Читать книгу Alle meine Kinder - Ditte Cederstrand - Страница 6

Drittes kapitel

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Die jungen Leute hatten Pullover übergezogen und ein paar Decken besorgt und lagen im Windschatten auf dem kurzgeschnittenen Rasen. Ab und zu drang unartikuliertes Gebrüll hinauf zur Veranda. „Wie die schreien“, sagte Karl. „Ja, das kreischende junge Mädchen, dieses Fräulein Madsen“, sagte Harry, „um die zu bemerken, braucht man in der Tat, haha, kein Radar.“

Kurt lag auf dem Rücken, einen Halm zwischen den Zähnen, und probierte mit großem Ernst, wie weit sich die Zehen auseinanderspreizen ließen. Rie rückte ein Stück weiter: „Bist du bald fertig?“ Er sah sie über die Sonnenbrille an, antwortete jedoch nicht. Luffe lag auf dem Bauch und döste.

„Ihr werdet nie braun“, sagte Pusser, die ihr Gesicht in die Sonne hielt. „Soll ich euch ’n paar Haarklemmen pumpen?“ „Nee, danke.“ – „Ja, aber ehrlich“, meinte auch Rie, „ihr bleibt hinter der Gardine ganz blaß.“ Kim hielt die Arme um die Knie verschränkt und hatte die unentbehrliche Pfeife zwischen den Zähnen.

„Wie kannst du dir eigentlich erlauben“, fragte er in Pussers Richtung, „Kurt ’nen Schmarotzer zu nennen?“

„Wenn er das doch ist!“ antwortete Pusser aggressiv.

„Warum sollte er mehr Schmarotzer sein als du?“

„Ich und Schmarotzer! Du hast wohl nicht alle Tassen im Schrank! Ich mach wohl was, und er?“

„Studiert“, kam es lakonisch von Kurt.

Rie grinste: „Du! Nicht die Bohne, du treibst dich bloß rum. Glaubst du, wir wissen das nicht? Eines Tages wirst du rausgeschmissen.“

Kurt zuckte ein wenig zusammen und drehte sich halb um. „Gar nichts werd ich!“ Aber beunruhigt von dieser Möglichkeit, die absolut in den Grenzen des Wahrscheinlichen lag, rollte er sich wieder auf den Rücken: „Na und?! Ist mir doch egal.“

„Dann bist du wohl auch ’n Schmarotzer.“

„Man erbittet eine Definition“, sagte Luffe.

„Ist das so schwer?“ fragte Rie. „Einer, der von andern lebt.“

„Nassauert“, sagte Pusser.

„Das tun alle – mehr oder weniger“, behauptete Kim philosophisch.

„Das kannst du aber nur von dir selbst sagen“, brauste Pusser auf. „Ich weiß verdammt gut, was ich mache. Was arbeiten heißt.“

„Und wer sagt denn“, Luffe drehte den Kopf zur Seite und sah sie nachsichtig an, „daß das soviel besser ist als das, womit wir andern uns befassen?“

„Ich falle ja wohl keinem zur Last“, sagte sie erregt.

„Die Kleine ist gut abgerichtet, haben sie gut hingekriegt“, sagte er zu den andern.

„Was meinst du damit?“

„Frommer kleiner Arbeitssklave, was?“

„Soll ich mich vielleicht deswegen schämen, weil ich arbeiten kann?“

„Ja, vielleicht solltest du das.“

„Du spinnst ja.“

„Nein, du drehst aber auch alles um“, sagte Rie, „es ist doch gut, daß das jemand kann.“

„Gut, daß man sich ausnutzen läßt?! Das kann ich nicht einsehen.“ Pusser wurde immer aufgebrachter. „Es gibt sicher ’ne Menge, was du nicht einsehn kannst! Aber wenn man nicht krepieren will, muß man ja wohl arbeiten. – wenn’s ginge, würde man schon gerne frei sein.“

„Dann mach dich frei!“

„Ph, dann mach dich frei. Davon kann so’n verwöhntes Jüngelchen, das alles umsonst hat, grad quatschen! Wie denn? Man sollte sich wohl von ’nem Kerl aushalten lassen, wie?“

„Nimm’s, wie’s kommt, das ist das einzig Positive.“

„Positiv!“ rief Rie, „euer schlampiges Leben – positiv?!“

„Jawohl, wir leben nämlich im freien Einfall.“

„Und mit welchem Resultat?“ fragte Rie spitz.

„Läuse und lange Fingernägel“, antwortete Pusser.

Luffe ignorierte sie. „Lebenserfahrungen.“

„Lebenserfahrungen!“ Rie brüllte. „Haltet mich fest!“

„Führ dich bloß nicht so auf“, sagte Kurt, „und dann denken wir.“

„Denken – ihr?!“ Pusser stöhnte.

„Genau das – bedeutend gründlicher als die meisten Leute. – Oder hast du beispielsweise jemals etwas genauer darüber nachgedacht, ob ihre Art von Lebensführung die richtige ist?“ Kurt nickte zum Haus hinüber. „Hast du das?“

„Nachgedacht, nachgedacht“, sagte Rie, „klar hab ich das. Und natürlich soll mein Leben anders sein, obwohl ...“

„Obwohl was?“ fragte Kurt.

„Ja, eigentlich geht’s ihnen wohl sehr gut.“

„Denen? Die langweilen sich zu Tode. Das hast du ja selbst gesagt. Das ist ganz klar“, erklärte Kurt und kratzte sich am Hacken.

„Ich weiß nicht recht“, sagte Pusser, „so einer wie eurer Mutter, der geht’s doch gut.“

„Man träumt vielleicht davon – daß es einem auch mal so geht?“ stichelte Luffe.

