Hatte Alex sie in seiner Wohnung wirklich aus dem Fenster stürzen wollen oder hatte er sich nur einen ungestümen Scherz erlaubt, der ihm letztendlich zum Verhängnis geworden war, indem er selber in die Tiefe stürzte? Valerie meinte, so etwas wie Hass und Mordlust in den letzten Sekunden in seinen Augen gesehen zu haben, als er auf sie zugestürzt war, aber da war ihr Verhältnis schon hoffnungslos zerrüttet gewesen. Er mochte sie gehasst haben, weil sie ihn verdächtigt und verfolgt hatte, vielleicht auch, weil durch sie sein Bruder und dessen Freundin auf der Flucht den Tod gefunden hatten, aber hatte er sie wirklich umbringen wollen?

Valerie würde es nie erfahren. Ein Umstand, der sie nahezu um den Verstand brachte. Zum ersten Mal hatte sie daran gezweifelt, den richtigen Beruf gewählt zu haben, weil sie glaubte, nicht über die nötige Intuition zu verfügen. Ihre Mutter Karen hatte sie in den vergangenen Wochen während ihres gemeinsamen Erholungsurlaubs umsorgt und versucht, sie wieder ins seelische Gleichgewicht zu bringen. Ob ihr das gelungen war, würde sich erst mit der Zeit zeigen.

Dabei hatte Valerie nicht die geringste Ahnung, dass am anderen Ende der Stadt eine Frau um denselben Mann trauerte, und dass der Albtraum noch längst nicht zu Ende war.

Hinnerk Lange, Valeries hübscher Kollege, ein Frauenschwarm, der die Richtige noch nicht gefunden zu haben schien, strahlte Valerie an, als sie an diesem Morgen ins Präsidium kam. Er hatte die gemeinsame Nacht, die sie im fernen Allgäu verbracht hatten, nicht vergessen, obwohl nie wieder zwischen ihnen darüber gesprochen worden war. Er wusste, dass Valerie ihre Prinzipien hatte. Dazu gehörte, keine feste Beziehung einzugehen, weil sie glaubte, das mit ihrem Beruf nicht vereinbaren zu können. Und schon gar nicht wollte sie etwas mit einem Kollegen anfangen. Das war für sie ein „No Go“. Dabei war es ein offenes Geheimnis in der Dienststelle, dass Valerie mit der kaum weniger attraktiven Rechtsmedizinerin Tina Ruhland hin und wieder in die Kiste ging, aber schließlich sahen sie sich nicht täglich, und von einer Beziehung im engeren Sinne konnte man auch nicht sprechen.

Hinnerk hatte sich so oft die bewusste Nacht vor Augen geführt, als Valerie ihren stets leicht spöttischen Unterton ihm gegenüber aufgegeben hatte. Sie war zum ersten Mal vor seinen Augen schwach geworden und hatte hilflos wie ein kleines Kind an seiner Schulter geweint. Dabei war er nicht einmal ihr Lebensretter gewesen, als sie sich auf der einsamen Alpe in der Gewalt von Alex’ Bruder und seiner skrupellosen Mutter befunden hatte. Als Hinnerk mittels Rettungshubschrauber der Bergwacht dort eingetroffen war, hatte sich Valerie schon selber befreit, denn der Mann, der Alex zum Verwechseln ähnlich sah, hatte sie verschont und war geflohen. Zuvor hatte er während eines Handgemenges unabsichtlich den Tod seiner Mutter herbeigeführt, die er liegen ließ, weil ihr ohnehin nicht mehr zu helfen gewesen war.

Zurück im Ort hatten Valerie und Hinnerk dann das Hotelzimmer teilen müssen, und da war es passiert. In ihrer aufgewühlten Verfassung, einer Mischung aus Verzweiflung, Erleichterung und Erschöpfung war der erotische Funke zwischen ihnen übergesprungen. Etwas das beide bis zu diesem Zeitpunkt nicht für möglich gehalten hatten.

Das zweite Mal, als Hinnerk Valerie weinend im Arm gehalten hatte, war, als er auf ihren Anruf hin in Alex’ Wohnung geeilt war. Vor dem Haus hatten sich die Kollegen von der KTU um den Leichnam von Alex gekümmert. Oben hatte er eine hilflose, wie versteinert wirkende, Valerie vorgefunden, die erst in seinen Armen ihren Gefühlen freien Lauf lassen konnte. Anhand der Tragik war die Situation bar jeglicher Erotik gewesen. Und seitdem waren sie sich nie wieder so nahegekommen.

Manchmal meinte Hinnerk, ein Glitzern in Valeries Augen wahrzunehmen, wenn sie ihn ansah. Aber das waren nur Bruchteile von Sekunden. Anschließend verfiel sie regelmäßig in neutrales, kollegiales Verhalten. Schade, dachte Hinnerk auch an diesem Morgen, aus ihnen hätte durchaus etwas werden können.

