Читать книгу Alle meine Kinder - Ditte Cederstrand - Страница 5
Zweites kapitel
Оглавление„Ich möchte irgendwas unternehmen“, sagte er von der Balkontür her.
„Großer Gott!“ Gunvor streckte sich im Bett aus. „Das soll doch wohl nicht heißen, daß du mit Energie geladen bist?“ „Ach was! Ich hab nur Lust zu irgendwas – irgendwas anderem. Was meinst du, wir fahren an der Küste entlang, frühstücken irgendwo?“ Er sah sie gutgelaunt an. „Das klingt ja wirklich ganz nett, aber – nein, das geht nicht! Sonntag! Du weißt doch, daß das sonntags nicht geht.“ „Sie werden schon nicht gleich sterben, wenn wir mal wegfahren.“
„Trotzdem – das können wir nicht.“
„Es ist noch früh, wir könnten das gut.“
Sie setzte sich auf, resolut, schwang die Beine über die Bettkante, erhob sich, fuhr sich durch die Haare und bohrte die Zehen in den Rya-Teppich, rekelte sich wieder.
„Das können wir nicht, wenn sie alle zu Hause sind. – Nach dem Frühstück vielleicht.“
Er wurde ein bißchen verdrossen – nach dem Frühstück, das wäre nicht dasselbe, und jetzt sollte sie das auch mal zu wissen bekommen. „Ehrlich gesagt, diese sonntäglichen Zusammenkünfte gehn mir langsam auf die Nerven. Jawohl!“
Sie sah ihn verständnislos, fast etwas zurechtweisend an. „Wir sind doch nur unter uns.“
„Vielleicht, aber all der Lärm und ihre Banalitäten, ja, und dann Harry, ich kann ihn nun mal nicht ausstehn.“
„Hör doch auf! Wir müssen das doch.“
„Was heißt müssen.“
„Doch, wir müssen!“
„Das sehe ich nicht ein. Ehrlich gesagt, ich finde es allmählich an der Zeit, daß wir das ein bißchen ändern.“ „Ändern?“ Sie sah verblüfft von der Schublade auf, aus der sie Unterwäsche hervorsuchte. „Auf was für Ideen du kommst! Wo wir es uns so nett machen. Ja, ich liebe nun mal unser gemeinsames Frühstück, überhaupt den Sonntagvormittag, wenn ihr zu Hause seid und alle durcheinander lauft und singt und trällert und spielt.“
„Krach macht, meinst du.“
„Und all das gute Essen, du – und das gemeinsam genießen, die ganze Bande. Herrlich!“
„Ich sage ja nicht, daß das nicht lustig sein kann. Aber jeden Sonntag dasselbe! – Hör mal“, kam er wieder, versuchte es noch einmal, „laß uns das machen – komm.“
„Ich will aber nicht!“ erklärte sie und schob die Schublade zu. „Dieses eine Mal in der Woche sollte man wohl ein bißchen für sie dasein können.“
Er schnitt eine Grimasse. „Uff!“
„Wir fahren anschließend“, sagte sie, suchte die restlichen Sachen zusammen und ging zur Badezimmertür. Die war abgeschlossen. „Verflixt noch mal! Nie kann man rein!“ „Da kannst du mal sehn!“
Sie setzte sich auf die Bettkante, wippte mit dem Pantoffel, blätterte wieder ein bißchen in der Morgenzeitung. Er ging zurück zur offenen Balkontür, sah hinaus, die Szillen auf dem Staudenbeet waren aufgesprungen. Frühling! – Er würde nun also irgendwas unternehmen. Konnte es nicht vertragen, daß aus selbstverständlichen Unternehmungen Zeremonien wurden. Wollte nun mal kein Gewohnheitstier sein! Ziemlich zahm schlug er vor: „Wir könnten zu Karl und Elsa fahren.“
„Besser, sie kommen her.“
„Oder wir könnten zusammen wegfahren, wir vier“, fuhr er fort. Sie erhob sich, sagte ärgerlich: „Du kommst nicht davon ab! Immer mußt du deinen Willen haben!“
„Na, na, wirklich? Ich finde eigentlich, daß ich mich nach euch zu richten pflege. Und wenn ich nun ausnahmsweise mal –“
„Aber ich hab doch gesagt, ich will nicht! – Ich liebe das Sonntagsfrühstück, wir tun das alle!“ Sie rüttelte wieder an der Tür. „Nun mach aber, daß du fertig wirst, Kurt!“ „Wo ich grade eben reingekommen bin“, tönte von innen Ries verdrossene Stimme.
„Sie!“ Gunvor sank wieder ins Bett. „Dann dauert es noch eine Ewigkeit! – Gib mir mal ’ne Zigarette.“
Er kam zu ihr und gab ihr Feuer, setzte sich einen Augenblick und legte den Arm um ihre Schultern. „Sei doch lieb. Ich muß dich heute mal ein bißchen für mich haben. Du und ich, ja?“
Sie schüttelte den Kopf. „Ich hab auch gar keine Lust.“
„Na ja, dann ...“ Er richtete sich auf, sah auf die Uhr, stand auf und ging zur Tür. „Dann rufst du an?“ – „Anrufen?“ fragte sie. – „Ja, Karl und Elsa.“ – „Das kannst du genausogut selbst machen.“ – „Wo du doch sowieso dasitzt und wartest. Ich fahre jedenfalls weg.“ – „Bring mal gleich Schlagsahne mit.“ – „Darum kann sich wohl Rie kümmern. Ich hab wirklich keine Lust, in einem stinkigen Bäckerladen Wurzeln zu schlagen.“ – „Entschuldigung!“ – „Ja, ich finde also –“
„Du liebe Güte. Im übrigen ist es ein starkes Stück, daß wir andern dafür büßen sollen, bloß weil du Harry nicht vertragen kannst. Denn du willst doch wohl nicht abstreiten, daß er der Grund dafür ist, daß du dir nichts mehr aus unsern herrlichen Sonntagen machst.“
„Quatsch. Wenn mir jemand gleichgültig ist, absolut gleichgültig, dann ist es Harry.“
„Guck mal an, wie du dich getroffen fühlst.“
„Bist du vielleicht von ihm begeistert? Seine idiotischen Witzeleien, seine –“
„Er ist der Mann unserer Tochter.“
„So was wird einem angehängt, Gott sei’s geklagt!“ Gunvor ergriff wieder die Türklinke. „Rie, jetzt will ich aber rein!“
Erik ging nach unten, pfiff ein bißchen zu laut.