„Ich träume überhaupt nicht“, knurrte Pusser, „aber das ist ja wohl klar, daß es nicht so unflott wäre, wenn’s einem so ginge – tun, was man will, und dann mit Haus und Auto und all so was, ja, und Badezimmer.“

„Das glaubst du“, sagte Kurt, „denn, siehst du, wenn du’s erst hast, denkst du nicht mehr dran, überhaupt nicht, denn dann entdeckst du, daß es eine ganze Masse gibt, was wichtiger ist.“

„Das weiß man ja eben nicht“, sagte Rie.

„Was weiß man nicht?“ fragte Kim.

„Ob das alles, wovon ihr so flott quatscht, auch so wichtig ist, wenn man die Dinge nicht hat, die elementaren, meine ich.“

Sie band sich ihr Schuhband und philosophierte weiter: „Wenn man zum Beispiel einer von den Ausländern hier in der Fabrik wäre, einer von denen, über die wir gelacht haben, Pusser?“

„Ja, und was dann?“ fragte Pusser verständnislos.

Aber Luffe sagte: „Tja – da ist natürlich was dran.“

„Man hat unterschiedliche Ausgangspunkte, nicht wahr“, sagte Rie, „ich meine, weil es auch eine Welt außerhalb von Verona gibt.“

„Jetzt wird sie gelehrt“, japste Kurt, „bläht sich auf wie der Schwager.“

„Halt die Klappe!“ sagte Rie.

„Schmeißt mal ’ne Zigarette her!“ verlangte Pusser.

Kim kroch zu ihr hin und gab ihr Feuer, legte dann den Kopf in ihren Schoß und wühlte sich zurecht: „Wunderbar! Darf ich?“

„Wenn du Asche in die Augen haben willst, dann bitte“, antwortete Pusser gleichgültig. Kurt ärgerte sich darüber, daß er selbst nicht auf die Idee gekommen war, obwohl das sicher auf sie gar keinen Eindruck machte. Sie war schon komisch, Pusser – wenn man grade glaubte, daß sie heute lieb und nett sei, konnte sie sauer wie Essig und boshaft werden, daß man zehn Schritte zurückging und dachte: Herr im Himmel! Aber eigentlich mochte er sie gern, und es ließ sich mit ihr sicher auch gut lieben, aber sie wollte nicht. Das ärgerte ihn. Da wußte man nun, daß der und jener der Kameraden aus der alten Schule sie gehabt haben wollte, und dann kam trotzdem immer: „Nee danke, du!“ Das kleine Schaf. Ging hier ein und aus – hatte vielleicht jemand jemals eine so günstige Gelegenheit gehabt?

„Das mit den Ausgangspunkten“, sagte Luffe verschlafen, „es ist natürlich ein gewisses Niveau erforderlich, um sich mit Ideen wie den unsern zu beschäftigen.“

„Ideen!“ sagte Rie, „habt ihr wirklich welche? Ich hab geglaubt, da oben ist es völlig leer.“

„So so“, Luffe rollte sich, gutmütig wie ein Bär, auf den Rücken. Rie spielte immer noch mit ihrem Schuhband. Er konnte ziemlich viel von ihren Schenkeln sehn, Schenkel wie Säulen, dachte er, kräftige Schenkel. Mit der ließe sich gut spielen. Sex, sexy, vielleicht sollte man scharf auf sie sein, falls man Lust hatte – vielleicht hatte er Lust, vielleicht, wenn es sich im Laufe des Tages so ergab. Vorläufig war es nett, dazuliegen und sie anzusehen, flotte Biene! „Klar haben wir Ideen“, sagte er, „ich auf jeden Fall.“

„Na, ich hab von Kurt oder Kim nie ’ne Silbe darüber gehört, was ihr eigentlich wollt.“

„Na ja“, wandte Kurt ein, „man denkt ja über die Dinge nach.“

„Und wer sagt übrigens, daß hinter allem ’ne Idee sein soll?“ fragte Kim.

„Wenn man überhaupt gar kein Ziel hat“, meinte Rie, „wird doch alles so merkwürdig dämlich und tot und gleichgültig.“

„Das ist deshalb, weil man sich nicht klarmacht, was man will.“

„Ja aber, was wollt ihr denn nun?“

„Ja, fürs erste wollen wir also nichts, das wichtigste ist, nichts zu wollen.“

„So“, sagte Pusser, „etwas wollen ist also nichts wollen, weißt du, das geht mir ’n bißchen durcheinander.“

„Ja, Kleine, das geht wahrhaftig klügeren Köpfen als dir ebenso. Aber die Sache ist also – nichts zu wollen, verstehst du? Sondern entgegenzunehmen. Jeder Tag hat etwas Neues für dich, jeden Tag stehst du vor neuen Situationen. Nimm sie entgegen, nimm sie!“

„Jawohl“, schnaufte Pusser, „und an dem Tag, wo die Situation so ist, daß ich dasteh und kein Essen hab, was dann?“

„Tja, vielleicht verhungerst du zum Schluß – was an sich auch eine interessante Situation ist, die man möglichst genau beobachten sollte –, aber das passiert ja nicht gleich sofort, nicht? In der Regel zeigt sich dann was.“

„Ja, da möcht ich wohl wissen, ob ich gekauft oder verkauft bin!“

„Eben“, sagte Kurt, „gebunden, das bist du.“

„Gebunden von deinen Bedürfnissen!“ ergänzte Kim.

„Jetzt reicht’s aber, Himmelkreuzdonnerwetter!“ rief Pusser aus und gab Kim einen Stoß, daß er wegrollte. „So ein Haufen Quatschköpfe, verwöhnte Klugscheißer, kommt mir bloß nicht und erzählt mir was von Bedürfnissen, davon weiß ich nämlich ein bißchen mehr als ihr. An dem Tag, wo du dir den Arsch abwischen willst und kein Papier hast, da kannst du kommen, ich zieh jetzt nämlich Leine!“ Sie sprang auf. „Willst du mit, Rie?“

„Hoho, so braust man nicht auf“, sagte Kurt. „Ich hatte wirklich geglaubt, du könntest ’ne Diskussion verkraften.“ Pusser sah ihn an und bekam schmale Augen, stand da und suchte nach etwas, das ihm die Sprache verschlagen würde, das ihn richtig treffen könnte.

