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Die einzige Entspannung, die sich Rupert Malcolm gönnte, bestand darin, vor einer Gesellschaft von Gelehrten Vorlesungen über sein eigenes Fachgebiet oder verwandte Gebiete zu halten oder als Zuhörer teilzunehmen, und da er jedes Mal verschwand, wenn der gelehrige Teil der Veranstaltung vorbei war und der gesellige begann, war die Zeit, in der er sich eine Entspannung gönnte, nur minimal. Sein brüskes „unmögliches Benehmen“ und sein hartes ausdrucksloses Gesicht machten es jedoch unwahrscheinlich, dass es sich für ihn, wäre er wirklich geblieben, gelohnt hätte.

Krönung des langen Tages nach der Rückkehr vom Seebad war ein Abend der ‚Erbauung‘ der Gelehrten untereinander. Er verließ die Gesellschaft früh, aber nicht zu früh, um nicht gegen die Etikette zu verstoßen, nahm ein Taxi zu seiner Wohnung und kletterte müde die über einhundert Stufen zum Dachgeschoss hinauf.

Seine jetzige Wirtin war die Nichte der früheren. Am Ablauf hatte sich nichts geändert. Gelegentlich drohte sie, seine Zimmer aufzuräumen, zog sich jedoch beim Anblick seiner finsteren Miene verschüchtert zurück und begnügte sich damit, die Wände seiner Wohnung während seines Aufenthalts an der See neu zu streichen.

Ohne sich umzuschauen, betrat er seine schmuddelige, altmodisch eingerichtete Wohnung, warf Hut und Aktentasche auf den Tisch und den Mantel hinterher, ließ sich in den abgenutzten Ledersessel neben der Feuerstelle fallen, brachte das heruntergebrannte Feuer mit der Spitze des Schuhs wieder zum Glühen, blieb dort sitzen und starrte in die Flammen. Seit er den Zug verlassen hatte, sein ungelöstes Problem mit sich herumschleppend wie einen schweren Koffer, war es der erste Augenblick, in dem er Muße für seine Gedanken hatte.

Er war erstaunt, dass seine Erlösung von dem, was er immer als eisern zu erfüllende Pflicht angesehen hatte, ihm den Boden unter den Füßen weggezogen hatte. All die Jahre seiner Ehe, die keine Ehe gewesen war, hatte ihn der Glaube hochgehalten, seine Frau bedürfe seiner Hilfe. Jetzt musste er feststellen, dass er einem Irrtum aufgesessen war. Statt Erleichterung zu verspüren, fühlte er sich wie ein verlorener Hund. Der Mann, der die wenigen vernünftigen Worte in dem vom Feuer erhellten Raum ausgesprochen hatte, ahnte nicht im Geringsten, welche Wirkung diese Worte auf den anderen gehabt hatten. Kein Schwanken in der Stimme, kein Zucken des Mundes hatte ihn verraten; derselbe granitharte Gesichtsausdruck wie immer.

Dennoch, ein Lebensabschnitt war zu Ende, und er musste Mittel und Wege finden, einen neuen zu beginnen. Rupert Malcolm fühlte sich steuerlos, haltlos, jedem Sturm ausgesetzt. Der Ehrenkodex, den er sich selbst geschaffen hatte, verlangte von ihm immer noch Nibelungentreue, aber er wusste auch, alles, was die kranke Frau in dem Seebad von ihm verlangte, waren die Bequemlichkeiten, die ihr sein Einkommen problemlos bescherten. Von dem Mann wollte sie nichts – außer in Ruhe gelassen zu werden. Ihre emotionalen Bedürfnisse wurden von ihrem kleinen Hund, ihren Wellensittichen und ihrer treuen Betreuerin erfüllt. Wenn eines der Tiere starb, wurde es ‚ersetzt‘, und das Leben in dem freundlichen sonnigen Haus an der See ging nach kurzem tränenreichem Zwischenspiel unverändert weiter. Der einzige störende Faktor – er – war beseitigt worden, und er konnte sich vorstellen, wie die beiden Frauen ihr gewohntes Abendlied sangen:

„Jetzt danken wir alle unserem Gott.“

Weil ihn das vorhanglose Fenster irritierte, ging er durch den Raum und zog den staubigen grünen Vorhang vor. Den zweiten Vorhang haltend, verharrte er und sah hinaus in die vom Lichtbogen erhellte Nacht und auf den trüben Fluss. Direkt gegenüber seinem Viertel, auf der anderen Seite des dunklen Wassers, mündete eine Sackgasse in die Uferstraße, und an ihrem Ende konnte er etwas sehen, das ihm zuvor nie aufgefallen war – die erleuchtete Fassade einer kleinen Kirche. Er erkannte die runden Umrisse des Westfensters. Ob das farbige Glas ein fantasiereiches religiöses Motiv oder das unifarbige Glas ein einfaches Motiv darstellte, konnte er nicht erkennen. Er stand dort, den Vorhang in der Hand, starrte hinüber und fragte sich, welche Konfession ihre Anhänger mitten in der Nacht dorthin gelockt hatte. Er vermutete, die katholische; Protestanten erfüllten ihre religiösen Pflichten im Laufe ihres Acht-Stunden-Tages.

