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3. Was bedeutet menschliches Erwachen in der Zivilisation?

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Nachdem ich in den vorherigen Kapiteln versuchte, das persönliche der Person, das Bewusstsein, das Ich in modernen Deutungen zu umschreiben, werde ich nun im nächsten Schritt das Soziale angehen. Oder die Frage stellen, was passiert, wenn mehrere Personen etwas zusammen tun? Was sie eigentlich immer tun, denn auch wenn eine Person alleine für sich handelt, z.B. als Robinson Crusoe, so können wir ihn trotzdem immer verstehen. Er ist uns nicht fern. Genauso, wie wir ihm nicht ferne sind. Jede Person ist immer und irgendwo mit anderen Personen verbunden. Sei es in Gedanken, Gefühlen, in seiner Geschichte, seiner Biographie, seiner Schule, seiner Kindheit, seinen Wünschen und Befürchtungen. Eine Person, die damit aufhört, ist keine mehr. Wir könnten sie nicht mehr verstehen. Diesen Zusammenhang nenne ich Menschlichkeit. Und damit meine ich, Mensch zu sein bedeutet alleine zu sein und gleichzeitig auch mit allen anderen zusammen zu sein. Mensch zu sein bedeutet im Sinne Mensch zu sein. Und in der Zeit mit anderen verbunden zu sein. Aus Geschichte, Erziehung, Genese, Evolution..

Hier stellt sich die Frage, wie konstituieren Menschen sich untereinander? Natürlich können wir behaupten, das wäre nicht so. Menschen sind Einzelwesen, jeder für sich unabhängig und quasi per Entscheidung auch in der Möglichkeit sich für andere zu entscheiden. Und Familien, Gruppen, Nationen und Staaten entstehen, weil wir uns für sie entscheiden und das im Zusammensein wollen. Doch genau dieser Gedanke des Unabhängigseins ist nur eine Grenze, die wir ziehen um unser Leben zu schützen, um als Person bestehen zu können. Wir lernen diesen Gedanken schon früh in der Kindheit, er gehört zu unserem Bewusstsein, zu unserem Ich. Er ist unabdingbar für Entscheidungen und trotzdem … Was wäre die Alternative? Dissipative Muster von Einzellebewesen, die per Zufall etwas höheres erschaffen? Für mich undenkbar. Jeder Mensch, der vor dieser Frage steht, hat überhaupt gelernt zu sprechen, zu kommunizieren, logisch zu denken, sich selbst zu denken, sich unter anderen als Person zu denken – und dann kann er diese Frage überhaupt erst stellen. Für jeden Menschen ist die Frage eine zutiefst pragmatische Fragestellung, die er benötigt um unter anderen Menschen ein Ich-Selbst zu sein. Die Frage, wie unabhängig wir Menschen sind, ist eine zutiefst menschliche Frage. Und die Antwort kann nicht sein, dass wir uns für eine Seite entscheiden, sondern dass wir uns fragen, wie es zu dieser Unterscheidung kommt. Zu der Frage, was bedeutet es Unabhängig zu sein? Was bedeutet es Mensch in beider Bedeutung zu sein? Sobald wir Sinn und Zeit in die Frage nach der wirklichen Unabhängigkeit stellen, stellt sich die Frage anders: Wie erreichen wir menschliche Freiheit? Und damit sind wir in einer geistigen Bewegung, die bedeutet nicht alleine und doch verantwortlich zu sein für das, was wir tun.

