Читать книгу Virtuelle Ethik - Dirk Schumacher - Страница 4

2. Der Einzelne erwacht. „Ich denke, also bin ich.“

Оглавление

Folgend möchte ich einige Konzepte vorstellen, die es ermöglichen der Frage nachzugehen, was den Einzelnen ausmacht, was sein Bewusstsein oder seine Persönlichkeit eigentlich ist. Ich werde auf die Konzepte eingehen, die meiner Meinung nach, Stand heute, besonders in der Diskussion stehen und Einfluss nehmen. Kurz gesagt, was modern ist. Das darf nicht diejenigen kränken, die ich vergessen habe.

Kenneth J. Gergen schreibt in seinem Buch „Konstruierte Wirklichkeiten“ (2) bezüglich Descartes Schrift Discours de la Méthode, das Cogito ergo sum bedeutet, dass der Mensch sich aus dem Denkvorgang heraus gebildet hat. Demnach, dass das Denken in den Vordergrund geschoben würde, ist Autorität auf den Willen des Einzelnen nicht mehr zurückführbar. Für Gergen ist hier der Ansatz der Französischen Revolution und damit natürlich des modernen Denkens. Das Denken ersetzt den Willen des Einzelnen. Gergen, Begründer des sozialen Konstruktionismus und Vertreter einer konstruktivistischen Vorstellung von Kultur, geht in seiner Argumentation sehr vorsichtig vor. Er ist sich der Tragweite seiner Konzepte sicherlich bewusst, führt die Folgerungen aus seinen Ideen aber nicht konsequent weiter aus. Er schildert, was seiner Meinung nach möglich wäre und welche Auswirkungen es hat. Aber seine eigene Argumentation und seine Person integriert er darin nicht. Er bleibt als Erzähler außerhalb seiner geschilderten Welt, auch wenn er sich z.B. im Gespräch mit seinem Sohn versucht hinein zu bewegen. Seine Aussage ist, das jedwede Äußerung, jedes Gefühl und jede kulturelle Leistung durch soziale Verbünde konstruiert ist. Es ist eine Idee, aber wie sie stattfindet, darüber lässt er sich nicht aus. Und die Konsequenzen daraus werden uns sehr vorsichtig und diplomatisch offen gelegt.

Schauen wir doch mal nach, was das genau bedeuten würde. Wenn jedes Gefühl, auch der Schmerz sozial konstruiert ist. Wo bleibt da die Begründung einer Ethik? Denn sie müsste sich ja selbst begründen, sie wäre auch sozial konstruiert. Das Ganze fühlt sich an, wie Maschinen, die sich selbst bauen und so auch zu ihren Gefühlen kommen. Das er einen moderaten und warmen Ton einschlägt in seinem Buch und immer wieder ethische Konstrukte aufbaut – aus seinem Herzen her durch intellektuelle Worte begründet, lässt letztendlich nur Verunsicherung zurück. Ich denke, das Buch ist nur für starke Charaktere geeignet, die die Destruktion darin erkennen, aber wie Gergen eine gewisse Distanz dazu einhalten und es nicht auf sich wirken lasse. Die Erkenntnis prallt sozusagen an seiner eigenen kulturellen Verwurzelung ab.

Gehen wir doch einen Schritt weiter und fragen uns, wohin das führt? Wenn das Denken in den Vordergrund geschoben wird und die Autorität des Einzelnen zurückdrängt, stellt sich die Frage, worin besteht das Denken und was ist dagegen der Wille des Einzelnen? Wenn das Denken eine soziale Konstruktion ist, ist auch das denkende Sein, das Bewusstsein vom Wert des eigenen Ich's eine soziale Konstruktion. Der Wille des Einzelnen, der die Autorität will und nun zurückgedrängt wird, war schon immer eine soziale Konstruktion. Nie hat ein Herrscher allein eine Schlacht gewonnen oder ein Land besiegt. Es waren die Untertanen, die die Arbeit machen, die sich Vorteile (oder weniger Nachteile) versprechen, wenn sie der Autorität dienen. Das ist nichts anderes als eine gemeinsame soziale Vorstellung, die zum Handeln nötigt. Kurzum, eine soziale Konstruktion hat die andere ersetzt. Der Satz, „ich bin ich selbst und kein Untertan mehr“ hat eine revolutionäre Kraft in Gang gesetzt, die ganze Kontinente veränderte. Aber es ist nicht das Abschütteln einer Autorität gewesen, sondern die Konstruktion einer anderen Autorität. Das „Ich“ ist eine soziale Konstruktion von Autorität. Max Weber spricht davon, dass moderne Arbeitsweisen erst damit ermöglicht wurden. Die Verlagerung der Autorität ins Innere des Menschen gehen mit der Funktionalisierung von Arbeitern, Technik, Produktion und Bewusstsein Hand in Hand. Marx nennt das Arbeit, was bei Hegel noch im Geiste vor sich geht. Wir wissen das. Doch was ist das explosive am sozialen Konstruktionismus? Es ist das furchtbare im Konstruieren. Als wenn das funktionelle, das maschinenhafte, das technische Denken im sozialen tätig wäre. Der menschliche Umgang wäre wie in einem Uhrwerk und wir erschaffen daraus die Welt. Wir schauen genau hin und definieren gemeinsam, was wir sehen. Je genauer, desto zutreffender wäre es und am Ende hätten wir so etwas wie Whitehead's Prozess und Struktur. Wenn nicht Wittgenstein uns nicht vorher die Leiter wegstößt. (3) Die Vorstellung einer sozialen Konstruktion der menschlichen Kultur setzt gerade das Denken voraus, was durch die Technik erst erschaffen wurde. Das bedeutet, wir sind beim funktionalen Betrachten von sozialen Konstrukten auf einem Auge blind und schaffen einen Widerspruch zwischen eigenem Willen und der Willenlosigkeit innerhalb der Konstruktion.

Doch auch wenn ich mich hier ein wenig lustig mache, der Weltgeist Hegels, der sich in Arbeit umwandelt und nachher sich selber konstruiert, hat einen Kern der uns berührt. Den Kern dessen, was Geschichte bedeutet und wie wir ihn erleben. Nicht als etwas Einzelnes von uns, sondern als etwas, was wir mit anderen Menschen zusammen tragen. Das Geschichte, die scheinbar nur aus Auseinandersetzungen besteht und nicht aus glücklichen ruhigen Momenten, genauso ist wie die Flutmarken in den Häfen. Hier steht auch nicht, wann das Meer ruhig war, sondern jeder Strich zeigt uns, wann dort Menschen Angst hatten und ihr Leben gelassen habe. Das Leben zeitigt nicht bis zum Tode. Das ist Egoismus. Sondern die Zeit besteht aus Wendemarken, die aufzeigen, wo soziale Konstrukte sich verändert haben.