Rie fuhr mit dem Fahrrad zu Pusser, um sie abzuholen. Die lag noch in den Federn und faulenzte, rekelte sich und konnte sich nicht recht überwinden aufzustehen.
„Beeil dich mal“, sagte Rie. „Mutti war sauer. Wir dürfen nicht allzuspät kommen. Wir sollen mit helfen.“
„Sie kann ja die andern anstellen.“
„Die waren noch nicht da.“
„Na, aber Marianne kommt doch.“
„Marianne? Du spinnst wohl! Die verläßt sich doch darauf, daß alles fertig ist, wenn Ihre Gnaden geruhen, sich zu zeigen. – Wenn man von der Ehe so wird, na dann prost ...“
„Ja, igittigitt – so werden wie die!“ Pusser lief es kalt den Rücken runter, und sie fügte hinzu: „Sonst geht’s ihr ja verdammt gut, so einer wie der!“ Sie schlenderten die Hauptstraße entlang. Rie schob das Fahrrad. Die Straße war voller Menschen. Einige lungerten am Kiosk herum, andere gingen zum Bäcker. Familien waren auf dem Wege zum Sonntagsessen. Vor der großen Eisbude sagte Pusser: „Läßt du was springen?“ – „Was willst du haben?“ fragte Rie und schob das Fahrrad über die Bordsteinkante. Scharen von jungen Leuten standen herum. Einige riefen „Hallo“ und „Hej“. Links von der Bude die Halbstarken der Stadt und ein paar Burschen aus der Fabrik in legeren Pullovern und Niethosen. Rechts die Ausländer in schwarzen Sonntagsanzügen und strahlend weißen Hemden.
Pusser stieß Rie an und konnte sich kaum halten vor Lachen: „Gott, haben die sich in Schale geschmissen, wie die Pfingstochsen!“ Sie wollten sich totlachen. Pusser grüßte zu einigen hinüber und antwortete auf die Zurufe der Jungen. Einer von ihnen kam mit einer deftigen Bemerkung, aber Pusser zahlte mit gleicher Münze zurück. Das Gelächter schwoll an. Der Bursche, der es einstecken mußte, versuchte die Aufmerksamkeit von sich abzulenken, indem er einen Ausländer nachahmte, einen verschlafenen Spanier mit einem gewaltigen Bärtchen über der Oberlippe, der Eis in sich hineinschlang. Er zog eine Show ab, wand sich und verrenkte die Hüften, hatte schließlich das Gelächter ganz auf seiner Seite. Rie und Pusser lachten wie alle andern und konnten sich kaum noch halten. Es dauerte eine Weile, bis sich die Gruppe auf der anderen Seite darüber klar wurde, daß sie der Gegenstand der Belustigung war. Sie verschlangen die jungen Mädchen mit den Augen. Pusser, die beide Gruppen von der Fabrik her kannte, schoß Spitzen ab, über die der Haufen links in schallendes Gelächter ausbrach, während unter den Ausländern eine gewisse Unruhe entstand. Auch Rie war ganz aus dem Häuschen, die Tränen kullerten ihr über die Wangen, sie bog sich vor Lachen. Das mußte man gesehen haben! Allmählich begriffen die Fremden, standen jedoch immer noch todernst da wie dunkle Schatten und leckten ihr Eis. „Eine richtige Begräbnisgesellschaft“, japste Pusser. Rie mußte natürlich quietschen über diesen Vergleich. „Begräbnis! Hihihi!“
Ein paar Ausländer versuchten mitzulachen, aber dadurch wurden die andern noch unbeherrschter.
Ein Paar Augen aus der Gruppe der Ausländer ließen Rie plötzlich zusammenfahren. Ernste Augen, die sie mit Verwunderung oder – war das möglich? – Geringschätzung ansahen. Verächtlich? Was bildete sich solch ein Kerl denn ein? – Ihr verging das Lachen völlig, und sie wandte den Blick ab. Legte das Geld für das Eis hin und zog Pusser am Arm: „Komm jetzt!“
„Ist wohl nicht so wild“, antwortete Pusser und amüsierte sich. „Wir sollten zum Frühstück dasein, nicht wahr?“ Das kam fast ein bißchen scharf. Als Pusser jedoch vor lauter Lachen nichts zu hören schien, sagte sie weiter: „Aber du hast vielleicht keine Lust mehr?“
Pusser fuhr herum: „Was ist denn mit dir los? Natürlich. Los, ab!“
Rie schob das Fahrrad vorwärts, Pusser winkte mit großen Handbewegungen und pflanzte sich auf den Gepäckträger. „Los gehts!“
Rie schien zu überlegen, setzte sich jedoch auf den Sattel und begann zu treten. Als das Fahrrad über die Bordsteinkante holperte, drehte sie sich um und sah zurück – die Augen folgten ihr. Sie warf den Kopf in den Nacken und jagte den Abhang hinunter, in einem Tempo, daß Pusser aufkreischte.
Auf dem Bahnhofsplatz kam ihnen Kurt mit einem anderen Langhaarigen entgegen. Pusser stieß Rie an. „Was ist denn das für einer? Den hab ich noch nie gesehn.“
„Keine Ahnung. Er schleppt wohl was Neues von seiner Sorte mit nach Hause.“
„Lieber Gott, so was Doofes.“ Pusser stöhnte.
„Ja, die müßten Strafe bezahlen, daß sie einem die Aussicht verderben.“
Kurt rief: „He, he, grüßen könnt ihr wenigstens!“
Rie mochte nicht, steigerte das Tempo. Die Jungen fuchtelten wild hinter ihnen her.
„Jetzt hab ich das Warten aber langsam satt. Viertel nach eins!“
„Herrgott, Erik, du weißt doch, daß das seine Zeit dauert“, Gunvor kam herein und überschaute alles. „Aber wir sind auch fertig. Kommt nun, kommt, kommt.“
„Worauf haben wir eigentlich gewartet?“ fragte Marianne. „Du hast wohl gesehn, daß Kurt erst eben angestiegen kam“, sagte Harry.