Wie sie sehen, sind wir bei dieser Fragestellung sehr schnell bei gewichtigen Symbolen. Freiheit, Menschlichkeit, Sinn, Zeit, Verantwortung. Und versuchen diese in einen logischen Zusammenhang zu bringen. Das dies nicht gelingt, liegt nicht daran, dass diese Begriffe nicht zusammengehören, sondern ist darin begründet, dass diese Dinge aus pragmatischer Sicht in der Kommunikation untereinander entstehen. Wir erleben sie tagtäglich. Aber das bedeutet nicht, das die Zusammenhänge logisch wären oder logisch zu beschreiben. Wie denn auch? Wenn wir unabhängige Wesen in einem menschlichen Zusammenhang sind, so ist das was dort passiert unser Erleben. Von jedem Einzelnen das Gemeinsame im Erleben. Das ist aber nicht das gleiche, wie das was uns verbindet oder unser Zusammenleben begründet. Das können wir gar nicht sehen, denn es findet auf einer anderen Ebene statt. Auf der Ebene des Gemeinsamen. Und die sehen wir Einzelwesen nur von außen.

Diesen Zusammenhang habe ich zuerst bei Pierre Bourdieu verstanden. Ich bin ihm sehr dankbar dafür, dass er mir dort die Augen geöffnet hat. Was bei mir der Zusammenhang von Logik und Pragmatik ist, was bei Habermas System und Lebenswelt heißt, ist bei Bourdieu der Zusammenhang von Theorie und Praxis. Es ist das Verständnis, dass man die Dinge nicht trennen kann ohne die Substanz darin aus den Augen zu verlieren.

Bourdieu umschreibt das so, dass Objektivismus und Subjektivismus Rituale der Wissenschaft sind, in denen zwischen der praktischen Beherrschung der Realität und einer verzauberten Objektivität der Praxis unterschieden wird. Das bedeutet für ihn, dass jede wissenschaftliche Praxis eine Theorie der Praxis und die Erfahrung der Praxis mit einschließt. Darin bedeutet Objektivtät einen sozialen Mechanismus, der aus Alltagswissen Klassifikationen und Defnitionen konsturiert. (6)

Dies, die Trennung des wissenschaftlichen Verständnisses von Praxis und der Erfahrung von Praxis, funktioniert, weil er vorher 3 Erkenntnisweisen unterscheidet:

 - Die phänomenologische Erkenntnisweise als Explikation der primären Erfahrung mit der sozialen Welt, als selbstverständliche Vertrautheit mit der Welt und deren Möglichkeiten

 - Die objektivistische Erkenntnisweise als Frage nach den besonderen Bedingungen der Möglichkeit der Wirklichkeit selbst, als strukturierte, rationale und sprachliche Beschreibung der vertrauten Welt.

 - Die praxeologische Erkenntnisweise als Umgang mit den Beziehungen dieser Strukturen in der Objektivität, als Kreisförmiger Prozess zwischen Praxis und ausgedrückter Objektivität.

Voraussetzung für diese Unterscheidung sind seine ethnologischen Erkenntnisse aus vorausgegangenen Untersuchungen der kabylischen Gesellschaft in Algerien. Die Untersuchungen aus den Jahren 1960-65 und deren Auswertungen bis 1972 zeichnen sich durch ein intensive Auseinandersetzung mit einer Kultur aus, einer starken Verflechtung mit ihrer Sprache, durch eine inhärente Bewunderung ihrer ordnenden Sprache und Weltsicht. In den Interpretationen gelingt es Bourdieu aus ihrer sehr praxisbezogenen und ordnenden Weltsicht, die sich auch in ihrer Sprache niederschlägt, immanente Hinweise auf Ordnungsstrukturen herauszulösen, die sich auch auf moderne Gesellschaften beziehen lassen. Zentraler Punkt bleibt der Begriff der Praxis.

Seine zentrale These lautet, dass eine wissenschaftlich strenge Theorie der Praxis nicht von den praktischen Handlungen der Wissenschaftler, die die objektivistischen Strukturen als Theorie konstruieren, getrennt werden kann.

Kurzum, es gibt für den Ethnologen keinen Unterschied zwischen Theorie und Praxis. Der Unterschied der in der Wissenschaft so schwerwiegende Probleme für den ausübenden Wissenschaftler schafft und in seiner Sozialisation eng damit verwoben ist, um ihn zu erschaffen, existiert nicht. Jeder kennt den Unterschied und die Schwierigkeiten, die es ausmacht statistische Zahlen zu erheben und auszuwerten. Es ist ein sehr schmaler Grad, der erlernt werden will um dort zwischen Theorie und Praxis zu unterscheiden.

