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Kapitel 6

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Das neue Jahr begann, wie das alte aufhörte. Glück und Pech kannten keinen Jahreswechsel, Obsessionen scherten sie nicht um gute Vorsätze. Es gab keinen magischen Moment, keinen Beginn einer neuen Ära, nur weil sich die Erde einmal vollständig um die Sonne gedreht hatte. Schmerzen, Leiden, Tod und Leben fanden spätestens dann in ihren monotonen Takt zurück, wenn die letzten Silvesterraketen verglüht und die Explosionen der Böller verhallt waren.

Tom Weber hatte den Beginn des neuen Jahres nicht bemerkt. Die Vorhänge in seiner Wohnung waren zugezogen und die Fenster verschlossen. Sein Computer-Monitor war die einzige Lichtquelle in seinem Arbeitszimmer. Bläuliche Nikotinschwaden waberten wie Geisterschemen an die Decke. Immer wieder nährte Tom die pittoresken Gebilde, indem er mit hohlen Wangen an einer Zigarette sog und sie halb geraucht in dem überquellenden Kristallaschenbecher halbherzig ausdrückte. Am Abend des Vortages hatte er sich an den PC gesetzt und die Zeit vergessen. Er wusste nicht, wie spät es war, denn seit Stunden spielte er am Computer, trank Kaffee und rauchte eine Zigarette nach der anderen. Seitdem er vor einigen Monaten zum ersten Mal die Website des Online-Poker-Anbieters aufgerufen und sich an einen der virtuellen Spieltische gesetzt hatte, drehten sich seine Gedanken nur noch um das Pokern. Er steckte in den Fängen des Glückspiels wie eine Fliege in den Maschen eines Spinnennetzes. Anfangs spielte er an Spielgeldtischen, kostenlos, wie in der Fernsehwerbung vollmundig beschrieben. Schnell glaubte Tom, ein talentierter Spieler zu sein und nur wenige Mausklicks von einem lukrativen Nebenverdienst entfernt zu sein. Zweihundert Euro zahlte er auf sein Pokeraccount ein und startete, um echtes Geld zu spielen. Und er begann zu gewinnen! Innerhalb von wenigen Tagen verdoppelte er seinen Einsatz, nach einer Woche hatte er knapp sechshundert Euro gewonnen. Seine Glückssträhne endete an einem Samstag, kurz bevor er sich ein Spiel seiner Schalker gegen die verhassten Bayern aus München ansehen wollte. Das Spiel bekam er nie zusehen, denn als Schalke das 1:0 gegen Bayern schoss, war sein Pokerguthaben bereits auf einhundert Euro geschrumpft. Als die Veltins Arena kopfstand und die Münchener geschlagen waren, zahlte Tom Weber gerade frisches Geld auf sein Pokerkonto ein. Eine fürchterliche Pechsträhne raffte sein gesamtes Guthaben dahin. Mit neuem Geld wollte er seinen verlorenen Gewinn zurückerspielen, aber diese Milchmädchenrechnung war der Anfang des gesamten Desasters. In einem Monat verspielte er fast 1500 Euro, gewann immer mal wieder einige Hundert Euro, dann rann ihm das Geld wie Sand zwischen den Fingern hindurch und er verlor das Doppelte. Schnell erreichte er das Limit seiner Kreditkarte, der Dispositionskredit seines Girokontos war ausgereizt und am Anfang eines Monats füllte er mit seinem Lohn die größten Löcher auf seinem Konto. Tom Weber wusste genau, dass es so nicht weitergehen konnte, doch er konnte seine Fingern nicht vom Glücksspiel lassen. Er verdammte den Tag, an dem er mit dem Pokern angefangen hatte. Doch aufhören konnte er auch nicht mehr.

Tom Webers Lebensversicherung war Geschichte. Er hatte sie gekündigt und sich mit einem unverschämten Verlust auf ein extra eingerichtetes Girokonto bei einer Direktbank auszahlen lassen. Auf seinem Gehaltskonto wäre das Geld wie in einem schwarzen Loch verschwunden. Die Lebensversicherung war ihm egal, es gab niemanden, um den er sich sorgen musste. Siebentausend Euro! Alles wanderte, ohne nachzudenken, auf seinen Pokeraccount. Und es kam, wie es kommen musste: Er verlor fast alles!

