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VORWORT

Deutsche Zustände

Als die deutsche Nationalmannschaft bei der WM 2018 bereits in der Vorrunde ausschied, versetzte dies ein ganzes Land in helle Aufregung. Nicht nur „Fußball-Deutschland“ war schockiert bis empört. Nein, auch Menschen, die sich für das Spiel nur peripher oder gar nicht interessieren, nahmen Anteil. Wutbürgertum und Populismus wechselten vom Feld der Politik auf das des Fußballs, wo beide schon immer zu Hause waren. Nicht mehr nur die Bundeskanzlerin musste weg, sondern auch der Bundestrainer. In einer fußballerisierten Gesellschaft wurde Jogi Löw zur Angela Merkel des deutschen Fußballs, Angela Merkel zum Jogi Löw der Bundesregierung. Und Mesut Özil wurde das „Deutschtum“ abgesprochen. In einer Mail an den Autor wurde kategorisch gefordert: „Merkel weg! Löw weg! Özil weg!“

In der „Frankfurter Rundschau“ kommentierte Harry Nutt diese geifernde „Weg, Weg!“-Mentalität treffend: „ Aus, aus, aus. Seine Zeit ist um. Das sagt fast jeder. (…) Selbst Menschen, die sich nicht für Fußball interessieren, sehen das so, obwohl es ihnen eigentlich egal ist. Es lässt sich ungeschützt behaupten, und es gilt als eine Art Selbstbeweis unbedingter Gegenwärtigkeit, ganz genau zu wissen, was an der Zeit ist und was nicht.“ Der apodiktische Ton, in dem festgestellt wird, dass jemandes Zeit abgelaufen ist, habe etwas Herrisches. Wer das vorzeitige Ende von Merkel und Löw in scharfer Diktion herbeirufe, betrachte sich als „Part eines Tuns, durch das man in den Genuss eines revolutionären Grundrauschens zu kommen vermag. Indem man die Zeit eines anderen für abgelaufen erklärt, wirft man sich in diese Pose eines Agitators, der sich durch bloße Meinungsbekundung auf die richtige Seite begibt und als jemand inszeniert, der in der Lage ist, über das Schicksal anderer zu entscheiden. Eine machtvolle Geste, die meist doch nur die eigenen Unterlegenheitsgefühle kompensiert.“

Das Gefühl von der abgelaufenen Zeit habe derzeit Konjunktur. Die lustvollen Abgesänge auf dies und das und diesen oder jenen sollten allerdings nicht verwechselt werden mit der Idee, die der österreichische Nationalökonom Joseph Schumpeter unter dem Begriff der schöpferischen Zerstörung zusammengefasst habe: „Schumpeter verwies auf die durch die kapitalistische Dynamik erzeugten Zerstörungsprozesse, die nicht selten Platz schafften für neue Kombinationen. Heute wird man indes den Eindruck nicht los, dass zwar viel von Dämmerung und Zeiten die Rede ist, die vorbei sind. Aber nur selten wird erkennbar, dass sich dahinter etwas Neues auftut, das mit dem Adjektiv schöpferisch zu bezeichnen wäre. Wer die Zeit eines anderen für beendet erklärt, ist darum bemüht, im Gespräch zu bleiben, hat aber meist selbst keine Idee.“

Diese Erfahrung machte der Autor nach der WM häufig. Die Pose des Kritikers, der hinterher schon alles vorher gewusst hatte, war weit verbreitet. Und was in der Diskussion über den Bundestrainer völlig übersehen wurde: Löw hatte einige der Probleme, die in Russland evident wurden, bereits in den Jahren zwischen den Weltturnieren wiederholt angesprochen. Vor allem aber lassen sich die Probleme des deutschen Fußballs nicht auf die Person des Bundestrainers, falsche Mannschaftsaufstellungen etc. reduzieren. Sie liegen tiefer und außerhalb des Löw’schen Wirkungsfeldes. Die „Früher war alles besser“- und „Wir waren die Größten“-Tiraden einiger Ex-Profis wie Mario Basler helfen nicht weiter. Sie sind weder dazu in der Lage, eine Arbeit zu goutieren, die immerhin bei den vergangenen drei WM-Turnieren zu einem Titel und zwei dritten Plätzen geführt hat. Noch können sie aufzeigen, worin eine Kurskorrektur genau bestehen sollte.