Auch Valerie hatte die Nacht mit Hinnerk nicht vergessen. Sie sah ihn noch in seiner Unterwäsche vor sich, mit seinen gelösten, langen Haaren, die er gewöhnlich zu einem Zopf gebunden trug. Und sie hatte seinen männlich markanten Duft noch in Erinnerung, ganz zu schweigen von seiner ungestümen, leidenschaftlichen Art, die sie ihm nicht zugetraut hätte. Aber in Gedanken wischte sie diese Bilder immer schnell fort. Wo sollte das hinführen? Deshalb war sie ihm außerordentlich dankbar, dass er es unterließ, sich ihr in vertraulicher Weise zu nähern. Nur der gelegentliche Dackelblick irritierte sie sehr, schon deshalb, weil sie den an Alex gekannt hatte, was sie jedes Mal erschauern ließ.

Valerie erwarteten auf ihrem Schreibtisch frische Blumen, belegte Brötchen aus der Kantine und ein Latte Macchiato vom nahe gelegenen Italiener.

»Kinder, jetzt übertreibt ihr aber«, sagte sie grinsend. »Auch wenn ich mir zwangsweise eine Auszeit gegönnt habe, bin ich noch kein Pflegefall, den man rund um die Uhr betutteln muss.«

»Keine Sorge, für Mittag und Abendbrot wirst du alleine aufkommen müssen. Und den Hintern wird dir auch niemand abwischen«, konterte Hinnerk.

»Schade, gerade das hätte mir gefallen können«, feixte Valerie.

»Also, ich kann mir nicht helfen, aber bei uns im Ländle sind die Frauen irgendwie damenhafter und charmanter«, sagte Lars Scheibli, der junge Kommissaranwärter.

»Ja? Dann geh doch zurück, du falscher Schwabe. Denn geboren bist du ja eindeutig in der Schweiz, wie dein Name verrät, sonst würdest du nämlich allenfalls Scheible heißen«, meinte Marlies Schmidt, die junge Sekretärin mit den Naturlocken und dem sonnigen Gemüt, die von allen nur Schmidtchen oder Lieschen genannt wurde. Was keine Abwertung bedeutete, sondern die allgemeine Wertschätzung ausdrückte, war sie doch der gute Geist der Abteilung.

»Vorsicht Schmidtchen, der kriegt es fertig und tut es«, sagte Valerie. »Und wer weiß, wen wir dann bekommen.«

»Danke, wenn das deine einzige Sorge ist.« Lars war ehrlich getroffen. »Dabei wollte ich dir grade ein Kompliment machen. Die längeren Haare stehen dir ausgesprochen gut. Ist der Friseur pleite oder lassen wir wachsen?«

»Ich weiß nicht, ob dir gerade irgendetwas wächst, aber ja, ich habe Lust auf was Neues.« Da war sie wieder die alte Valerie, was alle eher erleichtert zur Kenntnis nahmen.

»Das hast du nun davon, du Knirps«, grinste Hinnerk. »Man sollte sich vorher überlegen, auf wessen Kosten man seine Sprüche macht.«

»Asche auf mein Haupt«, grinste Lars. »Und damit das ein für allemal klar ist: Ja, ich bin in der Schweiz zur Welt gekommen, weil mein Vater ein Schweizer ist, doch schon als Baby wurde ich nach Schwaben verfrachtet, die Heimatregion meiner Mutter.«

»Dann wäre das jetzt auch geklärt«, meinte Valerie. »So langsam sollten wir zur Tagesordnung übergehen. Ihr habt mir ja schon bewiesen, dass ihr ganz gut ohne mich klargekommen seid …«

»Moment, Moment«, unterbrach Hinnerk Valerie. »Der Zufall oder die Fügung wollten es, dass wir kaum neue Fälle hereinbekommen haben. Scheinbar wird zurzeit weniger gemordet in Berlin. Nur deshalb konnten wir dich entbehren.«

»Oder sie werden nur nicht entdeckt, weil die Täter raffinierter geworden sind«, insistierte Valerie.

»Kann auch sein. Aber einen aktuellen Fall haben wir ja noch, den Doppelmord an dem Ehepaar in Heiligensee. Der passt sogar recht gut als Beispiel, was die Raffinesse oder die Kaltblütigkeit betrifft.«

»Dann lasst uns noch einmal alle Fakten auf den Tisch legen«, sagte Valerie. »Wenn es euch nicht stört, dass ich dabei kaue …«

»Eine Dame spricht nicht mit vollem Mund«, bemerkte Lars.