Rie stand auf und schüttelte ihr Kleid zurecht. „Ja, ehrlich, da oben ist sicher ’n bißchen Leerlauf.“

„Was fällt euch ein, einfach wegzugehn“, sagte Kim.

„So sind die Weiber, haut bloß ab!“ sagte Kurt.

„Sagtest du Weiber?“ Pusser fuhr herum. „Was weißt du schon von Frauen! So ein Bordellkandidat!“

Sie standen einen Augenblick da und sahen die Jungen mitleidig an, Rie und Pusser, dann rauschten sie ab.

„Verdammt“, Kim sah ihnen nach. „Bordellkandidat? Jetzt hab ich’s auch gehört.“

„Ja, was zum Teufel meint sie?“ fragte Kurt rasend.

„Öh“, Luffe sprang auf, „dumme Schweine – gehn wir rein.“

Elsa und Karl fuhren nach Hause, um das Boot zu takeln. Marianne ging in die Stube und fing an den Tisch abzuräumen, während Harry sich eine Zigarre ansteckte und ihr und Gunvor zusah, die etwas müde nach einem Tablett griff und zu helfen begann. Sie glichen einander, die beiden, klein, elegant, dunkel, mit großen rehblanken Augen. Aber Marianne hatte absolut die bessere Haltung. Sein Werk! – Die Schwester dagegen ein völlig anderer Typ, allzu groß, für ihn jedenfalls, und blond, fast ein bißchen stämmig.

„Ich glaube, ich habe irgendwo die Sonntagszeitung gesehen“, sagte er und dampfte los, „wo ist sie abgeblieben?“

„Die liegt drin bei Vater“, antwortete Marianne.

Er ging hinein und holte sie und verschwand auf die Veranda, machte es sich gemütlich.

„Sag mal“, fragte Gunvor, „hilft er dir nie?“

„Hilft?“ fragte Marianne.

„Ja, faßt mal mit zu. – Ist er vielleicht zu fein?“

„Harry hat seine Arbeit, und außerdem ist Sonntag – und wenn man Gast ist.“

„Gast?“ Gunvor ahmte ihren Tonfall nach. „Ich finde ja, wenn man so oft kommt, kann man sich dann und wann auch mal etwas nützlich machen.“

„Ich kann nicht einsehen, weshalb Harry das sollte? Tut Vater das vielleicht?“

„Vater? – N-nein, aber wenn’s drauf ankommt, kann er es, das weißt du auch.“

„Das kann Harry wohl auch. Wenn man ihn drum bittet. Aber er hat ja völlig recht, wenn die andern sich erlauben können, solch ein Schlachtfeld zu hinterlassen, obwohl du es ihnen gesagt hast – da kann ich nicht einsehen, daß Harry da einbezogen werden soll.“

„Du bist vielleicht auch nicht der Meinung, daß du selbst das solltest?“ fragte Gunvor spitz.

„Ehrlich gesagt – nein.“

„So! Ich könnte ja sehr gut allein ...“

„Nee ..., das sollst du nicht – aber das will ich dir sagen, Mutter, ihr erlaubt ihnen viel zuviel, jawohl. Und was habt ihr davon? Sie werden immer frecher!“ Marianne warf den Kopf in den Nacken, nahm das Tablett und trug es hinaus.

Gunvor sah ihr nach. Immer gekränkt!

„Und was Pusser betrifft, Mutter“, fuhr sie fort, als sie zurückkam, „so schickt es sich für Rie überhaupt nicht, daß sie sich ihre Manieren und ihren Jargon zulegt. Wenn ich an den Ton denke, der allmählich hier im Hause herrscht!“ Gunvor unterbrach sie: „Glaubst du vielleicht, daß du in dem Alter allzu vornehm warst?“ – „Mit mir ist das etwas anderes.“ Gunvor trug etwas hinaus. „Du kannst Rie nicht mit mir vergleichen.“ – „Was sagst du?“ rief Gunvor von der Küche. „Du kannst Rie nicht mit mir vergleichen“, wiederholte Marianne, als Gunvor wieder hereinkam. Sie stützte sich auf das Tablett auf der Anrichte. „Und warum nicht?“ – „Weil Rie und ich sehr verschieden sind. Ich hab wohl immer gewußt, wie weit eine wirkliche Dame gehen kann!“

Gunvor lachte und stellte Glastellerchen auf das Tablett. „Dame? Ja, ich glaube wirklich, du bist eine Dame geworden!“ – „Uh, wie sagst du das nur!“ Gunvor lächelte. „Ehrlich gesagt, Mutter“, fuhr Marianne eifrig fort, „es ist wohl nicht verkehrt, daß man etwas auf seine Würde halten möchte, ja, und seine Sprache pflegen, das, meine ich, ist man sowohl sich selbst schuldig – als auch seinem Mann.“ „Doch“, gab Gunvor zu, „aber du weißt, Vater und ich haben immer ein bißchen Angst gehabt vor all dem ‚Gebildetsein‘. Es gab so viel Heuchelei bei uns zu Hause, bei ihm und bei mir, alles war so passend! Und so hat es sich ergeben, daß wir ein bißchen was extra tun mußten, um eine freie Sprache zu haben. Aber natürlich hast du recht, man kann zu weit gehn. Vater und ich haben auch darüber gesprochen – wir mißbilligen wirklich diese Sprache, die durch Pusser und übrigens auch durch Kurt und seine Bande ins Haus kommt.“

„Pusser ist aber doch am schlimmsten. Bei den Jungen, da ist das nur so eine Art, sich zu geben. – Könntest du nicht ein bißchen mit Rie reden – oder soll ich?“

„Ihr seid wohl nicht besonders gut aufeinander zu sprechen, wie?“

„Das waren wir einmal.“

„Aber das war vor Harry, nicht wahr? – Ich meine, es ist trotzdem ein großer Unterschied zwischen so einem wohlerzogenen Offizierssohn und dann uns.“

„Aber das ist wohl nicht Harrys Fehler?“

„Nein, nein – es ist nur so.“

Nachdem er Karl und Elsa nachgewinkt hatte, ging Erik ins Haus. Er konnte Marianne und Gunvor im Eßzimmer rumoren hören und ging nach oben, ins Schlafzimmer, fühlte das Bedürfnis, allein zu sein. Er steckte sich eine Zigarette an, stand eine Weile auf dem Balkon und sah auf den Garten hinunter, konnte Harry auf dem Sofa in der Veranda sehen.