Wenn der Einzelne ein soziales Konstrukt mit seinem Bewusstsein ist, dann muss ich mir die Frage stellen, was erlebe ich dann die ganze Zeit? Und habe ich ein Recht darauf „Ich“ zu sagen? Ist da noch etwas, was mich als Einzelner ausmacht? Versuchen wir uns ein wenig von den Konstrukten zu lösen, auch wenn die Idee, die dahinter liegt einiges an Attraktivität hat. Sie erklärt, wie Menschen zusammen etwas erschaffen, ohne das Gott es gewollt hätte oder ein König befohlen. Im Konstruktionismus fehlt der Inhalt de Kultur, wie wir ihn ganz praktisch erleben.

Für alles Weitere stelle ich mich also auf den Standpunkt, dass die Aggressionsneigung eine ursprüngliche, selbständige Triebanlage des Mensch ist, und komme darauf zurück, dass die Kultur ihr stärkstes Hindernis in ihr findet. Irgendeinmal im Laufe dieser Untersuchung hat sich uns die Einsicht aufgedrängt, die Kultur sei ein besonderer Prozess, der über die Menschheit abläuft , und wir stehen noch immer unter dem Banne dieser Idee. Wir fügen hinzu, sie sei ein Prozess im Dienste des Eros, der vereinzelte menschliche Individuen, später Familien, dann Stämme, Völker, Nationen zu einer großen Einheit, der Menschheit zusammenfassen wolle. Warum das geschehen müsse, wissen wir nicht; das sei eben das Werk des Eros. Dieser Menschenmengen sollen libidinös aneinander gebunden werden; die Notwendigkeit allein, die Vorurteile der Arbeitsgemeinschaft werden sie nicht zusammenhalten. Diesem Programm der Kultur widersetzt sich aber der natürliche Aggressionstriebe der Menschen, die Feinseligkeit eines gegen alle und aller gegen einen. Dieser Aggressionstrieb ist der Abkömmling und Hauptvertreter des Todestriebes, den wir neben dem Eros gefunden haben, der sich mit ihm in die Weltherrschaft teilt. Und nun, meine ich, ist uns der Sinn der Kulturentwicklung nicht mehr dunkel. Sie muss uns den Kampf zwischen Eros und Tod, Lebenstrieb und Destruktionstrieb zeigen, wie er sich an der Menschenart vollzieht.(wahrscheinlich mit der näheren Bestimmung: wie er sich von einem gewissen, noch zu erratenden Ereignis an gestalten musste.) Dieser Kampf ist der wesentliche Inhalt des Lebens überhaupt, und darum ist die Kulturentwicklung kurzweg zu bezeichnen als der Lebenskampf der Menschenart. Und diesen Streit der Giganten wollen unsere Kinderfrauen beschwichtigen mit dem "Ejapopeia vom Himmel". (Sigmund Freud, Das Unbehagen in der Kultur, Ende Kapitel VI, 773ff. Kindle Edition)

Eros und Todestrieb führen zu Narzissmus, Objektliebe, Zerstörung und Aggression. Die kulturelle Unterdrückung der Aggressionsneigungen der Menschen führt zum Über-Ich, zum Kampf von Über-Ich und Ich im Gewissen des Menschen. Mensch und Kultur werden von Freud in Konstruktionen zusammengeführt. Auch in der Kultur entwickelt sich ein Über-Ich und Ich mit Gewissen, das versucht die menschlichen Regungen zu beeinflussen, die Moral zu bilden. Für Freud ist Kultur eine Einschränkung der Triebe des Einzelnen. Im Kampf dieser Triebe entwickelt sich die Kultur. Der Einzelne ist nur ein Teil dieser Entwicklung. Was er spürt ist seine Aggression, Liebe, das was als Kampf sich in ihm ausmacht. Auch in sich ist für den Einzelnen nicht alles sichtbar. In Gewissen und Schuldgefühlen kämpfen Dinge miteinander, die der Mensch nicht überblickt. Im Grunde ist der Einzelne der Kultur und seinen Trieben ausgeliefert. Er kann funktionieren oder nicht. Er kann verdrängen, wie die Kultur etwas verdrängen kann. Und beide können neurotisch werden. Und beide können behandelt werden.

Auch hier ist der Zusammenhang zwischen Kultur und Individuum funktional gedacht. Mensch und Kultur können funktionieren – oder nicht. Im Gegensatz zu Gergen ist Freud auf der Bewusstseinsebene differenzierter. Was bei Gergen diffus verborgen ist, die Entstehung des Bewusstseins, welches in der Kultur konstruierendes Element ist, enthält bei Freud symbolische Elemente, die in Beziehung stehen. Das Ich steht zwischen Es und Über-Ich und versucht auf deren Forderungen einzugehen. Libido, Verbote, Werte und Bedürfnisse wirken auf es ein.