Jetzt saß er vor seinem Computermonitor und starrte verzweifelt auf die bunte Lobby der Pokerseite. Genau siebenhundertachtunddreißig Euro Guthaben waren noch auf seinem Account. Innerhalb einer Nacht hatte er über sechstausend Euro verspielt.

Tom nahm sich die letzte Zigarette aus der Packung. Wie passend dachte er mit einem bitteren Lachen auf den Lippen, die letzte Zigarette für das Endspiel. Die Wahrscheinlichkeit, dass er mit dem verbliebenen Geld wieder auf die Erfolgsspur kommen würde, war ziemlich gering, aber es war möglich. Ein gutes Blatt in einem No-Limit Game, mit hohen Blinds, so nannte man die Grundeinsätze beim Pokern, und er konnte mit einer gewonnenen Hand sein Kapital verdoppeln. Es wäre nur ein Anfang, aber ein vielversprechender, um sein verlorenes Geld zurückzugewinnen.

Tom steckte die Zigarette an. Er trank einen Schluck Kaffee aus seinem Schalke Becher und hätte ihn fast wieder ausgespuckt. Der Kaffee war so kalt, dass er mit einer Kugel Vanilleeis und einen Schlag Sahne als Eiskaffee durchgegangen wäre.

Mit angewiderter Miene schob Tom den Becher beiseite, dann packte er sich die Maus und loggte sich in einen Spielraum ein. Er klickte auf einen freien Platz, wechselte sein gesamtes Kapital in Spielchips, dann erschien sein Nickname Bandit2000 auf dem Platz, den er sich ausgesuchte hatte. Die Blinds lagen bei 50 Euro und 100 Euro, dass bedeutete, dass zwei Spieler die entsprechenden Grundeinsätze von fünfzig und einhundert Euro setzen mussten. Das geschah im Wechsel und richtete sich nach dem sogenannten Button, einer Art Münze, die nach jeder Spielrunde weitergereicht wurde.

Die ersten Spielrunden liefen enttäuschend. Tom entrichtete einmal fünfzig und einmal einhundert Euro, aber die Spielkarten, die ihm ausgeteilt wurden, waren nicht geeignet, um die Runde zu gewinnen. Deshalb legte er sie ab und wartete auf eine gute Gelegenheit, um anzugreifen.

Tom war wieder an der Reihe einhundert Euro Grundsatz in den Topf zu schieben. Lange würde er bei den hohen Einsätzen mit seinem geringen Kapitel nicht durchhalten, um das zu wissen, brauchte man kein Pokerprofi sein. Im Grunde spielte Tom alles oder Nichts, das Ergebnis dieses finanziellen Amoklaufs würde sich in den nächsten Minuten präsentieren. Während er auf seine neuen Karten wartete, zog Tom so heftig an seiner Zigarette, dass der Filter heiß wurde. Als er sein Kartenpärchen sah, wäre ihm die dieselbige fast aus dem Mund gefallen. Der virtuelle Dealer hatte ihm zwei Könige ausgeteilt, ein hervorragendes Startblatt, welches ihm zum Favoriten der Spielrunde machte. Toms Herz begann, schneller zu schlagen. Mit zitternden Händen drückte er seine Zigarette aus. Der Spieler links von ihm begann die Runde, entweder ging er nur mit einhundert Euro mit, setzte zusätzlich einen Betrag oder er stieg aus. Tom hoffte mit seiner exzellenten Starthand natürlich, dass möglichst viele Spieler im Spiel blieben und der zu gewinnende Pott so groß wie möglich wurde.

Einhundert Euro in Chips wanderten aus dem Guthaben seines Nachbarn in die Mitte des digitalen Spieltisches. Der nächste Spieler legte seine Karten ab und verabschiedete sich aus der Runde. Die restlichen Spieler taten es ihm gleich. Jetzt war Tom an der Reihe und er überlegte, wie er den einzigen Gegner im Spiel halten konnte. Gute Karten waren das eine, das andere war, aus diesen Karten den höchstmöglichen Profit zu erzielen. Eine kleine Erhöhung hielt Tom für das Beste, deshalb schob er weitere einhundert Euro in den Pott. Sein Gegner zögerte einen Augenblick, dann bewegten sich wie von Geisterhand einhundert Euro in Chips von seinem Stapel in die Tischmitte. Jetzt lagen bereits vierhundert Euro im Pott und der Dealer würde jeden Augenblick die ersten drei Gemeinschaftskarten austeilen. Dann würde sich zeigen, wie viel seine Königspärchen tatsächlich wert waren.