„Ich weiß auch nicht, warum immer auf diesen Burschen gewartet werden muß“, rief Rie aus.
„Aber jetzt sind sie doch da, weshalb holt ihr sie denn nicht?“ meinte Erik.
„Irgendeiner kann sie wohl holen“, sagte Gunvor.
„Das ist mir ganz egal, ich setze mich jetzt jedenfalls hin“, Erik pflanzte sich ans Tischende und griff nach dem Brot. „Das übliche Theater. Das geht mir langsam über die Hutschnur!“
„Sind wir vielleicht die Störenfriede?“ fragte Harry.
„Mutter hat übrigens angerufen und uns hergebeten“, hauchte Marianne.
Gunvor meinte zögernd: „Na ja, hergebeten ... Aber nun setzt euch – Elsa und Karl, ihr müßt wirklich entschuldigen.“
Karl lachte: „Die liebe Familie – wir beneiden euch.“
„Das gehört nun mal zum Sonntagvormittag.“
„Vormittag? Sagtest du Vormittag? Gleich halb zwei!“ Erik wurde ärgerlich. „Zum Kuckuck noch mal, holt die Bengel jetzt runter!“
Sie lärmten und drängelten, niemand achtete auf ihn und Gunvor. Sie hätte auch wirklich mitfahren können. Die Fahrt war sehr hübsch gewesen. Er war über eine Stunde am Strand entlanggewandert. Richtig schön! Aber wenn man dann unmittelbar danach diese Wirtschaft sah!
Gunvor huschte umher: „Aber so setzt euch doch. Vater wird ärgerlich. Beeilt euch doch ein bißchen!“
Marianne sagte: „Aber was denn, er sitzt doch schon. – Rie, warum gehst du nicht hinauf und holst sie?“
„Warum gehst du nicht?“
„Laß sie doch, zum Teufel!“ Erik kochte.
„Nein, aber Erik!“ Elsa sah ihn an.
„Komm, komm“, er gab ihr einen Schubs, „setz dich. Sollen wir beide vielleicht wegen dieser Affen krepieren, wie? – Da – oder willst du Knäckebrot?“
Als sie sich alle niedergelassen hatten, ertönte von der Treppe her ein gewaltiger Spektakel.
„Das Ballett kommt!“ rief Rie. – „Ganz von allein“, jubelte Pusser.
In der Tür erschien Kurt mit seinem Busenfreund Kim. „Hier lang, hier lang zum Trog“, schrie Kurt. Kim begrüßte Gunvor. Kurt und ein dritter kamen hinterher. Gunvor sah auf. „Wer ist denn das?“ fragte sie. „Riesig netter Kerl“, erklärte Kurt. „Ja aber, wie heißt er denn?“ – „Oluf. Luffe.“ – „Haben Sie keinen Nachnamen?“ fragte Erik vom Tischende. „Sandersen.“ – „Na, dann setzen Sie sich, Sandersen, nehmen Sie nur Platz!“ – „Ja, versperr nicht die Aussicht, man sieht ja nicht mal, was es zu essen gibt“, rief Pusser. „Und bedienen Sie sich, junger Mann“, sagte Erik, „langen Sie zu, wenn Sie was abhaben wollen. So ist das hier.“
Erik war jetzt nahezu jovial, hatte auch den ersten stillen Schnaps mit Elsa getrunken. Er konnte aber doch nicht über eine gewisse Gereiztheit hinwegkommen. Alltags dachte man ja nicht so viel darüber nach, aber heute – sie ärgerten ihn, diese Burschen. Sie brauchten so viel Platz, krakeelten, machten sich breit, benahmen sich, als wäre kein anderer im Zimmer, und sie zwangen ihn dazu, sich zu langweilen. Das war fast das schlimmste.
Nach ein paar Püffen und Spitzen von Rie und Pusser kamen sie allmählich zum Sitzen. Harry rückte demonstrativ ab. Marianne hatte einen kleinen Zwischenraum zwischen ihrem und dem nächsten Stuhl. „Aber so komm doch näher, Marianne!“ forderte Harry sie auf. Gunvor bat alle zuzulangen. – „Ja, haut rein!“ rief Kurt und wedelte mit der Hand einladend über kaltem Aufschnitt und Leckereien. Während man den größten Hunger stillte, wurde es etwas ruhiger.
So war das immer. Die Gabel in einem Heringshappen, sah Erik zu Elsa hinüber. Verstohlen lächelten sie sich zu und waren beieinander. Aller Ärger glitt von ihm ab, der Ärger über die jungen Leute, über ihren Lärm und Pop, ihre Sentimentalität und ihr Hallo. Herrgott, es war ja Platz da für alle, hier an seinem Tisch – für sie selbst, die Jungen und ihren Anhang. Elsa erhob ihr Glas, er nahm wortlos das seine. Sie lächelten nur.
„Zum Teufel, kümmelt ihr euch ganz alleine einen an?“ fragte Kurt.
„Sollen wir uns das gefallen lassen?“
„Das fehlte gerade noch!“ rief Rie von ihrem Platz. „Guck dir das an – Frühstart!“
Die Flasche ging rund. Gunvor warf etwas nervös einen Blick auf die Mädchen und die langhaarigen Gestalten. „Für jeden einen“, betonte sie. „Und dann die Flasche wieder her.“ Als sie nicht kam, erhob sich Harry und stellte sie vor Erik auf den Tisch.
Der, der Luffe hieß, sah Kurt mitleidig an. Kurt wurde rot. Daß sie einen aber auch immer blamieren mußten! Benehmen sich, als ob man ein Kind wäre! Die sollten nur wissen, jawohl! Die sollten nur wissen! Er tauschte mit Luffe Grimassen aus. Erik sah im selben Augenblick auf, bemerkte den Blick und fühlte Unbehagen. Na, nicht vergessen, daß man selbst mal jung war.
