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Kapitel 1

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Hauptkommissarin Valerie Voss konnte sich nicht so recht auf das Fernsehprogramm konzentrieren. Immer wieder schweifte ihr Blick zur Uhr, und bei jedem Geräusch schreckte sie hoch.

»Du hast noch nicht einmal dein Dessert angerührt. Minka guckt schon ganz gierig«, sagte ihr Exmann und Kollege Hinnerk Lange, mit dem sie seit einigen Jahren wieder zusammenlebte.

»Dann gib es ihr doch. Ich habe sowieso keinen Appetit.«

»Für Katzen dürfte das eine Überdosis sein. Findest du nicht, dass du ein wenig übertreibst? Der Bengel ist siebzehn und im nächsten Jahr volljährig. Die Zeiten, wo wir uns Sorgen machen mussten, dürften endlich vorbei sein.«

»Eine Mutter wird sich immer Sorgen machen. Das versteht ihr Kerle bloß nicht.«

»Was willst du machen, wenn er seine Drohung wahr macht und demnächst auszieht? Dich vor seine Tür legen?«

»Nein, dann bekomme ich wenigstens nicht mit, falls er erst nachts nach Hause kommt.«

»Das nennt man wohl weibliche Logik«, zog Hinnerk sie auf.

»Er hätte wenigstens anrufen können, dass es später wird.«

»Hast du das immer gemacht? Du weißt doch, wie das ist, wenn man mit einigen Kumpels unterwegs ist. Vielleicht ist er auch mit zu einem Mädchen gegangen.«

»Womöglich noch zu Lili? Ich kann nicht verstehen, was diese Frau an einem Teenager wie ihm findet.«

»Ach, jetzt ist es schon diese Frau. Ich kann mich erinnern, dass du wegen ihr heiße Tränen vergossen hast, weil wir sie zurück an ihre Großmutter geben mussten.«

»Da war sie vier … Und jetzt ist sie zweiundzwanzig …«

»Dass sie nicht in die Fußstapfen ihrer Mutter tritt und ein Pornostar wird, hat sie hinlänglich bewiesen. Also, wozu die Aufregung?«

»Wir wissen nicht wirklich viel über sie. Immerhin hat sie sich vierzehn Jahre nicht gemeldet. Wer weiß, ob sie es wirklich verkraftet hat, den Mord an ihrer Mutter mitansehen zu müssen … Man kann unmöglich sagen, was in so einem Menschen vorgeht. Womöglich hat sie einen Hass gegen alles Männliche entwickelt.«

Hinnerk lachte schallend.

»Nur weil wir es in unserem Beruf ständig mit Psychopathen zu tun bekommen, musst du nicht hinter jeder Ecke einen Doktor Jekyll beziehungsweise eine Sister Hyde vermuten. Unser Ben wird sich schon zu wehren wissen.«

»Das sagst du. Du weißt doch, dass ihn alles Ungewöhnliche anzieht. Womöglich gefällt ihm eine gespaltene Persönlichkeit …«

»Jetzt hör aber auf. Du spielst dem Mädchen die liebe Tante vor, und hinter dem Rücken wetzt du die Messer.«

»Ich habe Lili wirklich gern, aber sie hat selber zugegeben, in Therapie gewesen zu sein. Vielleicht hat sie diese vorzeitig abgebrochen?«

»Alles Vermutungen. Auf mich macht sie einen ganz normalen Eindruck.«

»Ich finde es nicht normal, wenn sich eine junge Frau mit einem Teenager abgibt. Ich habe in ihrem Alter für ältere, reifere Männer geschwärmt … Alles unter zwanzig war mir viel zu grün.«

»Und sie sieht vielleicht in Ben den jüngeren Bruder, den sie nie hatte. Gönn ihr doch das Vergnügen.«

»Störe ich?«, erklang eine Stimme von der Wohnzimmertür her.