»Oh, natürlich, ich vergaß unseren schwäbischen Gentleman mit dem Knigge als Nachtlektüre … zum Glück sehe ich hier weit und breit keine Dame.«

»Pah«, machte Lars. »So seid ihr eben, ihr Frauen. Von einem Moment zum anderen könnt ihr euch verwandeln wie ein Chamäleon.«

»Ja, die Frauen von heute müssen alles in einer Person sein, Dame und Schlampe, Heilige und Hure. Männer können sich selten zwischen einer der Eigenschaften entscheiden.«

»Hört, hört …«

»Also«, fing Valerie erneut an. »Was habt ihr?«

»Karla und Manfred Borgelt sind in ihrem Haus kurz nacheinander erschossen worden. Die Mordwaffe, ein Kleinkalibergewehr, stammt aus dem Waffenschrank des Hausherrn. Der Schrank wurde aufgebrochen, weil der oder die Täter offensichtlich keinen Schlüssel dafür besaßen. Da das Haus relativ vereinzelt steht, will keiner der Nachbarn etwas bemerkt haben. Man hat alles gründlich gereinigt, sodass kein fremdes Gen-Material oder Fingerspuren festgestellt werden konnten. Zutritt haben der oder die Täter sich durch ein Fenster im hinteren, schlecht einsehbaren, Bereich des Gebäudes verschafft. Das Haus ist durchsucht worden, wie die herausgerissenen Schubladen beweisen. Dabei sind wahllos Dinge entwendet worden, ohne Rücksichtnahme auf den Wert.« Hinnerk machte eine Atempause.

»Das lässt darauf schließen, dass es sich entweder um keine Profis gehandelt hat, wogegen die professionelle Reinigungsaktion spricht, oder dass es ein Racheakt war«, ergriff Valerie das Wort. »Man hat nicht aus Habgier, sondern aus Hass gemordet.«

»Und da kommen die Sprösslinge des Ehepaares ins Spiel«, warf Lars ein, der noch immer nicht entscheiden konnte, ob er über die Rückkehr Valeries froh oder nicht sein sollte. Schließlich war er an Hinnerks Seite viel mehr zum Einsatz gekommen.

»Dumm ist nur, dass beide ein felsenfestes Alibi haben. Tochter Laura war zur fraglichen Zeit auf einer Party ihrer Freundinnen und hat nach übereinstimmenden Aussagen den Ort zwischenzeitlich nicht verlassen. Hinzu kommt, dass sie nicht mit einer Waffe umgehen kann und einem jungen Mädchen von knapp siebzehn kaum so eine brutale Vorgehensweise zuzutrauen ist …«

»In der Regel nicht, doch wie das heute mit den Frauen aussieht hatten wir ja gerade«, bemerkte Hinnerk. »Trotzdem sollte man annehmen, dass jemand anderes für sie die Dreckarbeit erledigt hat, wenn überhaupt.«

»Und das könnte der Bruder Florian gewesen sein, aber der war zur Tatzeit nicht in Berlin, weil er sich in Hamburg mit einem Chat-Freund getroffen hat«, sprach Lars weiter. »Wir haben das überprüft. Er war eindeutig dort.«

»Laut Protokoll war er doch mehrere Tage lang dort«, überlegte Valerie laut. »Auch der beste Freund wird nicht vierundzwanzig Stunden am Tag an seinem Rockzipfel gehangen haben. Und von Hamburg nach Berlin ist es nur ein Katzensprung im Zeitalter der modernen Verkehrsmittel. Ihr habt doch beide Geschwister vernommen, was hattet ihr für einen Eindruck von ihnen?«

»Das Mädchen wirkte traumatisiert und ist ja auch weiterhin in psychologischer Behandlung. Trotzdem hielt sich ihre Trauer in Grenzen, wenn ihr mich fragt«, sagte Hinnerk.

Lars nickte zustimmend.

»Der Knabe ist von einem anderen Kaliber. Schwer einzuschätzen und immer mit einem coolen Spruch auf den Lippen. Auch ihn scheint der Verlust der Eltern nicht sonderlich aus der Bahn geworfen zu haben.«

»Was daran liegen mag, dass es sich nicht um die leiblichen Eltern gehandelt hat. Den Akten zufolge sind beide Kinder adoptiert worden«, warf Valerie ein.

»Ja, das stimmt. Allerdings soll es sich um eine wahre Bilderbuchfamilie gehandelt haben, wie das Jugendamt bestätigt hat.«

»Das sagt gar nichts. Gerade in denen ist oft die Hölle los, ohne dass ein Außenstehender davon etwas bemerkt. Mir gibt die Tatsache zu denken, dass beide Kinder nicht sonderlich trauern.«

»Moment, das war meine ganz persönliche Einschätzung«, protestierte Hinnerk.

»Mit der du meistens richtig liegst. Und Lars scheint den gleichen Eindruck gewonnen zu haben.«

Lars nickte erneut.