Karl sagte etwas über Eriks Beförderung und wollte darauf anstoßen. Aber keiner prostete zurück. Die Gläser der jungen Leute waren leer. „Das ist wirklich toll“, sagte Karl, „in deinem Alter.“ – „Na ja, das Alter hat man wohl mittlerweile“, meinte Erik. „Aber, ehrlich gesagt, es ist wohl so, daß man das nicht so merkt, was?“ Erik müsse verdammt tüchtig sein, doch, bestimmt. – Sie sprachen eine Weile über die Fabrik. Über die Erweiterungen, die vorgenommen worden waren. Über Aktien, die immer höher stiegen. „Bekommt mit der Zeit einen ganz schönen Wert“, sagte Karl. Kurt machte eine Bewegung. Karl meinte: „Wäre das nicht etwas, wo er einsteigen könnte?“ – „Um Himmels willen!“ rief Kurt. Aber Karl sagte: „Wenn du mal fertig bist, ein Unternehmen von dem Format, das braucht weiß Gott auch Architekten, tüchtige Architekten. – Was macht übrigens das Studium?“ Kurt murmelte etwas. „Was sagst du?“ fragte Karl. „Scheiße, zum Sterben langweilig“, sagte Kurt, diesmal mit Nachdruck. „Ja, ja“, meinte Karl, „eine gewisse Eintönigkeit müssen ja alle überstehen.“ – „Puh“, rief Pusser, „in der Fabrik landen! Nein, du, halt dir das vom Leibe! So was von Dreckhaufen!“
Erik glaubte protestieren zu müssen und fragte: „Meinst du, Pusser?“ Aber Kurt fiel im selben Augenblick ein: „Warum bleibst du denn dann da?“
„Das muß ich ja wohl, was denn sonst?“
„Lern was“, schlug Rie vor.
„Ich?“ fragte Pusser empört.
„Ja, warum eigentlich nicht?“ mischte sich jetzt auch Gunvor ein, „hast du nie Lust dazu gehabt?“
„Lust vielleicht schon, aber wie sollten wir denn das schaffen, Mutter und ich sind allein, nicht?“ Wie immer, wenn die Rede auf ihre persönlichen Verhältnisse kam, wurde Pusser unsicher, und sie fügte in forschem Ton hinzu: „Ich würde mich auch zu Tode langweilen! Dasitzen und zentnerweise idiotische Bücher durchbüffeln. Nee, danke. – Übrigens haben wir nicht von mir gesprochen, sondern von dieser Mistfabrik!“
Erik kam darauf zurück. „Was stört dich daran?“
„Alles!“
„Wie hätten wir sie denn machen sollen?“ lächelte er.
„Das kann ich doch nicht wissen!“ erwiderte Pusser gereizt, „das sollten solche Klugen wie Sie und die andern raustüfteln.“
„Das schon“, gab Erik zu, „aber ein bißchen Hilfe könnte vielleicht doch nötig sein. Ganz so wie ihr stehn wir ja nicht drin!“
„Nein, zum Kuckuck! Ihr solltet das übrigens mal versuchen, das könnte vielleicht nicht schaden. Das stinkt nämlich zum Himmel, wie verkehrt das Ganze ist! Ja, das sollte wirklich alles umgekrempelt werden. Wir machen nämlich den ganzen Dreck und ...“
„Na, du bist doch im Kinderzimmer“, unterbrach Erik sie. „Klar“, rief Kurt.
„Schnauze“, fauchte Pusser und wandte sich wieder an Erik. „Na und? Möchten Sie vielleicht an dieser beschissenen Maschine stehn, die Sie sich ausgeknobelt haben, was? Möchten Sie das vielleicht? Oder Rie hinschicken?“
Erik tat entsetzt. „Sehr ungern!“
„Da können Sie mal sehn“, sagte Pusser. „Also müßten wir Prämien haben und hohe Löhne und nicht ihr da oben!“ Karl lachte schallend: „Ja, das möchtest du wohl!“ „Ja aber, Vater“, rief Rie dazwischen, „das ist doch eigentlich richtig!“
„Bravo, bravo!“ applaudierte Kurt, „Pusser – der Reformator!“
Pusser fuhr herum: „Natürlich – mach du dich bloß lustig – so ein ... Was weißt du denn überhaupt? Du Schmarotzer!“
„Nee, das geht zu weit – blöde Gans ...“
Erik wurde etwas lauter: „Kurt, dürfen wir –“
„Los, auf die Barrikade!“ trompetete Karl.
Harry mischte sich ein: „Ich muß sagen, ich finde es völlig fehl am Platz, mit etwas so Ernstem zu spaßen! Jawohl! Und wenn niemand von euch, hm, wenn ich so sagen darf, Kompetenten, das kleine Fräulein Madsen aufklären will, so gestattet ihr vielleicht, daß ich ihr einiges darüber erzähle, wie angemessen es ist, nach Qualifikationen zu entlohnen, angemessen nicht nur rein individuell, sondern fundamental; in einer hochentwickelten Gesellschaft ist dieser Stimulus der Entlohnung notwendig, dieser ...“
„Mann, du kannst uns mal ...“, grinste Kim, und Kurt sekundierte: „Halt die Schnauze, du Großkotz ...“ Ein kräftiges Räuspern von Erik veranlaßte ihn, den Rest zu verschlucken. Pusser sagte, die Augenbrauen bis unter die blonden Ponylocken hochgezogen: „Gott ja, Sie wissen ja auch, wie das ist.“
„Ja, in der Tat –“, begann Harry geschmeichelt.
„Natürlich: ein Offizier muß ja mit der Zeit ein Experte für Idiotenarbeit werden!“
„Nein, das geht zu weit!“ Marianne schlug auf den Tisch. „Wenn du glaubst, daß du dir alles erlauben kannst, dann ... Also, Mutter, wenn ich daran denke, wie sehr wir uns hier im Hause um Pussers Erziehung bemüht haben, dann verstehe ich einfach nicht, daß ihr euch das bieten laßt!“
„Worum habt ihr euch bemüht?!“ rief Rie aufgebracht dazwischen.
„Zum Kuckuck, wie redest du von meiner Freundin? Das lasse ich mir nicht gefallen!“
„Glaubst du vielleicht, ich lasse mir diesen Ton meinem Mann gegenüber gefallen?“
„Ich wohn hier!“
„Das ist wohl auch mein Zuhause. – Aber offen gesagt, Mutter, wenn man sich so was bieten lassen muß, dann glaube ich, daß wir es vorziehen ...“
„Da muß ich Marianne zustimmen“, stellte Gunvor fest. „Pusser, ja, und Rie, ihr solltet euch allmählich ein bißchen mehr ladylike benehmen können.“
„Hast du lady gesagt, Mutter? Wirklich?“ Kurt quietschte vor Vergnügen. „Lady Pusser Madsen!“, er machte eine geschraubte Verbeugung in ihre Richtung. „Humble serviteur.“ Sie schlug mit der Serviette nach ihm.
