Читать книгу Ein Gewisses Risiko - Dietrich Schönfelder - Страница 4
Das Horoskop
ОглавлениеHermann Jost war so gut gelaunt wie lange nicht mehr. Entspannt saß er auf einem der bequemen, ausholenden grün-weiß gestreiften Sessel des „Café Noir“ und paffte bereits den dritten Zigarillo. Gedankenversunken pustete er den Rauch an die Decke und beobachtete aus den breiten Fensterflächen das bunte, hektische Treiben draußen auf der Mabini-Street.
Angenehme Kühle umgab ihn und er hatte soeben den Entschluss gefasst, diese noch ein Weilchen zu genießen. Es war ein heißer Tag, stickig-schwül dazu, Hermanns schweißgetränktes, weißes Hemd begann erst jetzt zu trocknen. Grund zur Hast gab es zudem nicht. Die heutigen Geschäftstermine lagen bereits hinter ihm.
Übrigens verliefen die Tage hier in Manila ganz ohne Komplikationen. Die Warnungen gut meinender Freunde vor der Abreise, in diesem Land auf böse geschäftliche oder sonstige Rückschläge oder Situationen vorbereitet sein zu müssen, waren für ihn völlig unbegründet. Seine philippinischen Geschäftspartner erwiesen sich als kenntnisreich, professionell und auch als überaus sorgende Gastgeber.
Hermann hielt sich bereits den vierten Tag in dieser Metropole auf und plante den Rückflug am Abend des übernächsten Tages. Und entsprechend veranlasste er auch seine Buchung. Das Gefühl der Zufriedenheit des Geschäftsmannes rührte nicht nur von erfolgversprechenden Verhandlungen. Es war sein erster Besuch auf den Philippinen und seiner Hauptstadt, dieser Zwölf-Millionen-Metropole. Denn er fühlte sich auch sonst wohl.
An kleinere, überschaubarere Verhältnisse gewohnt, faszinierte ihn das 24-stündige, von ständiger Unruhe beherrschte Leben auf den Straßen, auch die Grobheit der Teilung zwischen Arm und Reich. Die Freundlichkeit der Bevölkerung, das Schattendasein in der Nacht. Wenn Bars, Casinos und Restaurants noch weit nach Mitternacht von Besuchern zu bersten schienen. Dunkle Geschäfte, er vermutete es, wurden in den Winkeln der Straßen und Häuser geschlossen, darauf abzielende Angebote ihm hinterher gerufen.
„Hey, Joe, want my sister?“, oder Bruder, oder was auch immer. Es war unvorstellbar für Hermann, wenn er dabei an seine mitteldeutsche Kleinstadt dachte.
„Noch einen doppelten Espresso, Sir?“
Eine der jungen, freundlich-lächelnden Angestellten des Cafés stand neben ihm, weckte ihn aus seiner Träumerei. Ein hübsches Mädchen zudem, Cappuccino-braun mit langen, glänzend-schwarzen Haaren. Sie trug einen kurzen, schwarzen Rock, über den eine kleine, modisch gestickte weiße Schürze gebunden war.
Hermann war verwirrt, hatte er doch beim Eintreten, auch des schweißnassen Hemdes wegen, für Schönheiten kein Auge. Nur auf die Kühle konzentrierte er sich. Zu sehr war er mit sich und der vorangegangenen Unbequemlichkeit in der Schwüle des Nachmittags beschäftigt.
„Ja, bitte!“ Es klang fast ein wenig verlegen.
Dabei war Hermann alles andere als schüchtern. Hoch gewachsen, hatte er sich, trotz fortgeschrittenen Alters, im letzten Dezember wurde er 55, eine unübersehbare Jugendlichkeit bewahrt. Der schlanke Körper und die muskulösen Arme ließen vermuten, dass er immer noch sportlich aktiv war. Auch die unvermeidlichen, von der Natur jedoch sorgsam verteilten Falten in seinem jetzt gebräunten Gesicht, machten es dem Betrachter schwer, sein Alter zu bestimmen. Hinzu kam ein gepflegter, voller Haarwuchs, der, schwarz-grau meliert, einen wohlgeformten Kopf bedeckte.
Was seinen Charakter anbelangte, war Hermann ein außergewöhnlich umgänglicher Zeitgenosse. Umsichtig und verantwortungsbewusst führte er sein Leben, vergaß dabei aber nicht, auch die Freuden auszukosten. In Maßen natürlich. Er war ein geduldiger, interessierter Zuhörer und wurde selbst dann nicht barsch oder gar zynisch, wenn sich eine Konversation zur Qual entwickelte.
Aufgebracht, fast ärgerlich wurde er nur, wenn andere seinen Namen nicht vokalgerecht aussprachen „Jooost!“ verbesserte er dann unverzüglich den verdutzten Gesprächspartner, also mit langem, gedehntem „O“. Wer immer, auf der anderen Seite, dieses „O“ zufällig korrekt wider gab, konnte sich eines Vertrauensvorschusses sicher sein.
Hermann war sich seines vorteilhaften Aussehens durchaus bewusst und es erfüllte ihn mit Genugtuung, wenn hier und da ein anerkennender Blick der jungen oder auch älteren Frauen auf ihn gerichtet wurde.
Was ihn in dieser Stadt irritierte, war die Ungezwungenheit, mit der so manche Schönheit den Augenkontakt suchte, dazu einladend lächelte und zu suggerieren schien, man kenne und schätze sich bereits. Es fehlte nur noch das Gespräch. Die Versuchung, sich eines dieser Geschöpfe näher anzusehen, war also groß.
Doch Hermann blieb stark, zumindest unentschlossen. Schließlich führte er eine zufriedenen Ehe, kinderlos zwar, die am Tage seiner Rückkehr einen anerkennenswerten Höhepunkt erreichen sollte: 25 Jahre dauerhaften Eheglücks, die silberne Hochzeit. Dabei dachte der Geschäftsreisende an die vielen Verwandten und noch zahlreicheren Freunde, die zur großen Feier eingeladen waren.
Und natürlich an Sarah, seine Ehefrau, die zuhause mit den Vorbereitungen beschäftigt sein würde. Er nahm sich vor, sie später vom Hotel aus anzurufen. Sie wurde von ihm verwöhnt und musste auf dem Laufenden gehalten werden. Zwei Tage ohne seinen Anruf, Hermann würde Gefahr laufen, ihren Zorn auf sich zu ziehen. Und davor hütete er sich.
In den Jahren des Zusammenlebens entwickelte er eine überzeugende Strategie, sie trotz aller Unbill, wie sie im Leben eines Mannes so vorkommen, immer wieder gütlich zu stimmen. Einer der Trümpfe, die er sich jetzt für den Fall der Fälle bewahrte, waren die guten Verhandlungsergebnisse mit seinen Geschäftspartnern. Der andere war gewichtiger, und es bereitete Hermann eine fast diebische Freude, wenn er daran dachte.
Vor zwei Tagen erstand er ein der Feierlichkeit angemessenes, eher sogar darüber hinaus gehendes Geschenk. Von seinen viel gereisten Geschäftsfreunden wurde ihm berichtet, dass zuverlässiger und bestens verarbeiteter Schmuck wesentlich günstiger in Asien als in Europa erworben werden könne. Und so machte sich Hermann auf ins Zentrum der Stadt und suchte in den feinen und feinsten Läden nach einer passenden Preziose
Schließlich wurde er fündig. Sich letztendlich zum Kauf zu entscheiden, dauerte zwar eine Weile. Es war ein außergewöhnlich feines, gut verarbeitetes, dafür aber auch kostspieliges Halsband, das er nach langem Zögern erwarb. So verführerisch, von weißem Tuch umgeben, lag es auf der Vitrine, dass er der Versuchung nicht widerstehen konnte.
Hermann traf eine mutige Entscheidung und er bereute es nicht. Er erhielt ein Zertifikat, fertigte zur Vorsicht noch ein Foto seines Neuerwerbs an und verwahrte alles im Safe seines Hotelzimmers.
„Noch einen Kaffee, Sir?“
Der zweite Kaffee war getrunken. Hermann blickte hoch in das junge, freundlich lächelnde Gesicht und überlegte, ob er gehen oder sich in der wohltuenden Kühle noch ein wenig aufhalten sollte.
„Ach, bringen Sie mir doch bitte einen kühlen Orangensaft!“
Dabei erwiderte er ihr Lächeln und es war ihm eine Freude, die Kleine in ihrem reizenden, wippenden Kleid davon gehen zu sehen.
Hermann richtete den Blick wieder auf die belebte Straße vor den großen Fenstern. Auf die wechselnde, bunt gemischte Menschenmenge, auf die vielen kleinen Geschäfte, die sich auf der gegenüberliegenden Straßenseite dicht an dicht drängten. Allein in seinem begrenzten Blickfeld zählte er acht unterschiedliche Kleinunternehmer. Wobei er die fliegenden Zigaretten-, Lotterie-, Obst- und Spielzeugverkäufer gar nicht mitzählte. Eine Karaoke-Bar, daneben der Friseur, ein sorgfältig dekorierter Obst- und Gemüseladen, eine schmutzig-graue Reparaturwerkstatt für Motorräder, eine Gesundheits-Klinik ……
Der größte Laden, weiter rechts gelegen, wurde von einem Uniformierten mit großkalibrigem Gewehr bewacht.
„L´HULLIERE“ stand in großen, roten Plastikbuchstaben über dem Eingang. Darunter, klein und in gelber Schrift gehalten, „PAWNSHOP“. Ein Pfandleihhaus also. Auch hier konnte er ständiges Gehen und Kommen der Kundschaft beobachten. Hermann war dieser für das Land sehr untypische Name schon häufiger aufgefallen. Auf fast jeder belebten Straße entdeckte er einen dieser Läden. Eine offensichtlich lukrative Handelskette, die ihr Geld mit der Not der Menschen verdiente.
Plötzlich bemerkte er, wie eine auffallend elegant und stolz wirkende Frau aus der geöffneten Tür des Pfandleihhauses trat. Sie war groß, selbst aus der Entfernung hübsch, und trug ein taubenblaues, kurzes Kostüm. Ihre blonden Haare, schulterlang, fielen ihm sofort ins Auge.
Ob sie eine Fremde war? Ihr Alter konnte Hermann nicht bestimmen, dafür saß er zu weit entfernt von ihr. Hätte er raten müssen, er hätte sie auf etwa dreißig, vielleicht Mitte dreißig, geschätzt. Sie wandte den Kopf schnell nach links, dann in die entgegengesetzte Richtung. So, als wollte sie sich vergewissern, ob jemand sie beobachtete. Vielleicht suchte sie auch nur nach jemandem. Oder, Hermann erfasste auch dieser Gedanke, schämte sie sich, gesehen zu werden.
Dann setzte sie sich eine Sonnenbrille auf und mit unerwartet schnellen Schritten entfernte sie sich aus seinem Blickwinkel. Arme Frau, dachte Hermann. Jedem kann es irgendwann einmal erwischen. Meist sind es tragische Hintergründe, die selbst die einmal zu Wohlstand gekommenen zwingen, den Fuß in ein Pfandleihhaus setzen zu müssen.
Inzwischen hatte sich das Café mit weiteren Gästen gefüllt. Es war später Nachmittag, nur noch wenige Stühle und Sessel waren unbesetzt.
An Hermanns Nachbartisch schnatterten vier ältere, ausgelassene Damen. Ihr Kommen hatte er nicht bemerkt, erst die Stimmen machten ihn darauf aufmerksam. Mit einem kurzen Blick erkannte er die noble, aber unaufdringliche Kleidung der vier. Es wurde mädchenhaft gekichert und der Nachbarin mit vorgehaltener Hand etwas zugeflüstert. Die Augen mal der einen, dann der anderen, waren auf Hermann gerichtet. Er merkte es und war darüber amüsiert. Aber sein Entschluss, zurück ins Hotel zu gehen, war bereits gefasst.