Ich, Es und Über-Ich sind Versuche der Bestimmungen einer nicht ganz verstandenen Funktion im Menschen. Und es scheint, dass sie ähnlich wie in der Quantenphysik Symbole für etwas sind, wo wir sehen, dass was passiert. Aber im Grunde wissen wir nicht, was sich da im Inneren wirklich befindet. Wir nähern uns der Lösung durch Symbole mit passenden Assoziationen an. Ich, Es und Über-Ich sind ähnliche Bezeichnungen wie Spin, Farbladung und Masse. Es sind statistische Aufkleber auf etwas, wo wir nicht mehr hinschauen können. Und genauso wie bei den Quantenzuständen, wenn wir sie beobachten, ändert sich etwas bei den Menschen, wenn wir mit ihnen reden. Das ist das Gesetz von Beobachtung und Wechselwirkung. Genauso in der Physik wie im sozialen Raum. Wir beobachten ein einzelnes Individuum, wie ein einzelnes Teilchen und stellen uns vor, dass wir, wie bei einer Billardkugel nur etwas anstoßen müssen und das Teilchen strebt in eine Richtung. Der Mensch verhält sich für uns kausal. Das ist das funktionale Denken, das uns die Technik erst möglich gemacht. Und das bestimmt auch unser Denken in Sozialtechniken. Mit Regeln wie Kausalität, Linearität und mathematischen Beziehungen. Doch, wenn man genauer hinschaut, gibt es weder das einzelne Teilchen noch das menschliche Individuum alleine. Das ist nur eine symbolische Vorstellung um die Singularität handhabbar zu machen. Die Vorstellung dessen, was wir uns denken und dem was sich um uns herum abspielt, sind nicht dasselbe. Sie zeigen nur, das eine Wirkung von mir erklärbar zu einer Reaktion von Außen führt. Die Erklärung bezieht sich auf das funktionale Denkmodell, nicht auf die Wirklichkeit. Gibt es wirklich ein Ich irgendwo in einem Menschen? Oder ist es etwas, was im Sprechen eines einzelnen Bewusstseins in der Gemeinschaft erst stattfindet und gleich wieder verfällt? Das was wir sehen ist ein Denkmodell, was sich andere in der Geschichte angeeignet haben. Was sich in der Wissenschaft, wie den Therapiemodellen der Psychologie einen Platz genommen hat. Was in den Köpfen derjenigen, die behandelt, wie erforscht werden, festgesetzt hat. In der Therapie einigt der Kranke sich mit dem Arzt in einem Diskurs darauf, was es sich mit dem Ich des Patienten auf sich hat. Das funktioniert, weil in dem Modell der Psychotherapie, über das Arzt – Patienten Verhältnis in den gehaltenen Stunden, Interventionen in den Patienten integriert werden. Das Modell wird zu einem gemeinsamen Modell von Arzt und Patient. Die Krankheit wird sozusagen konstruiert und kann damit repariert werden. Nur in dem der Patient das zulässt und in sich Funktionen erkennt, kann er auf diese eingehen und sie verändern. Das ist im wahrsten Sinne des Wortes eine Psychotechnik. Atomteilchen sind leider nicht in der Lage Denkmodelle zu integrieren. Bei Experimenten mit diesen sind wir daher darauf angewiesen durch Versuch und Irrtum deren Funktionsweise zu verstehen. Und der Welle – Teilchen Dualismus zeigt nichts anderes, als die Unmöglichkeit des funktionellen technischen Denkens sich von der Kausalität zu lösen. Es müssen funktionelle Ersatzprogramme gedacht werden, um doch zu einer zutreffenden Beschreibung zu kommen. Da berühren wir, wie in der menschlichen Psyche, die Grenzbereiche des logischen Denkens. Es wird immer schwieriger die Grenzen zu überschreiten, weil unser funktional, logisches Denken, das die Menschheit geschichtlich entwickelt hat, strukturelle Einschränkungen hat.

Ich halte die Art der Sichtweise des Bewusstseins bei Freud für sehr wichtig, weil es Problempunkte anderer Sichtweisen vermeidet. Es setzt bei den Gefühlen und Symbolen der Individuen an und nicht bei den Vorstellungen und Konstruktionen von Kultur. Natürlich ergibt sich daraus auch eine symbolhafte Sichtweise von Kultur. Aber keine Konstruktion, der die Individuen unterworfen sind. Sie sind noch frei! Der wichtigste Punkt bei der Betrachtung von Kulturen ist der Gesichtspunkt der Freiheit des Einzelnen in einer Konstruktion von Kultur, die mehr ermöglicht als ein einzelner mit anderen zusammen vermag. Ansonsten ist diese Vorstellung von der Seite des Individuums oder des Sozialen her unglaubwürdig.

Doch schauen wir uns noch eine weitere funktionale Konstruktion von Bewusstsein an.

Gerhard Roth geht noch einen Schritt weiter. Bewusstsein wird von ihm in seinem Buch „Fühlen, Denken, Handeln – Wie das Gehirn unser Verhalten steuert“. (4) im assoziativen Cortex ausgemacht. Die cortikale Aktivität im assoziativen Cortex erzeugt aufgrund der Einwirkungen der motorischen, emotionalen und sensorischen Zentren in einer Rückkopplungsschleife Bewusstsein über die anstehenden motorischen, emotionalen und sensorischen Zustände. Bewusstsein ist sozusagen vorweggenommenes Handeln und deren integrative Auswirkungen. Die Besonderheit des assoziativen Cortex ist seine Verknüpfungsdichte als assoziativer Speicher. Das heißt, hier laufen die für uns unbewussten sensorischen und emotionalen Vorgänge unseres Gehirns zusammen und werden zusammengefügt. Bei Roth geschieht dies innerhalb eines zeitlichen Verlaufs. Das bewusste vorweggenommene Handeln braucht seine Zeit in Sekunden, damit es diese Vorstellung von Bewusstsein erschafft und daraus aktiv reagieren kann.

Das Unbewusstes besteht für Roth aus Vorgängen außerhalb der assoziativen Großhirnrinde, aus vorbewussten Inhalten, aus unterschwelligen Wahrnehmungen, aus Wahrnehmungen außerhalb unserer Aufmerksamkeit, aus Prozessen der Gehirnentwicklung bei Säuglingen, aus dem Prozessgedächtnis, aus Unbewusstem und aus Verdrängtem. Motivationen im Bewusstsein entstehen durch Rückkopplungen des emotionalen Systems auf das Bewusstsein. Ein sehr kompliziertes Geflecht aus einer Vielzahl von Strukturen im limbischen System reagiert auf Eingaben des vegetativen Nervensystems und der sensorischen und motorischen Zentren. Der Hypothalamus, die zentrale Amygdala und das nachgeschaltete zentrale Höhlengrau reagieren sehr spezifisch auf Einflüsse und wirken wieder auf den zentralen Cortex zurück. Es entstehen nicht nur Reaktionen wie vegetative Vorgänge, Stress, Affekte, Wachsamkeit, Schreck und Angst, sondern auch starke Gefühle, die unser Bewusstsein in bestimmte Richtungen lenken. Wie z.B. im Sexualverhalten, Aggression, Verteidigung oder Nahrungsaufnahme.