»Ben, wir haben dich gar nicht kommen hören …«

»Das glaube ich gerne, so eifrig, wie ihr diskutiert habt. Aber ich kann euch beruhigen. Heute Abend war ich nicht mit Lili zusammen, sondern mit Merle. Und sie wird heute hier übernachten, falls ihr nichts dagegen habt.«

»Das ist schon in Ordnung, mein Sohn. Ich hoffe, du denkst daran, dich zu schützen«, lächelte Hinnerk.

»Ich kann inzwischen einen Laden mit Kondomen aufmachen. Also keep cool, Dad.«

»Ich werde wohl nicht gefragt?«, sagte Valerie ärgerlich.

Am nächsten Morgen lief eine halbnackte Merle durchs Haus. Unter ihrem dünnen Hemdchen trug sie offensichtlich keinen BH und auch kein Höschen. Dieser Umstand zauberte Hinnerk ein Lächeln ins Gesicht, während sich bei Valerie eine kleine Zornesfalte zwischen den Augenbrauen bemerkbar machte.

»Wollt ihr nicht lieber herunterkommen und mit uns frühstücken?«, rief sie dem freizügigen Mädchen hinterher, als es mit zwei Gläsern Orangensaft Kurs auf Bens Zimmer nahm.

»Danke, sehr freundlich, aber wir wollen noch ein wenig kuscheln. Frühstück ist eh nicht so unser Ding. Meins nicht, und Bens auch nicht.«

»Ach ja, seit wann? Aber ihr denkt schon daran, dass bald die Schule anfängt?«, fragte Valerie etwas zu schrill.

»Ehrensache … Nur ein Viertelstündchen.«

»Ich glaube wirklich, es ist besser, dass unser Filius sich bald eine eigene Bude sucht«, sagte Hinnerk, »auf Dauer halten das deine Nerven nicht aus.«

»Seit wann sorgst du dich um den Zustand meiner Nerven?«

»Immer, Schatz, immer.«

Das Geplänkel wurde durch das Läuten des Telefons unterbrochen.

»Lange, guten Morgen«, meldete sich Hinnerk gutgelaunt. »Wie? Sag das noch mal … Verdammte Sauerei, aber öfter mal was Neues … Einer von uns beiden ist gleich da.«

»Wieso einer von uns? Warum fahren wir nicht gemeinsam?«, hakte Valerie nach.

»Ich halte es für besser, wenn ich fahre. Ich nehme auch meinen Privatwagen, damit du mit unserem Dienstwagen die Herrschaften …« Er deutete mit dem Finger nach oben. »… in die Schule fahren kannst.«

»Einen Scheiß werde ich. Sollen sie doch die Räder oder die BVG nehmen. Mir egal, wenn sie zu spät zum Unterricht kommen.«

»Spüre ich da einen akuten Anfall von Eifersucht?«

»Nein, ich bin nur nicht der Sklave meines Sohnes. Wer die Nacht durchsumpft, kann auch rechtzeitig aufstehen.«

»Diese Merle wird sich bedanken, als Sumpf bezeichnet zu werden.«

»Das hat sie umsonst. Warum willst du unbedingt fahren? Wir könnten es doch auch andersherum machen …«

»Ich möchte deine eben zitierten Nerven schonen. Es handelt sich nämlich um die Leiche eines Säuglings, die man in der Spree gefunden hat.«

»Vielen Dank, aber ich musste im Laufe der Jahre schon viele Scheußlichkeiten betrachten, da kommt es auf eine mehr oder weniger nicht an. Nein, ich möchte, dass du die Kinder mitnimmst.« Valerie sagte mit Absicht Kinder, denn bisher ignorierte sie hartnäckig die bevorstehende Volljährigkeit ihres Sohnes. Für sie war Ben noch immer der kleine unreife Bengel, der sie so manches Mal um den Schlaf gebracht hatte.

»Gut, wenn du meinst, aber beklag dich nachher nicht. Lars ist schon unterwegs. Du musst zur alten Kongresshalle, unten, wo das Café ist.«

Am Spreeufer erwarteten Valerie ein unausgeschlafener Lars Scheibli, die Rechtsmediziner Tina Ruhland und Knud Habich und das Team der Spurensicherung.