Im Titel des Buches ist von einer Krise des deutschen Fußballs die Rede. Ich habe mich mit diesem Begriff schwergetan, weil man damit Gefahr läuft, Probleme und Defizite im hiesigen Spiel zu dramatisieren. Mit Hysterie und dem Bashing einzelner Verantwortlicher bekommt man aber nicht zu fassen, was es tatsächlich zu korrigieren oder weiterentwickeln gilt. Im Duden liest man über den Begriff „Krise“ u. a., er bedeute eine „schwierige Situation, Zeit, die den Höhe- und Wendepunkt einer gefährlichen Entwicklung darstellt“. Ob es sich um einen Wendepunkt handelt, könne aber oft erst konstatiert werden, nachdem die Krise abgewendet oder beendet wurde. „Nimmt die Entwicklung einen dauerhaft negativen Verlauf, so spricht man von einer Katastrophe (wörtlich in etwa ‚Niedergang‘).“ Ob wir es im deutschen Fußball tatsächlich mit einer handfesten Krise zu tun haben, möglicherweise bereits im Übergang zu einer Katastrophe, möge der Leser nach dem Studium dieses Buches selber beurteilen.

Fußball bietet ein ideales Spielfeld für eine aufgewühlte und aus der Hüfte schießende Gesellschaft – auch, weil der Ausgang eines Spiels von so vielen Zufällen abhängt. Kein Sport ist so ungerecht wie der Fußball. Nach dem Abpfiff wird ein Spiel häufig rein vom Ergebnis her diskutiert. Viele Dinge, die sich in den 90 Minuten ereignet haben, fallen dabei unter den Tisch. Was dazu verführt, aus dem Spiel falsche Schlüsse zu ziehen. Bei der WM 1982 unterliegt Brasilien dem späteren Weltmeister Italien 2:3. Die vielleicht beste Seleção aller Zeiten muss frühzeitig nach Hause fahren. Socrates, der Kopf dieser fantastischen Mannschaft, kann nicht verstehen, warum man verloren hat. „Wenn wir Fehler gemacht hätten, wäre es leichter, die Niederlage zu erklären. Aber ich sehe nicht, dass wir Fehler gemacht haben.“ Johan Cruyff kürt Socrates, Zico, Leandro und Co. zum „moralischen Champion“. Das Ergebnis hat Folgen, die weit über die vorzeitige Heimreise hinausgehen. Für Zico stirbt der Fußball an diesem sonnigen Abend in Barcelona. Für Socrates ist die Niederlage ein „vernichtender Schlag“ gegen die brasilianische Spielweise. Das Ergebnis stärkt diejenigen, für die beim Fußball allein das Ergebnis von Bedeutung ist. Es scheint so, als habe der Ausgang eines einzigen Spiels ein ultimatives Urteil darüber gefällt, wie wir das Spiel zu spielen haben. Die Folge: dröge Jahre auf dem Rasen.

Bei der WM 2018 unterliegt Deutschland Südkorea mit 0:2. Die Nation konstatiert eine tiefe Krise, ja den Untergang. Zumindest aber das Ende des sogenannten „Ballbesitzfußballs“, mit dem Spanien und Deutschland in den Jahren 2008 bis 2014 die EM- und WM-Turniere dominiert hatten – spielerisch wie von den Ergebnissen her. In Kasan hätte es aber bei genauer Betrachtung auch anders laufen können. Was auch für die 0:1-Niederlage gegen Mexiko gilt. Das Löw-Team hätte leicht weiterkommen können, auch ohne ein wirklich gutes Spiel abzuliefern. (Trotzdem hat man beide Spiele verdient verloren.) Vier Jahre zuvor besiegte Deutschland den fünffachen Weltmeister und WM-Gastgeber Brasilien mit 7:1. Was vermutlich nicht am Tag davor und auch nicht am Tag danach passiert wäre. Vielleicht 2:0 oder 3:1 – aber nicht 7:1. Die Nation konstatierte: Wir sind on top of the world! Nicht nur heute, sondern auch noch morgen! Der größte Fehler, den der DFB im Vorfeld der WM beging, war ein propagandistischer: die Ausrufung der schwachsinnigen Kampagne vom „fünften Stern“.