»Was hat der Vergleich mit ähnlich gelagerten Fällen gebracht?«, hakte Valerie nach. »Womöglich handelt es sich nur um eine Bande von Brutalos, die nicht viel Sachverstand aufweisen, dafür aber mit umso größerer Kaltblütigkeit vorgehen.«

»Das haben wir auch ins Kalkül gezogen«, sagte Hinnerk. »Doch abgesehen davon, dass so ein Fall schon länger nicht in Berlin vorgekommen ist, stimmt die Handschrift mit älteren Fällen nicht überein. Bei denen haben die Täter entweder gezielt nach wertvollen Gegenständen gesucht beziehungsweise diese auch entwendet, oder haben sich nicht die Mühe gemacht, den Tatort derart zu säubern. Auch mit der Tatwaffe gibt es keine Übereinstimmung. Ein Kriegsveteran ist zwar vor Jahren in seinem Haus erschossen worden, aber erstens handelte es sich um ein altes Gewehr aus Kriegsbeständen und zweitens hat man ihm „nur“ in die Brust geschossen, und nicht mitten ins Gesicht wie bei den Borgelts. Die Morde glichen überhaupt eher einer Hinrichtung.«

»Wobei wir wieder beim Hass wären«, sagte Valerie. »Ich würde gerne eine Tatortbegehung vornehmen. Kommst du mit?«

»Selbstverständlich lasse ich dich nicht alleine gehen«, grinste Hinnerk. »Falls dort ein rachsüchtiges Gespenst lauert, werde ich es persönlich vertreiben.«

»Übernimm dich nicht. In dieser Hinsicht gibt es bei mir viel zu tun, wie du weißt.«

»Irgendwann wirst auch du die Gespenster der Vergangenheit abgeschüttelt haben«, sagte Hinnerk mit Überzeugung in seiner Stimme, doch wenn er ehrlich war, handelte es sich mehr um einen Wunsch als eine Überzeugung.

Dass er Valerie gerne dabei behilflich sein würde, indem er ihr Halt und Unterstützung bot, fügte er nicht hinzu, denn er hatte das Gefühl, dass es ohnehin unausgesprochen im Raum schwebte. Und er musste sich schon sehr täuschen, wenn Valerie es nicht längst ahnte. Da konnte sie noch so cool ihm gegenüber tun, ihre Blicke sprachen mitunter Bände, besonders wenn sie sich unbeobachtet glaubte.

Es war schon eine seltsame Gesellschaft, die sich im hinteren Bereich einer Schöneberger Gaststätte versammelt hatte. Man konnte nicht auf den ersten Blick sagen, was ihre Besonderheit ausmachte. Die Männer und Frauen waren in unterschiedlichem Alter und wirkten sehr introvertiert und zum Teil etwas unsicher, wobei die Frauen eher dadurch auffielen, indem sie sehr schlicht, beinahe unmodisch, gekleidet und gänzlich ungeschminkt waren. Es war mehr die Ausstrahlung, die von ihnen ausging. Eine Mischung aus Demut und wilder Entschlossenheit, zum eigenen Glaubensbekenntnis zu stehen und danach zu handeln, was die anderen Gäste veranlasste, sie argwöhnisch zu beobachten.

Auch die junge Frau, die ihre Trauer wie ein Banner vor sich hertrug, und in diesem Kreis allgemein Ella genannt wurde, war unter ihnen. Sie hatte anfangs nicht mitgehen wollen, als man beschloss, irgendwo noch etwas zu trinken, denn das konnte man auch in ihren Räumen tun. Freilich wurde dort kein Alkohol ausgeschenkt und die Männer gelüstete es zu dieser späten Abendstunde nach einem frisch gezapften Bier, das in Maßen genossen bestimmt keine Sünde war. Aber in der Gaststätte wurden auch warme Speisen serviert und das hatte letztendlich den Ausschlag gegeben. Trotzdem hatte eine ältere Frau all ihre Überredungskunst aufwenden müssen, um Ella zum Mitkommen zu bewegen. Sie war der Meinung, dass es nicht gut war, sich mit seiner Trauer zu vergraben und den trüben Gedanken die Oberhand zukommen zu lassen.

»Bring doch schon mal die Getränke rüber zum Gesangsverein klanglose Müllschippe«, sagte der dickbäuchige Wirt zu der flotten Bedienung, die im Gegensatz zu den Frauen an dem bewussten Tisch geradezu aufreizend zurechtgemacht war. »Bis die die Karte zu Ende studiert und ihre Pimperlinge unterm Tisch gezählt haben, hat das Bier seine Blume eingebüßt.«

»Bin schon unterwegs. Mal sehen, was passiert, wenn sie merken, dass wir keine vegetarischen Gerichte auf der Karte haben. Vielleicht bleibt dann die Küche kalt. Die Frauen scheinen ja allesamt Antialkoholikerinnen zu sein. Nicht mal ein Weinchen hat sich die eine oder andere gegönnt.«

»Nicht jeder braucht eben seinen Stoff wie du olle Schnapsdrossel«, grinste der Wirt.

