Читать книгу Gänzlich ohne Spur - Dietrich Novak - Страница 5

2. Kapitel

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Der karge Raum war erfüllt vom kläglichen Weinen des Mädchens. Annika befürchtete, nie wieder freizukommen aus dieser scheußlichen Umgebung. Hier, wo es keine Fenster gab, durch die die Sonne scheinen konnte. Wo man es nicht regnen oder schneien sehen würde. Wo es nicht einmal einen winzigen Ausschnitt gab, der vom Blau des Himmels, dem Weiß der Wolken oder dem Grün der Bäume und Gräser kündete.

Doch fast noch schlimmer war die Isolation. Ihr fehlten das Lachen der Kinder und die Spiele mit ihnen. In Unbeschwertheit Streiche auszuhecken oder sich über die kleinen und großen Sorgen austauschen zu können. Wenn sie doch wenigstens etwas Lebendiges bei sich hätte. Einen kleinen Hund oder eine Katze. Ihre einzige Bezugsperson war der fremde Mann, der abwechselnd zärtlich oder böse zu ihr war. Sodass sie stets darauf achten musste, keinen Fehler zu begehen. Was wollte er nur von ihr? Sollte sie seine Ersatztochter sein? Oder war er so einsam, dass es ihm egal schien, dass sie noch ein Kind war? Dass er andere Ziele verfolgen könnte, lag außerhalb ihrer Vorstellungskraft. Ja, man hatte sie immer gewarnt, nicht mit fremden Männern mitzugehen, aber was die mit ihr anstellen würden, darüber hatte niemand gesprochen.

Eine erste leise Ahnung bekam sie, als er sich schon in der ersten Nacht neben sie ins Bett legte. Annika hatte sich ganz eng an die Wand gedrückt, aber der Mann rückte ihr nach. Sie ekelten seine Nähe und sein schlechter Atem. Sein Streicheln hatte immer weiter nach unten ihren Körper entlang geführt. Bis seine Hand in ihrem Schritt verweilte. Dabei war sie stocksteif geworden und hatte die Luft angehalten, bis sie fast geplatzt war. Dann hatte er ihre kleine Hand genommen und sie unter der Bettdecke zu seinem Schritt geführt. Da war etwas sehr Festes und zugleich Samtweiches und Heißes gewesen. Annika hatte erschrocken ihre Hand zurückgezogen. Doch der Mann hatte sie sogleich zurückgelegt, um immer heftiger zu atmen und dabei an sich herumzuhantieren. Nachdem er kurz aufgestöhnt hatte, war endlich Ruhe gewesen. Er hatte sich aufgesetzt und seine Hose angezogen. Ohne sie noch einmal eines Blickes zu würdigen, war er hinausgegangen.

»Schlaf gut, und träum was Süßes!«, waren seine einzigen Worte gewesen, die in ihren Ohren wie Hohn klangen. Noch dazu, wo er sie kalt mit emotionsloser Stimme vortrug. Würde sie jemals wieder ruhig einschlafen können? Ohne Angst vor dem nächsten Tag? Annika wusste es nicht und lag die halbe Nacht wach, bis sie doch schließlich hinübergedämmert sein musste.


An diesem Morgen war Ben für seine Verhältnisse sehr zeitig am Frühstückstisch. Valerie meinte, ihn erst in den frühen Morgenstunden nach Hause kommen gehört zu haben. Wahrscheinlich hatte er wenig oder gar nicht geschlafen.

»Wäre es sehr schlimm für euch, wenn ich wieder auszöge?«, fragte er unvermittelt.

»Ich hätte zwar eine Menge weniger Arbeit, aber das hatten wir doch schon mal.«

»Nur diesmal ziehe ich nicht in eine WG, sondern zu einer Frau.«

»Auch eine Studentin? Ist sie hübsch?«, fragte Hinnerk.