Zur Unterscheidung von Bewusstsein und Unbewussten trennt Roth die Gehirnaktivitäten einerseits auf in unabhängige, nicht gewollte, nicht aktiv bemerkte, schnelle, einseitige, fehlerfreie, schwer veränderbare und nicht erklärbare Prozesse auf. Und in kontrollierte, aufmerksam gedachte, bemerkte, langsame, mühevolle, schwer störbare, schnell änderbare und leicht äusserbare Tätigkeiten. Allgemein ist der bewusste Denkprozess vielfältiger, komplizierter und mit tieferer Bedeutung belegt. Es ist eine Art der Informationsverarbeitung, über die wir sprechen können.

Es ist schon fantastisch. Was bei Freud noch symbolischen Charakter hatte und auf vorsichtige Beobachtung zurückzuführen war, ist nun in physikalischen Gehirnregionen plastisch vorzustellen. Roth vermeidet im neurophysiologischem Teil seines Buches Begriffe wie Ich, Es, Über-Ich und Unterbewusstes. Für ihn geht es um funktionales Prozesse um Bewusstes oder Unbewusstes, um automatisierte oder kontrollierte Prozesse. Auch wenn vieles davon noch nicht ausgereift ist und vor allem noch nicht so genau differenziert werden kann, dass Erkenntnisse daraus explizit praktisch verwendet werden können. So wird doch klar, dass es ein Ansatz ist, der unser kausales, funktionales Denken genauso beflügeln kann, wie die Freud'sche Theorie. Freuds Ergebnisse im übrigen werden praktisch in der Wissenschaft schon sehr häufig verwendet und haben auf Kultur und Denken allgemein sehr starken Einfluss genommen. Zum Beispiel auch auf die Theorie von Roth. Was wundert ist nicht nur, dass mit den Symbolen der Psychoanalyse auf funktionelle neurologische Suche gegangen werden kann, sondern dass diese Symbole auch inhärent dafür herhalten können, Prozesse im Gehirn zu erklären. Die wissenschaftlichen Erkenntnisse in der Neurophysiologie sind noch nicht genug fortgeschritten, um daraus tragfähige Ideengebäude zu bauen. Es reicht nicht für eine neue psychologische Behandlungsmethode aufgrund neurophysiologischer Erkenntnisse. Es reicht nicht für die Erstellung künstlicher Intelligenzen in Informationsstrukturen. Es reicht nicht für philosophische Erschütterungen am Begriff des Bewusstseins. Trotzdem wird gerade in diesem Bereich sehr viel geforscht. Teils aus Neugier, teils aus direkten finanziellen Interessen heraus, da Einzelergebnisse durchaus schon in der Medizin, Wahrnehmungstheorie, Militärwissenschaft und Informationsverarbeitung mit Nutzen eingebracht werden können. Es ist ein spannendes Gebiet auf dem ich interessante Techniken in den nächsten Jahren erwarten kann. Es ist die funktionale Verwertung dessen, was in unserem Kopf messtechnisch nachweisbar ist und zu Modellen führt, die versuchen informationstechnische Anwendungen von Wille, Freiheit und Bewusstsein zu implementieren. Das Thema ist nicht einmal weit her geholt. Was soll z.B. ein Roboter, der alten Menschen oder im Krankenhaus hilft, machen, wenn ein Befehl an ihn seiner Grundprogrammierung widerspricht? Wie soll der Roboter sich am besten verhalten, wenn der Mensch verstehen soll, dass der Roboter das nicht machen möchte ohne über die Technik zu schimpfen? Der Roboter muss dem Menschen durch sein Verhalten das Gefühl geben einen eigenen Willen zu haben und in seiner Individualität, den Menschen dazu zwingen seinen Befehl zu überdenken. Ein einfaches ERROR oder NEIN reicht nicht. Der Roboter muss z.B. unterwürfig aber bestimmt die Handlung negieren, sie anfangen, aber nicht zu Ende führen. Nur dann versteht das ein Mensch. Hier ist diese Art der Erforschung des Bewusstseins z.B. sehr hilfreich.

Was bleibt ist ein fader Nachgeschmack. Denn was in der Philosophie, Soziologie, Psychologie an Erfahrung und Definition für Bewusstsein, Ich und Menschsein entstanden ist und in welchem Zusammenhang es zur Geschichte steht, darin versucht sich Roth nicht sehr erfolgreich. Er steht in einer Tradition von anderen, in ihrem Fach sehr erfolgreichen Forschern, die auch versuchten ihre Erkenntnisse über Evolution, Entwicklung und Bewusstsein zu verallgemeinern (ich erinnere an Julian Jaynes, Ilya Prigogine, Matt Ridley oder Michael Tomasello). Was in jedem Fall vergessen wurde sind die Zusammenhänge von eigener Ansicht, eigenem kulturellem Hintergrund, gesellschaftlichen, sozialen Einflüssen und den Strukturen der Sprache. Nur eine Theorie, die diese Aspekte mit vereinnahmt und interdisziplinäre Strukturen bildet, kann nachhaltig Wirkung zeigen. Es geht nicht darum funktionelle Logiken zu entwickeln, die widerspruchsfrei sind, sondern darum nützliche, tragfähige Theorien, die in unserem Menschsein vervielfältigt werden können. Nicht das seine Theorie die Wahrheit treffen würde. Denn Wahrheit an sich ist schon so diskussionswürdig und verdächtig, dass man am besten das Wort davon abwendet. Das wäre ja so, als wenn das Bewusstsein wirklich im Gehirn sitzen würde. Aber nein. Wir haben über die Jahrhunderte gelernt, wie sich unser gemeinsames Denken weiterentwickelte, zu einem funktionalen, kausalen Begründungszusammenhang, der es auch ermöglicht, den Menschen als Funktion zu sehen und in seiner Funktion arbeiten zu lassen. Unser ganzes Wirtschafts- und Versorgungssystem beruht darauf, das der Mensch sich selber als Funktion, als Arbeiter, als Manager, als Mutter, als Politiker, ja sogar als Verbrecher, als Mafiaboss sieht. Und nun ist es möglich in diesem funktionalem Denken einen gewissen Zusammenhang zwischen Wahrnehmung, Gefühl und Handlung (es sind alles Funktionen) zu sehen und diesen Zusammenhang an einen Ort zurückzuverfolgen, der genau diese Komponenten in uns als Einzelwesen funktional kombiniert. Im assoziativen Cortex. Das menschliche Bewusstsein ist viel mehr als eine Rückkopplungsschleife zwischen Motorik, Emotion und sensorischem Eindruck. Bewusstsein bildet sich aus der gesamten Geschichte des Einzelwesens heraus, aus dem was uns im sozialen Verbund gelehrt wurde und was wir über uns und unsere Fähigkeiten integriert haben. Als menschliches Wesen bewusst handeln zu können, musste erst über den sozialen Verbund, der uns umgibt, in der Geschichte entwickelt werden. Er wird zu einem Begriff geformt und uns als Kind übergeben in ein Nest, das vielleicht der assoziative Cortex zur Verfügung stellt. Und in unserem Bewusstsein wird all dieses versammelt, was wir in unserem Leben spüren. Im Inneren sind es die Erinnerungen, Bilder. Von Außen gesehen unsere Biographie, unser Leben. Doch ohne das für uns physikalisch vorhandene funktionale Bett des assoziativen Cortex und der Symbolik der menschlichen Gemeinschaft wären Erinnerungen und Biographien inhaltsleer.