Es war nicht so sehr die Tatsache, daß der Kognak alle war, sagte er sich wieder – obwohl man so auf die schiefe Bahn kommen konnte –, aber daß es hinter seinem Rücken geschah! Warum sagte der Junge das nicht? Warum kam er nicht am nächsten Tag und sagte: Hör mal, gestern abend ging’s ein bißchen hoch her, und deshalb ... Hätte man das nicht erwarten können? Er wußte, daß er nie so aufgetreten war, daß Heimlichtuerei nötig gewesen wäre. Er hatte sie die Regel von Freiheit unter Verantwortung gelehrt und selbst nach dieser Regel gelebt. In diesem Punkt waren sie sich immer einig gewesen, er und Gunvor. Keinen anderen Druck als den, den eine vernünftige Lebensführung nun mal erfordert.

Aber Kurt konnte ja vergessen haben, ihm Bescheid zu sagen, es war vielleicht gerade erst passiert. Nicht, daß das etwas entschuldigte, aber das würde eine Erklärung sein – eine partielle. Er warf die Zigarette in einen Aschenbecher, ging über den Flur und klopfte bei Kurt an. Sie waren drinnen; er konnte sie hören. „Was ist?“ rief Kurt. „Wir wollen nicht gestört werden. Nicht jetzt.“

„Ich möchte gern mit dir sprechen“, sagte Erik.

„Hat das nicht Zeit?“

Er wurde fast wütend. „Nein!“

„Zum Teufel, ist das ein Befehl?“

Erik faßte die Türklinke. Es war abgeschlossen. „Hör mal“, rief er.

„Ja, ja, immer mit der Ruhe, ich komme.“

Einfach dastehen und eine verschlossene Tür anglotzen, das wollte er nicht. Er kehrte um, rief: „Ich warte also“, und ging zurück zum Balkon.

Es dauerte seine Zeit. Er wurde immer nervöser. Gewisse Grenzen mußte es schließlich geben. Er war drauf und dran, hinzugehen und gegen die Tür zu donnern. Aber gerade da kam der Junge, schlaksig und nonchalant, wie immer. Uff, dachte er. Dumm – dumm, die Situation so zu nehmen. Dann ging ihm das Inkonsequente in seinem Gedankengang auf. Der Junge konnte ja unmöglich wissen ...

„Sag mal“, begann er und bedeutete Kurt mit dem Kopf, daß er sich setzen könne. „Seit wann versorgst du dich mit meinem Kognak?“

Kurt versuchte erstmal verblüfft zu spielen. „Öh, Kognak?!“ Dann grinste er komplicenhaft: „Du hast es also gemerkt.“

Erik begnügte sich mit einem Nicken.

„Das war“, begann Kurt zögernd, „war so ein Abend ...“

„Du hättest doch fragen können!“

„Na ja, aber – öhm – ich wollte dich nicht stören, es war so –“

„Quatsch!“ Erik wußte nicht recht, was er sagen sollte. „Bist du dir darüber im klaren, daß du dir was ziemlich Teures geleistet hast?“

„Eben.“

„Was meinst du mit ‚eben‘?“

Ich kann’s mir nicht leisten.“

„Du meinst also, ich kann das?“

„Jedenfalls besser.“

„Hör mal, ich will dir mal was sagen: wenn ich mir einen kleinen Luxus gönnen möchte, dann muß ich den schon selbst bezahlen. Das wirst du auch lernen.“

„So eine Krämermentalität.“

„Du bist ja gut!“ Es juckte Erik in den Fingern, und er hätte ihn gerne geschüttelt. Aber was erreichte er damit? Er schwieg eine Weile, dann sagte er: „Du hältst es also für nötig, mich zu hintergehn – warum?“

„Na, ich ging davon aus, daß du nicht gerade begeistert gewesen wärst.“

„Natürlich nicht.“

„Und wenn ich gefragt hätte, dann hättest du ihn wohl kaum rausgerückt, wie?“

„Wahrscheinlich nicht.“ Erik dachte ein wenig nach. „Das, worauf du dich hier einläßt, ist nämlich weder unschuldig noch ungefährlich.“

„Man muß die Sachen ja mal probieren“, meinte Kurt, „wenn man was wissen will.“

„Ehrlich gesagt, ich finde, du hast im letzten Jahr etwas reichlich probiert – oder nicht?“

„Nicht mehr als alle andern auch.“

„Wir sprechen von dir. Und mir wäre es lieber gewesen, du wärst zu mir gekommen und hättest es selbst gesagt. Ich weiß nämlich einiges davon, wozu so was, das – bewahre! – ganz unschuldig aussieht – wozu so was führen kann.“

Als Kurt nichts sagte, fügte er ärgerlich hinzu: „Ja, das ist wirklich nur zu deinem Besten, Junge. Du darfst auf keinen Fall in irgendwas reinschlittern.“

„Ich finde, da hat kein anderer seine Nase reinzustecken. Ich werde schon mit mir fertig“, sagte er mürrisch und stand auf. „Sonst noch was?“