»Ist das deine einzige Sorge?«, ärgerte sich Valerie. »Er weiß noch nicht einmal, für welches Studium er sich entscheidet, aber schon mit Wei … Frauen rummachen.«

Ben hatte sich nach dem Abitur entschieden, an der FU das sogenannte EinS@FU – das Einführungs- und Orientierungsstudium der Freien Universität Berlin zu absolvieren. Dabei konnte man ein Jahr lang mehr als vierzig Studiengänge der FU in den Naturwissenschaften, Geschichts- und Kulturwissenschaften sowie in der Philosophie- und den Geisteswissenschaften kennenlernen, neue Interessen und Studienfächer entdecken, sich gezielt auf ein späteres Studium vorbereiten, anrechenbare Leistungen für ein nach-folgendes Studium erwerben und letztendlich ein Studium finden, das genau zu den eigenen Vorstellungen, Fähigkeiten und Zielen passte. So lautete der Werbetext der Universität. Valerie nannte es eine Maßnahme für Unentschlossene, doch Hinnerk sah die Chance, dass Ben sich auf diese Weise für das richtige Studium entschied.

»Ich mache nicht mit mehreren Weibern rum, sondern nur mit einem«, protestierte Ben.

»Wenn es wieder so ein Fehlgriff wie mit dieser Merle ist, dann sehe ich schwarz«, ließ Valerie nicht locker.

»Nun lass ihn doch seine eigenen Erfahrungen machen. Wir waren in dem Alter doch auch nicht anders«, sagte Hinnerk.

»Du vielleicht nicht, ich schon. Sonst hätte ich heute nicht ein Kind, sondern ein ganzes Dutzend.«

»Chantal kann man mit Merle nicht vergleichen. Sie ist einzigartig.«

»Das denkt man immer, wenn die Liebe noch frisch ist, mein Sohn. Was studiert sie denn?«

»Chantal ist Friseurin, verdient zusammen mit den Trinkgeldern so gut, dass sie sich eine kleine Zweizimmerwohnung leisten kann, und nachdem es mit uns bisher ganz gut läuft, hat sie mir angeboten, zu ihr zu ziehen.«

»Wenn die Friseurinnen heute noch so sind wie zu meiner Zeit, wirst du nicht der Einzige sein …«

»Ach, Mama, das hört sich an, als wäre sie eine Nutte. Und wenn es da noch andere Männer gab, schließlich hat sie mir das Angebot gemacht und nicht den anderen. Außerdem darf ich dich erinnern, dass ich seit Kurzem volljährig bin. Du kannst also gern deinen Senf dazugeben, erwarte aber nicht, dass ich mich danach richte.«

»Wie könnte ich deinen achtzehnten Geburtstag vergessen?«, fragte Valerie. »Am liebsten hätte ich deinem Vater die Augen ausgekratzt, als er dir den Motorroller geschenkt hat. Sein Glück, dass es kein Motorrad war.«

»Es soll Eltern geben, die schenken ihren Söhnen zum bestandenen Abi oder zur Volljährigkeit den Führerschein. Manche sogar ein Auto«, sagte Ben. »Nicht dass ich mich beklagen will, aber … Damit kein Missverständnis aufkommt … ich liebe meinen kleinen Flitzer in Schwarz und Silber, der tolle fünfundvierzig Stundenkilometer macht.«

»Aber lieber hättest du ein Auto gehabt, mitsamt dem Führerschein, schon verstanden«, sagte Valerie. »Man kann’s auch übertreiben. Und was den Führerschein betrifft: den hat dir Karen bezahlt. Wenn es auch nur ein Rollerführerschein war. Überhaupt haben sich deine Omas gegenseitig überboten, was das Zubehör wie Helm, Schutzkleidung und so weiter betrifft.«

»Für mich ist es immer noch seltsam, zwei Omas zu haben«, sagte Ben, »nichts gegen Tyra, aber …«

»Kinder haben im Allgemeinen zwei Großmütter. Nur du eben zwei mütterlicherseits. Und dabei hast du es wahrlich nicht schlecht getroffen.«

»Ich beklag mich ja auch gar nicht. Wittere doch nicht hinter allem, was ich sage, einen Vorwurf.«

»Ich kenne dich gut genug, um zu wissen, dass du alles so meinst wie du es sagst ...«

»Statt hier die Messer zu wetzen, solltet ihr euch vertragen. Zumal die gemeinsamen Tage unter einem Dach gezählt sind, wie es aussieht«, sagte Hinnerk.