Kreuz 8 war die erste Karte, die aufgedeckt wurde. Gut für Tom. Das liebliche Gesicht einer Herz Dame erschien auf dem Monitor, nicht schlecht, aber es bestand die Gefahr, dass sein Gegner zwei Damen auf der Hand hatte und mit einem Dreier in Führung gegangen war. Tom versuchte vorauszuahnen, was sein Gegner auf der Hand haben könnte. Ass Bube oder vielleicht Ass 10 konnte er sich gut vorstellen. Viele Spieler hofften auf einen Sieg durch eine Straße oder ein Pärchen Asse. In der Tat wurden viele Runden durch hohe Pärchen gewonnen. Je länger er darüber nachdachte, desto sicherer war er sich, dass Diver66, das war der Spitzname seines Gegners, mit einer Ass Konstellation spielte. Das würde Tom in höchste Gefahr bringen, falls ein Ass auf dem Tisch erscheinen würde. Die dritte Karte wurde aufgedeckt und Tom wäre fast das Herz aus der Brust gesprungen. Er erblickte das edle Gesicht eines Königs, in den Ecken der Karte thronten die diamantförmigen Karos. Er hatte einen Drilling auf der Hand, der Gewinn der Runde nur noch Formsache. Diver66 war jetzt an der Reihe die Setzrunde zu beginnen und er startete sie furios. Er schob sein gesamtes Spielkapital in die Mitte: All In! Dieser Zug zeigte die Verzweiflung seines Gegners. Seine Hand konnte er mit dem Flop nicht komplettieren, deshalb versuchte er jetzt zu bluffen, und Tom zur Aufgabe zu zwingen. Das rang Tom allerdings nur ein müdes Lächeln ab. Blitzschnell klickte er den Button, um die Wette mitzugehen. Entspannt schaute er auf den Bildschirm. Da die Setzrunden mit einem All-In beendet waren, wurden die Karten der Spieler vor den letzten beiden öffentlichen Karten, dem sogenannten Turn und dem River, aufgedeckt. Tom hätte sich beinahe an seiner eigenen Spucke verschluckt, als er sah, dass er die Hand seines Gegners völlig falsch eingeschätzt hatte. Diver66 hatte ein Achterpärchen auf der Hand und somit ebenfalls ein Drilling. Obwohl Tom mit seinen drei Königen immer noch vorne lag, machte sich ein mulmiges Gefühl in seiner Magengegend breit. Kalter Schweiß sammelte sich auf seiner Stirn, ein Tropfen lief über seine Nase, platschte auf seine Lippen und hinterließ einen salzigen Geschmack. Der Dealer drehte die vorletzte Karte um. Pik 7! Tom ballte die Faust, er war immer noch vorne. »Bitte lieber Gott! Nur ein einziges Mal! Bitte nur dieses Mal! Bitte, bitte!«, bettelte er wie ein Geisteskranker vor sich hin. Dabei übertönte Toms Herzschlag sein Selbstgespräch. »Komm schon! Keine Acht, keine …« Mitten im Satz verstummte Tom. Mit offenem Mund starrte er auf den Bildschirm! Die letzte Karte war eine Herz Acht! Der ganze Inhalt des Potts wanderte zu Diver66 und Tom war pleite! Eine Ewigkeit schaute er auf den Computermonitor, wo er darauf hingewiesen wurde, dass er kein Guthaben mehr hatte, um weiter an dem Spiel teilzunehmen. Er war wie paralysiert, unfähig irgendetwas zu tun, noch irgendeinen Gedanken zu fassen. Sein Herz schlug wieder langsam, Tom war weder aufgeregt oder verzweifelt. Er fühlte nichts, er war kalt und in ihm hatte sich eine Ödnis ausgebreitet: grau, still, gefühllos. Er bewegte seinen rechten Arm, statisch und steif wie ein Roboter, öffnete blind die Schublade seines Schreibtisches. Endlich löste Tom seinen Blick von dem Monitor, wo das Pokerspiel munter weiterlief. Er schaute in die Schublade, zögerte einen Moment und nahm dann seine Dienstwaffe heraus. Er öffnete den Druckknopf und zog die Pistole aus dem ledernen Halfter. Die Glock lag kalt in seiner Hand. Stumm betrachtete er das tödliche Stück Stahl. Seit zwanzig Jahren war er bei der Polizei. Erst als Verkehrspolizist, dann bei der Kripo und seit ein paar Monaten bei einer Sonderheit der Bundespolizei. Noch