„Du hast nicht auf meine Frage geantwortet.“

„Wonach hast du gefragt?“

„Ob es zwischen uns notwendig sein sollte, daß du mich hintergehst. – Aber der Meinung bist du offenbar. Ich denke manchmal darüber nach, ob dir eigentlich aufgegangen ist, wieviel Freiheit ihr hier zu Hause habt und immer gehabt habt. Denk zum Beispiel mal an Kim. – Und dann finde ich, ehrlich gesagt, du könntest wenigstens ein bißchen, wie soll ich es nennen, Anständigkeit, Loyalität, vielleicht Familiengefühl zeigen ...“

„Davon hab ich weiß Gott nichts.“

„So, aber dann Anständigkeit, Mann! Daß du kommst und Bescheid sagst. Ich kann diese Einstellung nicht vertragen: geht dies, dann geht anderes auch. Kleine Betrügereien. Das hast du nicht nötig. Nicht wahr, mein Junge? – Ich kann natürlich nicht dafür garantieren, daß ich nicht mal wütend werde, natürlich werd ich das. Aber wir können doch darüber sprechen. Du bist doch wohl Manns genug, daß du sagen kannst, so und so ... Warum sagst du nichts? Hab ich vielleicht nicht recht?“

„Doch, meinetwegen, da ...“

„Was meinst du damit? Ich habe recht. Wenn ich an meine eigene Kindheit denke, glaubst du, ich hätte jemals gewagt, an den Schrank meines Vaters zu gehn – und dann in diesem Ausmaß!“

„Ich weiß nicht, ob dir aufgegangen ist, daß sich die Zeiten geändert haben.“

„Was heißt, die Zeiten haben sich geändert? So was ändert sich nicht. Es gibt Dinge, die man nicht tut – ganz einfach aus Rücksicht auf sich selbst. Ich möchte, daß du das verstehst. Persönlich kann es mir völlig egal sein, ob du eine Flasche Kognak stiehlst oder nicht.“

„Kaum zu glauben!“

„Halt doch den Mund und denk nach!“

„Wenn ihr Kognak trinkt, können wir das wohl auch.“

„Ich hab damit angefangen, als ich so um die Vierzig war. Du bist einundzwanzig. Komm erst mal ein bißchen in mein Alter, dann können wir darüber sprechen, was ihr – wohl auch könnt.“

„Mehr sind eure Phrasen von Demokratie also nicht wert?“ „Du bist ein kompletter Idiot! – Als ob es überhaupt irgendeine Grundlage für einen Vergleich gäbe! Du solltest etwas reifer werden, das solltest du!“ Er unterbrach sich; wie lächerlich, so was zu einem jungen Mann zu sagen.

„Offen gesagt, Vater, ich hab Gäste.“

„So, du hast Gäste, ja, Gott bewahre – dann verschwinde, aber denk dran, was ich gesagt habe. Und laß die Finger von meinen Sachen!“

Kurt verschwand.

Erik war nicht zufrieden. Er hätte ganz andere Worte finden, etwas ganz anderes sagen müssen. Er fühlte sich merkwürdig betrogen – oder, wie sollte er das erklären –, er hatte erwartet, daß Kurt das anders aufnehmen würde, daß er irgendwie reeller gewesen wäre. So was Ähnliches wie: ‚Ja, du mußt wirklich entschuldigen, Vater.‘ Aber diese stumpfsinnige Art, nur dazustehen und mürrisch zu gucken.

Gunvor rief von unten: „Erik, bist du oben, komm doch mal eben, ja?“

Er konnte an der Stimme hören, daß es wichtig war. Na ja, jetzt hatte er ihm jedenfalls Bescheid gesagt. Er mußte den Burschen von nun an etwas mehr im Auge behalten. Er schloß die Balkontür, sah noch eben, daß Marianne zu Harry auf die Veranda gekommen war. Sie beugte sich herab und küßte ihn. Er schnitt eine Grimasse.

Gunvor saß im Herrenzimmer, Rie stand daneben und sah beleidigt aus. Pusser war offenbar nach Hause gegangen. Er ging zu ihnen hinein und nahm eine Zigarette. Er blieb am Rauchtisch stehen und zündete sie an, immer noch bekümmert. „Was ist denn nun?“ fragte er mürrisch. Gunvor sah ihn von der Seite an, sagte jedoch nichts. „Ich versuche, mit Rie ein bißchen über, ja, also über Pusser zu sprechen. Wie gesagt, Rie, ich habe schon viel früher zu Vater gesagt, daß wir den Ton und die Sprache, die Pusser mitbringt, daß wir das also nicht länger tolerieren können.“

„Früher, das stimmt nicht! Natürlich steckt da Marianne hinter, glaubst du, ich weiß das nicht? Dumme Gans! Nie darf man was zu ihrem – geliiiiiebten Harry sagen!“

„Es ist schon so, wie Mutter sagt“, warf Erik ein, „wir haben darüber gesprochen.“

„Und wenn es so wäre“, meinte Gunvor wahrheitsliebend, „man muß sich ihretwegen jedenfalls bald schämen. Ihr werdet allmählich etwas zu erwachsen. Das hab ich schon öfter gesagt.“

„Dann versteh ich nicht, wieso du das noch mal sagst.“ „Weil ich nicht sehen kann, daß sich etwas geändert hat. Sie muß lernen, sich etwas, hm, gedämpfter zu benehmen.“ „Es ist doch so“, sagte Erik, immer noch mit einem gewissen Wohlwollen für das Mädchen, „daß sie vergißt, Rücksicht auf andere zu nehmen.“

„Tut denn das jemand hier im Haus?“

„Ja, das wird getan.“

„Vielleicht Kurt und Marianne, wie?“

„Jetzt sprechen wir von Pusser. Vielleicht kannst du sie dazu bringen, daß sie – daß sie sich etwas manierlicher aufführt!“ Erik setzte sich zu ihnen. „Du selbst weißt doch, wie du dich zu benehmen hast.“

„Pfui, wie gemein ihr seid!“ Rie schlug auf die Rückenlehne des Stuhls. „Genauso gemein wie vorhin Marianne – ganz genauso –, Pusser erziehen, sie ändern! Aber an ihr soll nichts geändert werden, damit ihr’s wißt, die ist wirklich in Ordnung, und Marianne soll es nur wagen, sie zu kritisieren; wenn wir allein sind, dann soll sie mal ... zum Teufel ...“

„Es sagt ja keiner, daß Pusser nicht in Ordnung ist“, fing Erik an.