»Genau, aber dein Sohn ist gedanklich ohnehin schon nicht mehr hier, sondern bei seiner Tussi.«

»Es ist auch dein Sohn, liebe Val.«

»Genau, und Chantal ist keine Tussi. Das möchte ich in aller Deutlichkeit bemerken. Dem Klischeebild einer Friseuse entspricht sie in keinem Fall.«

»Oh, Verzeihung, bisher konnten wir uns ja noch nicht selber davon überzeugen.«

»Das eilt auch nicht«, sagte Ben. »Nicht dass sie es sich noch anders überlegt, wenn sie ihre zukünftige Schwiegermutter kennenlernt.«

»Siehst du, das hast du nun davon«, feixte Hinnerk.

»Ach, ihr könnt mich alle beide mal kreuzweise!«

»Pass auf! Sonst wird dein Wunsch war, zumindest, was meine Person betrifft …«


Die Tage schienen endlos für Annika, zumal sie durch das fehlende Tageslicht nicht zwischen Tag und Nacht unterscheiden konnte. Computer oder Handy gab es nicht, und die Puzzles verloren schnell ihren Reiz. Neben Radio und Fernsehen und gelegentlich einer DVD waren die „Unterrichtsstunden“ mit Tom die einzige Abwechslung. Er paukte mit ihr Englischvokabeln, rechnete Matheaufgaben oder teilte mit ihr sein Wissen über Geografie und Geschichte. Hin und wieder ließ er sie auch mal ein Diktat in Deutsch oder Englisch schreiben oder einen Aufsatz.

Der Unterricht ließ Annika hoffen, dass sie am Leben bleiben würde. Denn was nützte ihr Schulwissen, wenn sie es nicht anwenden konnte, weil sie vorher starb? Tom gab sich alle Mühe und kochte sogar für sie. Das gelang nur nicht immer. Wie an diesem Tag.

»Was ist, warum isst du nicht? Hast du keinen Appetit?«, fragte er.

»Doch schon, aber das schmeckt so komisch. Ganz anders als bei Mama.«

»Du willst doch nicht behaupten, deine versoffene Mutter hätte für dich gekocht? Und wenn, dann garantiert nur aus der Dose oder ein Fertiggericht.«

»Trotzdem. Es hat wenigstens geschmeckt.«

Tom tickte von einem Moment zum anderen aus. Er fegte den Teller vom Tisch und brüllte sie an.

»So, der feinen Dame genügt nicht, was ich für sie koche? Ich reiße mir hier den Arsch auf, und Gnädigste macht lange Zähne. Dann wirst du eben ein oder zwei Tage hungern. Was meinst du, wie dir dann alles schmecken wird! Und damit du dich nicht allein am Kühlschrank bedienst, kette ich dich am Bett an. Los, komm!«

»Bitte nicht! Ich habe es doch nicht so gemeint«, wimmerte Annika. Doch es half ihr nichts. Er zerrte sie am Handgelenk in den Schlafraum und fixierte sie an Händen und Füßen mit Ketten.

Doch das Martyrium sollte keine zwei Tage dauern, denn schon in der Nacht kam er wieder und machte sie los.

»Dummes Mädchen«, säuselte er völlig verändert, »wirst schon noch lernen, dass es sich nicht lohnt, Onkel Tom zu ärgern.«

Dann ließ er die Hose vor ihr herunter und zog ihre kleine Hand zu seiner Scham.

»Fass ihn ruhig an. Er beißt nicht. Kannst ihn auch küssen. Das hat er besonders gern.«

Annika schüttelte angewidert den Kopf und flüchtete sich an die kalte Wand.

»Ist wohl alles ein bisschen viel für dich«, sagte er erstaunlich verständnisvoll und legte sich neben sie. »Das kommt schon noch, dass du Spaß dabei hast. Wir haben viel Zeit.«

Dann erfolgte wieder dieselbe Prozedur wie an den Abenden zuvor. Und Annika war heilfroh, als er endlich von ihr abließ und den Raum verließ. Wenigstens hatte er sie nicht wieder angekettet.

»Es ist schon wieder ein Wisch angekommen«, sagte Marlies, als Valerie und Hinnerk ins Büro kamen.

»Mensch, Lieschen, gib schon zu, dass du die Dinger selber schreibst, damit uns nicht langweilig wird«, witzelte Hinnerk, »was steht denn diesmal drauf?«

»Nicht viel. Nur Buchstaben und Zahlen«, sagte Marlies leicht verschnupft aufgrund des schlechten Witzes von Hinnerk. »S13 und K/L 5, was immer das bedeuten soll. Und dann ist da noch eine 33, mit der ich gar nichts anfangen kann.«

»S13 könnte für Seite dreizehn stehen. Aber in welchem Buch?«, fragte Valerie.