»Wie siehst du denn aus? Hast du gefeiert?«, zog Valerie ihren Kollegen Lars auf. »Und deine Frisur könnte auch mal wieder einen Ölwechsel vertragen.«

»Danke, du mich auch. Du brauchst ja deine silberblonde Pracht nur mit einem Gummi zu bändigen. Wie dein holder Gatte auch. Kauft ihr die Gummis eigentlich im Dutzend?«

»Nur kein Neid. Es hindert dich niemand daran, auch wachsen zu lassen.«

»Das fehlte mir noch. Obwohl, dann könnte ich mir wenigstens ordentlich die Haare raufen, wenn mal wieder an Schlaf nicht zu denken ist, weil klein Oliver zahnt.«

»Da musst du jetzt durch. Wir können gerne tauschen. Ben schläft sich gerade durch alle Betten. Wie heißt es so schön? Kleine Kinder – kleine Sorgen, große Kinder – große Sorgen.«

»Ich unterbreche ja ungern eure Elterngespräche«, sagte Tina, für die die ehemalige Liaison mit Valerie inzwischen kein Thema mehr war, da sie seit Jahren mit Staatsanwältin Ingrid Lindblom glücklich sein durfte.

Trotzdem konnte Tina es nicht lassen, hin und wieder ein paar Spitzen zu werfen wie eben mit der Elternschaft, denn sie verstand bis heute nicht, warum Valerie ihre goldene Freiheit aufgegeben und seinerzeit Hinnerk geheiratet hatte. Nach der Scheidung wegen Hinnerks Hinwendung zu Marion Haberland hatte Tina anfangs gehofft, zwischen ihr und Valerie könne es wieder so werden wie einst. Doch weit gefehlt. Nach Marions Unfalltod war Hinnerk wieder zu seiner Familie gezogen und lebte seit Jahren mit Valerie in wilder Ehe.

»Vielleicht ist einer von euch daran interessiert, was hier gefunden wurde …«, sprach Tina weiter.

»Tina, dein Humor so kurz nach dem Aufstehen ist nach all den Jahren immer noch gewöhnungsbedürftig«, sagte Valerie tadelnd, »also spuck schon aus, was du weißt.«

»Das kleine Mädchen, zirka sechs Monate alt, ist wie ein Paket verschnürt ins Wasser geworfen worden. Todesursache auf Anhieb nicht erkennbar. Ein sexueller Missbrauch scheint nicht stattgefunden zu haben.«

Valerie trat näher an den ausgewickelten kleinen Leichnam heran. Ehe sie sich versah, kamen ihr die Tränen, als sie das niedliche Baby mit der blassen, aufgequollenen Haut und den steifen, winzigen Fingerchen sah. Auch Lars hatte feuchte Augen, weil er sich bestimmt gerade vorstellte, wie es wäre, wenn dort sein kleiner Sohn liegen würde.

»Welche Dreckschweine haben das gemacht?«, fragte er erschüttert.

»Da gibt es viele Möglichkeiten«, sagte Knud. »Eine minderjährige Mutter, die kein Verhältnis zu dem Kind aufbauen konnte, Entführer, die nur auf das Geld scharf waren oder ein Babyhändler, dem der Säugling unter den Händen weggestorben ist.«

»Danke für die kurze Zusammenfassung. Wenn du die Rechtsmedizin mal leid bist, kannst du bei uns als Ermittler anfangen«, antwortete Valerie bitter.

»Kein Bedarf, mir sind tote Menschen lieber als lebendige Verbrecher.«

Lars suchte das Gespräch mit Manfred Hoger von der Spurensicherung.

»Habt ihr schon was Brauchbares gefunden?«, wollte er wissen.