Während er auf die erleuchtete Fassade starrte, hinter der er Menschen vermutete, die ihren Schöpfer anbeteten, dachte er darüber nach, dass jeder in der Religion alles finden könnte. ,Es muss für sie doch etwas dabei herausspringen, sonst würden sie nicht so daran hängen.‘ Aber was das sein könnte, lag außerhalb seiner Vorstellungskraft. Dann verlosch drüben das Licht, er nahm es als Zeichen und ging zu Bett, wo er wieder in dem silbergrauen Land zwischen Schlafen und Wachen umherwanderte, aber dieses Mal ohne Begleitung.

Die Vorstellung, alle Wochenenden nach seinem Gusto zur freien Verfügung zu haben, gab Malcolm ein vages Gefühl von Freiheit und Erleichterung. Weil er die Wanderungen über die Hügel vermisste, dachte er daran, die Wochenenden aufs Land zu fahren, aber irgendetwas hinderte ihn daran. Weder wusste er, wohin er gehen, noch was er tun, noch wie er es anstellen sollte – und so fiel er zurück in einen Trott, der langweiliger war als je zuvor. Der Versuch, einen modernen Roman zu lesen, scheiterte. Es war besser, schlafende Hunde nicht zu wecken.

Ein Besuch in der Nationalgalerie endete damit, dass er die Nackten auf ihr hormonelles Gleichgewicht hin untersuchte. Schließlich fasste er den Entschluss, sein Leben weiterzuführen wie bisher und so wenig wie möglich darüber nachzudenken. Er träumte immer noch von Landschaften, obwohl die Medizinische Fakultät wegen Ferien geschlossen und seine Arbeit dadurch beträchtlich leichter war. Das beunruhigte ihn ein wenig, denn er dachte: ‚Wenn das jetzt schon so ist, wie soll das erst werden, wenn das neue Semester mit all dem Stress wieder begonnen hat?‘

Plötzlich fiel ihm ein, dass die zusätzliche Belastung des Unterrichts und der Vorlesungen die verhüllte Gestalt in seine Träume zurückbringen könnte, und er ertappte sich dabei, dass er mit seltsamer Begierde auf den Beginn des neuen Semesters wartete, ja, er ertappte sich sogar, die Tage zu zählen, und da wurde ihm klar, wie sehr die Vorstellung der Frau, deren Antlitz er nie gesehen hatte, seine Fantasie beschäftigte. Der Gedanke, seine armseligen Perlen vor die Säue geworfen zu haben, begann ihn sogar zu trösten.

Die sicherste Methode einzuschlafen war, wenn er sich die Erinnerung an jenen Spaziergang am Ufer mit der verhüllten Frau zurückholte. Nie versuchte er, sie einzuholen und ihr Gesicht zu sehen; er fürchtete es sogar und war sich einer Enttäuschung sicher; dennoch spürte er, dass er in der schemenhaften verhüllten Gestalt eine Art Geistführerin durch die Wirren des Lebens gefunden hatte. Hinter seinem komplexen Verstand verbarg sich im Grunde genommen eine einfache Seele.

Während er Nacht für Nacht mit unfehlbarer Regelmäßigkeit denselben Weg in das Königreich des Schlafes nahm – den Weg am Themse-Ufer entlang mit den blattlosen Platanen auf der einen Seite und dem dunklen, glitzernden dahinströmenden Wasser auf der anderen – ergriff die Vorstellung von der verhüllten Gestalt mehr und mehr Besitz von ihm. Früher oder später tauchte sie auf, und er folgte ihr mit einem unbändigen Gefühl der Erleichterung in das Land der Schatten.

Dann bemerkte er etwas Seltsames: Um frische Luft hereinzulassen, zog er vor dem Schlafengehen die Vorhänge vor dem Fenster zurück, und bei seinem Blick über den Fluss sah er manchmal, dass die Fassade an der südlichen Seite der Kirche erleuchtet war. Es schien keinen Rhythmus oder Grund für die Stunden zu geben, in denen die Religionsgemeinschaft dort ihre Andachten hielt. Häufig war sie dort bis ein Uhr oder zwei Uhr morgens, und er konnte nicht eher schlafen, bis das Licht auf der anderen Flussseite ausging. Wenn ihn der Schlaf im Stich ließ, setzte er sich im Bett auf, sah durchs Fenster hinüber und wartete, und sobald das Licht ausging, legte er sich erwartungsvoll auf das Kissen zurück. Nach etwa zwanzig Minuten tauchte die Gestalt auf, er folgte ihrer Spur und entwich in den Schlaf. Der Schlaf, den er auf diese Art und Weise fand, war besonders erholsam, und manchmal kam er sogar mit einem Gefühl in die Wirklichkeit zurück, das er lange entbehrt hatte: Glück.