»Das musst du gerade sagen«, antwortete die Bedienung, warf den Kopf in den Nacken und ging hüftenwackelnd die Getränke abliefern.

Ihre Sorge bezüglich der Speisen stellte sich als unbegründet heraus, denn die Männer schreckten vor deftigen Gerichten wie Eisbein oder Schweinebraten nicht zurück. Nur die Frauen wählten lieber einen Salat oder ein Ragout Fin in Blätterteigpasteten. Als alle ihre Speisen vor sich stehen hatten, hielt man gemeinsam ein stilles Tischgebet ab und ließ es sich dann schmecken.

Die leeren Teller waren längst abgeräumt, als ein junger Mann an den Tisch kam, der die beinahe andächtige Stille, die nur hin und wieder von leise geführten Gesprächen abgelöst wurde, unterbrach.

»Hier bist du also, Onkel Ernst«, posaunte er. »Da kann ich lange vor deiner Tür warten. Hast du vergessen, dass wir verabredet waren?«

Der Angesprochene errötete leicht und machte eine schuldbewusste Miene. »Entschuldige, Junge, wir haben uns ganz spontan entschlossen, hier noch einzukehren. Darf ich vorstellen? Das ist mein Neffe Michael. Er nennt sich aber gewöhnlich Mike, wie die jungen Leute eben heute so sind mit ihren Anglizismen.«

Mike nickte allen artig zu, was allgemein erwidert wurde.

»Komm, setz dich zu uns! Trinke etwas und such dir was zu essen aus! Ich lade dich ein.«

»Danke, ich habe schon gegessen, aber ein Bier kann ich ja trinken.«

»Hast du dir meinetwegen extra freigenommen?«, fragte Ernst.

»Nicht direkt, jedenfalls, was die Jobs betrifft«, gab Mike zu. »Ich habe heute meinen freien Abend und muss erst später zur Nachtschicht. Und damit du bald wieder deine Choräle und andere geistliche Musik hören kannst …«

»Ihr müsst nämlich wissen, mein Neffe ist der Retter in der Not. Ich habe zum wiederholten Male an meiner Musikanlage einen falschen Knopf gedrückt und alle Programmierungen gelöscht. Dabei ist er ein vielbeschäftigter Mann. Er hat mehrere Jobs, um ganz schnell reich zu werden, haha.«

»Weniger deshalb, als meine Miete zahlen und mir einen gewissen Lebensstandard gönnen zu können. Mit einem Job kommt man ja heute nicht mehr weit.«

»Das kommt ganz auf die Ansprüche an«, bemerkte ein Jüngling, der neben Ernst saß.

»Richtig, und ich liebe nun mal Markenartikel und bequeme Wagen«, lachte Mike. »Ich lasse mich gerne für Nachtdienste, Wochenend- und Feiertagsschichten einteilen. Das zahlt sich aus bei den entsprechenden Zuschlägen.«

»Aber in der Bibel heißt es: Du sollst den Tag des Herrn heiligen. Gedenke des Sabbattages, indem du ihn heiligest. Sechs Tage sollst du arbeiten und alle deine Werke tun. Aber am siebenten Tage ist der Sabbat des Herrn, deines Gottes«, betete fast wörtlich eine Frau, die Mike gegenüber saß, das 4. Gebot herunter. »Da sollst du keine Arbeit tun, auch nicht dein Sohn, deine Tochter, dein Knecht, deine Magd, dein Vieh, auch nicht der Fremdling, der in deiner Stadt lebt. Denn in sechs Tagen hat der Herr Himmel und Erde gemacht und das Meer und alles, was darinnen ist, und ruhte am siebenten Tage. Darum segnete der Herr den Sabbattag und heiligte ihn.«

»Mit dem Fremdling, der in meiner Stadt lebt, müssen wohl die Türken und Araber gemeint sein«, feixte Mike. »Die nehmen es mit den Ladenschlusszeiten nicht so genau und sind oft die Einzigen, die auch sonntags geöffnet haben.«

»Mach dich bitte nicht über Hildegard lustig«, rief Ernst Mike zur Ordnung. »Die Zehn Gebote Gottes sind eine ernstzunehmende Lebensgrundlage, die nach wie vor ihre Gültigkeit hat.«

»Tue ich ja nicht, Onkel Ernst. Ich bin eben nicht so fromm wie du und deine Freunde hier. Aber trotzdem komme ich ganz gut durchs Leben, ohne anderen wehzutun. Im Gegenteil, wer sonntags oder nachts an der Tankstelle einkaufen oder am Wochenende ein Video ausleihen will, dankt es mir. Außerdem möchte ich daran erinnern, dass der Sabbat im Judentum der siebte Wochentag, also der Samstag ist, ein Ruhetag, an dem keine Arbeit verrichtet werden soll. Im Christentum hat der Sonntag den Sabbat nur abgelöst.«

»Dem geht man am besten aus dem Wege, indem man an beiden Tagen nicht arbeitet«, ereiferte sich eine andere Dame.