Es ist nicht so, dass Roth nicht auf geisteswissenschaftliche Argumente eingeht und sie diskutiert. Es ist vielmehr so, dass er aus seinen Erklärungen neurophysiologischer Grundlagen geisteswissenschaftliche Probleme zu lösen versucht. Obwohl er an seinen Aussagen an Genauigkeit und Konsequenz nicht zu übertreffen ist, bleibt ihm wie Freud und Gergen der nächste logische Schritt verwehrt. Er zaudert und sieht immer noch, den Menschen alleine, als Funktion für sich. Ich möchte versuchen aufzuzeigen warum das so ist und werde später auch auf die ähnlichen Argumente von Michael Tomasello eingehen. Denn im Hintergrund steckt eine Frage, die ich mir versuchte immer wieder zu stellen. Doch bei dieser Frage ist es wie bei dem neurophysiologischen Prozess des Bewusstwerdens. Sie findet für uns in einem blinden Fleck statt und ist sehr schwierig überhaupt zu stellen.

Es ist die Frage: „Kann ich alleine denken?“

Roth unterscheidet Bewusstsein, bewusstes Denken, Ich und Persönlichkeit, sowie Verständnis- und Handlungsmöglichkeiten. Bewusstsein wird aus Bewusstseinszuständen erzeugt, wie Wahrnehmung, Denken, Vorstellen, Erinnern, Emotionen, Icherlebnis, Körperbewusstsein, Kontrollbewusstsein über das eigene Handeln, Bewusstsein im Laufe der Zeit und im Raum, Realitätsbewusstsein und der Möglichkeit Vorstellung und Träume davon zu trennen. Diese Bewusstseinszustände teilen sich auf in ein Aktualbewusstsein und ein Hintergrundbewusstsein und bilden zusammen den Strom des Bewusstseins. Die Bewusstseinsprozesse können somit bestimmten Hirnprozessen zugeordnet werden und spielen eine Rolle bei der Zuordnung von kontrollierten und automatisierten Prozessen. Bewusstsein wird aufgrund von Hirnfunktionalitäten zu einer Funktion des Gehirns. Das hat sicherlich Vorteile bei der Zuteilung und Strukturierung von Gehirnprozessen. Gleichzeitig verliert der Begriff des Bewusstseins allerdings viel von seinem sozialen, intellektuellen und geisteswissenschaftlichen Hintergrund. Er wird auf Gehirnfunktionalitäten reduziert. Eine Reduzierung des Begriffes bedeutet leider auch, das bei Diskussionen der Begriff argumentative Implikationen verliert. Er wird nicht mehr so schlagkräftig. Roth hat das wahrscheinlich gespürt, in dem er auf die andern zusätzlichen Begriffe eingeht.

Bewusstes Denken entsteht durch die Rückkopplungsschleifen aus dem assoziativen Cortex. Es zeichnet sich aus durch unterscheidbare Wahrnehmungszustände. Deren Wichtigkeit wird noch unterstützt durch die hohen Energie und Stoffumsätze, die dabei entstehen und das Gehirn zwingen so weit wie möglich Denkprozesse in unbewussten, nicht so kontrollierten Umgebungen ablaufen zu lassen. Bewusstes Denken ist daher etwas anderes als Bewusstsein. Im Gegensatz zu den Bewusstseinszuständen ist Bewusstseins ein Wahrnehmungszustand, der sich durch hohe Kontrolliertheit und hohen Energieverbrauch auszeichnet.

Roth geht beim Ich den gleichen Weg wie beim Bewusstsein. Es werden affektive Zustände des Körpers definiert, die es ermöglichen mit Funktionen des Gehirns verbunden zu werden.

Das Ich zeichnet sich aus durch Verbindungen zum Körper, Orte, Umgebungen, Ich, Gedächtnis und der Reflexion des eigenen Denkens mit eigenem Gewissen. Das Ich entwickelt sich aus dem Lernen der Unterscheidung der Empfindungen vom eigenen Körper und der Umwelt. Ich Zustände lassen sich den überlappenden Netzwerken cortikaler und subkortikaler Zentren zuordnen. Ein starkes Symbol der Entwicklung ist die Wahrnehmung des Selbst im Spiegel, was bisher nur sehr wenige Tiere geschafft haben, für uns Menschen aber ab dem Kindesalter von 15-24 Monaten völlig normal ist. Die Entwicklung des Ich's kann in der Gehirnentwicklung nachvollzogen werden. Die Funktionen des Ich's sind: (1) das Zuschreibungs-Ich; (2) das Handlungs-Ich und Willen-Ich; und (3) das Interpretations- und Legitimations-Ich.

Während das Ich auf einen bestimmten Wahrnehmungszustand zurückverfolgt werden kann, entsteht Persönlichkeit aufgrund der emotionalen Befindlichkeiten während des Gehirnwachstums. Der Zusammenhang zwischen Lernen, d.h. emotionalen Zuständen, die aus emotionalen positiv- oder negativ konditionierten Phasen herrühren, und vom Wechselspiel zwischen limbischem und cortico-hippocompalem System herrühren, erschaffen bei jedem Menschen individuell unterschiedliche Wahrnehmungs- und Bewusstseinszustände, sowie unbewusste Affekt- und emotionale Befindlichkeiten. Diese sind früh geprägt und in ihren Grundzügen stabilisiert. Sie ändern sich im weiteren Verlauf des Lebens wenig. Die Faktoren der Persönlichkeit sind Extraversion, Verträglichkeit, Gewissenhaftigkeit, Neurotizismus und Offenheit für Erfahrung. Da Persönlichkeit im Lernen von emotionalen und Wahrnehmungszuständen entsteht, ist im Gegensatz zur Ichentwicklung, die Persönlichkeitsentwicklung stark von der äußeren Umgebung abhängig. Die frühkindliche Erfahrung in der Mutter-Kind Beziehung prägen das emotionale Gerüst zwischen Schutzbedürfnis und Geborgenheit, ähnlich wie Enten- und Gänseküken geprägt werden. Und sorgen damit später für die Möglichkeit Gefühle und Motive von anderen einzuschätzen, sein eigenes Verhalten richtig zu verstehen und soziale Beziehungen einzugehen.