Anstatt behauptet Bourdieu, dass es eine Theorie der Praxis gibt, in der uns beigebracht wird, was Praxis bedeutet. Und das ist etwas anderes, als die Praxis, die wir als Wissenschaftler haben, um damit umzugehen. Bourdieu legt einen Finger an eine für die Wissenschaft wunde Stelle. Jeder, der damit umgeht, kann das genau nachempfinden, hat aber auch gelernt, es auszublenden um nachprüfbare formale Ergebnisse zu liefern. Bourdieu ist nicht nur ein Ethnologe, der sich mit der kabylischen Gesellschaft auseinandersetzt, sondern für ihn ist es nicht hinnehmbar, dass objektive Auswertungen gesellschaftlicher Untersuchungen zu für ihn falschen Ergebnissen kommen. Er ist gezwungen auch seine eigene Gattung, die des Wissenschaftlers zu untersuchen. Erst mit seinen erlernten ethnologischen Instrumenten, dann mit neuen geschärften, die er braucht, um eine höhere Stufe der Objektivität zu erreichen.

Bourdieu hat sich nicht nur mit der Gesellschaft und Sprache der Kabylen beschäftigt, sondern auch mit der Kultur und Sprache der Verhaltenswissenschaft. Er hat die Erkenntnisse aus beiden kulturellen Bereichen verbunden und damit nicht nur die hierarchischen Elemente der kabylischen Gesellschaft untersucht, sondern auch die Herrschaftsstrukturen und Herrschaftsdiskurse innerhalb der Wissenschaft. Und das aus dem Blickwinkel des Ethnologen. Daher sind seine Untersuchungen nicht nur im ethnologischen Teil so puristisch genau und jedes Detail aufzählend, sondern auch im philosophischen und wissenschaftstheoretischen Teil so präzise und vielfach auf Quellen bedacht. Bourdieu kämpft um seine Reputation und ist sich seiner revolutionären Ideen bewusst. Beides, die überzeugenden intensiven ethnologischen Untersuchungen und sein verzweifelter Kampf um wissenschaftliche Grundlagen machen seinen Reiz aus.

Das möchte ich an einem Beispiel erklären.

Der kabylische Kalender besteht aus einem Netzwerk von Regeln, die mit Symbolen verbunden sind. Diese sind vom Wettergeschehen, vom Zustand des Bodens, vom bestimmten Aufeinanderfolgen von Wetter und Fruchtzustand abhängig, aber auch vom Haus des Säenden, vom Zustand der Familie, von Zeiträumen wie Saat, Keimung, Brachlegung, Trocknung. Die Symbole sind eingebunden in mythische Wechselwirkungen wie Unten/Oben, Weiblich/Männlich, Innen/Außen, Dunkel/Hell, Kalt und Warm. Es ist die Praxis von dem, was in der Landwirtschaft erlebt wird, verbunden mit dem Erlebnis der Jahreszeiten, der Frucht, dem Boden, dem Haus, der Familie und der Dorfgemeinschaft. Symbolisch dargestellt in Gegensätzen und symbolischen Regeln und Werten. Ein mit der Uhrzeit verknüpfter zeitlicher Ablauf spielt dort keine Rolle. Der Agrarkalender ist sehr an die realen Bedingungen geknüpft und nicht an Jahreszeiten, die bemessen werden. Eine Interpretation dieses Kalenders an einem zeitlichen Rahmen und der vielfältigen Verknüpfung der Symbole führt zu einem falsch dargestelltem abstrakten Abbild. Auch wenn es in unserer Sichtweise klar ist, dass der Kalender sich jedes Jahr auf gleiche Weise wiederholen muss, führt eine Interpretation aus dieser Sichtweise zu falschen Ergebnissen.