Als die Tage dahingingen, wurde er von der Suche nach der verhüllten Frau geradezu besessen. Nie verspürte er den Wunsch, sie einzuholen, aber wenn eine Nacht verging und er ihre schemenhafte Gestalt nicht gesehen hatte, war er am nächsten Tag nervös, geradezu unglücklich, und fand erst Frieden, wenn die Fantasie wieder in seinen Schlaf gehuscht war. Aber es war mehr als Fantasie; er konnte sich das Themse-Ufer in der Dämmerung mit seinen Platanen und dem wirbelnden Fluss bildlich vorstellen, aber das Bild der schemenhaft verhüllten Gestalt bedeutete ihm nichts; nur wenn sie spontan in seiner Fantasie auftauchte, brachte sie ihm Frieden. Er spürte diese Freude nur so lange, wie er sich auf der Schwelle des Schlafs halten konnte, ohne wach zu sein und ohne in die Bewusstlosigkeit zu entgleiten. Und im Laufe der Zeit wandelte sich die Freude, sie auf Sichtweite zu halten, in Ekstase. Nach solchen Nächten empfanden ihn die Menschen im Krankenhaus als zerstreut, aber umgänglicher.

Die Ferien neigten sich dem Ende zu, das Semester begann, und er stürzte sich mit wildem Eifer in die Arbeit, mit der Absicht, sich bis zu dem Punkt zu erschöpfen, an dem die Vision in seinen Träumen erschien. Als er bereits für drei arbeitete, erkrankte ein Kollege, und er übernahm auch noch dessen Privatpraxis.

Die Tage wurden länger, aber die Extraarbeit hielt ihn so lange im Krankenhaus, dass er nie bei Tageslicht nach Hause kam. Er nahm sich vor, jeden Abend zu Fuß nach Hause zu gehen und so die Spaziergänge in den Hügeln zu ersetzen, die er vermisste. Aber er war nach den endlosen Stunden in den Krankenzimmern oder den Vorlesungsräumen viel zu erschöpft, und so hielt der Frühling Einzug, ohne dass er ihn überhaupt wahrnahm.

Als er eines Tages jedoch das Krankenhausviertel verließ, erblickte er den Abendstern, die Venus, die kurz vor Sonnenuntergang bereits am westlichen Himmel stand, und beschloss, obwohl müde, wieder am Themse-Ufer entlang nach Hause zu gehen. Irgendjemand hielt ihn auf; er musste Papiere im Büro des Sozialarbeiters unterzeichnen, und als er die Stufen der Brücke hinaufkletterte, die ihn zum Themse-Ufer führten, war die Venus bereits im Abendnebel verschwunden und die Dämmerung hereingebrochen.

Er hatte sich diesen Weg sooft ausgemalt, dass er kaum wusste, ob dieser Abend Fantasie oder Realität war. In die zunehmende Dunkelheit starrend, suchte er nach der schemenhaften verhüllten Gestalt, aber sie erschien nicht. Enttäuscht und mit schmerzenden Füßen erreichte er schließlich seine Wohnung und ließ sich mehr tot als lebendig in den alten Sessel fallen. Aber dann, beim Abstreifen der Schuhe von einem Impuls bewegt, den er nicht einordnen konnte, quälte er sich aus den schmuddeligen Kissen, durchquerte den Raum, zog die Vorhänge zurück und schaute hinaus, um zu sehen, ob die Fassade der Kirche auf der anderen Seite des Flusses erleuchtet war. Sie war es. Die Gestalt kam nie, wenn sie Gottesdienst hielten. Das beruhigte ihn. Warum, wusste er nicht. Ohne Abendbrot ging er zu Bett und schlief ein. Gedanken über verhüllte Damen machte er sich nicht. Gegen Mitternacht jedoch wurde er wach, stand auf und schaute wieder hinaus. In diesem Moment ging das Licht aus; kurz nahm er die verhüllte Gestalt wahr und betrat noch einmal in ihrer Begleitung das Land der Träume.

Hocherfreut wiederholte er den Spaziergang am Themse-Ufer am nächsten Tag zu früherer Stunde, die Pracht des Sonnenuntergangs über Westminster vor Augen, und von dem Tag an wurde der Weg am Ufer nach Hause zur Gewohnheit, was seiner Gesundheit sehr guttat. Auch im Geist war er heiterer, stellte aber gleichzeitig fest, wie abhängig er von diesen nächtlichen Visionen geworden war.

Als eine Woche lang seine Traumfrau nicht auftauchte, wurde er fast verrückt. Nichts hätte ihn dazu gebracht, einen Kollegen zu konsultieren und sich selbst Beruhigungsmittel zu verschreiben, und so ging es ihm immer schlechter. Als er mit seiner Kraft fast am Ende war, kam der Traum wieder, der ursprüngliche Traum der verhüllten Gestalt in der grauen Landschaft – der allererste Traum, der sich bis dahin, trotz all seiner Anstrengungen, nie wieder eingestellt hatte. In seiner Ungeduld war er so verzweifelt, dass er die verhüllte Gestalt zum ersten Mal geradezu verfolgte, mit der Absicht, sie einzuholen. Wie in einem Albtraum arbeitete er sich über die graue Landschaft vorwärts, aber seine Füße schienen bei jedem Schritt kleben zu bleiben, und sein Herz schlug, als ob es bersten wollte. Als er die Gestalt beinahe erreicht hatte und die Hände ausstreckte, um den flatternden Umhang zu packen, wachte er in Schweiß gebadet auf, den Schrei einer Frau in den Ohren. Er sprang aus dem Bett, riss das Fenster auf und streckte den Kopf hinaus. In dem Moment ging auf der anderen Seite des Wassers das Licht an.