Verstehen und Sprache hängen eng zusammen. Während das Sprachverständnis in einem langwierigen Prozess erlernt wird, kann das Verstehen von Sprache auf neurophysiologische Prozesse zurückgeführt werden. Ein Teil dieser Prozesse sind evolutionär bei Menschen hervorgegangen, vor allem im vorderen Teil des Broca Areals (Areal A45), indem dem Sprachvermögen gesteigerte Funktionen des präfrontalen Cortex hinzugefügt wurden. Neben der sprachlichen Kommunikation spielt beim Verstehen auch die nichtsprachliche Kommunikation, vor allem die Verarbeitung von Gesichtern im superioren temporalen Sulcurs (STS) und okzipitalen Gyrus fusiformis, sowie die Erkennung von Gesten eine Rolle (vgl. Tomasello).(4) Sprachliche und nichtsprachliche Symbole werden im Wernicke-und Broca Sprachzentrum erzeugt. Innerhalb der Kommunikation kann es zu vielen Vermittlungsproblemen kommen, deren Konflikte vom Individuum in seinen Erklärungen logisch stringent gemacht werden.

An dieser Stelle erscheint von Roth eine Einsicht, dass er nicht alles erklären kann und dass es trotzdem etwas neues geben muss. Roth fragt sich am Ende des Buches, ob es mehr gibt, als die Physis, Gedächnisinhalte und sprachlich vermittelte Existenz. Er stellt die Frage nach der Hintergrund der sozialen Existenz. Das neue in seiner Interpretation der neuronalen Prozesse ist das Soziale! Nicht alles lässt sich auf hirnphysiologische Prozesse reduzieren. Es muss noch etwas anderes geben. Etwas, was nicht im Körper des Menschen auffindbar ist und auch nicht durch Funktionen des Körpers erklärt werden kann. Zwei einzelne zu untersuchende Individuen sind nicht das gleiche, wie zwei Menschen die sich kennen und unterhalten.

Wie beim Bewusstseinsbegriff versucht Roth den Handlungsbegriff auf in neurophysiologische Vorgänge zurückzuführende Zustände aufzuteilen. Er bezieht sich darin auf Heckhausen. Handlungen teilen sich in Motive, Intentionen, Umschauphasen, Handlungsphasen und Bewertungsphasen. Diese Phasen können nun in hirnphysiologische Phasen zurückgeführt werden, wie Selektion, Planung, Realisierung, Management usw. Diese Funktionen werden hauptsächlich dem präfontalen Cortex und auch dem orbitofrontalen Cortex zugeschrieben. Sie können nebeneinander existieren. Je nach Automatisierungsgrad erstreiten sie sich einen Teil des Arbeitsgedächnisses. Dabei werden mehrfach Schleifen in der Dorsalschleife in den supplementär -motorischen, parietalen Arealen und in den Basalganglien vor motorischen Handlungen durchlaufen. Die Entscheidung dazu wird in einer ventralen Schleife getroffen, zwischen zwischen dem orbitofrontalen und anterioren cingulären Cortex. Wünsche, Ideen und Pläne werden dort erschaffen. Die geschilderten Vorgänge sorgen für eine Zeitverlauf, in dem das Bereitschaftspotential gemessen werden kann, bevor Personen ihre Bereitschaft zu einer Handlung überhaupt wahrnehmen. Die Zeitabläufe in der Dorsal- und Ventralschleife werden nicht bewusst wahrgenommen. Willkürhandlungen, also willentlich erzeugte Handlungen ohne Planung können so erklärt werden.

Auch wenn es etwas schwierig wurde, strukturiert und sehr funktional zuging, mir war es wichtig, das klar dazulegen. Es geht um wissenschaftliche Sprache. Hintergrund ist das Erlebnis von Sprache für den Leser, das meiner Meinung nach das Erleben von wissenschaftlichen Texten als Medium betrifft. Es geht darum nachfühlen zu können, was Roth versucht auszudrücken, so dass ich später besser auf seine Argumente eingehen kann. Der Inhalt ist nur insofern wichtig, als die Struktur seiner Abhandlungen nicht nur aus wissenschaftlicher Logik besteht, sondern auch aus erlernten Rollen, sprachlichen Konventionen wissenschaftlicher Diskurse und unterschwellige Ansprüche an den Leser oder Zuhörer. All dieses macht einen wissenschaftlichen Text aus. Natürlich ist mir bewusst (und das mit dem erweiterten Bewusstseinsbegriff), dass ich ganz bewusst argumentativ Dinge aus seinem Text hervorhebe und für meine Argumentation gebrauche und das diese Arbeitsweise auch argumentativ gegen mich verwendet werden kann. Gerade das macht den Inhalt einer Interpretation aus. (5)