„Anders kann man das aber nicht verstehn. – Sie soll geändert werden, weil sie einfach und gradezu ist und es nicht so gut wie gewisse andere versteht, sich einzuschmeicheln.“

„Hör mal“, Gunvor wurde ungeduldig, „das ist doch in ihrem eigenen Interesse! Ich sage es geradeheraus, Rie – wenn sie weiterhin hier ein- und ausgehen will, dann muß sie sich besser benehmen.“

„Ihr wollt mir vielleicht geradezu verbieten, daß ich mit ihr zusammen bin?“

„Selbstverständlich nicht, wann haben wir euch jemals etwas verboten? Sag mir das! – Aber wir wollen nun mal hier alle zusammensein können, auch Mutter und ich, und da muß man eine angemessene Rücksicht verlangen können.“

„Uff, ihr quasselt und quasselt, aber es stört euch natürlich nur, daß sie nicht fein genug ist, nicht so fein wie wir – oder richtiger, wie ihr glaubt, daß wir’s sind.“

„Ach, Unsinn!“ Erik wurde ärgerlich, „wir machen wirklich keinen Unterschied.“

„wenn’s drauf ankommt, macht ihr trotzdem einen. Ihr habt uns selbst beigebracht, daß die Menschen gleich sind. Alles Quatsch!“

Gunvor wurde langsam erregt. „Ich weiß nicht, warum du so verbohrt bist. Du kannst doch wohl selbst ein bißchen denken.“

„Eben das kann ich vielleicht.“

„Was meinst du?“

„Daß ihr bis zum Rand vollgestopft seid mit Vorbehalten und unausgesprochenen Vermutungen, ihr tut so als ob ... redet auch so, aber wenn man das dann wirklich macht, kennt euer Ärger keine Grenzen.“

„Jetzt bist du aber ungerecht!“ rief Gunvor aus.

„Man selbst soll sich an die Theorien halten, die Praxis gilt für alle anderen, doch, ich verstehe langsam“, fuhr Rie erregt fort, „aber wenn ihr glaubt, daß ich Pusser aufgebe, dann irrt ihr euch!“

„Wer sagt, daß du sie im Stich lassen sollst?“ fragte Erik.! „Im Gegenteil, hilf ihr! – Hör mal, wenn jemand das Geringste sagt, was euch verletzen könnte, explodierst du – aber du kommst nicht auf die Idee, daß ich Ausdrücke, die meine Frau verletzen, nicht so einfach tolerieren kann. Wie nun neulich, hm, das mit dem Schaf.“ „Du lieber Gott, seid ihr so zartbesaitet?“

„Zartbesaitet oder nicht, es stört uns. – Überhaupt habt ihr euch ein Benehmen zugelegt, als ob wir so eine Art beschwerliches Anhängsel wären; und daß ihr es wißt, du und Kurt, das ist zufällig unser Heim!“ konstatierte Erik, erhob sich und ging.

Nun reichte es langsam.

„Er ist böse geworden“, sagte Gunvor vorwurfsvoll. „Dazu gehört schon was.“

„Hm!“ sagte Rie.

Erik stand hinter der Garage, wollte für ein paar Augenblicke Ruhe haben. Erst das mit Kurt und dann Ries ungereimte Beschuldigungen. Ziemlich viel auf einmal. Und jedesmal, fand er, kamen sie zu kurz, er und Gunvor. Obwohl das Recht sehr deutlich auf ihrer Seite war, drehten die jungen Leute doch alles um und schafften es, daß das Ganze verkehrt aussah, auch was man selbst sagte, wurde dadurch gleichsam verkehrt. Und verkehrt aufgefaßt. Natürlich hatten sie ihnen beigebracht, daß Arbeiter Madsens Tochter ebenso lieb und nett sei wie andere kleine Mädchen und wie die Töchter von Ingenieur Petersen und daß sie bei den Geburtstagsfesten und was da sonst noch passierte, bei den Spielen und all dem, selbstverständlich nicht ausgeschlossen werden sollte; aber ... er unterbrach sich – betonte er jetzt nicht selbst den Unterschied, den Gunvor und er nach Ries Behauptung machten? Zum Kuckuck, es gibt einen Unterschied. So ist das, obwohl es vielleicht nicht so sein sollte. Aber warum bringt man ihnen dann etwas anderes bei? Der Unterschied ist da. Da kommt man nicht drum herum. Es gibt Dinge, die man versuchen kann zu ändern, aber wenn man es nicht kann, kann man eben nichts machen. Er mußte an die Worte der Jungen denken: „Ihr steckt von vornherein auf. Warum ändert ihr nichts an all dem, was verkehrt ist?“ Aber was kann man tun? Wenn das, was man bisher im Leben ausgerichtet hat, nach bestem Wissen und Gewissen geschah?

Er dachte daran, wie er und Gunvor einmal vor ein paar Jahren in einer Mittsommernacht etwas früher als die anderen vom Johannisfeuer aufgebrochen waren. Die Kinder lärmten hinter ihnen und vollführten, während das Feuer allmählich erlosch, wilde Verrenkungen, um kleine geröstete Semmeln, Würstchen und Kastanien aus der Asche zu retten. Pussers und Ries laute Stimmen und die der Jungen, die so deutlich im Stimmwechsel waren, schallten weithin. Gunvor hatte seinen Arm leicht gedrückt und gesagt: „Du, diese Zeit jetzt, das müssen wohl ‚jene glücklichen Jahre‘ sein.“ Aber sie waren doch noch nicht vorbei. Oder doch? Unsinn, sie waren immer noch mitten drin, natürlich waren sie das. – Sich wegen ’nem bißchen Mißstimmung aus dem Gleis werfen lassen! Die Schmetterlinge sprengen die Puppe, dachte er, das tun sie. Sollte der Teufel Grillen fangen, wenn es einem so gut ging wie ihnen und wenn man so prächtige, gesunde und aufgeweckte Kinder hatte. Sollte der Teufel...!