In der mondbeschienenen Straße war alles ruhig, auch in dem muffigen Haus, als er sich über den Treppenschacht beugte und lauschte. Die kleine Miss Humphrey, seine Wirtin, wie immer um ihn besorgt, würde zu ihm hocheilen, wenn etwas nicht stimmte. Da sich nichts regte, ging er wieder zu Bett mit dem Gedanken, die schreiende Frau müsste entweder tot, gerettet oder ein Phantom seiner Fantasie gewesen sein.

Am nächsten Tag wurde er lange im Krankenhaus aufgehalten. Wenn auch durch die unterbrochene Nachtruhe müde, war sein Geist doch ruhig. Obwohl es spät war, entschloss er sich, wieder zu Fuß nach Hause zu gehen. Es war inzwischen zum Ritual für ihn geworden, und nichts hätte ihn davon abhalten können.

Es herrschte die gleiche Stimmung wie bei dem ersten Spaziergang am Themse-Ufer, aber an diesem Abend schien seine Wallfahrt eine besondere Realität zu haben. Während des Spaziergangs machte er sich Gedanken darüber, welche Art Ehemann er wohl abgegeben hätte, wenn seine Ehe normal verlaufen wäre: anspruchsvoll, ungestüm, eifersüchtig; aber er hätte das leichtherzige, kleine Geschöpf, das er geheiratet hatte, mit Liebe überhäuft. Zum ersten Mal wurde ihm klar, dass seiner Ehe auch dann kein Erfolg beschieden gewesen wäre, wenn ihnen die Katastrophe mit dem Kind erspart geblieben wäre, und das erleichterte und befreite ihn. Als die Bürde von seinen Schultern fiel, sah er etwa zwölf Fuß vor sich die verhüllte Gestalt einer Frau –, nicht in der Fantasie, sondern in Wirklichkeit.

Er schwankte wie betrunken, doch dann fasste er sich wieder. Die Realität besaß nicht dieselbe Faszination wie die Fantasie, außerdem war es mehr als unwahrscheinlich, dass dies die Trägerin des Mantels war, die ihn in seine Träume geschickt hatte.

Seinen Weg fortsetzend, beobachtete er amüsiert die verhüllte Gestalt. Es gab keinen Grund, Aufheben um eine Frau in einem Regenmantel zu machen. Dann fiel ihm plötzlich wieder das Tempo auf, mit dem sie ging. Es musste die Gestalt in dem Umhang aus dem Traum sein, denn nur wenige Frauen schritten so forsch aus. Durch einen Sprint verkürzte er den Abstand. Jetzt konnte er beobachten, wie sie sich bewegte. Von Haltung und Gang verstand er etwas, schließlich war es sein Beruf, aus diesen Komponenten seine Diagnosen zu stellen. Sie glitt in einer schwingenden Bewegung, die sich wie eine Welle vom Fußballen bis zur Hüfte ausbreitete, über den Boden, wobei die Falten des Capes um die breiten Schultern wie ein Pendel schwangen. Nie zuvor hatte er einen Menschen gesehen, der sich so harmonisch bewegte. Seine romantischen Anwandlungen einen Augenblick vergessend, beobachtete er ihren Gang mit beruflichem Interesse und verfolgte die perfekte Koordination eines jeden Muskels in dem sich rhythmisch bewegenden Körper. Ihre Figur konnte er nicht erkennen, denn die Falten des Umhangs verdeckten alles, ihren Gang jedoch würde er nie vergessen.

Dann schoss ihm ein Gedanke durch den Kopf, der so verrückt war, dass er ihn sofort wieder verwarf. Das, was er vorhatte, war für einen Mann seines Standes undenkbar. Außerdem verbarg sich hinter seinem robusten Äußeren und seinem brüsken Benehmen ein schüchterner Pennäler. So schritt er tüchtig aus, bis ihn die Ampel erneut austrickste und er die Gestalt aus den Augen verlor.

Er raste die Stufen zu seinem Zimmer hinauf, riss den Vorhang zur Seite und starrte über den Flug. Genau in dem Moment wurde die dunkle Fassade der Kirche auf der anderen Seite des Wassers in Licht getaucht. ,Eines Abends‘, sagte er sich, ,werde ich über die Brücke zu der Kirche gehen. Ich will endlich wissen, welche Sekte ihrem Kult so launenhaft frönt.‘ Aber er war so beschäftigt, dass er vorübergehend seine Spaziergänge am Themse-Ufer aufgab. Seine Vision brachte ihn dennoch Nacht für Nacht mit treuer Regelmäßigkeit in den Schlaf. Er brauchte sie sich gar nicht mehr vorzustellen, denn sobald er seinen Kopf auf das Kissen legte, kam sie von selbst.