Zuguterletzt setzt sich Roth mit dem Begriff Willensfreiheit auseinander. Es geht um einen Versuch Benjamin Libets. In diesem Versuch werden die Signale eines Elektromyograms (EMG) zur Anzeige von Muskelaktivität zeitlich mit den bewusst wahrgenommenen Willensentscheidungen zu einer Bewegung der Testpersonen in Beziehung gesetzt. Ergebnis des Versuchs ist, dass der Willensentschluss zeitlich dem Bereitschaftspotential des Muskelaktivität folgt (500 – 1000ms). Die Muskeln sind zeitlich schon aktiv, bevor der Mensch seine eigene Entscheidung wahrnimmt. Neurophysiologisch lässt sich das so interpretieren, dass die Entscheidung für eine bewusste Bewegung z.B. einer Hand, im Gehirn schon getroffen ist, bevor der Proband diese bewusste Entscheidung, als Entscheidung für diese Bewegung erlebt. Der Prozess des Bewusstseins braucht eine gewisse Zeit um seine Meinung zu bilden. Aber dieser Zeitverzug von 500 – 1000ms wird von uns im täglichen Leben normalerweise nicht wahrgenommen. Daraus folgt, dass die Willensentscheidung nicht völlig frei ist. Dass ich als Person nicht völlig frei über meinen Willen verfügen kann. Roth schließt daraus, dass der Willen, der Willensakt und Autonomie Funktionen sind. Das Gefühl der Willensfreiheit basiert nicht auf einer wirklichen Willensfreiheit, sondern setzt auf einem Gefühl auf, welches dieses uns instruiert. Die Autonomie des Menschen ist nicht das selbe wie die Willensfreiheit. Sondern die Autonomie ist eine Forderung des menschlichen Handelns, die erst funktionieren kann, wenn wir ein Gefühl für Willensfreiheit haben. Ein Mensch muss autonom agieren können, um seine Funktionen innerhalb sozialer Gruppen zu erfüllen. Das Gefühl der Willensfreiheit ermöglicht ihm, so zu denken und zu handeln, dass seine Handlungen auf seinen Willen zurückgeführt werden können. In Wirklichkeit ist es aber das emotionale System was ihn motiviert, das motorische System, was eingeübte Bewegungen vorweg greift und das unbewusste limbische System, welches aus Erfahrung Entscheidungen vorwegnimmt. Die Aufgabe des bewussten Denkens ist die rationale Zurückführung von Entscheidungen auf den eigenen Willen. Die Verantwortlichkeit von Handlungen ist für ihn ein Erziehungsprodukt der Gesellschaft

Unabhängig davon welche Problematik diese Definition von Willensfreiheit mit sich bringt, ist sie doch parallel zu den Definitionen von Bewusstsein, Ich und Persönlichkeit entwickelt worden. Die Begriffe werden differenzierter und spezifischer gefasst, als Funktion verstanden und in Nähe von gemessenen Funktionen im Gehirn gebracht. Das ist möglich, weil seit der Aufklärung der Mensch und seinen Handlungen als Funktionen parallel zu physikalischen Phänomenen verstanden werden können. Weil die Sprache die Möglichkeit hat Ausdifferenzierungen zuzulassen und mit visuellen Vorstellungen zu verbinden. Und weil es strategisch einen beweisenden und erklärenden Vorteil hat Phänomene an ihre physikalische Basis binden zu können. Die Phänomene verlieren damit ihren mystischen Charakter und gehen in ihrer funktionalen Sichtweise auf. Gleichzeitig wissen wir aus unserer Erfahrung, dass eine funktionale Darstellungsweise dazu berechtigt innerhalb ihres logischen Hintergrunds weitergehende Zusammenhänge aufzudecken. Durch wissenschaftlich forschende Tätigkeit.

Anhand von Beispielen aus der Psychoanalyse, der soziologischen Theorie des Konstruktionismus und einer Bewusstseinstheorie der Neurophysiologie habe ich versucht darzustellen, was das Denken des Einzelnen ausmacht. Es sind einzelne Parallelen in der theoretischen Darstellung, wie der wissenschaftlichen Sichtweise festzustellen. Gleichzeitig hoffe ich, dass ich mit der Darstellung relativ nahe an den aktuellen Vorstellungsweisen argumentiert habe, die das wissenschaftliche Geschehen ausdrücken. Es ist eine funktionelle Sichtweise des Menschen, in der die menschlichen Eigenschaften sehr differenziert beschrieben werden und dabei in logischen Beziehungen zueinander gesetzt sind. Es ist sichtbar, dass die einzelnen wissenschaftlichen Schulen Gedanken voneinander verwenden. Gleichzeitig aber auch aus einem eigenen Zusammenhang heraus betrachten, was trotz ähnlicher Gedankengänge zu einer Differenzierung der wissenschaftlichen Schulen führt. Auch wenn die Aufklärung im Hintergrund immer wieder unsere Betrachtungsart in moderner Weise beeinflusst, so ist doch im Bezug zu den anfänglichen Fragestellungen keine zufriedenstellende Antwort zu finden. Aus einer alleinigen Betrachtungsweise des Individuums und seiner Denkvorgänge, sowie der Möglichkeit, das die individuellen Symbole in die Kultur eingebracht werden, diese irgendwie konstruieren, können wir keinen zufriedenstellenden Zusammenhang zwischen der Kultur und der Technik erkennen. Natürlich sind Ansatzpunkte da und aus den einzelnen Theorien lässt sich sicherlich einiges konstruieren. Doch es fehlt der allgemeine Zusammenhang, in dem auch die Wissenschaft und der Wissenschaftler, der die Konstrukte baut, enthalten sind. Ansonsten würde hier jede abgeleitete Ethik den Geruch der persönlichen Machtmissbrauchs oder des zufälligen Beweises haben.

Um die mangelhafte Tragfähigkeit der bisherigen Ansätze zu zeigen, möchte ich als Beispiel das Problem des Einsatzes von genetischen Methoden in der Krankheitsbekämpfung hinterfragen. Dabei werde ich vom Ansatz der Theorien her vorgehen. Das Positive der medizinischen Genetik ist die Möglichkeit neuer Behandlungsmethoden schon bekannter Krankheiten, die Vereinfachung und Verbesserung neuer Methoden, sowie das verbesserte Erkennen neuer Krankheiten. Auch kann durch die Genetik Krankheiten vorgebeugt werden. Die Nachteile sind die Benachteiligung sozial Schwacher, die sich neue teurere Behandlungen nicht leisten können, die unbekannten Auswirkungen bewusster genetischer Veränderungen am Menschen und die zukünftige Möglichkeit Menschen anhand ihres genetischen Potentials noch vor Ausbruch von Krankheiten als Person abzuwerten. Auch können einzelnen Menschen, durch die Lizenzierung genetischer Codes, ohne das diese die Mittel haben sich zu wehren, der Besitztum am eigenen Körper entwendet werden.