»Nun, die Bestimmungen über die Sonntagsarbeit erlauben Arbeitnehmern, die in Not- und Rettungsdiensten, der öffentlichen Sicherheit und Ordnung sowie bei der Feuerwehr beschäftigt sind, zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit an diesen Tagen zu arbeiten. Das ist gesetzlich festgelegt«, blieb Mike keine Antwort schuldig. »Und was ist mit den Krankenhäusern und den Einrichtungen zur Behandlung, Pflege und Betreuung von Personen? Den Gaststätten, Beherbergungsbetrieben, den Musikveranstaltungen und Theatervorstellungen? Die Videotheken haben doch nur die Kinos abgelöst, weil die Menschen auch an den Wochenenden unterhalten werden wollen.«

»Bisschen weit her geholt nicht? Wenn ich sie richtig verstanden habe, wollen sie sich mit ihrer Arbeit nicht in den Dienst der Menschen stellen, sondern vor allem gut verdienen«, attackierte ein älterer Mann Mike.

»Und was ist verkehrt daran? So haben alle etwas davon.«

»Was daran verkehrt ist, haben wir eben versucht, Ihnen klarzumachen.«

»Heutzutage werden menschliche Erfindungen und Errungenschaften über den einzigen wahren Gott gestellt. Es werden unverhältnismäßig viel Kraft, Zeit und Intelligenz für diese vergänglichen Dinge geopfert. Ursprünglich sinnvolle Dinge wie Geld, Fernsehen, Sport, Autos, Karriere, Hobbys und Urlaub werden zu wichtig genommen und über Gott gestellt. Mit zu großem Zeitaufwand führen sie von Gott weg und entwickeln sich zu Götzen«, ließ eine vom Alter her schwer einzuschätzende Dame nicht locker.

»Er kapiert es nicht, Gundula«, sagte Hildegard.

»Ich denke, dass muss jeder für sich selbst entscheiden, wie wichtig ihm die Zehn Gebote sind und ob er mit seiner Nichtachtung den Zorn Gottes auf sich zieht«, sagte Mike säuerlich. »Mir wird es hier jedenfalls jetzt zu dogmatisch, deshalb verlasse ich den trauten Kreis. Du kannst dich ja wieder melden, Onkel Ernst. Einen schönen Abend noch.« Damit stand Mike auf und verließ demonstrativ das Lokal.

»Er ist jung und hitzig und hat seinen Weg noch nicht gefunden«, bemerkte Ernst entschuldigend.

»Das berechtigt ihn nicht zu schlechtem Benehmen, vor allem dir gegenüber«, sagte Gundula. »Man merkt, dass er nicht in einem christlichen Haushalt aufgewachsen ist.«

»Jetzt tust du meinem Bruder und seiner Frau aber Unrecht«, widersprach Ernst. »Sie waren beide rechtschaffene, gottesfürchtige Menschen. Nur ab einem gewissen Alter entgleiten einem eben die Sprösslinge. Im Grunde genommen ist er ein anständiger Kerl.«

»Da kann man geteilter Meinung sein«, sagte Hildegard mit finsterer Miene.

Niemand am Tisch hatte auf Ella geachtet, die sich an der Diskussion nicht beteiligt hatte. Deshalb entging allen, dass sich ihre Züge mehr und mehr verhärtet und ihre Augen zu Schlitzen verengt hatten, wenn sie Mike ansah. Wenn Blicke töten könnten, wäre Mike jedenfalls nicht bis zum Ausgang gekommen.

Kommissarin Valerie Voss und ihr Kollege Hinnerk Lange waren im gemeinsamen Dienstwagen, einer dunklen VW Polo Limousine, nach Heiligensee unterwegs. Valeries heißgeliebter, von ihren Eltern übernommener, dunkelgrüner Karmann Ghia blieb im LKA zurück, weil sie ihn nur einsetzte, wenn sie und Hinnerk getrennt unterwegs waren. Hinnerk chauffierte, während Valerie auf dem Beifahrersitz ihren Gedanken nachhing. Als sich plötzlich ihr Handy bemerkbar machte, schaute sie kurz auf das Display und drückte dann das Gespräch weg.

»Meine Mutter hatte es mal wieder besonders eilig, mir etwas mitzuteilen, dabei habe ich ihr schon so oft gesagt, sie soll mich abends, und nicht während der Dienstzeit, anrufen.«

»Zwei Minuten, um sie auf heute Abend zu vertrösten, hättest du schon gehabt«, sagte Hinnerk.