Als Pusser auf Harrys Beruf anspielte, hatte Erik laut gelacht, als das Gespräch jedoch in Streit auszuarten drohte, versuchte er sich das Lachen zu verbeißen. Nun sagte Karl obendrein: „Ja, ja, Leutnant, Kinder und Betrunkene ...“
„Soll das spaßig sein?“ fragte Harry säuerlich. „Nun seid doch mal vernünftig!“ bat Gunvor, „Erik, sag du doch mal was!“ – „Eßt!“ sagte Erik. „Ja hier“, warf Gunvor ein, „nimm doch noch etwas Lachs, Harry.“ – „Jetzt schmiert sie Balsam“, kommentierte Kurt. Erik räusperte sich: „Um auf die Sache zurückzukommen. Du meinst also, Pusser, daß du beispielsweise in meinem Büro sitzen und mein Gehalt haben solltest?“
Pusser stemmte die Hände in die Hüften: „Hab ich das vielleicht gesagt? Wie?“
„So ähnlich war es wohl“, meinte Karl.
Pusser sah ihn von oben herab an. „Überhaupt nicht. Ich meinte nur, daß diejenigen, die ’ne Arbeit haben, die Spaß macht, nicht auch noch das hohe Gehalt einkassieren sollten.“
„So, eine Arbeit, die Spaß macht“, Erik zögerte, „ich möchte nun nicht gerade behaupten, daß das, womit ich und die Leitung uns im übrigen beschäftigen, so geradezu zum Lachen ist.“
„Und die Verantwortung“, sagte Karl, „denk an die Verantwortung, die sie haben.“
„Nein, nun hört aber mal auf“, lachte Elsa, „natürlich macht das Spaß.“
„Darüber wissen wir zwei sicher nicht so Bescheid“, bemerkte Gunvor.
„Doch“, sagte Elsa. „Natürlich macht eine Arbeit, die, wie soll ich sagen, inhaltsbetont ist, die etwas von dir verlangt, Spaß. Sie ist anregend und interessant.“
Erik wollte gern zugeben, daß bis zu einem gewissen Grade ...
„Da könnt ihr sehn“, kam es prompt von Pusser, „dann dürften sie wohl auch nicht so sehr viel mehr haben. Wenn es also richtig sein sollte.“
Rie sah nachdenklich aus: „Es sollte wirklich gleichmäßiger verteilt sein.“
Erik sagte etwas von ideellen und praktischen Verhältnissen; und so wie die Welt nun mal sei, da –
„Hat man so was schon gehört?“ rief Kurt dazwischen, „so, wie die Welt nun mal ist, praktische Verhältnisse – uff, das sieht euch ähnlich!“
„Was meint der Bengel mit ‚euch‘?“ fragte Karl.
„Also die in euerm Alter, die überall bestimmen. – Und nur sagen, daß es nun mal so ist.“
„Warte ab, wieviel ihr verändern werdet.“
„Den Sauhaufen, den ihr hinterlaßt, aufräumen! Alles, was ihr verpfuscht habt! Um Gottes willen!“
„Manches ist wirklich nicht ganz so einfach, wie man das in eurem Alter glauben will“, meinte Erik.
„Wenn man erst resigniert“, bemerkte Rie höhnisch, „ändert sich nie was.“
„Jawohl“, sagte Kurt, „ihr gebt von vornherein auf.“
Erik ereiferte sich etwas: „Sag mal, was weißt du denn davon? Wieviel Ahnung hast du überhaupt von praktischen Dingen, Junge? Warte etwas mit deinen unreifen Meinungen, bis du mitreden kannst, etwas weißt!“
„Wir können unsere Gehirnwendungen wohl auch benutzen“, meinte Luffe.
„Ja, das dürfen wir wohl!“
„Dann tut es“, sagte Karl, „guckt ein bißchen unter die Oberfläche!“
„Wovon sprechen wir eigentlich?“ fragte Gunvor, „ich kann nicht folgen!“
„Wir reden um den Brei herum, um den heißen Brei, wie üblich“, kam es von Kurt.
Harry räusperte sich. „Man sondert Worte ab, Schwiegermutter, wie üblich, das darf wohl auch ich sagen.“
„Der heiße Brei, Kurt, was für ein heißer Brei?“
„Ja, daß man alles auf den Kopf stellen sollte.“
„Ach so! Und Land und Staat lenken und leiten und planen und regieren, wer sollte denn das?“ fragte Harry.
„Natürlich die, die was davon verstehen“, meinte Kim, „da hat Pusser völlig recht. Aber deshalb haben sie doch wohl nicht das Recht, alles Fett abzusahnen?“
„Meinetwegen können sie ruhig was davon abkriegen“, Pusser war großzügig, „aber wir müßten auch was haben. Und wenn man weiß, was sich manche Leute so für ein Leben leisten können – ja, ihr müßt schon entschuldigen, solche wie ihr –, und wenn man das mal mit meiner Mutter und mir vergleicht – ja, wir andern ... Nehmt ihr mich vielleicht für voll, wenn’s drauf ankommt? Das tut ihr natürlich nicht.“
Von allen Seiten wurde protestiert.
Pusser schnitt eine Grimasse, nahm den Protest aber dennoch an: „Naja, ist nicht so wichtig mit mir“, und schien getröstet zu sein, doch sie wußte, was sie wußte. „Aber sonst die Arbeiter, meine Mutter – ich weiß doch genau, wie meine Mutter ist, glaubt ihr nicht, daß ich das weiß? Und warum ist sie so? Weil nämlich alles so idiotisch ist, wie ich sage. Aber der größte Irrsinn ist, daß so was Wohlfahrt heißen soll! Was denn für eine Wohlfahrt – unsere nämlich nicht!“
„Hier zeigt der Neid allerdings deutlich sein häßliches Gesicht“, stellte Harry mit erhobenem Zeigefinger fest. „Aber jetzt will ich euch was sagen, das Prekäre ist, daß man bereits in einem allzu, allzu hohen Grad nivelliert hat. Was in diesen Jahren in diesem Lande vor sich geht, ist nichts weiter als ein einziger großer Nivellierungsprozeß. Eine umsichgreifende Verflachung und Angleichung, jawohl.“
„Ja aber, Angleichung“, sagte Gunvor, „das ist doch demokratisch.“
„Eben“, rief Karl, „gute Demokraten, das sind wir alle! Gib mir mal die Schlackwurst!“
„Man muß was tun, Vater“, sagte Rie. „Kannst du Pusser nicht woanders hinstecken?“
Pusser wandte sich zu ihr: „Uff, du verstehst auch überhaupt gar nichts.“
„Was verstehe ich nicht?“ fragte Rie verschnupft.
