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Die Farben des Herbstes

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Die Landschaft war so, wie er sie noch in Erinnerung hatte. Das glitzernde, dunkle Grau der See. Das Weiß der brechenden Wellen, die, kurz nur und besitzergreifend, den ockerfarbenen Strand bedeckten. Um diesen dann, entkräftet, für wenige Momente wieder der Sonne und dem scharfen Ostwind preiszugeben. Das für die späte Jahreszeit noch volle Grün der Wiesen, das sich fast ans Meer heranwagte. Das glänzende Dunkelbraun frisch gepflügter Äcker, gesprenkelt mit weißen Flecken nach Nahrung suchender Möwen. Und über alldem das sanfte, von hellen Wolkenfetzen durchzogene Blau des Himmels.

Flüchtig betrachtet, im Vorbeischauen, erschien diese Farbpalette dem farbempfindlichen, sensiblen Betrachter wie ein expressionistisches Werk.

Julian, hinter dem Steuer seines Wagens, dachte an Emil Nolde, diesem großen Expressionisten, der seine Freude an diesem Panorama gehabt und sicher umgehend zu Leinwand, Farbe und Pinsel gegriffen hätte.

Die Straße war kurvig, schmal und wand sich hart am Meer entlang. Fast so, als hätten die Konstrukteure Wert darauf gelegt, dem Fahrenden oder Reisenden dieses Bild unverdorbener Natur so lange anzubieten, bis entweder unüberbrückbare Hindernisse oder die Notwendigkeit der Verkehrsplanung den Weg ins weniger attraktive Innenland erzwangen.

Nur ab und zu begegnete Julian einem entgegenkommenden Fahrzeug. Es war eine wenig begehrte und deshalb verkehrsarme Strecke, die er befuhr. Ihm gefiel es. Hatte er sich doch vor kaum einer Stunde erst einmal an den im Lande üblichen Linksverkehr gewöhnen müssen. Andererseits konnte er, ohne sich sonderlicher Gefahr am Steuer seines Wagens auszusetzen, den herbstlichen Reiz seiner Umwelt in vollen Zügen genießen.

Nichts also hatte sich in all den Jahren seit seiner Verabschiedung verändert.

Neunzehn Jahre waren vergangen, vielleicht auch zwanzig, als er das letzte Mal diese Straße befuhr. Damals nahm er den Weg vom Norden her, aus Edinburgh kommend. Er hatte zuvor sein Praktikum in einer alteingesessenen schottischen Bank beendet, und kehrte zurück in seine norddeutsche Heimat.

Doch diese kurzweiligen Jahre, fernab von Eltern und Geschwistern, bildeten den Grundstein für sein weiteres Leben. Erstmals wurde ihm die Gelegenheit geboten, allein auf sich gestellt zu sein, vorhandene Talente zu nutzen und andere zu erkennen. Wobei eine naturgegebene Mitgift nicht ungelegen kam. Er sah mit zwanzig Jahren blendend aus, verfügte über die verführerische Gabe, Mitmenschen für sich einzunehmen, war humorvoll, offenherzig und ein unverbesserlicher Optimist. Kurzum: Der junge Mann badete sich im Gefühl einer ihm bis dahin unbekannten Freiheit, nutzte die frisch erworbenen Kenntnisse und stürzte sich mit Elan und jugendlichem Wagemut in einen neuen Lebensabschnitt.

Das Alter brachte es mit sich, dass Neugier und Interesse sich auch dem anderen Geschlecht zuwandten. Zaghaft erst, dann ungestüm, ging er überlegte und unüberlegte Beziehungen ein. Nichts ließ er dabei unversucht, bislang fehlende Erfahrungen aufzuarbeiten und sich auf diesem nicht ganz ungefährlichen Terrain weiter und weiter vorzuwagen. Dabei lernte er, es konnte nicht ausbleiben, die Freuden, aber auch den Schmerz der Liebe kennen.

Innerhalb des Kreises derer, die ihm ein Gefühl der Geborgenheit gaben, begann er bald zu unterscheiden. Nach einem kraftvollen, auch kräftezehrenden Beginn war es letztlich nur eine Frage der Zeit, bis sich seine Leidenschaft auf die Eine konzentrierte.

Susan war ihr Name.

Nach einigem Nachdenken am Steuer seines Wagens, in Richtung seiner Jugendjahre zurückkehrend, glaubte Julian, sich sogar noch ihres Nachnamens erinnern zu können. Lovett, ja, so hieß sie, Susan Lovett!