Er hatte an einer Versammlung des Verwaltungsrats des Krankenhauses teilgenommen, dem er als Mitglied angehörte. In einflussreichen Kreisen hatte man sich über seine Manieren und Methoden beschwert. Die Sache war aufgegriffen worden, so taktvoll wie möglich, aber immerhin, genau zu dem Zeitpunkt, als der Arzt seiner Frau ihn gebeten hatte, seine unerwünschten Besuche einzustellen, und so hatte er bestürzt, verwirrt und gedemütigt feststellen müssen, dass er andere aufgeregt und sich unbeliebt gemacht hatte. Das Gremium, dem davor gegraust hatte, eines seiner Mitglieder einen Maulkorb zu verpassen, war verwundert, als er seine Kollegen bat, ihm zu sagen, was er falsch gemacht habe. Er nahm ihnen den Wind aus den Segeln, und die Sache endete damit, dass man ihm versicherte, er hätte nichts falsch gemacht. Man beruhigte und besänftigte ihn, lehnte sich, nachdem er wie üblich überstürzt verschwunden war, im Stuhl zurück und schaute sich verwundert an.

Als er das Krankenhausviertel verließ, war es neblig, aber das änderte nichts an seinem Entschluss, zu Fuß nach Hause zu gehen. Nichts konnte ihn so beruhigen und trösten wie die eingebildete Gegenwart seiner Fee. Wenn ein Mann ein Vierteljahrhundert sein Bestes gegeben hat und man ihm plötzlich sagt, es wäre nicht gut genug, dann stürzt die Welt für ihn ein.

‚Was tue ich nur‘, fragte er sich, ‚was die Menschen so aufregt oder aufbringt? Den gesellschaftlichen Aspekten des Krankenhauslebens entsprach er nicht, aber er hatte seine Pflicht nach bestem Wissen und Gewissen erfüllt. Er versuchte, sich mit der Erinnerung an seine außergewöhnlichen Erfolge zu trösten. Viele Patienten waren von seinen Kollegen aufgegeben worden. Er hatte sie gerettet! Zählte das etwa nicht?

Verletzt, durcheinander, sein Selbstvertrauen bis auf den Grund erschüttert, schritt er langsamer, als er wollte, und während er weiterging, sah er die verhüllte Frau wie im Traum an sich vorbeieilen.

Einen Augenblick stand sein Herz still. Dann begann es zu trommeln. Anstatt der üblichen zwölf Fuß war sie nur knapp drei Fuß vor ihm, und selbst in dem Nebel, der immer stärker wurde, konnte sie ihm nicht entkommen. Er holte so nah auf, wie er es wagte. Bei der ersten Ampel war er neben ihr. Ein schwerer hochgeschlossener Pelzkragen und ein breitkrempiger Schlapphut verbargen ihr Gesicht, Dennoch ließ ihn der Gedanke, ihr so nahe zu sein, erschauern. Er überquerte die Straße beinahe auf gleicher Höhe mit ihr, fand es jedoch ratsam, ein wenig zurückzufallen, damit sie ihn nicht bemerkte, und ärgerte sich im selben Moment darüber.

So gingen sie hintereinander, am Savoy vorbei, am Tempel, an Westminster. Sie hielt auf die alte Kettenbrücke zu, und Malcolm zögerte. Selbst in dem Nebel gab es genügend Spaziergänger an dem Themse-Ufer, um seine Gegenwart unverdächtig scheinen zu lassen, aber es war unwahrscheinlich, dass er ihr über die Lambeth-Bridge folgen konnte, ohne von ihr bemerkt zu werden. Nichts in seinem Verhalten gab Anlass für eine Beschwerde, selbst wenn sie ihn bemerken würde. Seine Schuhe hatten Gummiabsätze. Trotz seines stämmigen Körpers konnte er leise auftreten, und so beschloss er, sein Glück zu wagen.

Während sie der Mitte der Brücke zustrebten, wurde der Nebel dichter und dichter. Plötzlich durchzuckte es ihn – er benahm sich wie ein Lustmolch. Wenn die Frau ihn entdeckte, würde sie sich zu Tode erschrecken, und jetzt tat er genau das, was man ihm im Krankenhaus vorgeworfen hatte, dabei war sie doch die Letzte, die er erschrecken wollte.

Aber sie ging, ohne sich umzudrehen, weiter, und schon hatten sie die Mitte der Brücke erreicht. Einige Minuten später hörte er, wie sich, als sie das Kopfsteinpflaster der Brücke verließ und die südliche Seite des Themse-Ufers erreichte, der Klang ihrer Schritte änderte. In dem Moment, als er feststellte, wie nahe er ihr im Nebel gekommen war, spürte er die Straße unter seinen Füßen.