Er rief nach dem weißgeschürzten Mädchen, zahlte mehr als der Kassenzettel forderte und verließ mit einem dem Nachbartisch geltenden freundlichen Lächeln und einen „good bye“ seinen wohlig kühlen Platz.
Den Temperaturunterschied vor der Eingangstür hatte er erwartet. Mit einem Schlag war es wieder heiß und schwül, und es würde nur weniger Schritte bedürfen, bis ihm wieder der Schweiß aus den Poren trat.
Doch der Weg zu seinem Hotel war kurz. Es lag nur zwei Ecken weiter zu seiner Rechten. Zwar keines dieser Fünf-Sterne-Hotels im Banken-, Einkaufs- und Wohlstandszentrum Makatis, jedoch eine saubere, moderne Unterkunft mit allen Annehmlichkeiten, die erwartet werden konnten.
Hermanns Geschäftsfreunde hatten es ausgesucht, da sich dieses Hotel unweit der Hauptniederlassung ihres Geschäftes befand.
Sie wollten dem Gast die Mühsal des täglichen Verkehrschaos ersparen.
Hermann schlenderte die belebte Geschäftsstraße hinunter, sah sich neugierig die kleinen, offenen Verkaufsräume an und erreichte bald die alte Mabini-Kirche. Schon seit Jahren hätte sie repariert werden müssen. Aber erst jetzt zeigte ein breites und hohes Stahlgerüst, teilweise mit blauen Plastikplanen bedeckt, dass die Renovierungsarbeiten begonnen hatten.
Gegenüber der Kirche bog Hermann in die schmale St. Thomas Street, in deren Mitte sich sein Hotel befand. Mit dem rötlichen Marmor, der die Fassaden bedeckte, hob es sich deutlich und wohltuend von den vernachlässigten sonstigen Bauten der Straße ab. Große Fensterfronten erlaubten einen Blick in die modern ausgestattete Lobby.
Heilfroh, der stickigen Außenluft den Rücken kehren zu können, betrat er die von einem Pagen geöffnete gläserne Eingangstür. Er ging zur wenige Meter entfernten Rezeption und bat um seinen Schlüssel. Es war Zeit, das Überseegespräch zu führen, Sarah wartete. Mit dem augenblicklichen Zeitunterschied von 6 Stunden ist es zuhause etwa elf Uhr morgens sein, eine Stunde, in der sie das Haus gewöhnlich noch nicht verlassen würde.
Kurz vor dem Aufzug, der Hermann hoch in den vierten Stock bringen sollte, hielt er inne. Er hatte heute noch keine Zeitung gelesen. Also machte er eine Kehrtwendung und ging gemächlich in Richtung des Geschenkeladens, der auch internationale Tageszeitungen verkaufte. Die große Eingangshalle des Hotels bot alles, was dem Reisenden die Fremde erträglicher machte.
Eine ausreichend große, mit gemütlichen Sesseln ausgestattete Ecke fürs Sitzen, Warten oder Plaudern. Ein angrenzendes kleines Café mit sorgfältig dekorierten Süßigkeiten und Teigwaren. Eine Bar, die sich entlang der entfernteren Wand, gegenüber dem Café, über die ganze Länge des Raumes hinzog.
Und eben dieser Geschenke- und Zeitungsladen.
Hermann zog das letzte Exemplar einer internationalen Tageszeitung aus dem Regal und legte die abgezählten Peso-Scheine auf die kleine Verkaufstheke. Gut gelaunt vor sich hin summend, auf einen ruhigen Abend vorbereitet, wandte er sich ab, um nun endgültig sein Zimmer aufzusuchen.
Doch plötzlich blieb er wie angewurzelt stehen. Ungläubig starrte er hinüber zum Café, die Zeitung drückte er fest mit beiden Händen. Saß dort nicht die Frau, die vor Minuten noch das Pfandleihhaus verlassen hatte? Sie war nicht weiter als sechs oder sieben Schritte von ihm entfernt. Mit strumpflosen, übergeschlagenen Beinen, er sah es genau, in ihrem taubenblauen Kostüm. An einem der runden, gusseisernen Kaffeetische. In ihren Händen hielt sie eine Tasse, führte sie langsam an den roten Mund und es schien, als würde sie Hermann dabei ansehen. Der Entfernung wegen war dies eher eine Vermutung, ihr Blick hätte durchaus auch träumerisch ins Leere gehen können.
Hermann stand wie versteinert in der Mitte der Lobby, geblendet von der Eleganz und natürlichen Schönheit dieser Frau. Obwohl er keineswegs zu der Sorte Mensch zählte, die jeden daher kommenden Zufall als Zeichen des Himmels oder auch des Teufels deuteten – hier wurde er doch nachdenklich.
Erst seine Bewunderung für sie am Nachmittag, das Mitleid, das er für sie empfand, in ein Pfandleihhaus gehen zu müssen. Und nun ihre erneute Gegenwart, nur wenige Schritte von ihm entfernt.
Für einen Moment war er unschlüssig, auch dachte er wieder an den überfälligen Anruf.
Dann ging er langsam, als würde ein Puppenspieler ihn führen, auf sie zu. Mit beiden Händen immer noch fest die Zeitung umfassend. Eine feste Entscheidung für diesen Entschluss traf er nicht, alles war noch umkehrbar. Er hätte beispielsweise an ihrem Tisch vorbei laufen können, ohne ein Wort zu sagen.
Zu seiner großen Enttäuschung bemerkte Hermann, nun neben ihr stehend, dass sie tatsächlich nur ins Leere blickte. Träumend oder grübelnd, er konnte es sich aussuchen.
„Darf ich mich zu Ihnen setzen? Ihr Blick scheint so verloren, verheißt nichts Gutes!“
Die Entscheidung war also getroffen. Aber war er es, der da sprach?
Erschrocken blickte die Schöne hoch zu Hermann, als hätte er sie soeben aus tiefen Träumen oder wichtigen Gedanken entführt. Aber ihr Blick war nicht böse, und ein verführerisches, unschuldiges Lächeln beruhigte den mutigen Freier.
„Ja, bitte. Ich habe nichts dagegen!“
Bei diesen Worten nahm sie ihre Hand von der Tasse, stützte mit dieser ihr wohlgeformtes Kinn und blickte Hermann fragend an. Dieser rang nach Worten und Gedankenblitzen, bis er schließlich glaubte, das Richtige zu tun. Er erklärte sich als einfachen, interessierten Touristen. Sprach über seine Eindrücke, die er beim ersten Anblick verspürte, als er sie vom Fenster des Café Noir aus auf der Mabini-Street beobachtete. Auch das Pfandleihhaus erwähnte er. Kaum, dass Hermann zu Ende sprach, traf ihn eine unerwartete Reaktion. Mit leicht zitternder Hand stellte sein Gegenüber die Tasse auf den Tisch und, für einen Augenblick, ließ ein eindringlicher Blick auf ihn nichts Gutes erwarten.
Dann senkte sich der Blondkopf vor ihm, die langen Haare verdeckten das Gesicht und die Hände verschwanden unter dem Tisch.
Hermann hätte sich ohrfeigen können.
„Hören Sie, junge Frau, es war nicht meine Absicht, Sie zu verletzen oder zu kränken!"
Wie konnte er eine Unterhaltung nur mit diesem Thema beginnen? Aber es war typisch für ihn. Die Wahrheit sagen, auch wenn sie unpassend, gar undiplomatisch war. Hinzu kam sein Bedürfnis, diesem Geschöpf helfen zu wollen.
Irgendwie ahnte er instinktiv, dass sie sich in einer Notlage befand.
„Wissen Sie“, fuhr er unbeirrt fort in der Überzeugung, diesmal das Richtige zu sagen „jedem von uns kann das Schicksal irgendwann einmal ins Pfandleihhaus führen. Das Leben spielt mit uns. Und wir sind gezwungen, mitzuspielen.“
Die Hübsche hob langsam ihren Kopf und mit einem leichten Schütteln befreite sie das Gesicht von ihren Haaren. Sie blickte Hermann an, wobei ihre Augen funkelten wie Sterne in einer klaren, wolkenlosen Nacht.
„Ich danke Ihnen, es waren beruhigende Worte. Aber wenn man in einer Situation ist wie ich sie zurzeit durchlebe, hilft auch dieser Trost wenig!“
Es klang fast anklagend, aber offensichtlich hatte sie sich gefangen. Zögernd legte sie die schmalen Hände wieder um die Tasse und nippte am Rest des Kaffees.
Dann, erst leise, fast unbeteiligt redend, dann lauter, auch aggressiver werdend, fuhr sie unvermittelt fort.
„Ich sehe Sie hier zum ersten Mal und kenne Sie nicht! Sie hatten das Bedürfnis, hier zu sitzen und sprechen mich auf Probleme an, die Sie nicht interessieren sollten und auf die ich auch nicht weiter eingehen werde. Wer sind Sie und was wollen Sie?“
Auf diesen unerwarteten verbalen Angriff war Hermann in keiner Weise vorbereitet. So erschrocken er im ersten Augenblick auch war, so deutlich spürte er, dass er das Thema wechseln musste.
„Bitte, seien Sie mir nicht böse!“
Dabei legte er die inzwischen völlig zerknitterte Zeitung vor sich hin und rückte mit dem Stuhl etwas näher an den Tisch.
„Sie haben Recht, ich sollte mich erst einmal vorstellen. Mein Name ist Hermann Jost. Ich bin Geschäftsmann, komme aus Deutschland und reise übermorgen wieder ab. Nicht mehr und nicht weniger. Ich bin weder Heiratsschwindler, noch jage ich den Frauen hinterher. Mein einziger Wunsch war es, mich mit einer netten Vertreterin dieses Landes zu unterhalten. Obwohl ich mir gar nicht so sicher bin, ob ich Sie Ihres Aussehens wegen dazu zählen kann. Ihre Größe und auch die Farbe ihrer Haut und des Haares lassen eher auf eine Ausländerin schließen.“
Hermann sprach mit sanfter, überzeugender Stimme. Sein Gegenüber spürte es, das Misstrauen wich aus ihrem Gesicht und ein leichtes Lächeln umspielte wieder ihre vollen Lippen.
„Ich bin Ihnen nicht böse, Hermann. Ich misstraue Ihnen auch nicht. Entschuldigen Sie, wenn ich ein wenig aggressiv wurde. Aber ich muss auf der Hut sein. Es gibt zu viele Haie hier, und als kleiner Fisch muss ich mich vorsehen. Übrigens heiße ich Elvira Gonzalez und ich bin Philippinerin.“
Sie reichte ihm ihre feingliedrige Hand, Hermann nahm sie und drückte sie leicht. Ein sanfter, glücklicher Schauer überkam ihn dabei.
„Der Name hört sich nicht sehr philippinisch an, Elvira. Eher spanisch.“
Langsam, nicht ohne Bedauern, zog er seine Hand von der ihren.
„Sie haben Recht, Hermann. Ein sehr spanischer Name sogar. Und nicht nur er ist Überbleibsel einer alten Kolonialzeit. Meine ganze Großfamilie lebt noch hier. Nur haben wir den Pass wechseln müssen. Aber wir sind nicht die einzigen.“
Hermann fühlte sich unsicher. Mit den Geschäften hier hatte er sich zwar intensiv befasst, mit der Geschichte des Landes jedoch überhaupt nicht. Er verspürte mit einem Mal das Gefühl der Unterlegenheit. Wie konnte er, ansonsten gut gebildet, sich eine solche Blöße geben?