Laut wiederholte er den seit Jahren nicht mehr ausgesprochenen, nicht einmal gedachten Namen, sprach ihn gegen die Windschutzscheibe.

Die Beziehung zwischen beiden hatte seinerzeit eine Intensität erreicht, die deutlich über eine leichtfertige Liebschaft hinausging. Der junge Mann verbarg seine Zuneigung nicht, überhäufte Susan mit Geschenken, mit Liebkosungen und ließ sich in den schönsten Augenblicken zu Versprechungen hinreißen, die bei klarem Verstand hätten sorgfältiger überdacht werden müssen.

Der Spätsommer ging damals seinem Ende zu, die Blätter in den unzähligen Parkanlagen begannen sich zu färben. Bald würden sie den Boden bedecken und es war, als betrauerten sie Julians bevorstehende Abreise. Susan, seine große Liebe, wurde von Tag zu Tag ruhiger, verschlossener. Und vermied es, sicher nicht ohne Mühe, über den bereits feststehenden Zeitpunkt der Trennung zu sprechen.

Trost gaben ihr nur Julians Worte.

Auch er war nicht frei von aufkommendem Abschiedsschmerz. Aber sein vorrangiges Ziel war es, daran gab es bei ihm keinen Zweifel, seine beruflichen Erfahrungen, mit Aufmerksamkeit und persönlichem Interesse erworben, in einer späteren Anstellung in die Praxis umzusetzen. Und dies war, so seine Vorstellung, nur in seiner Heimat möglich.

Wenige Wochen später trat er deshalb seine Heimreise an. Verabredungsgemäß entwickelte sich unverzüglich nach seiner Ankunft in Deutschland ein reger, emotionsvoller Briefwechsel. Susan schrieb in kurzen Abständen, Seiten voller Trauer und Schmerz. Leidenschaft, der Schmerz der Trennung, sprach auch aus seinen pünktlichen Antworten.

Doch wider Erwarten, dazu noch in kurzer Zeit, verflog Julians anfänglicher Trübsinn. Denn schon kurz nach seiner Rückkehr lernte er seine zukünftige Frau kennen. Heiratete, fast überstürzt, und ist bis heute ein glücklicher Mann geblieben. Das Interesse an Susans Nachrichten verlor er mit den Freuden seiner neuen Liebe. Und die Geduld, die immer noch eintreffenden Briefe zu lesen, war bald aufgebraucht. Er antwortete nicht mehr und es war ihm recht, als weitere Nachrichten dann ausblieben. All dies ging dem Reisenden durch den Kopf, als er sich langsam auf Edinburgh zu bewegte.

Zwar hatte ihm seine Bank zu einem Flug geraten, um eine für beide Seiten lukrative Übereinkunft mit seiner ehemaligen Ausbildungsstätte, der schottischen Bank, persönlich zu vereinbaren. Aber Julian wollte sich nicht das Vergnügen nehmen lassen, noch einmal die alten Spuren zu befahren. Es war aufregend für ihn, er genoss die Autofahrt und hatte das Gefühl, in die Vergangenheit zu reisen. In seine Vergangenheit

Wie oft hatte er in den letzten Jahren an Schottland gedacht!

An die damalige Unbeschwertheit, die Sorglosigkeit des Lebens. Doch wie schnell verging die Zeit des Unbekümmertseins nach seiner Rückkehr. Nichts sollte, zurück in seiner Heimat, dem Zufall überlassen bleiben. Er hatte sich der erwachsenen Gesellschaft, vielleicht auch nur dem Berufsleben, angepasst, und wollte keine Risiken mehr eingehen.

Julians Herz klopfte wie das eines aufgeregten Knaben, als er sich auf der Zufahrtsstraße zur Mitte der Stadt befand. Auch hier hatte sich nichts verändert. Das Schloss auf der Anhöhe rechter Hand der Princess-Street, die einem Linealstrich gleich Nord und Süd der Stadt durchzog. Das hohe, schmale Denkmal Sir WALTER SCOTTs aus schwarz oder Ruß gewordenem Stein. Die Kaufhäuser, in denen er damals nach passenden Geschenken für Susan suchte. Drei volle Tage würde er hier sein und die Zeit nutzen, die noch in seiner Erinnerung verbliebenen Orte aufzusuchen.

Er fuhr direkt zum Hotel, das unweit der Bank in einer ruhigen Seitenstraße lag.

Als er in seinem Zimmer die Kleider sortierte, musste er natürlich an Susan denken, plötzlich schien sie ihm wieder nah. Welch schöne Stunden verbrachte er mit ihr!