»Würdest du das bitte mir überlassen?«, fragte Valerie scharf, um sich im nächsten Moment zu besinnen. »Entschuldige, war nicht so gemeint. Ich habe meine Mutter wirklich lieb, und mir ist bewusst, dass sie nach der Trennung von meinem Vater eine schwere Zeit durchmacht, doch ich bin nicht ihr Kindermädchen. Es wird Zeit, dass sie auf eigenen Füßen steht.« Den Nachfolgesatz: »Außerdem habe ich im Moment mit mir zu tun«, schluckte sie herunter. Dennoch hatte sie den Eindruck, ihn Hinnerk übermittelt zu haben.

»Sie hat sich sehr liebevoll um dich gekümmert, als … als es dir nicht gut ging …«

»Ja, ich bin ihr auch außerordentlich dankbar, aber die gemeinsamen Wochen waren dann doch beinahe eine Überdosis. Zuerst habe ich es genossen, wie damals als kleines Mädchen von ihr umhegt zu werden, dann ging mir ihre Fürsorge aber langsam auf die Nerven. Weißt du, was es heißt, als erwachsener Mensch vierundzwanzig Stunden mit seiner Mutter zu verbringen?«

»Leider nicht, weil ich meine schon sehr früh verloren habe, aber ich weiß, was du meinst. Und wenn sie wirk-lich in seelischer Not ist? In ihrem Alter muss es nicht leicht sein, den Mann an eine andere Frau zu verlieren.«

»Das ist in keinem Alter leicht. Man ist immer in der besseren Position, wenn die Trennung aus eigener Entscheidung erfolgt. Das klingt jetzt vielleicht ein bisschen hart … sie war auf einem so guten Weg, indem sie anfing, ihre neu gewonnene Freiheit zu genießen, endlich einmal etwas für sich zu tun. Ich habe sogar erreicht, dass sie meinem Vater jetzt wieder freundschaftlich begegnet, und bin mit ihr ausgegangen, damit sie auf andere Gedanken kommt und vielleicht einen anderen netten Herrn kennenlernt. Hat alles nichts genutzt. Manchmal denke ich, sie gefällt sich in der Rolle des Opfers.«

»Trotz allem braucht sie deinen Beistand …«

»Ja, den gebe ich ihr ja, aber nicht rund um die Uhr. Das überfordert mich, ich bin kein Psychiater. Themenwechsel, bitte. Was hältst du davon, wenn wir anschließend dem Jugendamt einen Besuch abstatten, wo wir schon mal unterwegs sind?«

»Die werden begeistert sein, wenn wir da so einfach auftauchen …«

»Damit kann ich leben. Ich habe keine Lust, erst um eine Audienz zu bitten.«

Wenig später bog Hinnerk in eine ruhige Seitenstraße ein, die auf beiden Seiten von mehr oder minder schmucken Ein- und Zweifamilienhäusern gesäumt wurde. Vor einem dunkelgrün gestrichenen Zaun hielt er an, schal-tete den Motor aus und wollte Valerie galant aus dem Wagen helfen. Die kam ihm aber blitzschnell zuvor, indem sie hinaussprang, zur Gartenpforte lief und einen Blick auf das Haus warf. Hinnerk drückte den Knopf am Autoschlüssel, der die Zentralverriegelung aktivierte. Dabei ertönte das typische quietschende Geräusch und die roten Rücklichter blinkten kurz auf.

»Toller Kasten«, sagte Valerie anerkennend, indem sie auf das Haus deutete. »Da muss eine alte Frau lange für stricken. Für unsereinen ist so etwas unerschwinglich.«

»Nur kein Neid«, grinste Hinnerk. »Du kannst doch ohne deinen Kreuzberger Kiez gar nicht auskommen. Und wie du gleich sehen wirst, sind die Gestaltung des Hauses und die Einrichtung eher spießig.«

Als sie von der Diele in den Wohn- und Essbereich kamen, wusste Valerie, was Hinnerk meinte. Die Raumaufteilung war eher konventionell, die Fenster waren überwiegend zu klein, und das Mobiliar schien aus einer längst vergangenen Zeit zu stammen.

Vor dem Aufgang zur ersten Etage befand sich die erste Umrisszeichnung aus weißen Kreidestrichen. Hier hatte Karla Borgelt am Fuße der Treppe in ihrem Blut gelegen, das auf dem ansonsten blitzblanken Steinfußboden eine hässliche, eingetrocknete Lache hinterlassen und auch für zahlreiche Spritzer an den Wänden und auf der Treppe gesorgt hatte.

»Das ist ja widerlich. Offensichtlich war der Tatortreiniger noch nicht hier«, sagte Valerie. »Entweder ist sie von oben geflüchtet oder hat sich hier unten aufgehalten und wollte ihrem Mann zu Hilfe eilen«, überlegte sie laut.