Pusser kam zum Abendessen wieder. Sie bruzzelten sich alle fünf etwas zusammen und aßen in der Küche. Es ging hoch her dabei. – „Warum war Marianne sauer?“ fragte Kurt. „Weil die Alten sie nicht mitnehmen wollten.“ – „Wollten sie das denn nicht?“ – „Verdamm mich, nein! Das kann man ihnen nicht verdenken. Den ganzen Tag mit diesem Musterknaben Harry rumziehen, wer hält denn das aus?“ – „Nee, das ist wahr.“

Die Jungen wollten in die Stadt, ob die Mädchen mitkommen würden? Sie hatten keine Lust. „Doch, kommt man mit“, sagte Luffe, „das wird kernig!“ Er legte die Hand auf Ries Arm. „Du bist schon ’ne Süße, du.“ – „Pfoten weg!“ fauchte sie und schlug ihm auf die Finger. „Au, verflixt noch mal!“ – „Ach du lieber Gott, rührt dieses Luxustierchen bloß nicht an!“ grinste Kurt, sagte aber zu Pusser: „Ihr könntet wirklich mitkommen.“ – „Du spinnst wohl, wo ich zur Frühschicht muß! Um vier aufstehn, du. Haut bloß ab!“

„Was machen wir jetzt?“ fragte Pusser, als die Jungen losgegangen waren, und streckte sich auf dem Fell vor dem Kamin. „Was ist denn mit Kino?“ Rie sah auf die Uhr: „Wir könnten die Sieben-Uhr-Vorstellung gut schaffen, wolln wir?“ Pusser wußte nicht recht, was sonst? Was im Fernsehen? Sie sahen nach. „Ballett – dazu hab ich heut keine Lust.“ Man könnte ja hingehen und sich die ausgestellten Bilder angucken und mal sehen, ob da ein paar Leute wären. Aber da würde wohl keiner sein, die waren sicher alle weggefahren, Sonntagabend, puh, tot.

Sie gingen nach oben und machten sich fertig. „Das ist ’ne verdammt gute Créme, was deine Alte da hat“, sagte Pusser und langte ordentlich hinein. Rie guckte nervös. „Paß mal ’n bißchen auf, du, sie hat mir heute nachmittag ein paar Takte erzählt.“ – „Was sagst du da?“ Pusser drehte sich auf dem Hocker um. „Was hat sie denn gesagt?“ fragte sie mit schmalen Lippen und verrieb die Créme auf Nase und Wangen. Rie gab das Gespräch wieder, brauchte dafür einen ganzen Wortschwall, sie bogen sich vor Lachen.

„Aber werd nun wenigstens nicht noch frecher“, sagte Rie zum Schluß, „denn dann gibt es noch ein Unglück.“ – „Und was dann? Richtest du dich etwa nach denen?“ – „Denke nicht dran, und das hab ich auch gesagt – ‚wenn Pusser nicht herkommen darf, dann geh ich zu Pusser‘.“ – „Na ja“, sagte Pusser und kaute ein bißchen daran herum, während sie in den Spiegel sah, „na ja.“ Rie konnte sehen, daß diese Lösung nicht ganz nach Pussers Geschmack war, und wurde leicht verstimmt. In Wirklichkeit machte Pusser der Aufenthalt hier vielleicht den meisten Spaß. Sie schämte sich jedoch gleich – wie konnte sie auf so einen Gedanken kommen! –, sprang auf und rief: „Los, haun wir ab!“ und lief die Treppe hinunter.

Im Foyer des Kinos standen nur ein paar Ausländer und ein paar Halbwüchsige. „Hab ich’s nicht gesagt?“ seufzte Rie und sah sich die Bilder an. „Nicht eine Seele!“ – „Sieht ja doll aus, nicht?“ sagte Pusser, „ich glaube, der ist kernig.“ – „Meinst du?“ erwiderte Rie.

Eine kleine Schar von Ausländern kam hinzu. Rie zuckte zusammen. Da war er ja, der mit dem Blick. Er sah sie wieder an, sie wandte ihm den Rücken zu. „Wolln wir nun?“ fragte Pusser. – Rie tat, als ob sie im Zweifel wäre. Drinnen fingen die Reklamefilme an. „Ich weiß eigentlich auch nicht recht ...“, meinte Pusser zögernd. „Andererseits, wenn wir nun schon mal hier sind. Komm!“ Rie ging entschlossen zur Kasse. Der Fremde trat aus seiner Gruppe heraus und stellte sich gleich hinter ihr an. Sie spürte seine Nähe und merkte, daß er sie ansah. Als sie das Wechselgeld zusammensuchte und in das offene Portemonnaie fallen ließ, sah sie, wie eine schmale braune Hand das Eintrittsgeld hinschob. Er soll nicht direkt neben mir sitzen, dachte sie, lief in den Saal. Aber als sie zu ihrer Reihe kam und als erste hineingehen wollte, drängte sich Pusser vor, rief jemandem, der neben ihnen saß, „hej, hej“ zu und nahm mit dem üblichen Getöse Platz. Rie stand etwas unsicher da. „Wolln wir nicht tauschen?“ – „Warum denn?“ – „Ah, die da – der Hut“, stotterte Rie. Und Pusser schrie unverdrossen: „Nichts da – Hut runter, Madam!“ – „Pst!“ sagte Rie. Im selben Augenblick kam der Fremde in die Reihe; und um nicht noch mehr Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, setzte sich Rie. Er nahm neben ihr Platz. Es wurde dunkel, und man zeigte die Vorschau für die nächsten Filme. Rie spürte die ganze Zeit den Mann neben sich. Als es wieder hell wurde, drehte sich Pusser herum, um etwas zu sagen, erkannte aber den Fremden, beugte sich vor und griff ihn beim Arm: „Hej, Aleksei!“ Der Mann grüßte auf eine eigenartig höfliche und fremde Art. Pusser war nicht diejenige, die eine Gelegenheit versäumte, Informationen von sich zu geben. „Ich und der ...“ – „Er und ich“, korrigierte Rie. „Was sagst du?“ – „Ach Scheiße, nichts.“ – „Ich und der, wir arbeiten zusammen, du, manchmal. Er ist Zwiebelkocher.“ – „So“, sagte Rie, „Zwiebelkocher?“ Unwillkürlich fing sie an zu schnüffeln. Pusser bog sich vor Lachen. „Ja, da hast du schon recht, das bleibt aber auch überall hängen. Puh, ich bin selbst an dem Fließband gewesen.“