Klug war sie, sinnlich, und hatte zudem ein unvergesslich schönes Gesicht. Noch im Nachhinein machte sich Julian Vorwürfe. Die Verbindung zu ihr hätte er auch auf eine andere Weise lösen können. Müde von der Reise, auch gedankenverloren, nahm er später sein Abendessen zu sich. Schon früh ging er zu Bett.

Erfrischt von einem traumlosen, festen Schlaf wachte er am nächsten Morgen auf.

Unverzüglich, noch während des ausgiebigen Frühstücks, schmiedete er Pläne für den Tag. Zumindest der Morgen, wenn notwendig auch länger, war der Bank gewidmet. Sie lag nicht weit entfernt, er erreichte sie bald zu Fuß.

Herzlich und von alten Bekannten begrüßt, erledigte er bis zum späten Nachmittag die ihm übertragenen Aufgaben. Danach eilte er zurück zum Hotel. Ein wenig später, dieses Mal eher salopp gekleidet, unternahm er einen Erkundungszug durch die Stadt. Es war sein ganz persönlicher Spaziergang in die Vergangenheit.

Kleine Läden, an die er sich noch so genau erinnern konnte. Pubs, Parkanlagen und bestimmte Häuser, alles war nach Jahren des Vergessens wieder Gegenwart. Belanglos oft, für Julian aber wichtig. Wie sehr er diese Stadt doch liebte!

Er stieg die hölzernen Treppen hoch zu „SALLY`S“, seinem damaligen Lieblingslokal am Grosvenor Square, um ein Bier zu trinken. Zu seiner Freude und Überraschung war auch hier die Zeit stehen geblieben.

In der Mitte der langgestreckten Theke stand, wie damals schon, ein riesiger Blumenstrauß. Astern, Rosen und rötlich gefärbte Ahornzweige, die ihr Doppelspiel und ihre Herrlichkeit auf der gegenüber liegenden Spiegelwand noch einmal zeigten. Wie oft saß er hier mit Susan in der hinteren Ecke, die jetzt belegt war? Ein junges Paar saß dort, sich in die Augen schauend, Versprechungen zuflüsternd. Wie er damals. War er übermütiger Laune, kam es vor, dass er dem Doppelstrauß eine Rose entnahm und sie ihr ins dunkle Haar steckte.

Julian trank sein Bier und trat ins Freie.

Er hatte den Wunsch, möglichst noch vor Sonnenuntergang die nicht weit entfernte Burg oberhalb der Princess-Street aufzusuchen. Fröhlich und in fast euphorischer Stimmung schlug er den Weg zur Waverly-Brücke ein, die den alten Bahnhof überspannte und auf die Royal Mile führte. Eine uralte Verbindungsstraße zwischen Schloss und Burg.

Die hohen Häuser entlang seines Weges waren weitgehend restauriert worden. Geschickte Architekten durchsetzten diesen ältesten Teil der Stadt mit neuen Wohnzeilen, die sich dem mittelalterlichen Flair unauffällig anpassten. Julian musste sich erstmals anstrengen, es ging steil bergan.

Doch mit einem Male hielt er inne.

Susan hatte ihm seinerzeit ihr Haus nicht zeigen wollen. Immer hatte er das Gefühl, dass sie sich ihrer Wohnung schämte. Und wann immer er sie nach Hause brachte bat sie ihn, an dieser Stelle aussteigen zu dürfen. Sie lief dann einige Schritte, bis sie zur Linken in einer Toreinfahrt verschwand.

Und hier stand er nun.

Neugierig blickte er in den Innenhof und fragte sich, ob sie vielleicht noch im alten Haus wohnte. Er wagte sich einige Schritte vor, sah die alten, verfallenen Fassaden dreier Einzelhäuser. Zwei spielende Kinder kamen auf ihn zu. Zu jung, als dass es sich um Susans Kinder hätte handeln können. Ob ihnen der Name Lovett bekannt sei?

Die beiden Jungen deuteten sofort auf die zweite Eingangstür des unmittelbar hinter dem Torbogen liegenden Hauses. Ein wahrlich schäbiges Gebäude und Julian überlegte, ob er zurückkehren oder seinem Wunsch, die Vergangenheit für Momente wieder aufleben zu lassen, nachgeben sollte.

Schließlich siegte die Neugier, und mit langsamen, unsicheren Schritten ging er auf die alte, hölzerne Haustür zu. In ihrer Mitte war ein Messingschild angebracht, der Name war kaum lesbar:

LOVETT.