Bourdieu analysiert die Interpretationen des Agrarkalenders der Kabylen und führt sie ad absurdum. Nach ihm werden folgende Fehler bei den Interpretationen gemacht. Beim Begriff lah?lal darf nicht von einem festen Zeitabschnitt dir Rede sein, weil damit ein pragmatischer Zeitraum der Feldbestellung und Aussaat gemeint ist, der sich nach der Natur richtet. Er unterscheidet bei lah?lal zwischen lakhrif, der Feldbestellung, la'laf, der Sonderbehandlung der müden Ochsen, elyali, dem Tiefpunkt des Winters, wo manche Arbeiten unstatthaft sind (h?aram). Wie z.B. lah?lal lafth, wo weiße Rüben gesät werden dürfen oder lah?lal yifer, wo die Feigenbäume abgelattet werden dürfen. Er erklärt verschiedene Begriffe (thimgharine, thamgarth, amerdil, Ai?n Aghbel, furar zu maghres, und viele mehr), die Zeitabschnitte benennen, ohne das damit feste Zeitabschnitte gemeint sein, sondern sie werden aus der Natur abgelesen. Bourdieu kritisiert das standardmäßige wissenschaftliche Vorgehen einer Analyse des Kalenders, weil in ihnen praktische Widersprüche der Regeln mit mathematischen oder rhetorischen Mitteln eingeebnet werden um die theoretische Konstruktion eines Kalenders der Kabylen logisch strukturiert erscheinen zu lassen. Wobei dieser keine Logik in sich besitzt, sondern von praktischen Erwägungen in der Landbearbeitung geleitet ist. Er wettert dagegen, dass dies nicht einer wissenschaftlichen Profession entspricht, sondern einer Verbiegung des Gegenstandes der untersucht wird.

Er geht noch tiefer in die Kritik funktionalistischen Denkens. Für ihn bedeutet der Begriff der Praxis die immanente Logik eines zu beschreibenden Vorgangs auflösen, aus ihren praktischen Selbstverständlichkeiten herauslösen zu können. Jeder Wissenschaftler ist dadurch, dass er gezwungen ist in einem wissenschaftlichen Diskurs zu bestehen, auch immanent in der Ebene der rituellen Praxis der Wissenschaft gefangen und damit gezwungen der Wahrheit logische Zusammenhänge hinzu zu konstruieren, damit diese in der Logik der Theorie bestehen kann. Eine wirkliche Wissenschaft dagegen kann alleine nur die Beziehungen zwischen den zu analysierenden Gegenständen beschreiben.

Bourdieu trennt sich von einer funktionalistischen Sichtweise des Kalenders und schildert den kabylischen Kalender existierend auf einer Basis von praktischer Logik, mystischer, kosmologischer und geometrischer Komponenten, vom Umgang mit Übergängen und Gegensätzen, Unbestimmtheit, welche Symbole, Riten und mystische Elemente haben hervorbringen lassen. Zuguterletzt weist er noch auf Deutungsfehler hin, die aus den Fragestellungen nach Zeit gründen und eine Bevorzugung von islamischen Elementen der Sprache durch frühere Forscher zeigen. Allein die Frage an einen Kabylen „..und dann?“ führt zu einer Antwort, in der der Gefragte versucht seine Zusammenhänge in einen zeitlichen Rahmen zu zwängen, der in seinen Lebenszusammenhang nicht existiert, um der Fragestellung des Forschers genüge zu tun. Und da diese Fragestellungen sich leichter durch arabische Begriffe für den Gefragten erklären lassen, die eher einem zeitlichen Verlauf darstellen können, was wiederum nicht dem Wert der gesprochenen Sprache der Kabylen entspricht, werden die Darstellungen allein durch die Sprachwahl der Kabylen verzerrt. Für die bisherigen Forscher war auch das Arabische leichter zu verstehen und es folgten Erklärungen, die die Deutung dahin legten, dass die eindeutigere funktionale Sprache des Arabischen die kabylische Sprache immer mehr verdrängen würde, da diese das Verständnis komplexere modernere Zusammenhänge ermöglichte. Was aber wiederum nicht der Wahrheit entspricht, sondern eine westliche von der eigenen Überlegenheit überzeugte Auslegungsweise ist.