Hier war der Nebel noch dichter, und er musste ihr ganz nahe bleiben. Es waren genügend Leute unterwegs, und so blieb seine Gegenwart offensichtlich unbemerkt. Jedenfalls schaute sie sich nicht um.

Sie überquerte die Straße. Zur Sicherheit blieb Malcolm ein wenig zurück, und dann, einen angstvollen Augenblick, als er glaubte, sie verloren zu haben, schloss er wieder ganz nah auf, näher, als er es je gewagt hätte. Dann, plötzlich, stoppte sie – so unerwartet, dass er beinahe über sie gefallen wäre, was ihn völlig durcheinanderbrachte. Sie schickte sich an, eine Kirche zu betreten und machte sich in der Dunkelheit am Riegel zu schaffen. Die Tür gab nach.

Kaum wissend, was er tat, nutzte er die Chance. Wenn sie einen Gottesdienst besuchte, warum nicht auch er? Als sie sich umdrehte, um die Tür zu schließen, trat er unvermittelt ein, zog die Tür hinter sich zu und fand sich in pechschwarzer Dunkelheit und absoluter Stille wieder. Die Kirche, wenn es eine war, war leer!

Wie vom Donner gerührt, blieb Malcolm stehen, sich seiner misslichen Lage bewusst. Da wurde ihm klar, wie er auf die Frau, der er gefolgt war, wirken musste. Vergeblich suchte er nach beruhigenden Worten. Sie musste bis auf den Tod erschrocken sein. Wenn sie ihn der Polizei übergäbe, würde das für ihn mehr als unangenehm. Nicht nur sein guter Ruf wäre ruiniert, sogar seine Existenz. Bei diesem Gedanken wurde ihm eiskalt. Zurückweichend griff er nach der Tür, durch die er hereingekommen war, aber seine Hand glitt nur über eine Wand. Sich umdrehend, wartete er darauf, was geschehen würde, unwillkürlich eine Faust ballend. Dann glitt plötzlich der Schein einer Taschenlampe über sein Gesicht und befreite ihn von allem Zweifel.

„Was wollen Sie?“

Malcolm stieß einen Seufzer der Erleichterung aus, denn die Stimme klang ruhig und ausgeglichen.

„Ich – eh – ich dachte, das wäre eine Kirche, und ich wollte in den Gottesdienst“, stammelte er.

„Es ist keine Kirche mehr, es ist ein Privathaus“, antwortete die ruhige Stimme. „Die Tür liegt hinter Ihnen, wenn Sie bitte gehen wollen.“

Er drehte sich um, der Schein der Taschenlampe zeigte auf den Knauf eines Yale Riegels. Dankbar ergriff er ihn, und die Tür schwang auf. Dann, schon auf der Schwelle, drehte er sich erneut um und hielt inne, unfähig, sich der Wirkung zu entziehen, die die Frau auf ihn ausübte. Das Licht fiel jetzt so voll auf sein Gesicht, dass es ihn blendete. Sie würde ihn wiedererkennen, aber er hatte nicht einmal einen Blick auf sie werfen können. Er zögerte einen Moment, aber sie richtete den Strahl der Lampe unverändert in seine Augen, und in der Erkenntnis, dass er die schlechteren Karten hatte und das Spiel vorerst für ihn ausgereizt war, tippte er hastig an seinen Hut und stolperte hinaus in den Nebel, der plötzlich zu einer undurchdringlichen Masse geworden war.

Einige Häuser weiter hörte er, wie ein Taxi seine Fahrgäste auslud, und es gelang ihm, das Taxi zu ergattern. Während das Taxi durch den Nebel schlich, hatte Dr. Malcolm ausreichend Gelegenheit, sich Gedanken darüber zu machen, was geschehen würde, wenn er so weitermachte. Er war in seiner Selbstachtung tief gesunken: Erst der Anraunzer im Krankenhaus, und gerade eben hatte er sich wie ein Narr benommen. In dieser Verfassung kam er zu Hause an, wo er wenig vorfand, was ihn tröstete und Leib und Seele zusammenhielt.

Dieser freudlose Geselle, ohne Hobbys, außer seiner Arbeit sogar ohne jegliche Interessen, aber sensibel bis in die Haarspitzen, hatte sich mit einem Panzer umgeben. Jetzt war der Panzer aufgebrochen. Der Hieb hatte ihn tief getroffen, und es gab nichts, das Unglück zu lindern, nichts, was ihn ablenken würde, keinen Freund, mit dem er sprechen konnte. Ein Mann wie er, todernst und mit eisernem Pflichtbewusstsein, war unfähig, über seine Schwächen zu sprechen. Der einzige Trost für ihn blieb seine Traumfrau,– die ihn mit einer Taschenlampe geblendet und ihm die Horrorvorstellung eingeflößt hatte, ihn der Polizei auszuliefern. Zu gut kannte er die ältlichen sexbesessenen Kerle, die brave Frauen belästigten, und sie kannte sie wahrscheinlich auch. Dass sie in dieser unangenehmen Situation kühlen Kopf bewahrt hatte, sprach für sie. Wie sollte er ihr klarmachen, dass er nicht zu dieser Sorte Mann gehörte? Nichts konnte er ihr erklären – das Einzige, was er tun konnte, war, sie in Ruhe zu lassen. Er musste seinen Traum opfern wie alle Träume, und sich an das klammern, was er kannte – seinen Beruf, denn wenn er diesen schmalen Pfad verließe, wäre es um ihn geschehen.