»Versuchs doch mal mit der Bibel«, meinte Hinnerk.

»Oh, nein, nicht schon wieder«, stöhnte Valerie auf.

»Daran habe ich auch schon gedacht«, sagte Marlies, »aber im Internet habe ich nur Folgendes gefunden: 1647 Aphorismen und 13 Gedichte des Autors Bibel Seite: 13. Dabei sind mir zwei Sprüche aufgefallen:


„Denn wie der Vater die Toten auferweckt und macht sie lebendig, so macht auch der Sohn lebendig, welche er will.“«


»Das macht Sinn«, sagte Hinnerk, »ein tot geglaubtes Mädchen wird für lebendig erklärt, weil es ein Spinner so will. Und der andere Spruch?«


»„In meines Vaters Hause sind viele Wohnungen. Wenn's nicht so wäre, hätte ich dann zu euch gesagt: Ich gehe hin, euch die Stätte zu bereiten?“«, las Marlies laut vor.

»Wenn er das Kind in ein Erdloch oder anderswo eingesperrt hat, würde auch das mit den vielen Wohnungen des Herrn Sinn machen.«

»Verdammte Scheiße, ich will das nicht schon wieder mit diesen religiös Verwirrten«, sagte Valerie. »Können die Zeichen nicht noch etwas anderes bedeuten? Wartet mal! Als man noch nichts von Google Earth wusste, gab es doch diese Faltpläne. Wurden die Quadrate nicht immer einem Buchstaben und einer Zahl zugeordnet?«

»Aber warum zwei verschiedene Zuweisungen? Einmal „S“ und einmal „K“ beziehungsweise „L“.«

»Weil es sich vielleicht um zwei verschiedene Pläne handelt. Oder der eine zur Innenstadt gehört«, sagte Valerie.

»Also hier auf unserem Wandplan sind es zwei völlig verschiedene Gegenden«, sagte Marlies, »und was ist mit der 33?.

»Ich habe noch so’n altes Ding im Auto«, sagte Lars. »Als es konkret wurde, dass ich nach Berlin gehe, hat ihn mir ein Freund geschenkt. Soll ich ihn holen?«

»Ja, sofort!«, riefen alle im Chor, und Lars lief los.

»Fällt noch jemand etwas zu den Zeichen ein?«, fragte Hinnerk, während Lars unterwegs war.

»Vielleicht ein Kreuzworträtsel? „S“ könnte für senkrecht und „L“ für längs stehen«, meinte Marlies.

»Nicht schlecht, Schmidtchen«, sagte Valerie, »fragt sich nur in welcher Zeitung? In den Tageszeitungen sind die Rätsel meist nicht so groß, und Rätselhefte gibt es wie Sand am Meer.«

»Was ist mit Schach?«, fragte Marlies.

Hinnerk lachte laut auf.

»Beim Schach gehen die Felder nur von A bis H beziehungsweise von 1 bis 8. Da gibt es keine Dreizehn und auch kein „L“ oder „K“ und erst recht keine 33.«

»Tschuldigung, ich spiele kein Schach.«

»Du brauchst dich doch nicht zu entschuldigen, Schmidtchen«, sagte Valerie, »beim Brainstorming ist alles erlaubt. Und ich finde es toll, wie du mitdenkst.«

Als Lars zurückkam, wedelte er mit zwei Plänen.

»Ich habe noch einen gefunden«, sagte er, »muss ich mal auf dem Flohmarkt gekauft haben. Los, lasst sie uns beide ausbreiten!«

Es begann ein Knistern und Flattern und auch Fluchen, weil es gar nicht so leicht war, die Seiten auseinanderzufalten, ohne das dünne, brüchige Papier zu beschädigen. Aber schließlich gelang es, und Valerie und Hinnerk und Marlies und Lars hatten einen großen Plan von Berlin vor sich liegen.

