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5. Wunschkind

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Irgendwann bemerkte ich zu meinem großen Schrecken, dass meine biologische Uhr unablässig tickte. Bald würde es für eine Mutterschaft zu spät sein, dachte ich damals. Meine Freundin Gisi brachte die Sache auf den Punkt.

»Wenn der Ofen aus ist, kannst du immer noch ein Kind adoptieren.«

»Na, du hast Humor«, hatte ich geantwortet, »es kann ja nicht jede so fruchtbar wie du sein und schon vom Hinsehen schwanger werden. Und ein fremdes Kind stellt immer ein gewisses Risiko dar.«


Nein, viel lieber wollte ich ein eigenes haben. Aber woher nehmen und nicht stehlen? Mr. Right hatte sich bis dahin nicht blicken lassen. Obwohl ich beileibe kein Mauerblümchen und von recht ansprechender Erscheinung war, teilte ich das Schicksal der vielen Singlefrauen, die diesen Status nicht so ganz freiwillig innehaben.

Dann schleppte mich Gisi zur Hochzeit ihrer Schwester, an der ganz zufällig diverse unverheiratete Herren teilnahmen, Freunde und Kollegen des Bräutigams jeglicher Alterstufe. Einer gefiel mir ganz besonders. Er war kultiviert und gut aussehend und schien sich die Hörner schon abgestoßen zu haben. Auch er zeigte unverhohlenes Interesse an mir, ob für längere Zeit oder nur für eine heiße Nacht, musste sich erst noch herausstellen. Wir waren den ganzen Tag unzertrennlich, und ich erfuhr viel über ihn. Seine Gesinnung, seine Bildung, den familiären Hintergrund, die Interessen, Begabungen und so weiter. Ja, dieser Herr der Schöpfung kam durchaus in Betracht und verfügte über gute Gene, war mein abschließendes Urteil. Jedenfalls warf ich all meine Prinzipien über Bord und stieg noch dieselbe Nacht mit ihm in die Kiste.

Lutz schien, in der Folgezeit sein Interesse an mir verloren zu haben, denn die erwarteten Anrufe blieben aus. Und wenn wir uns auf der Straße begegneten, grüßte er zwar freundlich, machte aber einen weiten Bogen um mich. Scheinbar gehörte er zu den Männern, die nur darauf aus waren, ihr Ziel zu erreichen. Es machte mir nicht allzu viel aus. So etwas hatte ich schon öfter erlebt und mit der Zeit gewöhnt man sich daran.

Meine Freude war grenzenlos, als ich feststellte, dass die Nacht im wahrsten Sinne des Wortes Früchte getragen hatte, denn ich war endlich schwanger. Vielleicht ertrug ich den Korb, den Lutz mir gegeben hatte, auch deshalb so leicht, weil ich kein so ganz reines Gewissen hatte. Der Gedanke, ihn als Samenspender zu benutzen, hatte nämlich durchaus Pate gestanden, als ich mich ihm hingab.

So reihte ich mich also in die Riege der alleinerziehenden Mütter ein. Einen Vater brauchte das Kind? Wozu? Es hatte doch mich.

Niemals werde ich das Glück vergessen, meinen kleinen Felix nach der Geburt im Arm halten zu dürfen. Der Duft der Babyhaut, die winzigen Finger und die großen fragenden Augen sind mit nichts auf der Welt zu vergleichen. Man muss es einfach erlebt haben. Vergessen waren die schmerzvollen Wehen und die nicht unkomplizierte Geburt, erst recht der dicke Bauch und die morgendliche Übelkeit. Ich war die glücklichste Frau der Welt.

Der kleine Sonnenschein konnte ein wahrer Dickkopf sein und schien über ein unbegrenztes Potential an Wutausbrüchen zu verfügen, wenn er nicht seinen Willen bekam, wurde mir bald klar. Dabei las ich ihm jeden Wunsch von den Augen ab. Nur hatte er so seine eigenen Vorstellungen, was ihm zustand und was nicht.

Im Kindergarten hatte Felix große Probleme, sich in die Gemeinschaft einzufügen. Als Einzelkind war er gewohnt, dass alles ihm allein gehörte, und er es nicht teilen musste. Mehr als einmal musste ich mir sagen lassen, dass ich ihm nicht alles durchgehen lassen dürfe.