Ich gehe hier noch nicht auf die von Bourdieu folgende Theorie ein. Dies wird später geschehen müssen. Denn erst ist es hier wichtig, den genauen Punkt zu finden, von dem Bourdieu ausgeht, den Punkt dessen, was ihn antreibt was er versucht zu beweisen und was er später in seiner Theorie vor uns ausbreitet.

Bei der Erforschung eines sozialen Gegenstandbereiches, geht es wie bei der Erforschung einer physikalischen Gegebenheit entweder um die Verifizierung einer Theorie – oder im Laufe der Erforschung um die Aufstellung einer neuen Theorie. Beides arbeitet sozusagen Hand in Hand. Ohne vorangestellte Theorie sind keine Tests oder Forschungsarbeiten möglich. Ohne eine Theorie ist nicht einmal klar, welches Werkzeug bei der Forschung benutzt werden kann. Das bedeutet der Forscher hat eine Vorstellung davon, womit er arbeitet. Im Laufe seiner Arbeit stellt er vielleicht neue Gegebenheiten, neue Ergebnisse fest, die ihn zwingen seine Theorie zu verändern. Oder gar eine neue Theorie aufstellen lässt, die es zu ergründen gibt. Mit Hilfe von Tests, Statistiken, Versuchsaufbauten und Versuchsreihen ,wird versucht Versuchsergebnisse zu erreichen, die genau zu den aufgestellten Theorien passen. Falls genügend Versuchsergebnisse vorhanden sind, die eine Theorie stützen, kann der Forscher diese Versuchsergebnisse veröffentlichen. Können andere anhand der genau definierten Versuchsparameter diese Ergebnisse nachvollziehen, gilt die Theorie, als in der Fachwelt bestätigt. Die Theorie wird allgemein angenommen. Dieser Aufbau hat eine strukturelle innere Logik, der kaum zu widersprechen ist und die im praktischen Leben sehr überzeugend ist. Diese Art des Forschens ist etwas anderes als bloße Herstellen eines Gerätes oder Werkzeugs, welches funktioniert. Ein funktionierendes Werkzeug trägt sozusagen seine Theorie und Versuchsparameter mit sich rum. Jeder der es auseinander baut, könnte mit genügend Vorwissen seine Funktion erraten und es eventuell nachbauen. Bei Rädern ist dies sicherlich leichter als bei Computern. Aber auch dort ist es durch Reverse Engineering möglich. Forschung durch Theorie, Versuchsreihen und Überprüfung durch Kollegen ist ein soziales Vorgehen, keine eventuelles Basteln oder Spielen wie vorher. Es ist ein durch die Jahrhunderte entwickeltes Verfahren, dass es ermöglicht wissenschaftlichen Fortschritt zu produzieren, dessen Ergebnis wir überall um uns herum vorfinden.