„Übrigens gibt es noch eine weitere europäische Minderheit hier im Lande.“
Elvira nahm ihre winzige Handtasche von der Schulter, öffnete den Verschluss und zog eine Schachtel Zigaretten hervor. Hermann rauchte nur gelegentlich und hatte kein Feuerzeug. Er entschuldigte dies.
„Machen Sie sich keine Sorgen, Hermann, irgendwo habe ich meines hier versteckt.“
Sie fand das Gesuchte, ein silbernes, fein gearbeitetes Kleinod, zündete sich damit die Zigarette an und blies den Rauch genüsslich in die Luft. Dann legte sie die Arme auf die Marmorplatte und schien nachzudenken.
„Was sagte ich gerade? Ach ja, es gibt eine weitere europäische Minderheit hier. Mir fällt es jetzt ein, weil Sie Deutscher sind. In den dreißiger Jahren,“ sie führte die Zigarette wieder an den Mund, kippte dann die Asche auf den Rand der Untertasse „hatten sich die Philippinen bereit erklärt, einen Teil Eurer Juden hier aufzunehmen. Tausende sind seinerzeit ins Land gekommen. Viele sind wohl nach Deutschland zurückgekehrt, viele werden nicht mehr leben. Und die Nachkommen, die im Lande blieben, sind auch Philippiner geworden.“
Dem überraschten Zuhörer war, als säße er in der Schule und hörte aufmerksam seiner Lehrerin zu. Plötzlich erinnerte sich Hermann an Todesanzeigen in den lokalen Tageszeitungen, die hin und wieder bekannte deutsche Namen enthielten und ihn für Augenblicke stutzig machten. Dies also war des Rätsels Lösung. Sein Respekt vor Elvira wuchs mit jedem Satz, der aus ihrem schönen Munde kam. Nicht nur war ihre Erscheinung außergewöhnlich, auch ihre Intelligenz war alles andere als durchschnittlich. Hermann genoss ihre Nähe, fühlte sich zu ihr hingezogen und vergaß darüber das doch so wichtige Telefongespräch.
Hinter den großen Scheiben zur Straße hin sah er, wie die Abenddämmerung das gleißende Licht des Tages ablöste und die Straßenlampen angeschaltet wurden. Er konnte Elvira jetzt unmöglich verlassen und wagte eine Offerte.
„Elvira, es ist für mich ein ganz besonderes Erlebnis, mit einer so interessanten Vertreterin dieses Landes zusammen sitzen zu dürfen. Und wenn ich ehrlich bin, so würde ich Ihnen gerne noch ein wenig zuhören. Ob ich Sie zu einem Abendessen einladen darf?“
Elvira blickte den alternden Freier überrascht in die Augen, sagte nichts. Und Hermann hätte viel darum gegeben zu wissen, was in ihrem Kopf vor sich ging. Für einen Moment war er verunsichert. Ihn irritierten die braunen Augen, deren Farbe er erst jetzt bemerkte. Glaubte er anfangs , eine gewisse Traurigkeit in ihnen erkannt zu haben, so schien es ihm für Augenblicke, als sprächen Kälte, gepaart mit Spott aus ihnen. Aber es waren wirklich nur Augenblicke und Hermann hätte sich genauso gut irren können.
Schnell kehrte das herzliche Lächeln auf ihr Gesicht zurück. Sie blickte auf ihre zierliche, goldene Armbanduhr, überlegte kurz und nahm die Einladung schließlich an. Hermann war erleichtert, eine Absage hätte ihn getroffen.
„Elvira, ich fühle mich in dieser durchschwitzten Kleidung nicht wohl. Ich kann Ihnen zwei Vorschläge machen. Entweder wir treffen uns später, sagen wir in zwei Stunden. Oder aber Sie sind geduldig und warten, bis ich mich umgezogen habe.“
Die Schöne überlegte nicht lange.
„Hermann, ich wohne draußen im Stadtteil Alabang, Sie haben vielleicht davon gehört. Es liegt zehn bis zwölf Kilometer von hier entfernt. Ich würde mit Sicherheit zwei Stunden im Auto sitzen, ohne Dusche. Ich warte hier auf Sie. Außerdem verspreche ich Ihnen, dass es nicht weit von hier die schönsten und besten Restaurants der Stadt gibt.“
Herrmann konnte dies alles nicht fassen. Ungläubig lauschte er ihrem Vorschlag und sagte sofort zu. Er befand sich in geradezu euphorischer Stimmung, überschwänglich spurtete er die Stufen hoch zu seinem Zimmer. Zu ungeduldig war er, auf den Aufzug zu warten.
Was für eine Frau, ging es ihm durch den Kopf! Eine Schande, sie nicht schon früher getroffen zu haben! Gleichzeitig aber war er froh, zumindest noch einen weiteren Tag, den Tag des Abflugs eingeschlossen sogar zwei, hier verbringen zu können. Aber am Abreisetermin am übernächsten Abend war nicht zu rütteln.
Und wieder dachte er an den schon überfälligen Anruf! Sarah wartete! Aber der Zeitpunkt war absolut ungelegen. Einen Tadel seiner Frau würde er in Kauf nehmen müssen!
Es dauerte keine zwanzig Minuten, und ein übermütiger, frischer Hermann war bereit, sich auf ein Abenteuer einzulassen. Er ordnete schnell sein Zimmer, denn selbst einen späteren Besuch schloss er jetzt nicht mehr aus. Und er bat telefonisch, eine Flasche französischen Rotweins mit zwei Gläsern während seiner Abwesenheit auf sein Zimmer zu bringen.
Genüsslich strich er einige Tropfen seines Rasierwassers über Kinn und Wangen, nahm einen größeren Betrag Bargeld aus seinem kleinen Safe, schloss diesen sorgfältig und ging zur Tür. Am Wandspiegel davor blieb er einen Augenblick stehen. Kritisch begutachtete er seine Kleidung, gab sich einen Klaps auf die Wange und sagte laut „Viel Glück, Alter!“
Er verstand sich gut mit seinem ICH, und jeder war mit dem anderen bislang zufrieden. Dann eilte er, drei Stufen auf einmal nehmend, die marmorne Treppe hinunter zur Lobby.
Elvira saß nicht auf ihrem Platz. Mit allem hatte Hermann gerechnet, nicht aber damit. Die aufkommende Panik war jedoch vollkommen unbegründet. In der Nähe der Rezeption sprach sie gerade mit einer Angestellten des Hotels. Plötzlich drehte sie ihren Kopf in seine Richtung, fast so, als sei sie bei einer Unregelmäßigkeit ertappt worden. Und kam dem Wartenden lächelnd entgegen.
„Sie scheinen sich in diesem Hotel zu Hause zu fühlen“. Hermann sagte es im Scherz und war erleichtert und glücklich zugleich.
„Keineswegs“, antwortete Elvira in bestimmendem Ton „ich erkundigte mich gerade nach einem Restaurant. Die Anschrift war mir entfallen und das Mädchen dort drüben konnte mir helfen.“ Hermann hörte es gern. Sie war die Frau, wie er sie sich vorstellte. Gut aussehend, intelligent, sorgend, praktisch veranlagt und ihr wahrlich nicht einfaches Schicksal selbständig meisternd.
„Hermann!“, Elvira nahm beherzt seinen Arm „ich kenne nicht weit von hier entfernt eines der besten Restaurants. Das Mädchen gab mir gerade die Anschrift. Wir können dorthin laufen, keine zehn Minuten wird es dauern“.
Wohler und umsorgter konnte sich ein Fremder in fremder Umgebung nicht fühlen. Mit einer Mischung aus Stolz, Geborgenheit und Neugier verließ Herrmann mit seiner anmutigen Begleiterin das Hotel.
Sie traten hinaus in einen schwülen, von alten Straßenlampen erhellten Abend. In gehobener Stimmung, der Wirklichkeit schon ein wenig entrückt und mit deutlich geschwellter Brust, schlenderte er, sie untergehakt, zurück zur Mabini-Street. Zur alten Kirche und rechts ab in Richtung des farbenprächtig erhellten ADRIATICO CIRCLES.
Hier nun war tatsächlich alles vorhanden, um selbst den kulinarisch Verwöhnten gütlich zu stimmen. Ein Restaurant reihte sich an das nächste, die schäbigen Bürgersteige waren mit Touristen gefüllt, mit einheimischen Bummlern und ungezählten kleinen und großen Gaunern. Letztere waren Meister der Rede- und Überredungskunst, begleiteten, verstohlen um sich blickend und immer auf der Hut, ihr Opfer.
Unauffällig redend boten sie ihre Dienste an. Ob Shabu, das am Ort hergestellte synthetische Rauschgift, auch Heroin aus dem Norden Luzons, kleine Mädchen, kleine Jungs, Falschgeld oder Hehlerware. Rundum-Angebote waren an der Tagesordnung und so mancher Tourist bereute es später, den ausgelegten Köder angebissen zu haben.
„Hermann, dort drüben, das “Guernica“!“
Elvira drückte seinen Arm fest an ihre Seite und trat vom Bürgersteig auf die Straße. Beide warteten, bis sich eine Lücke im dahinziehenden Autoverkehr auftat und überquerten dann schnell die Fahrbahn.
Hermann blickte auf die gegenüberliegenden Häuserzeilen, konnte aber den von Elvira genannten Namen nirgends lesen. Sie umkreisten ein baumloses, heruntergekommenes Rondell, in dessen Mitte sich ein kreisrunder, brüchiger Brunnen befand. Auf den steinernen Rändern saßen die Habenichtse von der Hoffnung getragen, vom Wohlstand der anderen zu profitieren. Kleine, schmuddelige Jungs, nur mit schmutziger, kurzer Hose und Gummisandalen bekleidet. Die älteren zusätzlich mit löchrigen T-Shirts.
Endlich erkannte Hermann die kunstvollen Neonbuchstaben, gelb und strahlend.
“RESTAURANT GUERNICA“, untergebracht in einem zweistöckigen Haus, gleich gegenüber dem Brunnen gelegen.
Als das Paar durch die Glastür eintrat, wurde ein bekanntes spanisches Lied angestimmt. Drei Musiker standen zwischen den Tischen, zwei von ihnen spielten virtuos auf ihren Guitarren, der dritte zupfte den Kontrabass. Hermann bat den herbeigeeilten Kellner um einen Tisch für zwei Personen, woraufhin das Paar in eine gemütlich - intime Ecke im hinteren Teil des überaus geschmackvoll dekorierten Raumes geführt wurde.
Prächtig, dachte Hermann, eine gute Wahl!
„Nun, gefällt es Ihnen hier?“
Während sie sich setzten sah Elvira erwartungsvoll hinüber zu Hermann, der sich an den Dekorationen gar nicht satt sehen konnte. Sie drückte seinen Arm.
„Darf ich ehrlich sein, Hermann? Früher konnte ich es mir leisten, hier zu essen. Heute bin ich auf Einladungen angewiesen.“
Dann nahm sie die Hand von seinem Arm und wandte den Kopf hinüber zur großen Fensterfront.
Hermann schwieg immer noch, legte nun seine Hand auf ihren Arm.
„Ich möchte keine alten Wunden aufreißen, Elvira. Aber sagen Sie, was ist denn eigentlich passiert?“
Bevor sie antworten konnte, stand der Kellner neben ihnen und reichte jedem eine Speisekarte.
„Elvira, trinken Sie einen Rotwein mit mir bevor wir uns das Essen aussuchen?“
Hermann bestellte einen spanischer Rotwein und der schwarzbefrackte Kellner ließ sie allein.
„Nun?“
Noch blieb seine Frage unbeantwortet.
„Es ist nicht einfach, darüber zu reden“, Elvira nestelte an ihrer Handtasche „insbesondere nicht zu einem Fremden.“
Dann blickte sie wieder hinüber zu den Fenstern.