»Nicht wirklich, tagsüber wimmelt es hier von Touristen, und es ist anzunehmen, dass es sich hier nur um den Fundort handelt. Das Paket dürfte Spree aufwärts ins Wasser geworfen und hier nur angetrieben worden sein.«

»Ja, das denke ich auch. Also können wir nur über die Identität des Kindes an den Täter herankommen«, meinte Lars, »uns bleibt nichts anderes übrig, als gleich im Präsidium die Vermisstenkartei zu durchforsten.«

»Na, geht’s wieder?«, fragte Valerie, die inzwischen ihre Tränen getrocknet hatte, Lars.

»Ja, bei Kindern ist es immer besonders schlimm. Sie sind noch so unschuldig und hätten noch ihr ganzes Leben vor sich gehabt. Und jetzt, wo ich selber Papa bin, trifft es mich bis ins Mark.«

»Ich weiß, mir geht es auch so. Ich wollte dir schon immer mal sagen, dass ich es großartig finde, wie das mit dir und Anna läuft. Stell dir vor, sie wäre damals nicht unter den Pflegekräften des Heimes gewesen, dann bliebe dir bei der Erinnerung an deinen mutigen Undercovereinsatz nur, dass man dich um ein Haar ins Jenseits befördert hätte.«

»Stimmt, obwohl ich betonen muss, dort wirklich gern gearbeitet zu haben. Einen Moment habe ich mit dem Gedanken gespielt umzusatteln. Schließlich war es nur ein Verstörter, der dort als Todesengel sein Unwesen trieb. Alles andere war eigentlich okay. Entschuldige, dein Verhältnis zum Haus Abendrot ist ja eher zwiespältig.«

»So kann man es ausdrücken. Lange glaubte ich, mein Vater wäre dort mit seiner Demenzerkrankung gut aufgehoben. Doch bis heute weiß ich nicht, ob er auch zu den Opfern zählte. Ebenso wie Herbert Schindler, dem neuen Lebensgefährten meiner Mutter, dessen Frau bekanntlich dort auch gestorben ist. Aber er scheint es gelassener zu sehen und nicht daran interessiert zu sein, die wahre Todesursache zu erfahren.«

»Jeder geht eben auf seine Weise mit der Trauer um. Wie läuft es eigentlich zwischen den beiden alten Leutchen?«

»Sehr gut. Karen ist, glaube ich, ganz glücklich mit ihm. Nur dass nach Cäsars Tod mit Cleo wieder ein Hund ins Haus gekommen ist, gefällt ihr weniger. Nicht dass sie keine Hunde mag, aber sie dachte wohl, nach dem Abschied von dem Labrador würde sich Herbert etwas mehr um sie kümmern. Mit ihr lange Reisen unternehmen und so weiter.«

»Sag mal, woher kommt eigentlich der seltsame Vorname deiner Mutter? Zuerst dachte ich, mich verhört zu haben und dass sie Karin heißt. Hat sie amerikanische Wurzeln?«

»Nein, sie ist in Schweden aufgewachsen. Ich wäre beinahe auch ein echtes Schwedenmädel geworden, aber meine Eltern haben es vorgezogen, nach Deutschland zu gehen. Da war ich noch ein Baby. Allerdings was die Vergangenheit anbelangt, hält meine Mutter sich immer sehr zurück.«

»Interessant, wer hätte das gedacht! Dann sehen wir uns gleich im Präsidium, oder willst du noch bleiben?«

»Nein, ich denke, wir warten den Bericht von Tina ab. Erst dann wissen wir mehr.«

Der Bericht traf nach drei Tagen ein und enthielt folgende Informationen: Eine Erkrankung des Nervensystems, des Herzens und des Stoffwechsels konnten ausgeschlossen werden. Ebenso eine Blutvergiftung infolge einer Infektion, eine Hirnhautentzündung und eine akute Infektion der oberen Luftwege. Es lag auch kein Schütteltrauma, also eine Hirnblutung infolge heftigen Schüttelns vor.