»Also bei uns ist es die Dahlemer Gegend«, sagte Lars, »und bei euch?«

»Auch«, sagte Hinnerk. »Mist in diesem feinen Bezirk gibt es bestimmt kein Ödland oder verlassene Fabriken.«

»Sieh mal hier!« Valerie deutete mit dem Finger auf eine Straßenkreuzung. »An der Königin-Luise-Straße Ecke Peter-Lenné-Straße liegt doch das ehemalige Institut für Anatomie der FU. Das wurde 1949 eröffnet und 2005 aufgegeben. Seitdem liegt es in einem Dornröschenschlaf. 2008 soll das Gelände ein Discounter erstanden haben, um dort ein Einkaufszentrum zu errichten. Der Bezirk hat aber die Genehmigung verweigert. Daraus ist ein Rechtsstreit entstanden, und die Ruinen verfallen weiter.«

»Ja, ich erinnere mich. Das ging immer wieder durch die Presse«, sagte Lars. »Das ehemalige Institut gilt bei Fotografen als „lost place“ – aufgrund des morbiden Charmes eignet sich das Gelände hervorragend zum Fotografieren, was offiziell natürlich verboten ist. Die Zäune werden aber immer wieder von Abenteurern überwunden. Ich habe im Internet Fotos gesehen. Gruselig, sage ich euch. Die haben damals alles stehen und liegen gelassen. Die Hörsäle sind noch bestuhlt, und im Keller stehen sogar noch Seziertische herum. Soll ich die Seite mal aufrufen?«

»Ja, kannst du machen. Aber ich denke, wir verschaffen uns selbst ein Bild vor Ort. Und wir nehmen Leichenspürhunde mit und das Nachthemdchen von Elena«, sagte Valerie.

Als sie dann die Fotos im Netz sahen, erkannten sie, dass Lars nicht übertrieben hatte. Besonders ein Foto erweckte Valeries Interesse. Deshalb tippte sie mit dem Finger drauf, und Hinnerk nickte. Es zeigte eine halb geöffnete Leichenkühlkammer mit der Nummer 33.


Der Mann, der sich Tom nannte, war immer für eine Überraschung gut. So kam er nach einigen Monaten der Tortur und Einsamkeit für Annika mit einem kleinen Mädchen an der Hand in den Bunker. Die Kleine hatte dunkelbraune Löckchen und große Kulleraugen in der gleichen Farbe, die jetzt allerdings vom Weinen gerötet waren. Ihre Körperhaltung und ihr Gesichtsausdruck zeigten, dass sie völlig verstört war und panische Angst haben musste. Annika schätzte sie auf etwa sechs Jahre und hoffte, dass es sich nicht nur um einen kurzen Besuch handeln würde.

»Das ist Lotte«, sagte er, »sie wird dir von jetzt ab Gesellschaft leisten. Komm, sag Annika guten Tag!«

Das Mädchen ging zögernd auf Annika zu, reichte ihr die kleine Hand und blieb dann an ihrer Seite stehen.

»Ich lass euch dann mal alleine, damit ihr euch richtig bekannt machen könnt. Aber denk daran, was ich dir gesagt habe, Lotte!«

»Was meint er damit?«, fragte Annika, als der Mann gegangen war.

Das Mädchen zuckte nur mit den Achseln.

»Dann bist du also seine Tochter, ja?«

„Lotte“ schüttelte den Kopf.

»Nicht? Hat er dich nur wegen deines Namens ausgesucht?«

»Quatsch, ich heiße ja gar nicht Lotte, sondern Jana. Er will nur, dass ich mich Lotte nenne. Dabei finde ich den Namen blöd. Aber du darfst mich nicht verraten.«

»Nein, bestimmt nicht. Spiel einfach das Spiel mit, dann ist er zufrieden.«

Annika überlegte fieberhaft. Dann stimmt es also. Der schreckliche Kerl suchte sich Ersatztöchter. Warum? War die echte Lotte schon tot? Oder sprach er die Wahrheit, wenn er behauptete, er dürfe sie nur nicht sehen? Annika wollte das unbedingt herausfinden. Und wenn sie all ihre kindliche Verführungskunst aufbringen musste.

»Bist du auch heute gekommen?«, fragte Jana nach einer Weile.

»Nein, ich bin schon sehr lange hier. Ich kann dir aber nicht sagen, wie lange. Weil hier unten ein Tag wie der andere ist.«

»Ich will zu meiner Mama!« Jana fing heftig an zu weinen.