nie war er gezwungen, seine Waffe zu gebrauchen. Oft malte er sich aus, wie es sein würde, wenn er die Pistole gegen eine Person richten müsste. Wäre er in der Lage das zu tun, was notwendig wäre? Würde er die Waffe heben und ohne zu zögern feuern? Gleich würde er es wissen. Tom Weber legte den Sicherungshebel der Glock um. Langsam hob er die Pistole und steckte sich den Lauf in den Mund. Der Stahl lag ihm kalt auf den Lippen. Ein bitterer Geschmack nach Öl breitete sich auf seiner Zunge aus. Tom war völlig ruhig, als er den Daumen an den Abzug legte. Einen Moment der Stille gönnte er sich noch, ein paar Atemzüge, die letzten Herzschläge! »Blau und Weiß wie lieb ich dich«, dröhnte es plötzlich durch Toms Arbeitszimmer. Vor Schreck hätte er fast den Abzug der Pistole durchgedrückt. Einen Moment dauerte es, bis er realisierte, dass es der Klingelton seines Handys war, der ihn bei seinem Selbstmord störte. Über den Lauf seiner Dienstwaffe schielte er auf sein Handy, das neben dem Aschenbecher auf dem Schreibtisch lag. Noch immer schallte die Vereinshymne aus dem winzigen Lautsprecher des Mobiltelefons. Tom zögerte kurz, dann zog er die Waffe aus dem Mund und legte sie auf den Schoss. Umbringen konnte er sich auch später noch, jetzt wollte er wissen, wer ihn sprechen wollte. Er warf einen Blick auf die Uhrzeit am rechten Rand des Monitors. Erstaunt stellte er fest, dass das neue Jahr bereits fünf Stunden alt war. Tom griff sich sein Handy, aus dem ihm noch die blecherne Stimme von Ährwin Weiss das Schalke-Lied plärrte. Auf dem Display blinkte die Nummer eines Mobilfunkanschlusses, die ihm nicht bekannt vorkam. Mit der irrationalen Idee, der Pokeranbieter könnte es sein, um sich für einen Fehler in der Software zu entschuldigen und sein Geld zurück zu überweisen, nahm er den Anruf entgegen. »Hallo!« »Herr Weber« »Ja!« »Zyprian hier!« Es war Toms Chef! Doktor Balthasar Zyprian, Kriminalrat und Leiter der Sonderkommission Meteor, zu der auch Tom gehörte. Für einen Augenblick überlegte Tom, ob es nicht doch besser gewesen wäre, sich sofort zu erschießen. Sein Chef war ein aufgeblasener Snob, hochnäsig und affektiert. Ein reaktionärer Schleimer, der seinen Vorgesetzten in den Allerwertesten kroch und seinen Mitarbeitern dabei auf den Kopf schiss. Wenn Zyprian ihn am Neujahrsmorgen anrief, dann musste irgendetwas Außergewöhnliches geschehen sein. Tom wurde neugierig. Er klemmte sich das Handy zwischen Ohr und Schulter, mit den frei gewordenen Händen packte er seine Waffe, sicherte sie und steckte sie zurück in das Halfter. »Herr Doktor Zyprian! Ein frohes neues Jahr wünsche ich Ihnen!«, log Tom. »Lassen wir den Quatsch!«, erwiderte Zyprian in seinem berüchtigten Oberschullehrerton, »Es gibt einen weiteren Vorfall!« »Ach? Einen Einschlag?« »Was sonst?«, antwortete Zyprian barsch, »Ein kleiner Brocken ist runtergekommen! Im östlichen bis zentralen Ruhrgebiet.« »Wann kommen die genauen Daten?« »Gar nicht! Es gab einen Systemausfall. Alles was wir haben, wird Ihnen in den nächsten Minuten per Mail zugestellt. Statusmeldung alle drei Stunden, an mich persönlich! Verstanden?« »Natürlich!« »Finden Sie das Ding, rufen Sie das Bergungsteam und das Ganze so schnell wie möglich.