„Aber warum sollte ich es nicht erzählen. Übermorgen werden Sie das Land verlassen haben und nie wieder an mich denken.“
Traurige Augen blickten Hermann an, als hätten sie alles Leid dieser Welt bereits gesehen und durchlebt.
„Die Geschichte ist kurz erzählt, Hermann. Ein latentes Problem meines Mannes spitzte sich zu und wurde schließlich zu unserem Verhängnis. Spieler und Trinker war er schon immer, zum Schluss verloren wir alles. Und damit auch unsere Zukunft. Ich meine damit mich und meine beiden Kinder Eine gewisse Zeit konnte ich noch vom alten Glanz zehren. Aber jetzt kommt so langsam das Ende.“
Der Rotwein wurde serviert. Hermann nippte am Glas und nickte dem Kellner zu. Was sollte er sagen? Einen Ratschlag zu geben, war er außerstande. Weder kannte er sein Gegenüber gut genug, noch wusste er etwas über ihre sonstigen Lebensumstände. Sie tat ihm leid und es war ihm wieder peinlich, das Thema angeschnitten zu haben. Außerdem wollte er in der noch verbliebenen kurzen Zeit bis zum Abflug in Probleme dieser Art nicht verwickelt werden. Mit ernster Miene hob er sein Glas, stieß mit dem ihren an und sagte, eher kleinlaut: „Ich hoffe sehr und wünsche Ihnen, dass sich alles, wie auch immer, zum Besseren wendet“.
Gemeinsam studierten sie dann die Speisekarte und entschlossen sich, nach langem Zögern, zu einer Paella, der Spezialität des Hauses. Schließlich gehörte zu einem spanischen Restaurant, zu spanischen Wein und spanischer Musik ein typisch spanisches Gericht. Bei gutem Essen und ebenso köstlichem Wein konnte es nicht ausbleiben, dass auch die Stimmung davon profitierte.
Mit fortschreitender Stunde wurde die Unterhaltung angeregter und, wie sollte es anders sein, auch intimer.
„Doch, doch, Hermann, es stimmt!
Elvira schien tief überzeugt von dem, was sie soeben sagte.
„Die Sterne sagen uns alles! Sehen Sie sich doch an. Zwar weiß ich so gut wie nichts über Sie und Ihr Leben. Aber dass Sie im Sternbild des Schützen geboren sind, können Sie nicht abstreiten!“
Hermann war überrascht. Von der Sternendeuterei hielt er bislang wenig, im Grunde überhaupt nichts. Alles Hokuspokus! Aber die Bestimmtheit, auch die Korrektheit, mit der Elvira sein Sternbild wiedergab, auch seinen Charakter, verblüffte ihn schon.
„Elvira“, er wischte sich mit der Serviette über den Mund und legte das Tuch zur Seite, „gerade noch sagten Sie, Sie wüssten so gut wie nichts über mich und mein Leben. Warum bestehen Sie so sehr darauf, dass ich ein Schütze bin?“
„Weil ich Ihnen zugehört habe, Hermann! Die Summe dessen, was Sie sagten und meine Einschätzung Ihres Charakters ergeben das Sternbild.“
Elvira nippte am Rotweinglas, fuhr dann selbstsicher fort.
„Sie lieben das Reisen, sind charmant und einem Abenteuer nicht abgeneigt. Sie sind neugierig, wahrheitsliebend und undiplomatisch. Dies sind nur einige Ihrer Wesenszüge, die ich jetzt aufzähle. Ich will damit nicht behaupten, dass es in den Reihen der Schützen nicht auch unterschiedliche Typen gibt. Aber bei Ihnen bin ich mir sicher. Und Ihren Geburtstag würde ich deshalb auch in der Mitte des Dezember vermuten.“
Hermanns Neugier war nun endgültig geweckt. Es war ihm bisher nie in den Sinn gekommen, dass ein Sterndeuter, und Elvira schien eine Vertreterin dieser fragwürdigen Zunft zu sein, als Folge eines Gesprächs seinen Geburtstag erraten könnte. Ihm war ein wenig unheimlich zumute.
„Und auf welches genaue Geburtsdatum würden Sie schließen?“
Elvira hob ihr Glas, hielt es an die Wange, sah zuerst in die Ferne, denkend, dann Hermann tief in die Augen. Sie schwieg noch eine Weile, dann sagte sie: „Hermann, ich würde auf Mitte Dezember tippen, ich sagte es schon. Den 15., 16. oder 17. Dezember. Und noch etwas!“
Nun nahm sie ihre Serviette, legte sie an den Mund und überlegte wieder. Dann fuhr sie fort: „Es gibt Jahre und damit Konstellationen der Sterne, die sich auch negativ auf das Bild des Schützen auswirken können. Und es gibt wiederum Jahre, die die angeborenen Eigenschaften der Schützen noch verstärken. Einen Anhaltspunkt hierzu gibt uns das chinesische Horoskop.“
Mit wachsender Aufmerksamkeit hörte Hermann ihren Ausführungen zu.
„Und was würde das in meinem Fall bedeuten?“
Selten war er so gespannt.
„Bei Ihnen kann ich mir vorstellen, dass Sie im Jahre des Affen geboren wurden. Ein überaus glückliches Jahr übrigens, das sich zudem mit Intelligenz, Hilfsbereitschaft, aber auch mit einer gewissen Willensschwäche und Gutgläubigkeit auszeichnet.“
Elvira stockte für einen Augenblick, sah Hermann nachdenklich an.
„Wie alle anderen Zeichen des chinesischen Horoskops wiederholt sich das Jahr des Affen alle 12 Jahre. Das letzte war 1992. Wenn ich Sie mir so betrachte“, Elvira lehnte sich bei diesen Worten ein wenig zurück und mit kritischen Augen musterte sie ihr Gegenüber, „dann würde ich Ihr Geburtsjahr auf 1944 festlegen. Denn 1956 kommt nicht in Frage, so jung können Sie nicht sein.“
„Du meine Güte!“ entfuhr es Hermann.
Er war fasziniert von dieser korrekten Wiedergabe seines Geburtsjahres und seine Neugier wuchs und wuchs. Gerade wollte er zu einer nächsten Frage ausholen, als Elvira auf ihre Uhr blickte.
Es war spät, Hermann hatte trotzdem nicht die Absicht, dieses hübsche und interessante Wesen ohne weiteres davon gehen zu lassen. Er spürte, dass er wieder einmal das Thema wechseln musste.
„Elvira, Sie faszinieren mich! Und wenn Sie mich jetzt schon so gut kennen, ob Sie etwas dagegen haben, wenn wir uns duzen?“
Mit einem Male lachte sie überschwänglich. Dann hoben beide ihre Gläser und Hermann küsste, zaghaft, ihren erdbeerroten Mund.
„Auf die Sterne!“
Er trank einen weiteren Schluck, beugte sich dann zu Elvira und wagte einen Schritt auf unbekanntes, dafür umso reizvolleres Terrain. Schon einmal hatte ihm heute ein mutiger Schritt geholfen, warum also kein zweites Mal?
„Elvira“, er druckste ein wenig, suchte nach den passenden Worten, „deute es bitte nicht falsch. Ob es da eine Möglichkeit gebe, den Abend, wie soll ich es sagen, in meinem Hotel noch ein wenig zu verlängern?“
Der Drang, diese atemberaubende Schöne nicht nur gesprächsweise zu genießen, war plötzlich überwältigend.
„Hermann“, Elvira setzte ihr wohl verführerischstes Lächeln auf, „weißt Du, es gibt da überhaupt nichts Falsches zu deuten. Es steht doch in Deinen Sternen und ich sagte es bereits! Im Gegenteil, es hätte mich sehr gewundert, wenn diese Einladung ausgeblieben wäre!“
Erleichtert und mit einem Gefühl des Triumphs lauschte der Freier diesen fast erlösenden Worten. Dann fuhr Elvira fort.
„Aber es geht nicht, lieber Hermann. Ich habe morgen in aller Frühe Wichtiges zu erledigen. Und außerdem muss ich mich noch um die Kinder kümmern. Ich danke Dir trotzdem für die Einladung!“
Nun, die Ernüchterung war Hermann deutlich im Gesicht abzulesen. Elvira strich ihm, fast beruhigend, über die Wange.
"Hermann, Du reist doch erst übermorgen ab. Vielleicht sehen wir uns morgen Abend?“
Mit dieser überraschenden Gegenofferte kehrte die für einen Augenblick angekratzte Selbstsicherheit des Mannes wieder zurück. Ein zusätzlicher Trost war, dass sich die drei Musikanten neben das Paar stellten und in die Saiten griffen.
Und so, mit zwei herzerweichenden spanischen Liedern, wurde das Ende eines romantischen Abends eingeläutet.
Kaum, dass das Paar im Freien stand, erhellte ein Blitzlicht die Nacht. Ein junger, adrett gekleideter Mann stand vor ihnen, die Sofortbild-Kamera vor der Brust. Ungefragt, was durchaus üblich war, hatte er ein Foto geschossen und hielt das noch feuchte Papier grinsend in der Hand.
Aber noch bevor er es zum Kauf anbieten konnte, stürzte Elvira auf ihn zu. Sie war mit einem Mal unerklärlich wütend und schrie den verstörten Nachwuchsfotografen in der Landessprache an. Dann wandte sie sich um, immer noch erregt und redend, und kehrte zu Hermann zurück.
Ihm war die Situation peinlich, hatte er Elvira doch in einer solchen Situation bisher noch nicht gesehen.
„Was hast Du denn, er hat doch nur ein Bild von uns geschossen! Vielleicht ist es sogar ein Schönes!“
Hermann nahm ihren Arm in der Hoffnung, sie damit beruhigen zu können. Aber sie löste sich mit einem leichten Ruck.
„Ich will es nicht! Grundsätzlich will ich es nicht. Er kann nicht einfach Fotos schießen, ohne vorher zu fragen!“
Jetzt nahm sie Hermanns Arm und zog ihn vom Eingang des Restaurants zur angrenzenden Straße. Dann blieb sie stehen.
„Es tut mir leid Hermann. Ich hätte nicht so wütend reagieren sollen. Sehen wir uns trotzdem morgen Abend?“
„Aber natürlich, Elvira!“
Damit gab er ihr einen Kuss auf die Stirn. Auch er hatte sich beruhigt.
„Sagen wir, um acht im Hotel?“
Sie stimmte seinem Vorschlag zu.
„Gut, ich nehme jetzt ein Taxi. Mein Haus liegt in Alabang, ich sagte es Dir. Weit entfernt und in der entgegengesetzten Richtung Deines Hotels.“
Noch während sie sprach, hob sie einen Arm. Ein Taxi hielt, sie verabschiedete sich fast überstürzt und verschwand im Strom des spätabendlichen Straßenverkehrs.
Hermann verharrte noch eine Weile an der Stelle, an der sie ihn verließ. Er überdachte den Abend und kam zu dem Schluss, dass es sich bei Elvira auch um eine außergewöhnlich temperamentvolle Frau handeln musste. Ganz verständlich war ihm ihre Reaktion gegenüber dem Fotografen trotzdem nicht.
„Sir!“
Hermann wurde angesprochen und sah sich um. Hinter ihm stand er wieder, der adrett gekleidete junge Mann. Das Foto hielt er in der Hand. Seine Berufserfahrung sagte ihm, dass es die Frau war, die das Bild ablehnte, nicht ihr Begleiter.
Hermann nahm das Bild, ging zur nächsten Laterne und begutachtete es. Eine ausgezeichnete Aufnahme, entschied er. Warum nur hatte Elvira sie nicht wenigstens geprüft? Er zahlte zweihundert Pesos und steckte sich das Foto in die Brusttasche seines Jacketts.