„Es geht doch nicht um mich, sondern um uns alle! Nicht nur um mich.“
„Aber das wäre doch sehr hübsch, nicht wahr, Pusser“, zog Kurt sie auf, „wenn wir dich nun so ein bißchen vergoldeten und eine neue Eliza aus dir machten.“
Das gab Erik einen kleinen Stich. Eine neue Eliza, zum Teufel, wie kam der Junge darauf? Aber eigentlich hatten sie Pusser ja in ähnlicher Weise hier im Hause aufgenommen und behandelt.
„Wozu soll ich denn ’ne Eliza oder sonst was werden, da hab ich doch nichts von – aber natürlich müßt ihr euch lustig machen, ihr könnt ja nichts anderes.“
„Nun sei mal nicht beleidigt“, sagte Erik.
„Ich bin überhaupt nicht beleidigt. Aber, puh, das sieht so einem wie Ihnen ähnlich, so was zu sagen!“
„So? So einer wie ich – bin ich so schlimm?“
„Hört, hört!“ lachte Elsa, „jetzt will er Komplimente hören.“
„Sich beliebt machen?“ Erik sah sie zum Schein ärgerlich an.
„Eben“, nickte Pusser, „so ein ...“, sie wollte etwas Deftiges sagen, verbiß es sich aber – „ein Schöntuer, der überall nur rumschmiert und rumläuft und was hören will.“ Und dann äffte sie ihn nach. „Das muß nun mal gehn, Leute. Aber, aber, das sind doch kleine Fische für euch, so wie ihr gebaut seid. Sicher geht das.“ Sie imitierte Eriks Fabrikstimme dabei so genau, daß er baff war. War man wirklich so? Sah man ihn so in der Fabrik?
„Ha! Da hast du’s aber gekriegt“, rief Kurt und schlug sich auf die Schenkel.
Erik zwang sich zum Lachen: „Hör mal, Pusser, weißt du was? Es könnte ja gut für mich sein, wenn ich so ein bißchen von diesem und jenem hörte, wir sollten vielleicht irgendwann mal einen kleinen Plausch machen.“
„Dann aber in der Arbeitszeit!“
– Es entstand allgemeines Gelächter. Als es sich etwas gelegt hatte, sagte Gunvor ablenkend: „Habt ihr gestern das Fernsehstück gesehn?“ Elsa und Karl hatten es gesehen.
„Das war ja was Merkwürdiges“, fand Karl.
„Bist du verrückt, Mann, das war doch kernig! – Merkwürdig?! Hö ...“
Gunvor unterbrach scharf: „Kurt, ich habe nicht nach deiner Meinung gefragt! Vielleicht würdest du Karl ausreden lassen!“ – Erik sagte: „Da siehst du’s.“ – „Was seh ich?“ fragte sie. „Hab ich nicht gesagt, daß man unter diesen Bedingungen kein Gespräch führen kann?“ – „Nun fang doch nicht wieder damit an!“ – „Was ist denn, Mutter?“ fragte Marianne und steckte eine Olive in den Mund. „Nichts.“ Gunvor wandte sich an Karl. „Ganz einfach war es natürlich nicht.“
„Ja aber, warum muß es denn immer so ein heillos verschrobenes Zeug sein?“ fragte Karl, „so ist die Wirklichkeit doch nicht.“
„Viel schlimmer“, stöhnte Luffe.
Karl sah ihn wütend an. „Das ist sie bei Gott nicht! Und ich könnte fuchsteufelswild werden, wenn man immer wieder mit all dem Quatsch kommt, daß es das reine Elend ist und daß wir alle Roboter sind und vieles andere – zum Kotzen. Es geht uns prima, und manchmal könnten wir uns darüber auch ein bißchen freuen.“
„Da hätten wir also die Sonntagspredigt!“
„Kurt!“ ermahnte Gunvor.
„Ja, ich kann nun mal beim besten Willen nicht einsehen“, wandte sich Karl an Gunvor und Elsa, „was der ganze Trübsinn soll; so verrückt ist das Dasein nämlich nicht, und diese verkrachten Individuen, die man uns in modernen Stücken vorführt, die sind einfach krank, unnormal!“
„Normal, Karl“, sagte Rie, „was bezeichnest du als normal?“
„Ja, das ist Wortklauberei! Hör auf damit! Jeder Mensch weiß doch, was normal ist. Ein gesundes und aufgewecktes Individuum mit intaktem Verstand.“
„Verstand wofür?“ fragte Kurt.
„Zum Teufel, um mit dem Leben und seinen mehr oder weniger lächerlichen Seiten auf adäquate Weise fertigzuwerden.“
„Also Verstand, daß man sich’s bequem macht“, sagte Luffe.
„Ja, du lieber Gott, das auch. Das ist wohl nicht zu verachten. Sich so einrichten, daß man meint, es gehe einem gut.“
„Ja, den Verstand habt ihr, das muß man schon sagen“, meinte Rie. „Du sagst das so mit Vorbehalt“, meinte Elsa, „ist daran vielleicht was nicht richtig?“
„Nein, nein“, gab Rie zu, „das wohl nicht, aber ...“
„Herr im Himmel!“ stöhnte Kurt und zog die Augenbrauen hoch. „Daß man so anspruchslos sein kann! Das meinst du doch, Rie, nicht wahr?“
„Ich weiß überhaupt nicht, was mit euch los ist“, sagte Erik mit einer Stimme, die alle übertönte. „Ihr seid die ganze Zeit mit Kritik geladen. Rückt doch raus damit, was nicht stimmt, Herrgott noch mal!“
„Nein, Vater, so ist das nun auch nicht“, wandte Rie ein, „es ist nur ...“
„... nur ihre verdammte Besserwisserei“, unterbrach Kurt. „In der Tat“, bemerkte Elsa, „läßt es sich ja nicht vermeiden, daß wir das eine oder andere besser wissen als ihr, weil wir ein paar Jahre länger gelebt und gesehen und gefühlt haben.“
„Aber es ist euch überhaupt nicht aufgegangen, daß jetzt alles anders ist.“
„Jetzt?“ brauste Karl auf. „‚Jetzt‘ gilt doch sowohl für euch als auch für uns, nicht wahr? – Ich meine, ihr könnt uns ja nicht einfach abschieben, bloß weil wir ein bißchen früher angefangen haben.“
„Und wie Erik sagt – ihr könnt nicht mal erklären, was ihr meint“, pflichtete Elsa bei.