Dann kam die Einschulung, und das Blatt wendete sich. Felix kam jetzt auch mit älteren Kindern in Berührung und geriet mehr und mehr ins Abseits. Er war ausgesprochen zart und deutlich kleiner als seine Klassenkameraden. Auch konnte man ihn mit seinen weichen Gesichtszügen beinahe für ein Mädchen halten. Ein Umstand, der Anlass zu Spott und Hänselei gab. Eines Tages eröffnete er mir, dass er nicht mehr in die Schule gehen werde, weil man ihm dort ständig irgendwelche Dinge wegnahm, ihm auflauerte und ihm ständig Prügel verabreichte.

»Dann bist du also neulich gar nicht hingefallen, und die Jacke hast du dir auch nicht am Zaun zerrissen?«, fragte ich besorgt.

Felix schüttelte den Kopf.

»Und deine Lehrer, was sagen die dazu? Die müssen doch mitkriegen, dass man dich misshandelt.«


»Wir sind einfach zu viele. Manchmal glaube ich, die gucken einfach weg, weil es ihnen egal ist.«

»Ich werde gleich morgen in die Schule kommen und mit der Rektorin und den Lehrern reden«, sagte ich entschlossen.

»Wenn du das machst, bin ich ganz unten durch«, rief Felix aus, »für die bin ich sowieso das Muttersöhnchen, das bei Mama im Bett schläft, weil es keinen Papa gibt. Und wenn sie merken, dass ich sie angeschwärzt habe, werde ich keine ruhige Minute mehr haben.«

»Dann gibt es nur einen Weg. Du musst dich wehren. Zeig ihnen, dass sie nicht alles mit dir machen können. Schlag zurück, damit sie Respekt vor dir bekommen.«

Felix nickte nur, und die nächste Zeit gab es keine Probleme mehr.

Wochen später wurde ich zur Rektorin bestellt, die mir mitteilte, dass Felix einem anderen Jungen mit einem Stein einen Zahn ausgeschlagen habe. Er zeigte keinerlei Schuldbewusstsein und erklärte, in meinem Sinne gehandelt zu haben. Es kostete mich einige Mühe, die Sache grade zu biegen und einen Schulverweis abzuwenden.

Je älter Felix wurde, desto introvertierter geriet er. Er verbrachte Stunden in seinem Zimmer vor dem Computer oder vor dem Fernseher. Ich kannte mich mit Computerspielen nicht aus, deshalb war mir nicht klar, dass die von Felix bevorzugten die brutalsten waren. Auch diskutierten wir immer wieder über seinen Geschmack hinsichtlich der Videos, die er anschaute, Es waren Streifen dabei, wo mir die Haare zu Berge standen, weil dort das Blut in Strömen floss und die Leichenteile nur so herumflogen.

»Das ist doch alles nur Film, Mama«, beruhigte er mich, »das kann man gar nicht ernst nehmen, das viele Kunstblut, das eher an Ketchup erinnert.«

»Das mag ja sein, aber es wird vermutet, dass diese Filme die Hemmschwelle bei Jugendlichen abbauen und zur Gewaltverherrlichung beitragen. Nicht umsonst sind sie nur für Erwachsene zugelassen.«

Felix wiegelte ab und sah weiterhin seine Horrorstreifen.

Gisi bekam einmal einen Vorfall mit, der sie ziemlich aufregte. Ich schrie gellend auf, weil sich in unserem Bad eine dicke Spinne befand.

»Felix komm und schlag sie tot. Ich habe sonst keine ruhige Minute mehr!«, rief ich.

Gisi war entsetzt. »Man kann sie auch mit einem Tuch nach draußen befördern«, sagte sie, »mit Insekten fängt es an, und später schreckt er auch vor größeren Tieren nicht zurück.«

»Ja, als Kinder haben sie mal Ratten in den Fallen erschlagen und einer Katze ein Tuch um den Schwanz gebunden und es dann angezündet«, gab ich kleinlaut zu, »aber das sind doch dumme Jungenstreiche, das machen doch alle.«

»Eben nicht. Und du bist dazu da, ihm so etwas abzugewöhnen und in ihm ein Unrechtbewusstsein zu entwickeln. Woher soll der Junge Achtung vor der belebten Natur entwickeln, wenn du es ihm nicht beibringst?«

»Na, du scheinst bei deinen Kindern ja alles richtig zu machen. Wahrscheinlich sind sie Musterschüler und ein Ausbund an Ehrenhaftigkeit.«