»Ja, ich weiß. Aber jetzt haben wir wenigstens uns beide. Und irgendwann, wenn die Gelegenheit günstig ist, werden wir fliehen. Das verspreche ich dir.«

»Ehrlich?«

»Ehrlich. Du musst nur etwas Geduld haben. Er darf nicht merken, was wir vorhaben. Sonst bindet er uns fest. Hast du Durst? Da im Kühlschrank gibt es Saft. Soll ich dir ein Glas holen?«

Jana nickte.

»Gut, dann setz dich da auf die Bank. Wir können etwas spielen, wenn du willst. Kannst du Mensch ärgere dich nicht? oder spielst du lieber Karten? Memory oder Schwarzer Peter

»Egal, was du willst.«

Der Nachmittag verlief gut, und Annika war selig, eine kleine Schwester gefunden zu haben. Wenn es ihr auch in der Seele wehtat, dass Jana das gleiche Schicksal erdulden musste wie sie. Aber wie hieß es so schön? Geteiltes Leid ist halbes Leid.

Auch der Abend begann vielversprechend. Tom legte sich mächtig ins Zeug und servierte sogar Pommes mit Ketchup. Lotte/Jana bekam dazu ein Wiener Würstchen, während er und Annika Currywurst aßen. Danach sahen sie sich gemeinsam einen Disney-Zeichentrickfilm an. Dabei versuchte er stets, die Kleine auf seinen Schoß zu ziehen, aber die flüchtete sich zu Annika. Trotz allem war es ein fast harmonischer Abend.

Umso schlimmer wurde die erste Nacht für Jana. Annika hörte sie im Nebenraum schreien und konnte sich genau vorstellen, was da abging. Nachdem Tom wutentbrannt nach draußen gerannt war, kam Jana schluchzend in Annikas Bett. Die nahm sie in den Arm und tröstete sie.

»Es wird alles gut«, flüsterte Annika.

»Nein, der Mann ist böse. Er fasst mich da an, wo Mama gesagt hat, dass das niemand darf. Er wollte mich ständig küssen, aber ich habe ihm in seine dicke Zunge gebissen.«

Annika lachte. »Das hast du gut gemacht. Ich habe mich das nicht getraut.«

»Noch mal kann ich das nicht machen, denn er hat mich tüchtig verhauen. Ach, ich will nach Hause. Hier ist es gar nicht schön.«

»Jetzt schlaf erst mal. Du wirst sehen, mit der Zeit gewöhnst du dich daran.«


Valerie und Hinnerk hatten sich kurzfristig mit dem Wachschutz für das Grundstück Königin-Luise-Straße Ecke Peter-Lenné-Straße in Verbindung gesetzt. Der öffnete für sie den Zaun und sperrte sogleich wieder ab. »Sie melden sich dann, wenn Sie fertig sind, ja?«, sagte der breitschultrige, junge Bursche.

»Kommen Sie denn nicht mit?«, fragte Valerie.

»Nö, ich kenne das alles in und auswendig. Sie werden sich schon zurechtfinden.«

»Gut, dann lassen Sie bitte noch die Kollegen mit den Hunden herein. Die müssten jeden Moment eintreffen.«

»Alles klar!«

Das 1929 errichtete Gebäude machte einen verwahrlosten Eindruck, der sich im Innern fortsetzte. Ein Treppenhaus mit einem Handlauf im Stil der zwanziger/dreißiger Jahre und Glasbausteinen, die mit Graffiti übersät waren. Ebenso die steil aufragende Bestuhlung der Hörsäle. Eingeschlagene Vitrinen im Präpariersaalgebäude und endlose dunkle Flure. Dann plötzlich ein verglaster Durchgang zum Ende der vierziger Jahre errichteten Nachbargebäude. Der Blick fiel auf einen verkommenen Hof – wohl der ehemalige Pausenhof – mit typischem Geländer und Kippfenstern der frühen fünfziger Jahre. In den Räumen lagen noch Aktenordner und Berge von Papier sowie alte Telefone.

Doch das war nichts gegen das Souterrain, wo man noch Nirostaspülen und Seziertische fand.

»Kannst du begreifen, dass man das alles so aufgibt und verrotten lässt?«, fragte Valerie Hinnerk.