„Etwa nicht?!“ rief Pusser.
Elsa schüttelte den Kopf. „Ihr tut es ja nicht, ihr werdet wild und macht ein gewaltiges Geschrei, aber mit uns reden, nein. – Übrigens sagt ihr auch zueinander nichts.“
Kurt und Pusser sperrten Mund und Nase auf. Rie fuhr hoch.
„Wir sagen nichts? Nee, jetzt ...“, sie sah die andern jungen Leute an.
„Da kann was dran sein“, meinte auch Erik. „Man hat ja gewisse, wie soll man das nun nennen, Mitteilungsversuche hier zu Hause und zum Beispiel im Kinderzimmer in der Fabrik mitangehört, was Pusser?“
„Bei dem Krach, wer das glaubt!“
„Zugegeben, aber dann in kleineren Gruppen. Sprecht ihr manchmal im Ernst miteinander, ja, was meint ihr selbst?“
„Hm“, Rie überlegte, Kurt kam mit einem Kalauer. Man ging zu anderen Themen über, dann nahm Rie die Herausforderung auf.
„Aber tut ihr das denn?“ – „Wie bitte?“ fragte Erik. „Ich frage, sagt ihr etwas zueinander? Gibt es überhaupt noch jemand, der das tut? Zum Beispiel du und Mutter?“
Erik zögerte, aber Gunvor antwortete rasch: „Ich muß schon sagen, das ist erschütternd. Das zeigt wahrhaftig, wie wenig du zu Hause bist, bei uns andern. So was zu fragen!“
Erik drückte sich um die Antwort, indem er aufstand und vorschlug, daß „die Erwachsenen“ auf der Veranda Kaffee trinken sollten. Marianne und Harry kamen mit, zu seinem Verdruß.
Er stand auf, um den Kognak zu holen, meinte, daß sie ihn ein bißchen nötig hätten. Der Eßzimmertisch sah aus wie ein Schlachtfeld; die Jungen waren nach oben gegangen. Ärgerlich nahm er einen Brotkorb mit hinaus in die Küche; sie deckten doch sonst den Tisch ab. Die Mißstimmung, die seit heute morgen in ihm steckte, nahm zu. Auch das, was Rie gesagt hatte: „Sagt ihr denn was?“ Sagten sie was? Hatten sie in der Zeit, die sie draußen gesessen hatten, irgend etwas gesagt, das es wert gewesen wäre, wiederholt zu werden? War auch nur ein Satz gesagt worden, der sie – ja – anging? Und das konnte nicht allein Harrys Schuld sein oder die Angst vor seinen pseudowissenschaftlichen Darlegungen. Er seufzte und ging die Flasche holen – Harry, ja, tatsächlich war Mariannes Heirat ein wunder Punkt, einer von denen, die sich mit den Jahren ansammeln. Er öffnete den Schrank, langte nach der Flasche. Verdammt noch mal! – Die war ja leer! Tranken sie etwa seinen Kognak? – Das war doch ... Kurt? Wer sonst? – Gunvor? Unmöglich. Sie hätte auch eine neue gekauft, falls ... Die jungen Mädchen? Nein, die mochten manches ausfressen, aber – dies mußte Kurt gewesen sein!
Er spürte, wie die Hand, die die Flasche hielt, klamm wurde. Er war schockiert, sagte zu sich selbst: „Reg dich nicht auf! – Hast du vergessen? – Den meisten Vätern passiert so was.“ Aber dahinter lag etwas wie Angst. Etwas stürzte ein. Er versuchte sich zu fassen. Nicht wert, daß man’s schwernahm – höchstens ein Grund, um wütend zu werden. So ein verflixter Lausejunge! Das war doch die Höhe! Seinen guten Kognak trinken! Konnte doch was Billigeres nehmen, wenn’s schon sein mußte! Er fuhr mit einem Satz auf, sah auf dem Regal nach. Er war auch hier dabeigewesen, Whisky und Gin, mal mehr, mal weniger, besonders mehr, sie genierten sich offenbar überhaupt nicht. Da hörte doch alles auf! Das ließ er sich nicht gefallen! Der Bengel sollte schon seinen Denkzettel kriegen! „Zum Teufel, muß man jetzt abschließen, in seinem eigenen Haus? – In meinem Heim! Bei uns! Den Teufel tu ich!“ Er knallte die Tür mit dem Fuß zu und dachte – denn das ärgerte, um nicht zu sagen, quälte ihn am meisten –, hat er das nötig gehabt? Wirklich? So ein blöder Kerl. Dussel. Hätte er das nicht sagen können? Konnten sie nicht mit allem kommen, und dann ... Der nützliche Zorn drohte abzuebben, der Enttäuschung Platz zu machen – er stachelte ihn wieder an, bewußt. Verdammte Schweinerei! Er stürzte nach oben, nahm die Treppe im Sprung – und hielt auf dem Absatz an. Nein, nein, da oben waren andere, er wollte es ihm nicht peinlicher machen als nötig. Er kehrte um und ging langsam wieder hinunter.