Somit muss von einem SIDS - sudden infant death syndrome, dem plötzlichen Kindstod, also einem Herz- und Atemstillstand, der ohne erkennbare Ursache im Schlaf auftritt und zum Tod des Kindes führt, ausgegangen werden. Valerie war fassungslos. »Mir ist zwar bekannt, dass der plötzliche Kindstod in den Industrieländern eine der häufigsten Todesursachen im ersten Lebensjahr ist«, sagte sie, »aber statistisch betrachtet trifft es nur ein bis zwei von tausend lebend geborenen Kindern. An alles hätte ich bei „unserem“ Säugling gedacht, aber …«

»Soviel ich weiß, ist die Gefährdung zwischen dem zweiten und dem vierten Lebensmonat besonders hoch«, meinte Hinnerk, »das würde also passen. Allerdings sollen sich die meisten Todesfälle im Winter ereignen, und Jungen sind häufiger betroffen als Mädchen. Das passt nicht.«

»Man sollte Statistiken nicht überbewerten … Was heißt das jetzt für uns? Dem Kind ist keine Gewalt angetan worden, auch keine sexuelle«, überlegte Valerie laut, »Somit bleiben die Entführung und der Babyhandel.«

»Du vergisst die Mutter«, insistierte Hinnerk, »es ist zwar ungewöhnlich, dass eine Frau ihr Neugeborenes entsorgt, indem sie es als Paket verschnürt ins Wasser wirft, aber …«

»Das ist der Punkt, Neugeborenes! Überforderte Mütter entledigen sich ihres Babys sofort nach der Geburt und warten nicht vier Monate.«

»Das überzeugt mich nicht. Ich stelle mir vor, eine Mutter findet ihr Kind leblos in seinem Bettchen auf. Aus Angst, ihr Mann könne ihr die Schuld geben, behauptet sie lieber, das Kind sei geraubt oder entführt worden. Das wäre nicht das erste Mal.«

»Hat es in der letzten Zeit Kindesentführungen gegeben?«, fragte Valerie Lars.

»Nein, zumindest keine Säuglinge.«

»Das heißt gar nichts. Es gibt immer wieder Eltern, die den Forderungen der Entführer nachkommen, indem sie die Polizei außen vor lassen.«

»Aber vor ein paar Tagen soll ein Baby in Moabit aus einem Kinderwagen geraubt worden sein. Ich finde, man kann durchaus eine Ähnlichkeit zu der Kinderleiche feststellen«, sagte Lars.

»Na, dann nichts wie hin zu den Eltern. Komm Hinni!«

»Und was mache ich?«, fragte Lars, »oder betrachtet ihr es wieder einmal als euren persönlichen Fall? Vielleicht darf ich darauf hinweisen, dass ich der Erste am Fundort war.«

»Wie so oft, werden wir den Fall gemeinsam lösen«, sagte Valerie. »Wenn dir langweilig wird, kannst du recherchieren, was du über neueste Fälle von Babyhandel in Berlin rausfindest. Marlies wird dir dabei unter die Arme greifen, nicht Schmidtchen?«

Die Kriminalassistentin Marlies Schmidt, als gute Seele der Abteilung liebevoll als Schmidtchen oder Lieschen tituliert, nickte. Seit ihrem letzten Einsatz als Lockvogel, der beinahe schief gegangen wäre, schätzte sie es wieder, nicht raus an die Front zu müssen. Ihr Mut und die Abenteuerlust hatten sie um ein Haar das Leben gekostet, zumal ihre Tarnung von dem Frauenmörder allzu früh erkannt worden war. Es hatte dann aber ihn getroffen, sogar im Sinne des Wortes, da ihn seine Geliebte aus tiefster Enttäuschung erschossen hatte.

»Wenn du es aber vorziehst, einer trauernden Mutter die Todesnachricht zu überbringen, können wir auch tauschen …«, sagte Valerie listig.