»Jetzt sei doch nicht beleidigt. Ich sage dass doch nicht, um dich zu verletzen. Kinder brauchen sehr viel Liebe, das ist richtig, und davon verfügst du reichlich und gibst sie auch weiter, aber man muss ihnen auch ihre Grenzen aufzeigen und ein Vorbild an ethischen Richtlinien sein. Sonst tanzen sie dir nicht nur eines Tages auf dem Kopf herum, sondern kennen auch in ihren Handlungen keine Grenzen. Und wenn die Sache erst aus dem Ruder geraten ist …«

Ich dachte lange über Gisis Worte nach. War ich zu nachgiebig gegenüber Felix? Zu sorglos und leicht-gläubig? Siedend heiß fiel mir ein, dass ich dazu neigte, in der Wut verbal die Grenzen zu überschreiten. Wenn ich mich über jemanden geärgert hatte, kam es vor, dass ich ausrief:

»Ich könnte sie erschlagen, die dumme Kuh.«

Oder nach einem Kurzgastspiels eines neuen Liebhabers rutschten mir auch Äußerungen heraus wie:

»Der ist es nicht wert, dass ihn die Sonne bescheint«, oder »Dem müsste man alle Knochen im Leib zerbrechen.«

Aber um Himmels willen, ich meinte das doch nicht so. Ich war nur mitunter leicht aufbrausend und von überschäumendem Temperament, und Felix war in dieser Hinsicht so ganz der Sohn seiner Mutter.

Wann das mit der Jugendgang angefangen hatte, kann ich nicht mehr mit Bestimmtheit sagen. Ich stellte nur erleichtert fest, dass Felix jetzt mehrere Kumpel um sich scharte, die ihn auch in seinem Zimmer aufsuchten. Nicht alle gefielen mir vom Äußeren her. Sie trugen schwere Schuhe, diese eigenartigen Jacken und Lederhosen oder Jeans, die zerrissen und schmutzig waren. Ihre Frisuren waren äußerst gewöhnungsbedürftig, falls überhaupt vorhanden, denn einige waren stellenweise rasiert oder kahlköpfig. Dagegen war mein Junge ausgesprochen manierlich gekleidet. Auch trug er keine Piercings oder Tattoos, die bei den Jugendlichen immer beliebter wurden.


Erleichtert stellte ich fest, dass sie zwar kistenweise Bier konsumierten, aber keine harten alkoholischen Getränke. Überhaupt ging meine anfängliche Besorgnis in eine völlig falsche Richtung. Sie rauchten zwar wie die Schlote, aber Drogen waren tabu in dieser Gemeinschaft. Und sie hatten sich auch kein rechtsradikales Gedankengut zu Eigen gemacht. Nur unterschätzte ich die Gefahr, weil die Grenzen oft fließend sind. Und als älterer Mensch kann man sich oft nicht vorstellen, was in den Köpfen dieser jungen Menschen vor sich geht.

Als eines Tages die Polizei vor unserer Tür stand und mein Junge in Handschellen abgeführt wurde, brach für mich eine Welt zusammen. Das alles musste doch ein Irrtum sein. Ich war fest davon überzeugt, dass sie den Falschen in Gewahrsam genommen hatten.

Als man mir eröffnete, Felix stehe in Verdacht, einen Obdachlosen erschlagen zu haben, glaubte ich noch immer, dass er nicht der Täter sein konnte. Vielleicht wollte man ihm die Tat nur in die Schuhe schieben. Aber all meine Hoffnungen und Zweifel stürzten wie ein Kartenhaus ein, als ich meinen Jungen während der Gerichtsverhandlung sagen hörte:

»Ja, ich habe diesen Penner erschlagen. Ich weiß nicht, warum man um dieses unwerte Leben so ein Wesen macht. Der hat doch längst seine Chance verwirkt, ein nützliches Mitglied der Gesellschaft zu sein. Es wird Zeit, dass man mit derartigem Gesockse aufräumt.«

In der Nacht nach der Verhandlung habe ich kein Auge zugetan und war nahe daran, mir etwas anzutun. Ich hatte mir eingebildet, mein Kind zu einem ordentlichen Menschen erzogen zu haben, der zwischen Recht und Unrecht unterscheiden kann. Aber seine Aussage hat alles zunichte gemacht. Woher kam dieser Hass? Diese Gewaltbereitschaft und diese grenzenlose Arroganz, um nicht zu sagen: Dummheit? So etwas konnte ich doch nicht in die Welt gesetzt haben. Oder war es meine Schuld, dass er sich so entwickelt hatte? Ich weiß es nicht und könnte vor Scham sterben.