Langsam umrundete er den vor ihm liegenden schmuddeligen Platz mit dem verwahrlosten Springbrunnen, ging die Mabini-Street zurück bis zur Kirche und erreichte bald sein Hotel. Er dachte an nichts anderes als an Elvira. Rotweinflasche und zwei Gläser standen auf dem Tisch.
Am nächsten Tag wachte Hermann spät auf. Doch die Wirklichkeit hatte ihn schon im morgendlichen Halbschlaf eingeholt.
Noch während er die Augen geschlossen hielt, suchte er nach der Lösung zweier Probleme. Das erste war nicht neu, es betraf den verpassten Anruf. Das zweite hatte er sich am Abend zuvor eingebrockt. Seiner eingeschränkten Wahrnehmungsfähigkeit wegen sagte er spontan zu, Elvira am Abend wiederzusehen. Aber dieser Termin war bereits verplant. Seine Geschäftspartner hatten ihn tags zuvor zu einem Abschiedsessen eingeladen.
Seine persönlichen Interessen abwägend, entschied Hermann schließlich, während des Rasierens, dieses Essen entweder auf den heutigen oder aber morgigen Mittag zu verlegen und dabei die Rolle des Gastgebers zu übernehmen. Er würde eines der guten Hotels im Stadtteil Makati vorschlagen, und als Grund seines Sinneswandels die Wahrnehmung eines unvermittelten, nicht vorhersehbaren Termins. Und er würde sich gerne für die ihm bisher zuteil gewordene außergewöhnliche Gastfreundschaft revanchieren. Nach dem Frühstück, das er in der Lobby seines Hotels zu sich nahm, rief er die Geschäftsfreunde an. Es dauerte eine ganze Weile, aber Hermanns höfliche Argumentation, gepaart mit Bestimmtheit in seinen Ausführungen, ließen den philippinischen Freunden letztlich keine Wahl. Ort und Zeitpunkt wurden besprochen und vereinbart. Wobei Hermann den Kreis der Teilnehmer für das Mittagessen noch um die Ehefrauen erweiterte.
Als er den Hörer auflegte, war er dankbar, dass sein Plan trotz der knappen Vorlaufzeit - in etwa vier Stunden würde die Veranstaltung stattfinden - akzeptiert wurde. Er musste sich also sputen.
Schon bald machte er sich auf den Weg und erreichte nach einer Stunde den Ort des Treffens. Im Restaurant suchte er unverzüglich den Geschäftsführer auf, gemeinsam einigte man sich auf einen Fensterplatz. Die Menues und Getränke wurden bestimmt und die Dekoration besprochen. Es sollte ein gelungener vorläufiger Abschied werden und Hermann ließ es an nichts fehlen.
Nur unwesentlich verspätet trafen die Gäste schließlich ein. Die Stimmung war von Anbeginn heiter und ausgelassen, die sorgfältig zubereiteten Speisen und die Wahl der Getränke trugen das ihre dazu bei. Der Nachmittag war schon lange erreicht, aber nichts deutete auf einen Abschluss der eher spontanen Zusammenkunft hin.
Anekdoten wurden zum Besten gegeben, Erfahrungen ausgetauscht und unzählige Male auf eine gedeihliche Entwicklung der beidseitigen Geschäftsbeziehungen angestoßen. Hermann konnte sich zu Recht als perfekter Gastgeber feiern lassen. Und er genoss die Flut der Komplimente. Dass er sich mit zunehmender Stunde gedanklich von dieser Runde zwar noch nicht verabschiedete, jedoch mehr und mehr entfernte, hatte er sich nicht anmerken lassen.
Elvira nahm sein ganzes Denken ein und mit Ungeduld sah er dem Abend entgegen. Besorgt überflog er die leeren Weinflaschen auf dem Tisch, besorgt nahm er auch seinen eigenen Zustand war. Er hatte deutlich mehr vom Rotwein gekostet, als es hätte sein müssen.
Verstohlen blickte er auf seine Armbanduhr. Es war kurz vor sechs und er konnte nur hoffen, dass das Gelage bald ein Ende finden würde.
Dann, nach einer weiteren halben Stunde, war es soweit. Ganz plötzlich wurde es ruhiger am langgestreckten Tisch. Die Gäste bedankten sich überschwänglich und wünschten dem Gastgeber eine gute Heimreise. Gleichzeitig sprach man die Hoffnung aus, bald wieder voneinander zu hören. Hände wurden geschüttelt, Schultern geklopft und Küsse auf die Wangen der Damen verteilt.
Hermann verblieb noch ein wenig am Tisch, zahlte mit einer seiner Kreditkarten und machte sich dann auf den Weg zurück zu seinem Hotel.
Abenddämmerung lag über der Stadt. Langsam schob sich sein Taxi durch den Verkehrsstrom in Richtung Roxas-Boulevard, der einstmals prächtigen Promenade entlang des Hafens. Riesige Schiffe dümpelten draußen im Halbdunkel des warmen, schwülen Abends. Unter den ungepflegten Palmenalleen, die die Uferstraßen säumten, bereiteten sich die Ärmsten auf die Nacht vor. Die Betonmauer vor dem langgestreckten Ufer war mit Wäsche bedeckt. Mit Laken und Kleidern, gewaschen in der Brühe des schmutzverseuchten Hafenwassers.
Hermann erreichte noch rechtzeitig das Hotel.
Er eilte hoch auf sein Zimmer, entkleidete sich und gönnte sich ein ausgedehntes Duschbad. Dann zog er sich eine helle, leichte Hose über und wählte ein kurzärmeliges Hemd mit Jacke.
Beim Verlassen des Raumes sah er wieder in den Spiegel.
„Viel Glück, alter Junge“ murmelte er nun schon zum zweiten Mal und eilte dann mit ausholenden Schritten den Gang zum Lift entlang. Es war wenige Minuten vor acht. Elvira, sollte sie pünktlich sein, wollte er auf keinen Fall warten lassen.
In der Lobby angekommen, überblickte er die Anwesenden. Elvira war nicht unter ihnen. Langsam schlenderte er hinüber zur Bar und bestellte sich einen Orangensaft. Er wartete und dachte an das Geschenk, das oben im Safe lag und, wie konnte es anders sein, an den überfälligen Anruf. Ihm wurde dabei ganz heiß im Gesicht, aber was sollte er jetzt tun?
Plötzlich hörte er seinen Namen. Es war die helle, klare Stimme Elviras. Hermann drehte sich auf seinem Hocker und traute seinen Augen nicht. Sie war schöner als je zuvor, ihr Anblick ließ ihn alle Sorgen vergessen und versetzte sein Herz in einen kurzen, rasenden Galopp.
Da stand sie wieder, die Haare diesmal hochgebunden, in einer schwarzen, den Blick leicht durchlässigen Bluse und einem weiten, schwarz-weiß gepunkteten Rock. Hermann rutschte aufgeregt von seinem Sitz, ging zwei Schritte auf sie zu und küsste ihre Wangen.
„Elvira, schön dass Du da bist!“
Er war froh, dass ihm zumindest dieser Satz über die Lippen kam, denn ihr Anblick hatte ihm für Momente die Sprache verschlagen.
„Warum, bist Du überrascht? Es war doch vereinbart!“
Sie zog ihre feinen Augenbrauen hoch und blickte den Verwirrten fragend an.
„Ja, ich weiß, Elvira. Aber es hätte doch sein können, dass ich gestern kein besonders guter Gastgeber war. Und Du vielleicht Deine Meinung geändert hättest.“
„Oh Gott, warum sollte ich!“
Dabei schlug sie, fast belustigt, ihre Hände zusammen.
„Die Unterhaltung war doch amüsant! Allerdings musste ich schnellstens nach Hause. Möchtest Du hier bleiben, oder gehen wir woanders hin?“
Hermann hatte sich gefasst, war auch wieder Herr der Lage
„Um ehrlich zu sein, Elvira, mir ist heute nicht nach einem großen Essen. Das habe ich gerade hinter mir.“
„Gut, Du erinnerst Dich an unseren gestrigen Weg? Als wir die Straße zwischen den vielen Autos überquerten? Genau dort liegt eine gemütliche, alte Bar. Sie wird Dir gefallen.“
Und so ging das Paar, wie am Vorabend, hinaus in einen straßenlampenbeleuchteten, schwülen Abend. Vorbei an der uralten, plastikbahnenumhüllten Mabini-Kirche bis hin zu den lichtgeschmückten Gasthäusern. Und wie am Vorabend, schlenderte Hermann mit stolzgeschwellter Brust, die schönste Frau weit und breit untergehakt an seinem rechten Arm, die Straßen entlang.
Bald erreichten sie ihr Ziel, das Café Adriatico, gleich gegenüber dem brüchigen Brunnen gelegen.
„Komm Hermann, lass uns in den ersten Stock gehen!“
Sie durchquerten das holzgetäfelte Parterre, in dem die Gäste bereits dichtgedrängt an kleinen, runden und quadratischen Holztischen saßen. Die Wände waren vollbehangen mit alten, umrahmten Fotos aus der Kolonialzeit, ebenso alte Wandleuchter hielten den eher kleinen Raum in dezentes Licht gehüllt. Direkt an der Bar führte eine ausgetretene Holztreppe steil hoch zum ersten Stock. Hier war es ruhiger und man konnte wählen, entweder an den Fenstertischen Platz zu nehmen, mit einem faszinierenden Blick hinunter auf das abendliche Treiben auf dem Adriatico-Circle. Oder aber an den quadratischen Tischen entlang des Treppengeländers.
Hermann entschied sich sofort für den Fensterplatz.
„Nun, wie gefällt es dem Schützen hier?“
Elvira setze ihr bezauberndes Lächeln auf und reichte Hermann die Karte.
„Wunderbar, es kommt mir vor wie ein Abschiedsgeschenk.“
Hermann war wirklich beeindruckt. Sagte sie „Schütze“?
Plötzlich fiel ihm die gestrige Unterhaltung wieder ein. Elviras kluge Sternenanalyse und die Sicherheit, mit der sie seinen Charakter beschrieb. Er würde noch weitere Fragen stellen, zuerst aber den Kellner rufen.
Die Stunden verflogen, der Gesprächsstoff und die Gemeinsamkeiten beider schienen unerschöpflich.
Hermann hielt die zarten, gepflegten Finger der Schönen in seinen Händen, als er sich an seine noch nicht gestellten Fragen erinnerte.
„Elvira, was steht eigentlich im Monat Mai in den Sternen?“
„Da musst Du mir schon das Datum nennen. Du möchtest doch, dass ich so nahe wie möglich an der Wahrheit bleibe?“
„Gut, Elvira – der 06. Mai!“
Elvira überlegte kurz, mit geschlossenen Augen. Ihre Hände lagen auf seinen Arm. Ihre Stimme schien dann aus weiter Ferne zu kommen.
„Diese Person ist im Zeichen des Stiers geboren. Sie verfügt über einen außerordentlich starken Charakter, liebt Geld und den Luxus. Sie lässt sich gewöhnlich nicht unterordnen und wird alles versuchen, die Beste zu sein. Sie ist sehr ideenreich, aber auch sehr eifersüchtig.“ Für einen Augenblick schienen Elviras Gedanken irgendwo im Nichts zu schweben, dann blickte sie Hermann fragend an.
“Handelt es sich um eine weibliche oder männliche Person?“
„Weiblich“
„Nun gut. Sollte diese Frau verheiratet sein, muss sich der Ehemann sehr vorsehen. Ihre Stärke liegt darin, ihn unter Druck zu halten. Sie macht ihm das Leben nicht einfach und er ist ständig darum bemüht, muss bemüht sein, es ihr recht zu machen. Ansonsten wird er mit Schwierigkeiten zu kämpfen haben.“
Ungläubig lauschte Hermann ihren Worten. Niemand hätte seine Frau besser beschreiben können. Wort für Wort traf den Kern und es war ihm fast peinlich, die Wahrheit so unverblümt hören zu müssen.