Aus dem Büfett holte er eine Likörflasche und ging zur Veranda zurück, sagte, daß er sich geirrt habe, was sie zu einem Whisky oder Likör meinten? Die Damen wollten Likör. Harry erhob sich und ging mit in die Küche, um Gläser zu holen. Sie standen dort drinnen. Wie üblich fiel Erik nichts ein, was er zu ihm hätte sagen können. Das Schweigen wurde hörbar. „Du holst mal die Eiswürfel, ja? Aus dem Kühlschrank. Und einen von den langen Löffeln.“ Gut, daß man immer was Praktisches sagen konnte. Sagt ihr was? „Nein, nein, nicht diese Gläser, die da links. Nein, die Flaschen nehme ich selbst. Selterswasser ist im untersten Fach.“ – „Wo ist der Flaschenöffner?“ fragte Harry. „Im Büfett im Eßzimmer.“ Schließlich waren sie wieder draußen. Etwas sagen – zu Harry – unmöglich.
Erik setzte sich so hin, daß er die Sonne im Rücken hatte, das Licht blendete jedoch trotzdem. „Würdest du mir mal meine Sonnenbrille holen, Marianne?“ Sie ging ins Haus und kam wieder zurück, setzte sich einen Augenblick auf die Armlehne. Er legte den Arm um sie. „Na, geht’s dir gut?“ – „Ja, ausgezeichnet“, sagte sie. Ihm schien das nicht sehr überzeugend zu klingen.
„Was macht das Boot?“ fragte er Karl.
Karls Gesicht hellte sich auf. „Phantastisch, du – so was von Boot hab ich noch nie gehabt! Nicht wahr, Elsa? Das kann man ein Boot nennen, sag ich nur!“
Erik betrachtete ihn. Jetzt war er in seinem Element, er beneidete ihn fast ein wenig. So war es immer mit Karl. Karl, der zum Sterben langweilig und nett war, vielleicht der beste Kamerad, den man hatte – einer, zu dem man nichts zu sagen brauchte, wenn man keine Lust hatte. Jedesmal in den Wolken, wenn er etwas Neues bekam. Solange es neu war. Elsa sagte: „Ja, diesmal hast du Glück gehabt.“ Erik erinnerte sich, daß sie das das letzte Mal, als sie den Wagen kauften, auch gesagt hatte. Sie schlug einen Ausflug vor.
„Wenn es nur nicht zu kalt wird“, meinte Gunvor.
Karl war Feuer und Flamme, wollte am liebsten sofort los. Erik hatte eigentlich auch Lust, dachte daran, wie nett das sein würde, ganz still dazusitzen, an Elsas Seite über das Wasser zu schauen, verstohlen ihre Hand zu nehmen. Gunvor und Karl würden schon sagen, was zu sagen war. Was zueinander sagen! War Elsa vielleicht – wenn alles zu allem kam – schließlich der einzige Mensch, mit dem er sprach – so wie Rie es meinte?
Er erhob sich.
„Du bist so unruhig“, sagte Gunvor. „Was hast du jetzt vor?“
„Streichhölzer holen“, sagte er.
„Herrgott, da liegen sie auf dem Tisch. Sieh dich doch besser um!“
„Ja, da sind sie ja auch.“ Er setzte sich wieder.
Karl und die anderen redeten weiter über das Boot. Es irritierte ihn, daß er immer noch die Bemerkungen drehen und wenden mußte. Etwas zueinander sagen. Die Göre hatte recht. Kein Wort. Aber das lag ja doch an Harry, das mußte es sein, oder nicht? Sollte er, wie Gunvor sagte, etwas achtgeben, wurde das bei ihm allmählich zur fixen Idee? Sie hatten so oft darüber gesprochen. Ich könnte ihm den Hals umdrehen, hatte er gesagt – am Anfang. Oh, er ist doch sehr nett, meinte Gunvor, tu so, als ob er nicht da wäre, sei so, wie du sonst bist, er ist nun mal hier. Aber er konnte nicht – was ihn sonst interessierte und was er sonst mit Karl und Elsa diskutierte, war wie aus dem Gehirn geblasen, wenn Harry dasaß und glotzte – auf Happen wartete. Jawohl, das tat er. Verschlang jedes Wort. Zum Teufel auch, daß man einen Militär zum Schwiegersohn bekommen mußte. Er schämte sich fast – als alter Wehrdienstverweigerer. Wer weiß, was Karl und Elsa eigentlich dachten. Denen ging er wohl nicht auf die Nerven? Elsa wollte nie recht damit herausrücken. – „Darüber sollten wir doch nicht reden, wo wir nun endlich mal unter uns sind“, sagte sie nur, oder „wenn Marianne ihn eben mag.“ – Das verstand er überhaupt nicht – Marianne, die ein so vernünftiges Mädchen gewesen war, mit der sie so viel gesprochen hatten, mehr als mit den beiden anderen, und die doch hier in ihrem Haus eine gewisse Freisinnigkeit in sich aufgenommen haben mußte, die wußte, wie sie über solche Dinge dachten, die sogar eine Zeitlang beim Antiatommarsch mitgemacht hatte, wie konnte sie auf so eine – eine Vogelscheuche, einen angehenden Stockkonservativen wie Harry hereinfallen?
In Wirklichkeit ist man den Sympathien seiner Kinder auf Gedeih und Verderb ausgeliefert, kriegt den in sein Heim, direkt auf den Pelz, für den man zuallerletzt Zeit und Worte verschwenden möchte. – Doch es ist wohl nicht nur das, dachte er mit einem kleinen Stich im Herzen, aber daß die eigene Tochter sich auf diese Weise selbst betrügt, sich bindet, sich aus freiem Willen die Flügel stutzt, die so weit reichen könnten. Marianne, ihre Älteste, die beiden andern, Kurt – er richtete sich plötzlich auf –, nicht gerade jetzt an den Bengel denken.
„Laßt uns ruhig heute abend eine Bootsfahrt machen“, sagte er.
„Du wirst staunen ...“, rief Karl begeistert aus.
„Wollen wir nicht die Kinder mitnehmen?“ fragte Gunvor und sah zur Stube.
„Spielt sich nichts ab“, erklärte Erik, und Karl sagte: „Ein andermal!“
Marianne wartete vergeblich, seufzte leise und sagte: „Dann können wir ja anrufen und deine Mutter bitten, heute abend zu uns zu kommen, Harry.“
„Ja, das können wir.“
„Dann geh rein und rufe an.“
Gunvor stotterte: „Ja, aber, wollt ihr denn nicht ...“ Erik sah sie an, sie hielt inne und sagte dann: „Das wird deine Mutter aber freuen, Harry.“
„Eben“, antwortete Harry, „ich bin wahrhaftig ihr ein und alles.“