»Möchtest du in einem Gebäude wohnen, in dessen Keller früher an Leichen herumgeschnippelt wurde?«

»Zwischen Eigentumswohnungen und Ruinen gibt es doch wohl noch etwas anderes.«

Die Diskussion wurde unterbrochen, als zwei Hundeführer mit ihren schönen Tieren nach unten kamen. Ein prächtiger Schäferhund zog an der Leine und gab winselnde Laute von sich.

»Oh, oh, er hat Witterung aufgenommen«, sagte der Hundeführer, »und es ist der Leichenspürhund.«

Der Schäferhund lief schnurstracks zu den Leichenkühlfächern, von denen einige offen standen. An einem richtete sich der Hund kerzengerade auf und kratzte an der Tür. Es war das Fach mit der Nummer 33.

»Ist gut, Leo, Platz!«

Hinnerk öffnete vorsichtig das Kühlfach, aus dem sogleich Tauwasser herauslief, und hielt sich augenblicklich die Nase zu.

»Es riecht nach verdorbenem Fleisch«, sagte er.

»Warte, ich informiere gleich die Rechtsmedizin und die KTU«, sagte Valerie, »und wir gehen derweil etwas an die frische Luft. Vielen Dank, Kollegen.«

Valerie strich dem Hund über den Kopf und zog ein Leckerli aus der Tasche, das ihr gierig aus der Hand gerissen wurde.

Draußen gingen sie auf den Wachmann zu, der noch immer am Zaun stand.

»Sind Sie fertig?«, fragte er.

»Nein, es geht gerade erst los. In den Kühlfächern haben wir eine Leiche gefunden. Bitte lassen Sie niemanden auf das Grundstück, außer den Kollegen der Rechtsmedizin und der KTU.«

»Alles paletti!«

Valerie ging bei Hinnerk untergehakt ein paar Schritte über das von Unkraut übersäte Grundstück.

»Ist es das, was ich denke?«, fragte sie leise.

»Wenn ich das im Dunkeln richtig erkannt habe, handelt es sich um einen sehr kleinen Körper. Wahrscheinlich den eines Kindes. Deshalb sind wir doch hier, oder?«

»Ja, schon, aber irgendwie hatte ich gehofft, dass wir nichts finden … Hallo, Tina, Knud … Seid ihr geflogen?«

Die beiden Rechtsmediziner gaben artig Pfötchen, wobei Tina vermied, Hinnerk anzusehen. Sie war zwar inzwischen glücklich mit Staatsanwältin Ingrid Lindblom liiert, nahm Hinnerk aber immer noch übel, dass er sie damals bei Valerie ausgestochen hatte. Die beiden Frauen hingegen hatten wieder ein freundschaftliches Verhältnis und trafen sich gelegentlich auch privat.

»Wir hatten in der Nähe zu tun und waren gerade fertig«, sagte Tina.

»Na, dann kommt mal, und seht euch die Schweinerei an!«

Tina Ruhland folgte Valerie, und Knud Habich lief ihr hinterher. Inzwischen trafen auch Manfred Hoger und seine Kollegen von der Spurensicherung ein und folgten nach kurzer Begrüßung der kleinen Gruppe ins Untergeschoss.

Die beiden Rechtsmediziner nahmen vorsichtig den kleinen Leichnam aus dem Kühlfach und legten ihn auf einen der Seziertische.

»Wie praktisch, wenn schon alles da ist«, sagte Tina, um ihre Verlegenheit zu überspielen. Denn es handelte sich wirklich um die Leiche eines kleinen Mädchens. Und nach all den Jahren Berufsalltag, gehörte so ein Fall zu denen, die auch die alten Hasen nicht kalt ließen.

»Sie hat mit Sicherheit in einer Kühltruhe gelegen und taut gerade auf, weil die Kühlfächer hier natürlich keinen Strom haben. Aber das schien dem Strolch egal zu sein.«

»Woher willst du wissen, dass es ein „Er“ ist?«, fragte Hinnerk.

»Entschuldige mal! Eine Frau würde kaum so grausam vorgehen. Die entsorgen zwar gelegentlich Föten in Blumenkästen, aber ein Kleinkind erst einfrieren und dann in eine Ruine verfrachten, ist eine andere Nummer. Unter diesen Umständen wird sich der Todeszeitpunkt kaum feststellen lassen.«

»Das dachte ich mir schon«, sagte Valerie, »du schickst uns dann den Bericht, ja? Ich muss hier raus!«

»Ja, wie üblich. Ich meine, den Bericht.«

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