Er ging zum Fenster hinüber und zog den Vorhang zurück. Irgendwie brachte er die verhüllte Frau mit der erleuchteten Kirche in Verbindung – warum, wusste er nicht. Würde er sie dort finden, wenn das Licht in der Kirche auf der anderen Seite erlosch? Er starrte in die Tiefe der nebeligen Nacht, aber sogar der Trost des vertrauten Lichts blieb ihm versagt. Der Nebel verschluckte alles, und nur der schwache Schimmer der Lampen in der Nähe war zu erkennen.

Plötzlich überfiel ihn ein erregender Gedanke. Die Frau, der er gefolgt war, hatte den Fluss überquert und eine Kirche auf der südlichen Seite betreten. Sie hatte gesagt, sie würde nicht mehr als Kirche benutzt, sondern als Privathaus. War die erleuchtete Fassade, die er so oft gesehen hatte, etwa ihre Wohnung? Nach der Biegung des Flusses und dem Weg zu urteilen, den sie nach der Brücke genommen hatten, war es nicht auszuschließen. Das wäre auch eine Erklärung für die unmöglichen Zeiten, in denen das Fenster erleuchtet war oder dunkel.

Die Ellbogen auf die Fensterbrüstung gestützt, versuchte Dr. Malcolm mental, den dichten Nebel zu durchdringen. Konzentration war für ihn Routine. Wenn er arbeitete, hätte es ihm wie Isaac Newton passieren können, dessen Papiere Feuer gefangen hatten, ohne dass er es bemerkte. Auch er war ein Mann mit einer lebhaften bildlichen Vorstellungskraft und ohne fremde Hilfe in der Lage, die Verästelungen des Nervensystems und seines anatomischen Hintergrunds zu zeichnen. Trotz des Nebels konnte er die erleuchtete Fassade der Kirche über dem Wasser so klar erkennen, als wenn er davor gestanden hätte.

Er konnte die spitze Tür mit dem Eisenknauf im neugotischen Stil sehen; fühlte das kalte, nebelfeuchte Eisen des schweren Riegels in der Hand – die warme Luft auf der Haut wie in dem Moment, als er, auf den Fersen der verhüllten Frau, die Kirche betreten hatte. Die Realität wich weiter zurück, und plötzlich fand er sich in einem hohen gediegenen Raum mit einem großen offenen Kamin wieder, in dem mehrere Scheite brannten. Eine Sekunde lang sah er das Bild so deutlich wie mit seinen physischen Augen, dann verschwand es. Er ging vom Fenster zurück, zog den Vorhang zu und sperrte die Düsternis aus. Er wusste, das, was er gesehen hatte, war ein Bild seiner Fantasie, in der sein Verstand keinen Platz hatte; aber das Erlebnis hatte den Nachgeschmack eines unerquicklichen Abenteuers weggewischt und ließ ihn zwar nicht in Frieden, aber doch in gehobener Stimmung zurück.

Er wusste aber auch, dass er nach allen Regeln der Psychiatrie mit seinem Geist ein gefährliches Spiel trieb, aber dennoch war er nach jedem Überschreiten der Grenze zwischen Verstand und Fantasie ruhiger und glücklicher als an den meisten Tagen.

In den abgetragenen Ledersessel neben dem Feuer sinkend, versuchte er, die Situation so objektiv wie möglich zu analysieren. Ganz eindeutig hatte er ein Fantasienetz um die Gestalt einer Frau gesponnen, die er zwei- oder dreimal in der Dämmerung gesehen hatte. Das war nichts Außergewöhnliches, viele Menschen mit ausgeprägter Fantasie taten so etwas. Schon als junger Mann vor seiner Heirat hatte er diesem Laster gefrönt. Nach der Verlobung mit Eva hatte er das rigoros unterlassen, allenfalls seine Fantasien auf ihr Gesicht und ihre Figur beschränkt, und das auch nur nach den Regeln der Schicklichkeit. In Bezug auf Frauen hatte er sich nicht einmal in der Fantasie gehen lassen. Ausgleich fand er in wissenschaftlichen Auseinandersetzungen, wobei er keinem Disput aus dem Weg ging, wenn jemand Neigung zeigte, sich mit ihm auseinanderzusetzen.