„Hermann – habe ich gerade über Deine Frau geredet?“
Verschmitzt blickte sie zu ihm hinüber, erschrocken hob der Angesprochene den Kopf. Dann aber lachte Hermann, lachte und hätte beinahe sein Bier verschüttet. Aber seine Neugierde war noch nicht gestillt.
„Und was sagt das chinesische Horoskop dazu?“
„Welches Jahr, Hermann?“
„Nun, 1948.“
„Das Jahr des Drachen, mein Lieber. Es unterstreicht und verstärkt noch all das, was ich sagte. Wie auch in Deinem Fall. Du solltest sehr vorsichtig sein, sie wird Dir nichts vergeben!“
Jetzt mussten beide lachen, Hermann trotzdem mit einem Knödel im Hals. Sie hoben die Gläser und tranken auf das Leben und auf noch mehr.
„Auf den Drachen, mit dem ich übermorgen die Silberhochzeit feiern werde!“
Hermann hatte wieder ganz zu seiner guten Laune zurück gefunden. Er war redselig, die Themen wurden lustiger, aber auch vertrauter. Und es nahte mit fortschreitender Stunde der Augenblick, an dem er die so wichtige letzte Frage stellen würde. Nach einem Blick auf die Wanduhr nahe der Treppe war es soweit.
„Elvira, die Flasche Rotwein in meinem Zimmer wartet schon ganz ungeduldig. Ob wir ihr den Gefallen tun und sie gemeinsam öffnen?“
Die Schöne lachte, diese Form der Einladung schien ihr zu gefallen.
„Hermann, nach der gestrigen Absage bleibt mir wohl keine andere Wahl als Deinem Vorschlag zuzustimmen. Eine Frage noch. Habt Ihr Kinder?“
„Nein!“
Eilig, als würde ihm die Zeit davon laufen, erhob sich Hermann vom Tisch. Seinen inneren Jubelschrei, als sie seinen Vorschlag akzeptierte, konnte Elvira nicht hören. Wahrscheinlich aber erriet sie ihn. Aufgekratzt und beinahe übermütig zahlte er die Rechnung, hinterließ ein großzügiges Trinkgeld und beide verließen die immer noch gut besuchte Bar.
In der Lobby des Hotels umgab beide zu nächtlicher Stunde eine ungewohnte Ruhe. Früher Morgen war es, nur der Wachposten saß breitbeinig auf einem der Sessel am Eingang und ein müdes Mädchen stand hinter der Rezeption. Hermann war es recht so. Am liebsten hätte er Elvira durch einen unbeobachteten Nebeneingang zu seinem Zimmer geführt, aber das war nicht möglich.
Verstohlen blickte er sich noch einmal um und führte seine Angebetete zur marmornen Treppe.
Bald darauf verschloss er sorgfältig und erleichtert die Zimmertür. Er bat seinen Gast, sich Zuhause zu fühlen und öffnete die Rotweinflasche.
Unterdessen machte Elvira alle Anstalten, sich tatsächlich häuslich zu fühlen. Sie entkleidete sich ganz ungeniert, legte Rock, Bluse und die sonstige Wäsche sorgfältig über eine Sessellehne und begab sich dann ins Badezimmer.
Mit zittriger Hand prüfte Hermann die Qualität des Rotweins, im Hintergrund hörte er das Rauschen der Dusche. Das Zimmerlicht schaltete er aus, nur eine kleine Seitenlampe spendete ihr dürftiges Licht. Er überdachte noch einmal seine Situation und konnte kaum glauben, was ihm da widerfuhr. Und wieder ein Abschiedsgeschenk, ging es ihm durch den Kopf.
Verstohlen, als würde ihn ein unsichtbares Auge beobachten, blickte er hinüber zur Sessellehne. Zu den dunklen Strümpfen, die bis zum Boden reichten, zum kleinen schwarzen Höschen mit der aufreizenden Stickerei gleich oberhalb des Schritts und zum spärlichen Büstenhalter. Dessen gewöhnlichen Inhalt würde er in wenigen Minuten streicheln, küssen und mit den Händen umfassen dürfen.
Als das Rauschen des Wassers aussetzte, legte er sich schnell aufs Bett, die Augen zur Zimmerdecke gerichtet. Wie ein gerade entdeckter Bub, der etwas angerichtet hatte. Mit aufgeregtem Puls hörte er, wie die Duschkabine geöffnet wurde. Ungeduld überkam ihn. Und es erschien ihm wie eine Ewigkeit, bis das Licht des Badezimmers plötzlich den spärlich erleuchteten Raum erhellte.
Elvira stand im Türrahmen. Nackt, wie Gott sie erschuf und Hermann sie sich wünschte.
Sie schloss die Tür und ging im schwachen, aber der Situation angemessenem Licht der entfernten Tischlampe langsam auf das Bett zu. Dann stand sie vor ihm, die große Versuchung.
Hermann blickte zur Seite, sah die festen, runden Schenkel, den kleinen Schlitz mit kaum erkennbarem Haaransatz, den leicht gewölbten, weiblichen Bauch. Vorsichtig, um auch nichts außer Acht zu lassen, glitten die Augen höher zu den wunderbar geformten Brüsten, klein zwar, aber fein, dann zu den breiten, dunklen Warzen. Sie starrten ihn förmlich an, schienen ihn aufzufordern, endlich liebkost zu werden.
Hermann verstand. Er setzte sich auf, umfasste die marmorweißen Schultern und zog Elvira zu sich. Sein Herz pochte fast hörbar, als er sie behutsam, wie fragiles Porzellan, vor sich auf das Laken legte. Dabei blickte sie Hermann unverwandt an.
Aber sie schwieg, sagte kein Wort, als er mit der einen Hand über ihren grazilen Körper glitt und mit der anderen zärtlich die langen Beine berührte. Ein berauschender Duft lag in der Luft, etwas, das Hermann den Verstand, die Sinne raubte. Niemals zuvor überkam ihn ein vergleichbares Verlangen nach einer Frau wie in diesen Augenblicken. Was nur hatte Elvira mit ihm angerichtet!
Er beugte seinen Kopf, küsste erst sanft den leicht bebenden Körper vor sich. Küsste sich dann förmlich in Rage, vergrub sein Gesicht in den weiblichen Rundungen und ließ anschließend nichts unversucht, sich und sein Objekt der Begierde die ausgefallensten Freuden zu bereiten.
Nun, die Nacht zog sich hin. Es wurde geredet, geliebt und getrunken. Eine rauschende Nacht für Hermann, Tausendundeine Nacht. Was immer er sich in kühnen Träumen vorstellte, hier wurde es noch übertroffen.
Doch irgendwann neigen sich, auch wenn der Wille ungebrochen ist, die natürlichen Kräfte. Für Hermann kam dieser Augenblick ganz plötzlich und unerwartet. Und sicher war auch der Alkohol nicht ganz unbeteiligt, als ihn unvermittelt eine tiefe Müdigkeit erfasste. Erschöpft hielt er die Schöne in den Armen, als ihn, im Halbschlaf schon, noch eine Frage beschäftigte.
„In welchem Sternzeichen bist eigentlich Du geboren, Elvira?“
„Skorpion, mein Süßer“.
Ihre Stimme war leise, auch sie war vielleicht müde.
„Und wie ist so ein Skorpion?“
Es dauerte eine Weile, bis sie antwortete.
„Sie beißen gerne, das heißt, sie stechen!“
Hermann schmunzelte. Er lauschte ihrem ruhigen Atmen und war überglücklich.
„Und Dein chinesisches Sternzeichen?“
Er glaubte schon, keine Antwort mehr zu erhalten. Doch dann antwortete sie doch noch, leiser als zuvor.
„Ziege“
Plötzlich musste Hermann lachen. Er gluckste in sich hinein und konnte gar nicht mehr aufhören.
„Und was gibt es da zu lachen?“
Elviras Stimme war jetzt wieder lauter.
„Ich wusste nicht, dass selbst diese Tierchen ihren Platz in einem Horoskop einnehmen. Und was machen die Ziegen?“
Wieder war es ruhig. Schließlich aber kam die Antwort.
„Sie grasen gern auf fremden Wiesen“.
Drache und Ziege, dachte Hermann. Was für ein Glück ich doch mit den Frauen habe!
Dann schlief er ein.
Es war schon nach elf, später Vormittag also, als Hermann endlich aufwachte. Aber was sollte er auch versäumen? Keine Termine warteten heute auf ihn, nur der Abflug am Abend. Draußen auf dem Flur vernahm er den schrecklichen Lärm des Staubsaugers. Die Bediensteten des Hotels warteten schon ungeduldig darauf, auch sein Zimmer säubern zu können.
Elvira!
Er hatte sie tatsächlich für Sekunden vergessen. War noch zu schläfrig, um sich an den vergangenen Abend erinnern zu können. Dies holte er jetzt nach, die Augen hielt er weiterhin geschlossen.
Doch das Gefühl der Peinlichkeit holte ihn wieder ein. Jetzt, wo er die Stimmen vor der Tür hörte. Und den Staubsauger. Er wollte mit Elvira nicht gesehen werden und würde sie bitten, sobald Ruhe auf dem Flur eingekehrt war, das Zimmer ohne ihn zu verlassen.
Mit der rechten Hand tastete er langsam, zögernd nach ihrer Bettdecke. Er gönnte ihr den Schlaf nach langer Nacht und wollte sie nicht wecken. Doch verspürte er weder Rundungen noch sonst etwas Festes, griff einfach ins Leere. Nur Tuch befühlte er.
Hermann tastete weiter und seine Hand lag schließlich auf einem Stück Papier, es knisterte.
Erstmals öffnete er die Augen, drehte sich zur anderen Seite des Bettes und starrte ganz ungläubig auf das flache Laken neben ihm. Irritiert nahm er den kleinen Zettel an sich und las:
„Konnte nicht länger warten. Rufe Dich später an. Sollten wir uns nicht mehr sehen, werde ich Dir einmal schreiben. Elvira"
Nun, unglücklich war Hermann nicht. Zumindest ersparte es ihm die schon gefühlte Peinlichkeit, mit einer Frau in seinem Zimmer erwischt zu werden.
Sorgenbefreit und mit der Gewissheit, sich ohne Eile auf den Abflug vorbereiten zu können, begab sich Hermann in die Lobby. Er kalkulierte und kam zu dem Entschluss, sich noch volle sieben Stunden dem Müßiggang hingeben zu können. Später würde er noch einmal das Café Noir besuchen. Sollte Elvira anrufen, er würde sie ins Café einladen.
Der Anruf! Wie ein Stich durchfuhr es ihn! Wenn es in Deutschland zu dieser Stunde nicht so früh gewesen wäre, er hätte sofort angerufen.
Hermann nahm ein kräftiges, spätes Frühstück zu sich und entschied, anschließend die Hotelrechnung zu begleichen.
In diesem Punkt war er sehr genau und er überprüfte die ihn belastenden Beträge sorgfältig auf ihre Richtigkeit. Dies nicht zuletzt der Buchhaltung wegen. Denn hier handelte es sich um unvermeidbare Geschäftsausgaben, die sich steuerlich zu seinen Gunsten absetzen ließen. Buchhalterin wiederum war Sarah, seine Ehefrau. Und niemand war ihr bei dieser den Gewinn fördernden Tätigkeit, der sie mit Präzision und Einfallsreichtum nachging, überlegen.
Hermann ging also die längere Rechnung Punkt für Punkt durch, als ihm, fast am Ende angekommen, der Schreck in die Glieder fuhr. Die drittletzte Position war ein sündhaft teurer Rotwein, die vorletzte, er traute seinen Augen nicht, der Zimmerpreis für eine Doppelbelegung. Nein, dies war kein Beleg für die Buchhaltung!