« Tom schlug innerlich die Hände über den Kopf zusammen. Er ahnte, dass er einer schier unlösbaren Aufgabe gegenüberstand. Seitdem er in die SOKO Meteorit berufen wurde, waren Zyprian und er wie Katz und Maus. Sie mochten sich nicht, das war schnell klar, allerdings war Doktor Zyprian der Leiter SOKO und deshalb in der besseren Position für einen Zickenkrieg. Tom hatte nicht die geringste Ahnung, wie er einen Meteoriten finden sollte, von dem er lediglich wusste, dass er irgendwo im östlichen Ruhrgebiet eingeschlagen war. Seit Monaten gab es merkwürdige Meteoriteneinschläge in Deutschland und in der ganzen Welt. Es waren nur kleine Steine, nicht größer als eine Kokosnuss, die er und die anderen Teammitglieder überall im Bundesgebiet aufspürten. Zum Glück richteten sie nur wenige Schäden an, landeten in Waldgebieten, Seen oder im Meer. Es gab ein paar beschädigte Häuser, aber Menschen wurden bisher nicht verletzt. Nicht nur die Häufung der Einschläge war merkwürdig, auch die Steine selber waren alles andere als gewöhnliche Meteoriten. Wie Tom im Internet recherchiert hatte, bestanden Meteoriten in der Regel aus einer Eisen-Nickel Legierung oder aus sogenannten Silikatmineralen. Wenn man sich Bilder von Meteoriten anschaute, dann musste man feststellen, dass es ich um unförmige Gesteinsbrocken mit scharfen Kanten und einer rauen Oberfläche handelte. Die Meteoriten, die Tom und seine Leute fanden, sahen ganz anders aus. In ihrer äußeren Erscheinungsform waren sie perfekt wie Kunstwerke. Mit ihren grau-weißen Oberflächen und den unzähligen fingerkuppengroßen Mulden wirkten sie wie die Arbeit eines Bildhauers. Und da war noch etwas: der Geruch! Diese Meteoriten verströmten die feinsten Düfte. Von Minze, über Zitrone bis hin zu Zimt oder Moschus, dazu gesellten sich undefinierbare Aromen, die sich zu einem Hochgenuss für die Sinne vereinten. Aus diesem Grund arbeiteten die Bergungsteams in Vollschutzanzügen, denn man fürchtete, dass die Ausdünstungen der Meteoriten unbekannten Bakterien oder Giftstoffe enthalten könnten. Bei der Hitze während des Eintritts in die Atmosphäre eigentlich unmöglich, trotzdem war man aufgrund der seltsamen Gerüche vorsichtig mit dem Wort eigentlich. Niemand in der SOKO wurde über die Hintergründe der Meteoriteneinschläge informiert. Wissenschaftliche Erkenntnisse, wenn es welche gab, wurden zurückgehalten. Gerüchte machten die Runde. Einmal hieß es, dass der Einschlag eines großen Killermeteoriten bevorstand, ein anderes Mal, dass die seltsamen Steine Botschaften einer außerirdischen Intelligenz seien. Tom interessierte sich nicht für Gerüchte, er machte nur seine Arbeit. »In Ordnung! Ich wünsche …« Zyprian hatte bereits aufgelegt. Tom hasste diesen ungehobelten Kerl. Wenigstens vom Selbstmord hatte ihn der Leiter der Sonderkommission Meteor abgehalten, ob das gut war, würde sich erst noch zeigen. Tom starrte die Waffe auf seinem Schreibtisch an. Die Lust sich eine Bleikugel in den Schädel zu jagen, war ihm vergangen. Zumindest für den Augenblick, denn seine Arbeit war wie ein starkes Schmerzmittel für ihn. Wenn er ermittelte und auf der Straße war, vergaß er seine Probleme, verscheuchte sie zeitweise in die hintersten Stübchen seines Gehirns. Erst wenn er wieder nach Hause kam, zurück in seine Wohnung, dann verfiel er seiner Sucht, die stärker war als sein Verstand. Das verlorene Geld, das er in den virtuellen Schlund des Online-Pokerns geworfen hatte, tat zwar weh, war aber nicht der Grund für seine Lebensmüdigkeit. Vielmehr quälte ihn die Tatsache, dass er nichts anderes mit seinem Leben anzufangen wusste, als jede freie Minute vor dem Rechner zu hocken und zu zocken. Poker spielen war nur ein Ast an dem dicken Stamm namens Internet. Seit er Ende der Neunziger Jahre zum ersten Mal Online ging, war er süchtig nach nahezu allen Auswüchsen, die das Netz bot. Anfangs trieb er sich in diversen BTX-Chats herum, meistens erotischer Natur und verprasste Hunderte Euro im Monat, um sich verbal zu befriedigen. Es folgten AOL-Rooms, in denen er Porno Bilder tauschte und den einen oder anderen schlüpfrigen Kontakt herstellte, aus denen sich allerdings niemals