Nach Freud sind die gesamten geschilderten Implikationen auf den Kampf der einzelnen Triebe der beteiligten Individuen zurückzuführen. Moralische Vorstellungen, was ja unsere Tun zielgerichtet beeinflussen sollte, entstehen insofern, als das Über-Ich und das Ich des Einzelnen, Eros und Todestrieb zügeln und aus diesem Kampf heraus eine Meinung bilden. Natürlich würde mir hier jeder Psychoanalytiker widersprechen, denn was in einer Analyse stattfindet ist zutiefst moralisch. Aber diese Moral, der Offenheit gegenüber den Trieben, dem eigenen Selbst gegenüber, die Freiheit schätzt und trotzdem ihre menschlichen Grenzen über gedankliche Symboliken setzt, entsteht aufgrund des Schätzens des mir gegenüber stehenden Anderen. Das entsteht nicht aus der Theorie, sondern aus dem Menschen, die damit umgehen und die Vorteile der Theorie nutzen und damit sich klären und stärken. Die moralische Instanz der Psychoanalyse sind ihre Mitglieder und das, was sie gemeinsam schätzen an der kognitiven Verarbeitung paradoxer Gefühle.

Nach Gergen ist das Bewusstsein des Einzelnen eine soziale Konstruktion, die wiederum aus dem Gemeinsamen, was wir erschaffen, entsteht. Die Wirklichkeit einer genetischen Behandlung mit ihren positiven oder negativen Auswirkungen wäre eine Konstruktion zwischen Patient, Arzt und medizinischer Wissenschaft. Das Gute und Wahre in der Problematik entsteht durch Kommunikation der daran beteiligten Gruppen. Das können auch weitergehend Politiker, Interessengruppen, Nichtmediziner usw. sein. Alle, die ein Interesse dort einbringen und mithelfen das Richtige oder das Falsche dort zu finden. Und zu konstruieren. Das ethische an dieser Sichtweise ist ihre Distanz. Der Betrachter einer konstruierten Welt ist selbst zwar funktional eingebunden, aber vom Denken her ein Außenstehender. Gergen fällt es leicht, eine gewisse Distanz aufrecht zu halten und gleichzeitig ein wenig Wärme auszustrahlen. Das ist auch kein Problem. Bei der Betrachtung eines Problemfeldes ist das negative immer viel beeindruckender als das positive. Das Negative ist das uns angreifende und das Positive wird für selbstverständlich gehalten. Jemand der eine Distanz aufbaut ist daher an sich schon positiv geerdet. Und wenn er dann auch noch in seiner Autorität die Dinge betrachtet, fühlt man sich geschützt vor den schlechten Dingen. Funktionale Distanz schafft Sicherheit. Manchmal fällt uns das auch als sehr westliche Sichtweise auf. Ich glaube das liegt eher an der Distanz, die wir zu wirklichen Problemen haben. Wir lernen distanziert Wissenschaft zu betreiben, weil damit die positiven Aspekte hervorgehoben werden.

Trotzdem sollten wir das nicht zu sehr verurteilen, denn das positive der Theorie von Gergen ist eine differenzierte Sichtweise auf die Dinge und aus ihrer Distanz auch ein moralisches Heraushalten aus den Dingen. Wie bei der Psychoanalyse mit ihren positiven ethischen Aspekten der Offenheit, sprachlichen Wertigkeit und Gefühlsbetontheit, ist auch bei Gergen der Freiheitsbegriff wichtig. Trotz Konstruktionismus oder starrer sprachlicher Symbole der Psychoanalyse sind beide Theorien ohne einen großen Freiheitsgrad der beteiligten Individuen nicht vorstellbar. Beide Theorien brauchen ein selbstständiges, kritisches und offenes Denken, weil sie beide von der Vorstellungskraft ihrer Vertreter leben.

Aus der aufgebrochenen Einzigartigkeit des Menschen, der physischen Basis des Bewusstseins und der funktionalen Dekonstruktion der Willensfreiheit lässt sich auch keine Moral herauslösen, die die Problematik der genetischen Medizin aufbricht. Roth's zentrale These, dass die gesellschaftliche Natur des Menschen nicht ohne die biologische Natur des Menschen erkannt werden kann, ist im Kern sicherlich wahr. Aber die biologische Natur des Menschen ist genauso wie die Triebstruktur des Menschen nur eine hinreichende Bedingung zum Erkennen der gesellschaftlichen Natur. Unter mehreren andern, die noch zu ergründen sind. Auch wenn man sich ein pyramidenartiges Gebäude vorstellt, in dem oben die Spitze die Gesellschaft vertreten ist und von der Basis der biologischen Bedingungen getragen wird. So heißt das nicht, das die Form der Spitze alleine durch die Betrachtung der Basis hergeleitet werden kann. Genauso wenig, wie das Nebeneinandersetzten von ein paar Steinen ein Volk befähigen würde Pyramiden zu bauen. Bei der Vorstellung einer Pyramide spielen viel mehr Dinge eine Rolle, als bei der reinen Vorstellung einer geometrischen Figur. Man darf nicht die funktionale Vereinfachung mit ihrer Gesamtkomposition verwechseln. Die ethischen Ansprüche bei Roth lassen sich auf den Anspruch reduzieren ein wissenschaftliches Gebiet auszuweiten und auf wissenschaftlichen Erkenntnissen eines Gebietes aufzubauen. Wie bei der Pyramide werden bei Roth die Hintergründe funktional vereinfachend bei der Betrachtung des Bewusstseins ausgeblendet. Was ausgeblendet wurde ist der wissenschaftliche eigene Anspruch und die Vielfältigkeit des Begriffes vom Bewusstsein. Die dahinterliegende Ethik der Biologie und ihrer Forschungsmethoden ließe sicherlich auch eine Ethik zu, die als Diskussionsgrundlage der genetischen Medizin gelten könnte. In ihr würde die positiven Merkmale besonders hervorgehoben. Aber das ist nur eine spezifische Sichtweise, die weder den gesellschaftlichen Hintergrund betrachtet, noch zutiefst menschliche Beweggründe beachten würde. Was beides meiner Meinung nach für eine moralische Bewertung von Nöten ist. Somit bleibt die Problematik der genetischen Medizin bis zu diesem Teil meiner Ausführungen – ungelöst.

Das bedeutet, die reine Betrachtung des Bewusstseins, des Denken des Einzelnen hat keine Möglichkeit in die moralische Sichtweise einer Problematik einzusteigen. Es bleibt immer individualistisch und spezifisch. Sicherlich können alle diese Theorien gute Argumente liefern. Aber nicht Sichtweisen, die die Argumente bewerten.

In diesem Sinne möchte ich noch weiter ausholen und die Frage stellen, was Menschlichkeit überhaupt ausmacht und wie sie entsteht.


Virtuelle Ethik

Подняться наверх