„Hören Sie, junge Frau“, Hermanns Stimme bebte förmlich und sein Blick ließ auch nichts Gutes verheißen. „Was soll die Berechnung einer Doppelbelegung hier am Ende?“
Das arme Mädchen sah ihn ganz unschuldig an.
„Sorry Sir, das war die Anweisung des Managers!“
Hermann überlegte. Irgendjemand, entweder die müde Rezeptionistin oder der schläfrige Nachtposten, mussten geredet haben. Und der Manager war natürlich ein Idiot!
Aber das alles konnte die Tatsache, dass sie allesamt Recht hatten, nicht ungeschehen machen.
Also verhandelte Hermann, erhielt am Ende zwei Rechnungen und war zufrieden. Er zückte seine Brieftasche, um dieser die Kreditkarte zu entnehmen. Die Finger glitten durch sämtlich Fächer des ledernen Depots, aber nichts war zu finden. Drei Kreditkarten pflegte er abwechselnd zu nutzen, keine war an ihrem Platz. Selbst seine persönlichen Visitenkarten fehlten!
Der Gast war peinlich berührt. Nie zuvor hatte er eine solche Situation durchlebt und er kam sich vor wie ein Zechpreller. Verwirrt und gedankenverloren entschuldigte er sich, bat fast flehentlich, eine Weile zu warten. Er nahm den Aufzug und lief in sein Zimmer.
Sollte ihm der Alkohol einen Streich gespielt haben? Hatte er alle Karten im Café ADRIATICO versehentlich in eine andere Tasche gesteckt? Wieso fehlten die Karten? Er zahlte doch in bar!
Inzwischen war das Zimmer gereinigt und er begann, die Kleidung des gestrigen Abends zu durchsuchen. Aber nichts fand er, absolut nichts. Entmutigt setzte er sich aufs Bett und überlegte. Nie war ihm dergleichen passiert, aber er musste handeln!
Anrufen. Stornierungen veranlassen und alles sollte möglichst umgehend in Angriff genommen werden. Bei allem Unglück war er heilfroh, noch genügend Reiseschecks und Bargeld in seinem Safe deponiert zu haben.
Langsam, mit zittrigen Fingern, bediente er den Code. Er drückte die Geheimzahlen, seinen Silberhochzeitstag, vernahm das Summen der elektrischen Verriegelungsanlage und öffnete dann beherzt die kleine, stählerne Tür.
Das individuelle Depot des Gastes, Zimmer NR 412, war leer.
Hermann sah es auf den ersten, fassungslosen Blick. Trotzdem griff er in den kleinen Kasten, um zumindest die wertlosen Hinterlassenschaften an sich zu nehmen. Das Foto des Halsbandes, morgen wollte er das Original seiner Frau überreichen, das dazu gehörige Zertifikat und die leere Hülle, in der sich die Reiseschecks befanden. Ein wahrhaft kläglicher Rest.
Die Verzweiflung und Wut, die sich in Hermann langsam aber stetig aufbauten, waren nur schwer zu beschreiben. Vor weniger als einer Stunde kalkulierte er einen bis zum Abend währenden Müßiggang, und nun zerbrach dies alles!
Das Hotelpersonal! Niemandem konnte man trauen! Lauerten sie nicht schon draußen mit dem Staubsauger? Und was, wenn er nicht in der Nähe war? Stunden hatten sie Zeit, sich in seinem Zimmer aufzuhalten! Wer verfügte über einen Generalschlüssel?
Empört und zum äußersten entschlossen, verließ Hermann sein Zimmer. Nahm nicht den Aufzug, dies hätte wieder zu viel Zeit in Anspruch genommen, sondern stürzte die Treppe hinunter. Sein Gesicht war so weiß wie die Wände, an denen er entlang lief, als er die Rezeptionistin ansteuerte. Von weitem schon sah sie ihn und ahnte wieder nichts Gutes.
Schwer atmend, die Arme fest auf das Holz des Empfangstisches gepresst, knurrte Hermann nur den einen Satz.
„Ich möchte umgehend den Chef sprechen!“
Das Wort „umgehend“ sprach er dabei deutlich lauter als den Rest des Satzes. Es klang eindeutig nach einem Ultimatum. Das schüchterne Mädchen erhob sich unverzüglich, öffnete einen angrenzenden Raum und verschwand darin.
Kurz darauf erschien sie in Begleitung eines beleibten Herrn mittleren Alters mit kurz geschorenen Haaren. Er trug einen schwarzen Anzug.
„Sir?“
Er stellte die Frage mit hochgezogenen Augenbrauen. Hermann nun suchte nach den passenden Worten. Um seinem Anliegen Nachdruck zu verleihen, redete er dann laut, viel zu laut.
„Ich stellte soeben fest, dass ich in diesem Hotel beraubt worden bin! Ich verlange als Gast, und dies ist unbestritten mein gutes Recht, Kompensation für den Schaden. Einen Schaden, den ich durch Ihre Angestellten erlitten habe!“
Der Manager, er musste es sein, verließ nach diesem Vorwurf ganz schnell das Schutzschild des beide trennenden Empfangstisches, stellte sich neben Hermann und fasste diesen vorsichtig, beruhigend, an den Arm.
„Mr. Jost!“
Er sprach leise und zur Überraschung des Gastes sprach er ein langes „O“, was ihm in dieser Sekunde wichtige Pluspunkte einbrachte.
„Mr. Jost, erzählen Sie doch bitte erst einmal, was genau vorgefallen ist.“
Hermann beschrieb, nach den richtigen Worten suchend, was ihm soeben widerfahren war und der Hotelmanager hörte aufmerksam zu. Dann schüttelte dieser den Kopf und fragte höflich
„Mr. Jost, darf ich Ihnen noch eine Frage stellen?“
Der beruhigende Tonfall des Managers blieb nicht ohne Wirkung, auch Hermann hatte sich wieder in der Gewalt.
„Ja, bitte fragen Sie!“
„Mr. Jost, Sie waren in der letzten Nacht nicht allein. Und ich frage mich, ob diese unglückliche Geschichte vielleicht damit zusammenhängen könnte?“
Das war fürwahr eine Möglichkeit, die Hermann instinktiv zwar schon einmal, kurz nur, in Erwägung zog, aber sofort wieder fallen ließ. Der Gedanke, dass Elvira, diese intelligente und bezaubernde Frau, Schlechtes im Schilde führen könnte, erschien ihm absurd.
„Lassen Sie mich nachdenken.“
Es war die Antwort auf die Frage des Managers und Hermann begab sich zum wenige Schritte entfernten Café.
Und schon auf den kurzen Metern dahin erschien ihm plötzlich vieles in einem neuen, weniger glänzenden Licht. Welche Geheimzahl benutzte er? Abwechselnd die Daten des Hochzeitstages oder die des Geburtstages seiner Frau. Ach ja, dieses Mal das Datum des Silberhochzeitstages! Aber auf keinem Papier waren sie festgehalten, nur in seinem Kopf. Wem aber hatte er sie anvertraut, wem in seiner grenzenlosen Neugier, mehr über die Sternzeichen zu erfahren? Hatte er im Suff zu viel geredet? Seinen Geburtstag in Erfahrung zu bringen war eine Kleinigkeit. Das Datum stand auf dem Anmeldezettel des Hotels. Aber das Datum des Silberhochzeitstages? Hermann erinnerte sich plötzlich, dass Elvira mit der Hotelangestellten zusammen stand. Sein Geburtsdatum wiederum hätte Anlass für die „Schützen“ - Diskussion geben können. Der Anfang allen Übels. Oh Gott, Hermann, wie naiv Du warst!
Und je mehr der Abreisende sich alle Einzelheiten in Erinnerung rief, umso überzeugter war er, dem Täter, besser, der Täterin, auf der Spur zu sein. Der manchmal spöttische Blick in ihren Augen, auch das Gerangel mit dem armen Fotografen. Es machte Sinn!
Nach einem doppelten Espresso war ein Plan geboren. Hermann zahlte mit dem Rest, den er noch als Bargeld mit sich trug, verließ die Lobby und eilte hoch auf sein Zimmer. Er nahm das Foto des Halsbandes an sich sowie das Zertifikat, zog sich ein Jackett über und verließ kurz darauf das Hotel. Sein Ziel lag nicht weit entfernt. Das Pfandleihhaus würde er in sieben Minuten, vielleicht auch in zehn, erreicht haben. Mit ausholenden Schritten, Foto und Zertifikat in der Seitentasche, näherte er sich der Mabini-Street.
Der grimmig dreinblickende bewaffnete Posten vor dem Pfandleihhaus musterte Hermann skeptisch, hatte aber keine Einwände, als dieser mit einem kräftigen Ruck die Glastür öffnete.
Mit Ausnahme einer älteren Kundin war der lang gestreckte Geschäftsraum leer. Eine junge Angestellte hielt eine dünne Silberkette prüfend in der Hand und blickte fragend zu Hermann hinüber. Dieser trat näher.
„Ich möchte gerne den Chef sprechen!“
Seine Stimme war wieder ungeduldig und die Angestellte merkte es.
Sie wandte den Kopf zur Seite und rief einen Namen. Sofort erschien am Ende des Raumes ein älterer, kleiner Herr. Das schlohweiße, schütterne Haar fiel ihm fast auf die Schultern. Mit einer dünnen Lesebrille in der Hand und einem freundlichen Lächeln auf dem Gesicht kam er auf den neuen Kunden zu.
„Sir, kann ich etwas für Sie tun?“
Seine Fistelstimme reichte gerade bis an Hermanns Ohr.
„Oh ja, Sie können sehr viel für mich tun!“
Dabei schob er die Hand in die rechte Tasche und zog das Foto des Halsbandes hervor.
„Könnte es sein“, fuhr Hermann fort und hielt dem kleinen Mann das Foto vor die Augen, „dass Ihnen heute dieses Halsband angeboten wurde?“
Der Weißhaarige setzte sich die Brille auf den unteren Nasenrücken, lehnte den Kopf etwas zurück und besah sich sorgfältig das Foto. Dann fixierte er den Besucher.
„Ja, Sir, vor nicht einmal zwei Stunden wurde uns ein identisches Halsband überlassen. Es ist ein wundervolles Stück!“
Hermann atmete auf. Er war seiner Preziose ein gutes Stück näher gekommen und es schien nur noch eine Frage der Zeit, bis er sie wieder sein eigen nennen konnte.
„Hören Sie mir gut zu! Dieses Schmuckstück ist mir in der letzten Nacht gestohlen worden. Es ist mein Eigentum!“
Und schon wieder begann er, in der Seitentasche zu wühlen. Dann hielt er das Gutachten in der Hand und reichte es dem Alten.
„Hier, bitte, überzeugen Sie sich!“
Zögernd nahm der Filialleiter das Papier entgegen, seine Augen wechselten vom Foto zum Zertifikat und umgekehrt und er schüttelte immer wieder den Kopf. Dann endlich sagte er mit seiner Fistelstimme: „Sir, es muss sich trotzdem um einen Irrtum handeln.“ Dabei legte er die Papiere auf die gläserne Vitrine vor sich, setzte die Brille ab und wischte sich über die Augen. „Eine identische Kette, ich sagte es schon, ist mir vor etwa zwei Stunden von Signora de Guzman übergeben worden. Ich kenne sie seit langem. Sie gehört einer der bekanntesten spanischen Familien hier an und ich würde meine Hand dafür ins Feuer legen, dass sie nichts Unrechtes tun würde. Es muss sich um eine andere Kette handeln.“
„Signora de Guzman?“ Laut wiederholte Hermann den Namen. „Brünette Haare, gut gekleidet, wie eine Europäerin aussehend?“
Plötzlich hatte er eine Eingebung. Mit einem Ruck schob er seine Hand erst in die linke, dann in die rechte Brusttasche seines Jacketts. Er fühlte das feste Papier und zog es hervor. Es war das Foto, das ihn zusammen mit Elvira vor dem Eingang zum Restaurant „Guernica“ zeigte.