Rie hatte aber keinen unangenehmen Geruch wahrnehmen können, und sie bemerkte, daß die braunen Hände, die er in seinem Schoß gefaltet hielt, sauber und gepflegt aussahen. Er rückte ein bißchen auf seinem Stuhl hin und her und lächelte etwas verlegen über Pussers Gequatsche, das er offensichtlich nicht verstand. „Er ist Grieche“, erklärte Pusser und konnte auch noch erzählen, daß er nicht die Bohne von ihrer Sprache verstehe, das sei doch zum Piepen, wo er schon so lange hier sei? „Wie lange?“ fragte Rie. „Ein paar Monate bestimmt.“ Dann begann der Film. Rie mußte die ganze Zeit an den Blick denken, mit dem er sie beim erstenmal angesehen hatte. Sie wollte es ihm erklären; aber was sie da erklären sollte, darüber dachte sie nicht näher nach, sie meinte nur, daß irgendeine Erklärung nötig sei. Er mußte verstehen, daß sie gar nicht so war, er durfte nicht glauben, nur weil sie sich gerade diesmal ein bißchen albern und gänschenhaft benommen hatte, daß ..., aber er verstand ja nichts, nicht mal die Sprache. Wie sollte man denn ... Nein, sie wollte überhaupt gar nicht mehr an ihn denken, sollte der doch glauben und denken, was er wollte. Trotzdem spürte sie es, wenn er den Blick von der Leinwand abwandte und sie ansah. Sie fühlte sich unsicher; müßte sie nicht eigentlich böse werden, sich das hier verbitten – aber wie das, wenn er nichts verstand? Sie setzte sich gerade hin und sah unnahbar aus.

In der Pause, die mit Rücksicht auf den lokalen Schokoladenverkauf gemacht wurde, drängten sich die Leute hinaus ins Foyer. Pusser alberte herum, wie üblich. Rie fand den Haufen auf einmal etwas zu laut. Sie knuffte Pusser, wollte sie ein bißchen über ihn ausfragen, überlegte sich das jedoch. Wer konnte dafür garantieren, daß Pusser nicht auch daraus was zum Albern machte; das Gelächter, das sie beim Mittagessen angeschlagen hatten, genügte. Sie entfernte sich ein Stück von der Gruppe, tat, als ob sie die Szenenfotos studiere. Sie spürte, wie der Fremde an ihr vorbei ins Freie ging. Er blieb draußen auf der Treppe stehen und zündete sich eine Zigarette an. Ein zweiter Ausländer kam zu ihm. Sie sprachen nicht miteinander, standen nur da und sahen auf die Straße. Sie sah zu ihnen hinüber. Im gleichen Augenblick wandte er sich um, und wieder trafen sich ihre Blicke, aber diesmal – sie spürte so etwas wie Triumph – lächelte er, und aus lauter Erleichterung – natürlich war es nur das –, aus Erleichterung darüber, daß er begriff, daß sie nicht so – so war, wie er wohl geglaubt hatte, lächelte sie zurück, drehte sich dann aber gleich um und ging langsam zu ihren Leuten.

Als sie wieder in den Saal gingen, stand er an die Wand gelehnt und wartete, bis sie sich gesetzt hatte. Pusser, die mit beneidenswerter Selbstverständlichkeit alle die Brokken „Ausländisch“ die sie im Laufe der Zeit in der Fabrik aufgeschnappt hatte, durcheinandermischte, beugte sich wieder über Rie, sah den Fremden an, schob den Arm unter Ries, lächelte, wie Rie fand, ihr allersüßestes Katzenlächeln, verdrehte die Augen unter dem blonden zerzausten Haar, deutete zuerst auf Rie, dann auf sich selbst und sagte: „Amigo, amigo.“ Amigo, dachte Rie, das ist doch nicht griechisch, aber der Mann verstand Pusser offensichtlich, er nickte zurück und sagte dann: „Nome amici?“

„Gott!“ rief Pusser begeistert aus und knuffte Rie in die Seite, „er hat’s kapiert!“ Und zu ihm, ganz langsam: „Rie Fenskov.“

„Rie Fenskov“, wiederholte der Fremde mit starkem Akzent, machte eine leichte Verbeugung, reichte die Hand, erst etwas zögernd, dann aber mutiger, und sagte: „Aleksei Papaphokio.“

„Was hast du gesagt?“ schrie Pusser. Er lächelte. Rie, die sich wegen Pusser wieder etwas verlegen fühlte, gab ihm schnell die Hand – ein kurzer, vorsichtiger Händedruck, dann zog sie ihre Hand hastig wieder zurück. Er wiederholte den Namen. „Du meine Güte“, sagte Pusser, „wie kann man bloß so heißen!“

Der Film begann wieder.

Eigentlich komisch, dachte Rie, als sie sich für die Nacht zurechtmachte, da erzählen sie so viel von den Ausländern und wie aufdringlich sie sind; er hat nicht mal versucht, zufällig meinen Arm zu streifen. Natürlich, sie hätte getobt – aber da konnte man mal sehn.

Alle meine Kinder

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