Die funktionale Denkweise, die diese Wissenschaft erst ermöglicht hat, folgt dem logischen Kalkül des Kausalität. Kausalität ist etwas, was man lernen und weitergeben kann. Und diese bezieht nicht nur physikalische Gegenstände und Gegebenheiten mit ein, sondern auch Personen und jedwede Handlung, die diese begehen können. Es ist eine Sichtweise die, worauf Gergen aufmerksam gemacht macht, es ermöglicht das Ich als soziale Konstruktion zu erkennen. Als etwas, was der Kausalität unterliegt. Genauso, wie die funktionale Sichtweise es ermöglicht Teile des Bewusstseins logisch funktional aufeinander zu beziehen und mit Eigenschaften zu versehen. Das menschliche Bewusstsein sozusagen auszudifferenzieren in Ich, Über-Ich, Eros und Todestrieb. Oder gar in die physikalischen Bestandteile des Bewusstseins, wie sie sich im Gehirn widerspiegeln. Im Bewusstsein des assoziativen Cortex in der Rückkopplung mit den emotionalen Zuständen des limbischen Systems. Die Auswirkungen gehen so weit, das die Menschen sich heute so verstehen, wie es die Wissenschaft ausdrückt, kausal, visuell geometrisch orientiert, in Testreihen. In Zeitschriften geht es darum, wie man seine Gehirnhälften besser ausnützen kann. In Berufseignungstests geht es nicht um soziale Fähigkeiten, sondern um visuelle Vorstellungsmöglichkeiten und Merkfähigkeiten. Kriminalfälle werden nicht aufgrund von Indizien, sondern durch logische Ketten bewiesen. Sprache wird nicht als ein Netzwerk zur Kommunikation, sondern als ein logischer Aufbau von Satzbauteilen verstanden. So ist es schon schwierig von Forscher zu erklären, wieso sich Sprachen überhaupt ändern können. Wirtschaftliche Prozesse werden aufgrund von statistischen Prozessen erklärt.

Noch ein Schritt weiter gehen in ihrer Diskussion Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, der „Dialektik der Aufklärung“. (7) Sie fragen sich, warum die Aufklärung, die Entzauberung des Herrschens in eine neue Herrschaft übergeht. Die der Objektivität. Die Aufklärung hat ihren eigenen Mythos, in der das Ich die Herrschaft an sich reißt, aber der wirkliche Herrschaftsbetrieb von der Monarchie in die Wirtschaftsführung übergeht. Die Herrschaft des Ichs ist ein Mythos des Konsums geworden und der Spruch der Objektivität dient der Herrschaft des Herrschaftsbetriebs. Alles folgt rationalen Grundeinstellungen und wirtschaftlichen Herrschaftsansprüchen. Den Arbeitern, die sich darin verlieren wird ein Sündenbock vorgestellt, der historisch leicht zu erkennen ist. Die Juden. Die Aufklärung kann die an sie herangetragenen Wünsche der Verbesserung des Menschseins nicht erfüllen, sondern in ihrer rationalen Denkweise kommt es zum effektivsten Völkermord.

Die Postmoderne macht nach Zygmund Bauman (8) daraus die Diagnose des nicht mehr Vorhandenseins von Ethik. In der Postmodernen Ethik ist die Moralität nur noch an den Einzelnen gebunden und an seine Erfahrung. Moralität kann nicht mehr auf universale Regeln gründen, weil die Regeln, die die Sprache erschaffen, unser Bewusstsein und unsere Erfahrungen binden, und daher nicht die allgemeingültigen Regeln der Gesetze bilden können. Erst die Entdeckung des Antlitzes des Anderen, worauf er sich auf Emmanuel Levinas bezieht, führt zur Entdeckung der Toleranz und einer festen Moralität. Das Erwachen der Moralität daher die Ernüchterung und das Verlassen der geregelten Welt. Ich werde auf mich selbst geworfen durch den Antlitz des anderen.

Klar wird hier, dass die funktionale Sichtweise etwas neues in der Welt der Menschen ist. Sie formt den Menschen, sein Ich und sein Bewusstsein, seine Arbeitsweise, seine Versorgung mit Gütern, seine Wissenschaft. Und – sie ist schuld an dem konsequent durchgeführten Völkermord der Juden und an der Unfähigkeit danach, nach so einem Vorfall, überhaupt über ethische Maßstäbe diskutieren zu können, ohne sich verdächtig zu machen. Weil die Diskussion darüber nur in der gleichen funktionalen Sichtweise passieren kann, wie die die daran überhaupt schuld ist. Deshalb wird überhaupt von Dekonstruktion geredet, weil es gilt etwas zu dekonstruieren. Was aber auch gleichzeitig die Basis jeder Diskussion ist. Die Aufklärung tötet ihre Kinder. Wie wahr.