Mir ging alles Mögliche durch den Kopf bei der Suche nach der Ursache für Felix’ Fehlentwicklung. Waren die Gene seines Vaters doch nicht so ideal gewesen? Schließlich kannte ich ihn so gut wie gar nicht. Vielleicht hatte er nur ein schönes Bild seiner Person gezeichnet und war in Wahrheit ganz anders. Womöglich hatte es in seiner Familie Gewalttäter oder Verbrecher gegeben?

Sogar an die Märchen dachte ich, die ich Felix früher vorgelesen hatte. Wo Menschen vergiftet wurden, lebenslang in unerreichbare Türme gesperrt, in glühenden Pantoffeln sich zu Tode tanzen mussten, alte Frauen in Öfen verbrannt wurden und der Grausamkeiten mehr. Alles im Sinne der ausgleichenden Gerechtigkeit. Aber unendlich anderen Kindern waren diese Geschichten doch auch vorgelesen worden …

Oder hatte ich als berufstätige Frau zu wenig Zeit für ihn gehabt? War er zu oft sich selbst überlassen gewesen? Nur musste ich doch für uns beide sorgen, denn einen Ernährer gab es ja nicht, leider. Ich bekam nicht einmal Unterhalt für den Jungen, weil sein Vater keine Ahnung von seiner Existenz hatte. Die Tatsache, dass Felix ohne Vater aufwuchs hatte ich wohl doch unterschätzt.

Die Staatsanwaltschaft forderte zehn Jahre Jugendgefängnis wegen Mordes. Mord ist mehr als ein Totschlag und besonders verwerflich. Sei es wegen besonderer Grausamkeit, sei es wegen niedriger Beweggründe. Grausam ist nach den gängigen Definitionen eine Tat, die dem Opfer besonderes Leid zufügt, die gängige Hemmschwellen infrage stellt oder besonders erschütternd wirkt, hieß es. Erschwerend kam hinzu, dass Felix keine Reue zeigte.

Die Verteidigung beantragte drei Jahre auf Bewährung wegen versuchten Totschlags. Schließlich verurteilte man Felix zu fünf Jahren Jugendgefängnis, mit der Auflage, sich einer therapeutischen Behandlung und einem Anti-Aggressions-Training zu unterziehen.

Die ebenfalls angeklagten „Freunde“ von Felix wurden wegen Körperverletzung mit Todesfolge zu jeweils zwei Jahren Haft verurteilt. Schließlich seien sie „nur“ mit Tritten gegen den Obdachlosen beteiligt gewesen, während Felix den tödlichen Schlag auf den Kopf des Opfers ausgeführt hatte, wie das Handy-Video eines der Beteiligten eindeutig bewies. Revision sei binnen einer Woche möglich, hieß es abschließend.

Bei dem Plädoyer der Staatsanwaltschaft kam es zu einem peinlichen Zwischenfall, als ich entsetzt ausgerufen hatte:

»Aber mein Junge ist doch kein Mörder. Sie dürfen ihn nicht wegen Mordes anklagen.«

Der Richter rief mich umgehend zur Ordnung.

»Bitte unterlassen Sie jegliche Zwischenrufe und wahren Sie die Würde des Gerichts. Andernfalls muss ich Sie mit einer Ordnungsstrafe belegen.«

»Lassen Sie meine Mutter in Ruhe, die hat mit alledem nichts zu tun«, rief Felix empört.

»Oh doch, junger Mann, das hat sie. Sie hat Liebe und Nachsicht mit Erziehung verwechselt und mit Sicherheit ihre Aufsichtspflicht verletzt. Den Rest ihres Lebens wird sie sich wohl fragen müssen, ob sie versagt hat.«

Ich schämte mich in Grund und Boden und hätte mich am liebsten in ein Mauseloch verkrochen.

Ich werde Felix so oft es mir möglich ist besuchen gehen und ihn um Verzeihung bitten. Ich weiß, dass er einen guten Kern besitzt und nur unter schlechtem Einfluss stand. Irgendwann wird er sein Unrecht einsehen und zu einem Erwachsenen heranreifen, dem all das Erlebte wie ein böser Traum vorkommen wird. Ich weiß, der arme, gescheiterte von ihm getötete Mensch wird nicht wieder lebendig, aber vielleicht kann er durch soziales Engagement etwas an anderen Menschen gutmachen. Felix hat nicht gleich nein gesagt. Vielleicht ist das ein erster Schritt zur Umkehr. Ich hoffe es so sehr.


Zerbrechliche Momente

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