Er sah jedoch, dass er nahe daran war, mit den Regeln, die er sich selbst gesetzt hatte, zu brechen. Obwohl idealisiert, waren seine Empfindungen überraschend stark und von einer Art, wie sie von einem verheirateten Mann nicht gehegt werden sollten. Wenn sie ihn dazu brachten, einer Frau aus Fleisch und Blut meilenweit durch die Straßen Londons zu folgen, sich sogar Zugang zu ihrem Haus zu erzwingen und sich zum Narren zu machen, so waren es erst recht keine Empfindungen, denen ein Mann wie er, in Amt und Würden und auf seine Karriere bedacht, nachgeben durfte. Er musste den Traum wie ein Geschwür herausschneiden. Basta! Einen Vorgeschmack möglicher Komplikationen hatte er bereits bekommen, zum Glück hatten sie nicht allzu viel Ärger mit sich gebracht und waren sanft entschlafen.

Nun, es hatte eine Schwester im Krankenhaus gegeben, dann eine Medizinstudentin in einer der Kliniken, und schließlich eines der Mädels von Miss Humphrey. Die beiden ersten ahnten nicht, welche Gefühle sie in ihm geweckt hatten; die dritte jedoch, das kleine Biest, hatte es darauf angelegt, ihn kirre zu machen, was ihr mit größter Leichtigkeit gelungen war. Auf ewig würde er sich dafür schämen, aber mehr noch wundern. Als er erkannte, was los war, war er schnurstracks in die Höhle der Löwin im Souterrain marschiert und hatte Miss Humphrey erklärt: „Einer von uns beiden geht – das Mädchen oder ich – und zwar auf der Stelle!“, und der verdutzten und entrüsteten Wirtin die restlichen Monatslöhne für das Mädchen ausgehändigt.

Sich von seiner neuen Sucht zu befreien, war schwieriger. Monatelang hatte er ihre Gesellschaft genossen, ja, er hatte sie geradezu kultiviert. Wenn auch nur ein Fantasiegebilde, so hatte sie doch ein feines Gespinst um die Wurzeln seines Seins gewoben. Aber wie Napoleon hatte er sich antrainiert, die Schubladen seines Geistes zu schließen. Er knallte sie zu, läutete nach dem Abendbrot und machte sich an die Vorbereitung eines Vortrags. Als das Abendbrot kam, aß er mit der einen Hand, mit der anderen machte er sich Notizen – die wilden Tiere aus Ephesus mussten heute in ihren Käfigen bleiben.

Er arbeitete bis spät. Als er vor dem Zubettgehen das Fenster öffnete, sah er durch den sich auflösenden Nebel, dass die Kirche auf der anderen Seite des Flusses immer noch erleuchtet war. Er drehte sich um und versuchte, die Geschichte aus seinem Kopf zu verbannen, indem er sich an einige Punkte seines Vortrags klammerte – aber als er die Nachttischlampe ausknipste, wusste er, dass seine Chance einzuschlafen genauso gering war wie die, zum Mond zu fliegen. Er hatte einen harten Tag vor sich und am Abend eine Ansprache als Präsident; die Aussichten für den nächsten Tag waren also nicht rosig.

Flach auf dem Rücken liegend, die Arme über das Gesicht gelegt, versuchte er, seine Gedanken unter Kontrolle zu bringen. Aber es war zwecklos – die wilden Tiere von Ephesus waren außer Rand und Band und rüttelten an den Gitterstäben.

Er stand wieder auf und ging in seinem dünnen Pyjama zu dem weit geöffneten Fenster, wo sich die letzten Nebelfetzen feucht Zugang zu seinem Zimmer verschafften. Unwillkürlich schaute er über den Fluss. Das Licht in der Kirche auf der südlichen Seite war erloschen – er konnte seine Lady haben, wann immer er wollte, er brauchte nur der Versuchung nachzugeben. Erneut ging er zum Bett zurück, setzte sich auf die Kante – die Ellbogen auf den Knien, den Kopf in den Händen – und stöhnte. War sie nicht besser als die wilden Tiere von Ephesus? Aber das war alles Unsinn, reine Spitzfindigkeit. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie in Ephesus endete.

Er musste das Geschwür herausschneiden – herausschneiden!

Plötzlich erblickte er durch die Finger, die sich gegen die Augäpfel pressten, die verhüllte Frau – von Angesicht zu Angesicht. Direkt vor ihm stand sie im Zimmer und sprach ihn an:

„Mach dir keine Sorgen. Es ist alles in Ordnung.“

Er hob den Kopf, schwindelig, schwitzend, erschüttert, aber sie war fort. Sie war gegangen, wie sie gekommen war.

Wie Espenlaub zitternd, spürte er, dass der Schweiß seine Brust hinunterlief und die dünne Pyjamajacke am Rücken klebte. Immerhin hatte er noch genügend Verstand, keine Lungenentzündung zu riskieren, wälzte sich ins Bett und schnaufte. Als es ihm endlich zwischen den Decken warm wurde, überfiel ihn ein ungewöhnliches Gefühl von Frieden. Muskel für Muskel entspannte sich der Körper des überreizten Mannes. Er drehte sich auf die Seite, und fast schon eingeschlafen, hatte er das Gefühl, den Kopf nicht in einem Kissen zu bergen, sondern an der Schulter einer Frau.

***

Mondmagie

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