»Nein, nein, das kannst du wohl besser. Sozusagen von Frau zu Frau.«

Valerie war alles andere als wohl bei ihrer Mission. Einesteils war bekannt, dass Eltern, die ein Kind durch den plötzlichen Kindstod verloren hatten, zutiefst betroffen und völlig verunsichert waren. Meist war eine therapeutische Betreuung der Eltern unumgänglich. Für eine Mitverantwortung der Eltern gab es zwar keinerlei wissenschaftliche Anhaltspunkte, doch fühlten sich gerade Mütter für den Tod ihres Kindes verantwortlich und warfen sich vor, ihre Sorgfaltspflicht vernachlässigt zu haben, indem sie den plötzlichen Atem- und Herzstillstand nicht rechtzeitig bemerkten.

Andererseits konnte die Kripo nicht völlig ausschließen, dass die Entführung nur vorgetäuscht war. In Fernsehkrimis sah man oft genug, dass sich in Familien mitunter wahre Tragödien abspielten.

Denise Schönfelder war nur noch ein Schatten ihrer selbst, als sie Valerie und Hinnerk die Tür öffnete.

»Sie haben sie gefunden, nicht wahr?«, sagte sie tonlos, »ich weiß es schon seit Tagen, weil die innere Verbindung abgebrochen ist.«

»Es besteht noch eine Restchance, dass es sich nicht um Ihre Tochter handelt«, sagte Valerie, »wir würden Ihnen gerne ein Foto zeigen, falls Sie stark genug dafür sind. Andernfalls würde auch ein Gen-Test Aufschluss bringen …«

»Nein, zeigen Sie nur her. Ich muss der grausamen Wahrheit ins Auge blicken …«

Hinnerk reichte der Frau das Foto des toten Säuglings.

Denise brach augenblicklich in Tränen aus. »Ja, das ist meine kleine Leonie. Was hat man nur mit ihr gemacht? Warum ist sie so entstellt?«, stammelte sie.

»Vielleicht beruhigt es Sie etwas, dass ihrem Kind keine Gewalt angetan wurde«, sagte Valerie, »die Autopsie hat ergeben, Leonie ist am plötzlichen Kindstod gestorben.«

»Dann hat sie Gott sei Dank nicht leiden müssen. Sicher war die Ursache, dass man sie mir entrissen hat. Die Aufregung wird für das kleine Herz zuviel gewesen sein. Ich bin davon überzeugt, Babys bekommen viel mehr mit, als man denkt.«

»Das mag durchaus so sein. Trotzdem hätte sie der plötzliche Kindstod auch hier in ihrer vertrauten Umgebung ereilen können«, versuchte Valerie die gebrochene Frau zu trösten.

»Das halte ich für völlig ausgeschlossen. Einer Mutter entgeht doch nicht, wenn ihr Kind Atem- oder Herzprobleme hat.«

»Sie wären nicht die Erste, so leid es mir tut … Haben sich die Entführer bei Ihnen gemeldet, Frau Schönfelder?«

»Nein, das ist es ja. Abgesehen davon, dass wir ohnehin über keine Reichtümer verfügen … Aber als kein Anruf und kein Brief kam, wusste ich, dass man ihr entweder was angetan oder sie längst außer Landes gebracht hatte … Sie haben meine Frage nicht beantwortet, warum meine Leonie so entstellt ist …«

»Ihr Kind hat eine Weile im Wasser gelegen, bevor man es fand …«

»Ach so, man hat sie wie Müll entsorgt … Tot war sie nicht mehr interessant für die Schweine … Eigentlich beinahe ein Trost … Wer weiß, was Leonie dadurch erspart blieb …«

»Wie geht es Ihnen, Frau Schönfelder? Bekommen Sie psychologische Hilfe?«

»Ja, die bringt nur nicht viel, wissen Sie. Meine Ehe ist am Ende. Mein Mann wird mir nie verzeihen, Leonie einen Moment unbeaufsichtigt gelassen zu haben. Sie müssten mal seine Blicke sehen, falls er mich überhaupt ansieht. Er fasst mich nicht einmal mehr an. Ich bin wie Luft für ihn. Von einer Minute zur anderen ist mein Leben sinnlos geworden. Ich habe das Liebste verloren, und für meinen Mann bin ich eine Verbrecherin.«