»Eher Ersteres, weil die Kollegen eine Pantolette auf der Treppe gefunden haben. Was hätte sie auch mitten in der Nacht hier unten gewollt haben sollen?«

»Was weiß ich! Vielleicht hat sie ein Geräusch gehört und wollte nachsehen, oder sie wollte jemanden begrüßen, der überraschend zu Besuch kam.«

»Du meinst den Sohn des Hauses, den sie in Hamburg weilend glaubte?«

»Zum Beispiel.«

Oben im Schlafzimmer schluckte Valerie einen Moment, denn dort hatten die weißen Flokatis und das Bettzeug das Blut aufgefangen. Selbst die Tapete hinter dem Kopfteil des Bettes wies zahlreiche Blutspritzer und andere Flecken auf. Valerie würgte es, denn sie würde sich nie an den Anblick der Folgen von schonungsloser Gewalt und eiskalter Brutalität gewöhnen können. Sie war in diesem Moment außerordentlich dankbar, das ihr der Anblick der gesichtlosen Leichen erspart geblieben war. Manfred Borgelt musste versucht haben, ebenfalls das Bett zu verlassen, denn er hatte nur mit dem Oberkörper darauf gelegen, während seine Füße den Boden berührt hatten, wusste sie aus den Akten. Doch es war ein gewaltiger Unterschied, nur Fotos anzusehen, oder den Tatort persönlich in Augenschein zu nehmen. Entweder hatte Manfred Borgelt also auch zu fliehen versucht oder auf den oder die Täter eingeredet, um ihn/sie umzustimmen.

Anschließend sah sich Valerie noch in den Kinderzimmern um. Lauras Reich war typisch für einen Teenager hergerichtet. Es gab viel Pink und zahlreiche Poster von Boygroups an den Wänden. Trotzdem wirkte es momentan etwas steril, weil ihre persönlichen Sachen fehlten. Noch karger wirkte Florians Zimmer, das nur noch einige Möbelstücke aufwies, auf die er scheinbar keinen Wert mehr gelegt hatte. Selbst die Poster von Eminem und diversen Hardrock-Bands schien er sich übergesehen zu haben, denn sie zierten nach wie vor die Wände.

»Was gibt es im Untergeschoss noch für Räume?«, fragte Valerie, als sie die Treppe hinuntergingen.

»Das Übliche. Eine Waschküche, einen Vorratsraum und einen Hobbykeller«, sagte Hinnerk. »Ja, und eine Art Heimkino mit bequemem Sofa, fast eine Liegewiese, einer Hausbar und einer Sammlung von DVDs. Darunter befinden sich auch einige Pornos. Das soll ja heute in den besten Familien vorkommen.«

»Besondere Vorlieben?«, hakte Valerie nach.

»Eher nicht, wenn du Kinderpornografie, Sex mit Tieren oder Sado/Maso Filme erwartet hast, muss ich dich enttäuschen. Nicht einmal besonders versaute Streifen waren darunter. Auch in dieser Hinsicht war der Geschmack der Hauseigentümer eher spießig.«

»Das enttäuscht mich nicht, wäre auch zu einfach gewesen.«

»Worauf willst du hinaus? Vermutest du, dass die Leute kleine Kinder aus der Nachbarschaft mit Bonbons in den Keller gelockt haben oder sich Callgirls bzw. -Boys bestellt haben, die dann doch zu angeekelt waren oder nicht korrekt entlohnt worden sind?«

»Warum nicht? Ich kann nicht sagen, was es ist, aber irgendetwas an dieser Spießeridylle ist hier nicht ganz koscher. Es ist mehr so ein Gefühl. Das sieht mir alles zu sehr nach Durchschnitt und Musterfamilie aus«, sagte Valerie, indem sie über einige herausgerissene Schubladen und deren verteiltem Inhalt stieg.

Sie schaute in die geöffneten Schränke, in denen sich neben nicht sehr geschmackvollem Geschirr allerlei Nippes, Kristallgläser, Karaffen und Kognakschwenker befanden. Dann ließ sie nochmals ihren Blick über die Dinge schweifen, die sich im Wohnzimmer vor dem wuchtigen Schrank auf dem Boden anhäuften. Haufenweise Papiere, halbleere Briefmarkenalben und jede Menge Tischwäsche.

»Sieht mir alles zu inszeniert aus. Als wollte man nur einen Einbruch vortäuschen«, sagte Valerie. »Ist dir aufgefallen, dass es nirgends im Haus Kinderfotos gibt? Nicht gerahmt auf irgendwelchen Kommoden, nicht an den Wänden und schon gar nicht in großen Keksdosen oder gar lose. Und ich wette, dass auch keine Fotoalben herumliegen.«

»Du hörst die Flöhe husten. Leute, die einen schlechten Geschmack haben, sind nicht zwangsläufig triebgesteuerte Monster, die erst hinter verschlossenen Türen zur Entfaltung kommen.«

»Ich weiß, aber … Komm, fahren wir zum Jugendamt! Ich möchte einiges mehr über die Leute erfahren«, sagte Valerie und stürmte nach draußen, wo sie erst einmal tief durchatmete.

Mörderischer Glaube

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