Rechts daneben, auf schwarz bemaltem, kreisrundem Holz, entdeckte er den weißen Klingelknopf.

Julians Herz pochte stärker als beim Aufstieg zum Haus.

Erst zögernd, dann mutig und fest, drückte er auf die Klingel. Er lauschte wenige Sekunden, hörte nichts und war mit einem Mal froh, dass keine Reaktion erfolgte. Gerade wollte er erleichtert umkehren, als er eine Stimme hinter der Tür vernahm.

Einen Spalt breit öffnete sich diese und eine alte, grauhaarige Frau schob ihren Kopf aus der Dunkelheit des dahinter liegenden Flures. Dann, fast misstrauisch, wurde die Tür ein wenig weiter geöffnet. Gebückt und durchaus neugierig blickte die Grauhaarige über ihre Brillengläser hinweg hoch zum unerwarteten Besucher. Mit zittriger, brüchiger Stimme sprach sie.

„Entschuldigen Sie, junger Mann! Aber ich kann die Tür nicht mehr so schnell wie früher öffnen. Die Beine, wissen Sie. Was kann ich für Sie tun?“

Sie sprach leise, aber sehr akzentuiert. Für einen Augenblick nur glaubte Julian, den Tonfall Susans wiedererkannt zu haben. Er war mit einem Mal sehr unsicher, suchte sein Heil in einer Notlüge.

„Mein Name ist Selby, gnädige Frau. Entschuldigen Sie bitte die Störung. Ich sollte im Auftrag eines Bekannten erfragen, wie es Fräulein oder Frau Susan ergeht. Ich bin nur besuchsweise in dieser Stadt und fand die Zeit, hier vorbei zu schauen.“

Die Alte hatte den Kopf leicht zur Seite gewandt. Sicher, weil ihr rechtes Ohr besser verstand, sie damit seine Stimme besser wahrnehmen konnte.

Daraufhin bewegten sich ihre Lippen, als wollte sie etwas sagen. Vielleicht sprach sie auch, aber Julian verstand nichts, hörte auch kein Wort. Er beugte sich zu ihr hinunter und fragte, eher, um der Situation ein Ende zu bereiten und den Ort wieder verlassen zu können.

„Entschuldigen Sie, aber ich habe Sie nicht verstanden!“

Mit einem Ruck hob die Alte, soweit es ihre Kräfte zuließen, den Kopf und brachte ihn damit näher an Julians Ohr. Wiederum leise, aber deutlich, sprach sie jetzt.

„Susan ist heute vor zwanzig Jahren gestorben! Sie hatte sich erhängt, hier im Flur. Sie war eine so gute Tochter.“

Julian vernahm es wie aus weiter Ferne, als die Alte fortfuhr.

„Und dies wegen eines verdammten jungen Mannes. Ich glaube, er war ein Deutscher!“

Wut und Hass sprachen mit einem Mal aus dieser alten, gebrechlichen Stimme, die bei diesen Worten lauter und auch verständlicher wurde.

Julian spürte, wie sein Kreislauf zu stocken schien, wie sich sein Magen verkrampfte.

Langsam, ungläubig blickend, hob er den Kopf weg vom Gesicht der Alten. Undeutlich nur vernahm er noch ihre Frage.

„Und woher kommen Sie, junger Mann? Sie sind doch nicht von hier?“

Plötzlich wurde Julian das Atmen schwer. Wortlos wandte er sich um und lief zur Toreinfahrt hinaus. Vorbei an den spielenden Kindern.

Sein Herz hämmerte einen nie gekannten Rhythmus. Und wie betäubt lief er die Royal Mile hinab, zurück zur Waverly – Brücke. Dort, am Geländer, blieb er atemlos stehen. Stützte die Hände auf den Jahrhundert alten Stein und zwang sich, seine wild durcheinander laufenden Gedanken zu ordnen.

Es begann bereits zu dämmern. Eine Dampflok unter der Brücke verließ den Bahnhof und hüllte Julian für Sekunden in eine weiße, sich langsam auflösende Wolke.

Noch einmal blickte er hoch zum Schloss, das rötlich-orange von der untergehenden Sonne beschienen wurde. Noch einmal sah er die fernen Lichter weiter unten auf der Princess-Street. Die Stadt sah plötzlich anders aus. Sie war nicht mehr die seine.

Traurig, fassungslos schlug Julian den direkten Weg zu seinem Hotel ein.

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