etwas Reales ergab. Sein erster Einzelverbindungsnachweis wurde von seiner Telefongesellschaft in einem Karton versandt. Es folgte Online-Roulette, Sportwetten und diverse Online-Rollenspiele, in deren Welten er sich die Nächte um die Ohren schlug. Nebenbei lud er Filme und Musik aus dem Netz, bis die Kupferleitung glühte. Sein Leben spielte sich außerhalb der Arbeit nur im Internet ab. Tom vernachlässigte und verlor seine Freunde. Seine Arbeitskollegen waren die einzigen realen Kontakte, alle anderen Bekannten waren Avatare. Es wunderte ihn nicht, dass er schließlich beim Pokern hängen geblieben war. Es war nur eine weitere Versuchung des Molochs Internets, der er nicht widerstehen konnte. Nun hatte Tom zumindest eine neue Aufgabe, die ihn für eine Weile vom Pokern und seinen Suizidgedanken abbringen würde. Er stand von seinem Bürostuhl auf. Sein T-Shirt klebte auf dem Rücken, klamm von der anstrengenden Pokernacht. Tom war müde und ausgezehrt, sowohl physisch als psychisch, dabei verströmte er einen widerlichen Gestank nach kaltem Schweiß und muffiger Unterwäsche. Trotzdem war er plötzlich voller Neugier und Elan, denn die Aussicht aus der Wohnung rauszukommen und an einem Fall zu ermitteln, durchströmte ihn mit Tatendrang. Er griff sich seine Arbeitstasche, die neben dem Schreibtisch auf dem Boden stand, und holte sein Dienstlaptop hervor. Nachdem der Rechner gestartet und Online war, öffnete er das Mail Programm und aktualisierte seinen dienstlichen Account. Die von Zyprian angekündigte Mail befand sich bereits in seinem Postfach. Neugierig las Tom die Informationen über den Meteoriten, der etwa zur Jahreswende über dem zentralen bis östlichen Ruhrgebiet auf die Erde eingeschlagen war. Da die Angaben nur sehr spärlich waren und sehr wenig Details enthielten, war Tom sofort klar, dass es ein schwieriges Unterfangen werden würde, den Meteorit zu lokalisieren. In den letzten zwölf Monaten gab es allein in Deutschland acht bestätigte Meteoriteneinschläge, von den lediglich fünf Einschlagstellen ausfindig gemacht werden konnten. In den meisten Fällen waren die Meteoriten so klein, dass sie erst von der Flugraumüberwachung registriert wurden. Meistens gab es Sichtungen von Bürgern, die dann besorgt bei der Polizei anriefen. Im aktuellen Fall kam erschwerend dazu, dass die Flugüberwachung in der Silvesternacht mit Störungen zu kämpfen hatte und der Meteorit nur kurz registriert werden konnte. Meldungen von besorgten Bürgern lagen bisher nicht vor, offensichtlich war der Meteorit zwischen den Raketen und Knallern nicht aufgefallen. Tom studierte eine Weile die Bilder und Grafiken, die man in den Stunden seit dem Einschlag eilig zusammengestellt hatte. Nach einigen Minuten, in denen er ideenlos auf die Dokumente starrte, loggte er sich mit seinem dienstlichen Laptop in sein Heimnetzwerk ein und druckte eines der Satellitenbilder aus der Mail aus. Es war eine Aufnahme des Ruhrgebiets, ähnlich der Bilder, die man von der Wettervorhersage aus dem Fernsehen kannte. Die Aufnahme war wenige Stunden alt, was eine Datumsangabe am unteren Rand des Fotos besagte. Jemand hatte mit einem Edding einen Kreis auf das Foto gemalt, der große Teile des östlichen und zentralen Ruhrgebiets markierte. Ein riesiger Heuhaufen, in dem irgendwo die Nadel in Form eines Steines aus dem Weltall steckte. Tom wartete vergeblich auf einen Geistesblitz, der ihm auf die Idee brachte, wo er seine Ermittlungen beginnen sollte. Trotzdem kam er nicht umhin, irgendwo anzufangen. Aus diesem Grund hob er seine Hand und legte seinen Zeigefinger auf die Mitte des eingekreisten Gebietes: Bochum!

Die Mondsteindiät

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