»Heißt das, er glaubt Ihnen nicht, dass Leonie geraubt wurde? Unterstellt er Ihnen, Sie hätten aus Angst die Kindsleiche selbst beseitigt?«

»Soweit würde er nicht gehen. Für ihn reicht es, dass ich überhaupt eingekauft habe. Er gehört zu den Männern, die vom Shoppen besessene Frauen verachtet. Dabei habe ich nicht einmal für mich etwas gekauft. Es waren doch Windeln im Angebot. Woher ich die Lebensmittel und Dinge für den Haushalt bekomme, interessiert ihn nicht. Er meint, ich hätte Leonie auf den Arm nehmen können. Und damit hat er sogar Recht. Mein Leben lang werde ich mir nicht verzeihen, es nicht getan zu haben. Aber haben Sie schon mal mit einem Säugling auf dem Arm etwas bezahlt? Das Portemonnaie aus der Tasche zu nehmen und das Kleingeld herauszufischen … Dabei immer in Sorge, die Kleine könne mir aus dem Arm rutschen …«

Denise brach ab und weinte erneut bitterlich.

»Dürfen wir mal in das Zimmer der kleinen Leonie schauen?«, fragte Hinnerk.

»Ja, kommen Sie nur. Es ist alles unverändert.«

Der Raum war ganz in Weiß und Rosa gehalten. Die weiße Wickelkommode stand gleich neben dem Gitterbettchen mit Himmel aus zartrosa Voile. Etwa in der Mitte der Wände zog sich ein Fries aus gemalten Schäfchen und wolligen Häschen durch das gesamte Zimmer. Ein Regal war über und über voll mit Plüschtieren, und es gab sogar schon einen rosa gestrichenen Kleiderschrank. Über dem Bettchen hing eine Spieluhr in Form eines plüschigen Halbmonds. Unterhalb der Zimmerdecke drehten sich zarte Mobiles, bestehend aus Fantasiefiguren. Die Windeln aus dem Sonderangebot waren achtlos in eine Ecke geworfen worden. Das fiel besonders auf, da das Zimmer sonst sehr aufgeräumt wirkte.

»Ich sitze jeden Abend hier und hoffe, dass meine Kleine wiederkommt«, wisperte Denise Schönfelder kaum hörbar.

»Sie sollten unbedingt die Therapie wieder aufnehmen«, sagte Valerie sanft, »es soll auch Betroffenengruppen geben. Sich mit Leidensgenossen auszutauschen, kann sehr hilfreich sein.«

»Ja, ich weiß, aber ob ich die Kraft dafür aufbringe?«

»Wir wünschen es Ihnen, Frau Schönfelder. Irgendwann wird es für Sie leichter werden. Bis dahin geben Sie sich bitte nicht auf.«

»Danke, ich weiß, Sie meinen es gut.«

Draußen holte Valerie tief Luft. Am liebsten hätte sie jetzt eine Zigarette geraucht, doch das kam nicht mehr infrage.

»Was meinst du?«, fragte Hinnerk, »sagt sie die Wahrheit?«

»Wenn mich meine Intuition nicht völlig täuscht, ja. Wer so liebevoll ein Kinderzimmer einrichtet und vor Kummer halb von Sinnen ist, kann keine Kindsmörderin sein. Und wenn ihr die Kleine förmlich unter den Händen weggestorben ist, hätte sie die Notfallrettung gerufen und später auf jeden Fall für eine angemessene Beerdigung gesorgt. Nur skrupellose Verbrecher entsorgen tote Babys wie Müll.«

»Und was ist mit dem Mann?«

»Du hörst doch, er hat ihr die Hölle heiß gemacht. Kaum anzunehmen, dass er mit der Sache etwas zu tun hat. Aber wenn es dich beruhigt, können wir ihn uns ja mal ansehen.«

Ohne Skrupel

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