Erneut setzte der kleine Herr seine Brille auf und besah sich das Foto. Seine Antwort kam umgehend.
„Jawohl, Sir, das ist Signora de Guzman! Eine vom Schicksal getroffene, gute Frau. Sie hat zurzeit viele Probleme. Sie kennen Signora?“
„Natürlich kenne ich Sie, oder warum stehe ich da auf dem Foto neben ihr?“
Hermann war verärgert über diese überflüssige Frage und kam zum Kern der Angelegenheit.
„Dies, mein Herr, ist nicht Signora de Guzman. Diese Dame heißt Elvira Gonzalez, sofern es ihr richtiger Name ist. Auf jeden Fall ist sie eine Diebin, nichts anderes!“ Hermann wurde wieder laut.
Und nach einer kurzen Pause, die er nutzte, mit einem Gefühl des Sieges, das verdutzte Gesicht des Alten zu beobachten: „Ich verlange, dass ich mein Eigentum zurück erhalte!“
Der Geschäftsführer überlegte angestrengt, man sah es ihm an, dann erklang seine helle Stimme.
„Sir, es hört sich fürwahr überzeugend an, was Sie soeben sagten und auch, was Sie mir zeigten. Aber lassen Sie mich bitte noch eine Kleinigkeit überprüfen.“
Damit wandte er sich ab und begab sich wieder in den hinteren Raum.
Hermann wurde unruhig, alles erschien ihm zu langsam. Er blickte auf seine Uhr, zählte die Stunden bis zum Abflug und trat nervös von einem Fuß auf den anderen. Endlich kehrte der kleine Alte zurück.
„Sir, es stimmt, was Sie soeben sagten. Signora, äh, diese Dame, gab mir ihre Anschrift und Telefonnummer. Ich hatte nie einen Grund, sie zu kontaktieren. Aber offensichtlich ist alles falsch. Mein Gott!“
Dabei schüttelte er sein langes, schlohweißes Haar, „wie konnte ich...“
Hermann unterbrach die einsetzenden Selbstvorwürfe mit barscher Stimme.
„Mich interessiert jetzt überhaupt nicht, wie Sie beschwindelt wurden! Was ist mit meinem Halsband?"
Das Männchen sah ihn ganz ruhig an.
„Sir, natürlich bin ich bereit, Ihnen das Halsband zu übergeben. Allerdings erwarte ich dafür den Betrag, den ich Signora, entschuldigen Sie, dieser Dame, übergeben habe.“
Dieses überraschende Angebot, diese Wendung des Falles, versetzte Hermann einen Schock. Obwohl er damit im Grunde hätte rechnen müssen. Denn im vorliegenden Fall wurden ja beide, er und der Leiter dieses Pfandleihhauses, betrogen.
„Das kommt überhaupt nicht in Frage!“
Seine Stimme wurde noch lauter, schwang voll Empörung, und die Köpfe der inzwischen neu eingetretenen Kunden wandten sich ihm zu.
„Es ist mein Eigentum, über das Sie im Augenblick widerrechtlich verfügen. Ich habe es Ihnen bewiesen und verlange die sofortige Herausgabe. Oder ich erstatte Anzeige!“
Den letzten Satz sprach er wieder leiser, er war als Warnung gedacht. Warnungen spricht man leise aus, der Wirkung wegen. Sie klingen in dieser Tonlage eindringlicher. Dabei kam Hermann dem Gesicht des Filialleiters näher und stemmte zusätzlich die Arme auf die Glasvitrine.
„Sir“, der alte Herr blieb trotz allem ruhig „ich habe absolut nichts dagegen, wenn Sie mich anzeigen. Ganz im Gegenteil. Ich hätte damit Gelegenheit, meine Unschuld zu beweisen.“
Hermann seufzte und lehnte sich wieder zurück. Diese Runde ging an den Weißhaarigen!
Selbst wenn er ihn anzeigte, weder hätte er Gelegenheit, das Verfahren zu verfolgen, noch wäre er in absehbarer Zeit im Besitz der Halskette. Und morgen würde er sie brauchen. Er fühlte sich geschlagen.
„Wieviel?“
Die Frage klang sehr resignierend.
„Sir, da ich Signora... ach entschuldigen Sie mich bitte noch einmal! Ich hatte mich so an diesen Namen gewöhnt, ihr vollkommen vertraut. Sie kam oft, und wir besprachen ihre Schwierigkeiten.“
Der Alte schien sie wirklich zu vermissen.
„Aber zurück zur Kette beziehungsweise zum Halsband. Da ich also Anteil an ihrem Schicksal nahm und sie in großer Not glaubte, gab ich ihr mehr als ich Fremden gewöhnlichen für das Stück gegeben hätte."
Hermann wurde bei diesen Worten ganz schwindelig. Verfolgte ihn den nichts als Unglück?
„Wieviel also?“
Es klang schon gar nicht mehr wie eine Frage, eher wie ein verzweifelter Einwand.
Der Geschäftsführer verschwand erneut im hinteren Raum, kam aber umgehend, mit einem Zettel in der Hand, zurück. Hermann nahm das Papier unwirsch entgegen, prüfte es und blickte ganz ungläubig auf die Endsumme. Langsam hob er die rechte Hand und bedeckte damit seine Stirn. Eine lange Minute blieb er in dieser Pose stehen, rührte sich nicht, nur die Augen bewegten sich. Sie wanderten abwechselnd vom Zettel zum Gesicht des Alten und zurück.
„Wie lange ist das Geschäft geöffnet?“
Es war eine klare Kapitulation, aber Hermanns Stimme klang trotzdem wieder entschlossener.
„Bis sieben Uhr, Sir!“
„Ich komme wieder!“
I shall return! Mit diesen Worten also kehrte er dem Alten den Rücken, verließ fluchtartig das Pfandleihhaus und lief mit ausholenden, schnellen Schritten zurück in sein Hotel. Wollte er erledigen, was er sich vorgenommen hatte, so musste er sich beeilen. Mittlerweile war es vier Uhr nachmittags und es blieben ihm nur noch wenige Stunden bis zum Geschäftsschluss und bis zur Abfahrt zum Flughafen.
Er eilte auf sein Zimmer, nahm den leeren Umschlag, in dem sich einst die Reiseschecks befanden, lief dann, mehrere Stufen auf einmal nehmend, die Marmortreppe zur Lobby hinunter und bat, deutlich nach Luft ringend, die wieder einmal erschrockene Dame an der Rezeption, den Chef zu rufen.
Dieser erschien kurz darauf im Rahmen der gegenüber liegenden offenen Tür und lud Hermann freundlich ein, in sein Büro zu kommen. Er hatte seine Erfahrungen mit aufgebrachten Gästen.
Hermann bedankte sich für die umgehende Aufmerksamkeit, die ihm zuteilwurde und entschuldigte sich kleinlaut für seinen anfänglichen Verdacht, das Hotelpersonal sei für den Diebstahl verantwortlich. Nicht ohne Scham erzählte er nun im Einzelnen, was ihm in seiner Einfalt widerfahren war. Wobei der Hotelmanager zum einen Verständnis zeigte, aber auch mehrmals versicherte, die Dame hier zuvor noch nie gesehen zu haben.
Schließlich bat Hermann um Unterstützung bei der Erledigung der vor ihm liegenden Aufgaben. Ein Ersatz der Reiseschecks sowie die Annullierung der gestohlenen Kreditkarten waren dabei vordringlich. Er benötigte Telefonnummern, Anschriften und ein Fahrzeug mir versiertem Fahrer. Dann machte er sich unverzüglich auf den Weg. Die nächsten Stunden vergingen in nervenaufreibender, schweißtreibender und verzweifelter Hektik.
Nun, alles kam schließlich zu einem hinnehmbaren Ergebnis. Das Hotel erklärte sich am Ende bereit, auf die Überweisung des Rechnungsbetrages zu warten. Die Halskette, die überteuerte, befand sich wieder in Hermanns Besitz und selbst einen bescheidenen Betrag Bargeld konnte er wieder mit sich herumtragen. Und während er später, von den Anstrengungen gezeichnet, durchschwitzt und die Gedanken ordnend, neben dem gepackten Koffer auf dem Bett in seinem Zimmer saß, dachte er wieder einmal an den vergessenen Anruf.
Ein fürchterlich schlechtes Gewissen hatte er, jetzt noch stärker als zuvor. Dieses Mal war es angst, zumindest Ängstlichkeit, die ihn zweifeln ließ, ob er überhaupt anrufen sollte. Ob er in der Lage wäre, vernünftig zu antworten? Diebstahl, Hochzeitstag, Elvira, Halskette, Kreditkarten, die bisher verpassten Anrufe – wie um Himmels willen sollte er auf all die Fragen reagieren, was verheimlichen, was erklären?
Trotzig beschloss Hermann, nicht anzurufen. Stattdessen ließ er vom Hotelboy Koffer und Tasche abholen und machte sich kurz darauf auf den Weg.
Doch an der Tür seines Zimmers angelangt, kehrte er noch einmal zurück, zum Spiegel. Dort sah er sich tief in die Augen.
„Du verdammter, verdammter alter Idiot!“
Seine Stimme klang anklagend, die Zähne presste er bei diesen Worten zusammen, sah sich streng an. Diesmal war er nicht gut Freund mit seinem ICH!
Aus dem Dunkel des Taxis heraus, das ihn kurz darauf zum Flughafen bringen sollte, beobachtete Hermann noch einmal die Straßen. Die kurze, lampenbeleuchtete St. Thomas Street bis hin zur Mabini-Kirche. Die Mabini-Street mit ihren grellen Neon-Lichtern, vorbei am Café NOIR. Dort, wo er in einem grün-weiß gestreiften Sessel Elvira erstmals beobachtete.
Am Café Adriatico musste das Taxi des zunehmenden Verkehrs wegen kurz halten. Hermann blickte versonnen hinüber, dachte an den wunderschönen Abend und an die letzte Nacht. Als die Fahrt fortgesetzt werden konnte, sah er noch einmal den verkommenen Brunnen, dahinter, in großen gelben Neonbuchstaben „Restaurant Guernica“. Auch dort verbrachte er unvergessliche Stunden mit ihr.
Kein Zweifel, sie war etwas Besonderes. Zwar anders, als er es sich gewünscht hätte, aber eben anders als andere. Und das war wohl sein Fehler. Er musste plötzlich, es war ihm fast entfallen, an seine Frage und ihre Antwort denken, kurz bevor er in der letzten Nacht einschlief.
„Und was machen sie, die Ziegen?“
„Sie grasen gern auf fremden Wiesen“, meinte sie.
Zumindest in diesem Punkt war sie ehrlich, dachte Hermann. Und auch an die Warnung seiner Freunde vor Abreise dachte er. „Sei vorsichtig auf den Philippinen!“. Wie recht sie doch hatten!
Dann aber musste er mit einem Mal herzlich und lauthals über sich selbst lachen, hörte gar nicht mehr auf. Und verstummte plötzlich so schnell, als hätte ihm jemand den Mund verschlossen.
Erschrocken, auch etwas ängstlich, blickte der Fahrer zurück zu seinem seltsamen Gast und dessen Gebaren.
„Kann ich Ihnen helfen, Sir?“
„Nein, nein, schon in Ordnung! Denken Sie bitte nicht, ich sei verrückt! Aber ich musste gerade an ein Horoskop denken.“