Ich habe mich darum bemüht, die Entwicklung seit dem WM-Titel von 2014 möglichst nüchtern zu kommentieren, eine möglichst emotionslose Bestandsaufnahme „deutscher Zustände“ vorzunehmen. Das heißt: Ich habe auch versucht, gegen den Populismus, das Wutbürgertum und die Hysterie im hiesigen Fußball anzuschreiben. Dass ich eine bestimmte Form von Fußball lieber mag als eine andere – ich bevorzuge das Spiel mit dem Ball und nicht das ohne –, wird dabei nicht verschwiegen.

Einen relativ großen Raum nimmt in diesem Buch die Diskussion um die Ausbildung ein. Dieses Thema bildet auch ein bisschen den roten Faden des Buches. Denn die Probleme, die man im Spiel der DFB-Elf bei der EM 2016 und WM 2018 beobachten konnte, aber auch in der Bundesliga (u. a. fehlende „Dribbler“), haben ihre Ursachen auch in der Ausbildung. Nicht umsonst schaut man nun wieder verstärkt nach Frankreich. Dabei geht es mir mitnichten darum, die Politik der DFB-Stützpunktsysteme und der Nachwuchsleistungszentren für grundsätzlich falsch und gescheitert zu erklären. Sowohl Nationalmannschaft wie Bundesliga haben enorm von ihnen profitiert. Was die Stützpunkte anbelangt, so muss man sogar sagen: auch die Niederungen des Amateurfußballs. Es geht um Korrekturen, Richtungsänderungen und Ergänzungen. Oder, wie es Martin Kohler von Cruyff Football formuliert: „Im Fußball sollte man stets nach Innovation und positiver Veränderung streben, unabhängig vom aktuellen Erfolg oder Misserfolg.“ Das Ganze unter der Berücksichtigung der Tatsache, dass das soziale und kulturelle Milieu, in dem hierzulande Fußball gespielt wird, mit dem des neuen Weltmeisters Frankreich nicht identisch ist. Last but not least widme ich mich bedenklichen Entwicklungen an der Basis, die auch ein Spiegelbild von Fehlentwicklungen in unserer fuß-ballerisierten Gesellschaft sind. Denn Basis ist wichtig: Guter Fußball wächst wie gute Kultur von unten.

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Bei folgenden Personen möchte ich mich bedanken:

Martin Krauss, dessen Gedanken in das dritte Kapitel einflossen, in dem es u. a. um den hiesigen „Fußball-Kulturkampf“ geht. Martin und ich hatten über dieses Thema bereits für die „tageszeitung“ geschrieben.

Christian Dobrick, der in diesem Buch auch mit einem eigenen Beitrag vertreten ist. Seine Texte auf der Seite „talentkritiker.de“ kann ich nur wärmstens empfehlen.

Peter Hyballa für viele Debatten über Nachwuchsfußball als Erwachsenenfußball, Defizite und notwendige Kurswechsel in der Ausbildung,

Hermann Hummels für ein ausführliches Telefonat,

Kieran Schulze-Marmeling für viele Debatten rund um die Nationalmannschaft und ihre Turniere, die Trainer Löw und Guardiola etc. In den Kapiteln eins und zwei finden sich viele seiner Gedanken und Beobachtungen wieder.

Martin Kohler (Cruyff Football) bereicherte mein Wissen über Johan Cruyffs Ausbildungsphilosophie und ihre Relevanz für die aktuellen Diskussionen. Mit Norbert Elgert sprach ich anlässlich meiner Recherchen zu einem Buch über Manuel Neuer. Die Art und Weise, wie er Fachwissen mit Pädagogik und Menschenführung verbindet, hat mich sehr beeindruckt. Lars Mrosko verkörpert etwas, was uns im heutigen Fußball manchmal abgeht – Bodenständigkeit und Leidenschaft. Ich interviewte ihn für den Werkstatt-Blog. Der letzte Dank gebührt wie immer Bernd-M. Beyer – für Anregungen, Kritiken und das Lektorat.

Dietrich Schulze-Marmeling

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