Die ganze Darlegung Baumans ist eine Kritik der funktionalen Sichtweise und ihrer Beeinflussung dessen, was wir unter uns verstehen. Doch wir reden nur immer wieder über die Menschen, die Personen, das Ich, das Bewusstsein. Und gleichzeitig über die Dinge, die uns beeinflussen. Wir stehen in der Tradition der Aufklärung und reden – über uns. Wir sind in einer historischen Falle, die uns die Mystik der Aufklärung gestellt hat. Darum ist Bourdieu wichtig! Er legt den Finger auf die Sprache und fragt nach deren Hintergrund. Er drückt sich noch nicht so klar aus, aber für ihn ist wichtig, dass das Bewusstsein nicht alleine für sich entscheidet. Das Bewusstsein entscheidet in Zusammenhang mit anderen Bewusstseinen. Nicht im Zusammenhang mit einer Idee.

Die Theorie, die ein Forscher aufstellt, um sie zu verifizieren, gründet auf seiner Erziehung, seiner Erfahrung, seiner Diskussion mit den anderen. Das Urteil, dass der Forscher fällt, um zu seiner Theorie zu kommen, besteht nicht aus der Wirksamkeit eines logischen Zusammenhangs, der als Ziel, sozusagen zu der Theorie führt. Sondern der Forscher folgt praktischen Erwägungen, die ihn mehr oder minder zwingen diese Theorie anzunehmen. Dies sind die praktischen Auswirkungen des Forschungsfeldes, mit ihren zeitlichen und örtlichen Vorgaben. Den Kenntnissen, die der Forscher von dem Forschungsfeld hat. Die praktischen Erwägungen, die er eingehen muss, um als Forscher bestand zu haben, d.h. den Zwang und die Möglichkeiten des Forschungsinstitutes, den Geldern, dem Ansehen, was er erreichen möchte, den Vorteilen eine bestimmte Theorie in der Forschergemeinde vorzustellen, den Ansprüchen seiner Umgebung, seiner Familie an Zeit, Raum und finanzielle Mittel. Seiner eigenen Moralität und seinem Glauben, was in der Theorie aussagekräftig ist oder ihm unangenehm. Es sind so viele externe Einflüsse, so dass ich mich fragen muss, was davon eigentlich vom einzelnen Urteil des Forschers noch übrig bleibt. Nach Bourdieu wird die gesamte Forschertätigkeit pragmatisiert. Das logische Kalkül das letztendlich zur Theorie führt, ist der rein sprachliche Ausdruck eines pragmatisch denkenden Menschen um die Ansprüche, die an ihn gestellt wurden, zu befriedigen. Die Theorie ist ein Symbol, welches pragmatisch von den anderen Menschen angenommen wird und in ihre Welt integriert.

Die Folgerung daraus, das die Praxis nur eine Theorie der Praxis ist, mit der pragmatisch umgegangen wird, bedeutet nichts anderes, als die Auflösung des Einzelwesens, welches die Entscheidungen bisher, markiert durch die Aufklärung, getragen hat. Der Begriff des pragmatischen Umgangs ist noch unscharf, aber in seiner Theorie, die Bourdieu darauf entwickelt, wird diese präziser gefasst.

Das geht weit über die sonst so vorausschauende „Dialektik der Aufklärung“ hinaus, wo Adorno und Horkheimer Praxis als etwas betrachten, was sich aus der Theorie speist, weil die Praxis der Technik und Wissenschaft nicht alleine in der Lage ist, sich selbst kritisch in Frage zu stellen. Hier sind Theorie und Praxis noch geistige Haltungen, die nichts davon verraten. Aus Vorstellungen heraus handelt derjenige, der diese Theorien vertritt oder wie er sich zur Praxis verhält. Diese Theorie- und Praxisbegriffe sind Ansprüche an das Individuum, sich so und so zu verhalten. Es sind Herrschaftsansprüche noch im Kontext der Aufklärung.


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