Читать книгу 10 Galaktische Abenteuer Box 4 - divers - Страница 8

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Der Strahl der Taschenlampe stach durch die Nacht und blieb an der Verriegelung eines Stahlcontainers kleben. Es handelte sich um ein Spezialschloss, das nur für diese besonderen Container angebracht worden war.

Walther Jaspers grinste breit, als er in seiner Regenjacke nach dem Code-Stick tastete, den er dem wachhabenden Offizier praktisch unter der Nase weggestohlen hatte. Fest umklammerten seine Finger das kühle Metall. Dann blickte sich Jaspers mehrmals um, um auch wirklich sicherzugehen, unbeobachtet zu sein. Aber da konnte er relativ beruhigt sein; um kurz vor Mitternacht trieb sich kaum mehr jemand auf dem Oberdeck herum.

Die Taschenlampe zwischen den Zähnen machte er sich an dem Schloss zu schaffen. Der Code-Stick blinkte mehrmals rot auf, als Jaspers ihn in den Slot des Containerschlosses einführte. Rasch tippte er den Entsperr-Code ein, den er von einem befreundeten Systemadministrator bekommen hatte, und nahm die Lampe wieder in die Hand.

»Gleich werden wir sehen«, flüsterte er sich selbst mit triumphierendem Grinsen zu, »was Captain Blunt zu verbergen hat …«

Die Farbe der Leuchtdiode am Code-Stick wechselte von Rot nach Grün. Walther Jaspers packte mit der Linken den Steggriff der Tür und zog sie vorsichtig auf. Vernehmlich knirschend öffnete sie sich, sodass Jaspers zusammenzuckte und einen Blick über die Schulter warf, ob das Geräusch unwillkommene Zuschauer angelockt hatte. Im Anschluss steckte er den Kopf in den düsteren Spalt, der sich vor ihm auftat, zwängte die Hand mit der Taschenlampe hindurch und leuchtete ins Innere des Containers.

»Was ist denn das?« Seine Brauen zogen sich zusammen. Ein leicht angewiderter Ausdruck stahl sich auf seine Züge.

Mit der Schulter drückte er die Stahltür weiter auf und vergrößerte den Spalt, in dem er stand. Der Lichtkegel der Taschenlampe wanderte langsam über eine undefinierbare, weißgraue Masse. Jaspers erschrak heftig, als er in dem hellen Schein eine ruckartige Bewegung ausmachte. Nur für den Bruchteil eines Lidschlags. Und doch so deutlich wahrnehmbar, dass Walther Jaspers fror, als stünde er in durchnässter Kleidung im schneidenden Polarwind.

Noch bevor er seine Beobachtung verarbeiten konnte oder in der Lage gewesen wäre, in irgendeiner Art auf sie zu reagieren, hörte er ein dröhnendes Grollen und fühlte entsetzt, dass etwas nach ihm griff! Dieses Etwas schnappte mit brutaler Gewalt nach ihm, riss ihn in die Dunkelheit des Containers, noch bevor Jaspers einen Angstschrei hätte loslassen können.

Sein gellender Schrei erstickte noch in der Kehle! Schon schwappte Blut aus dem düsteren Spalt, klatschte auf den Boden und sprenkelte ihn mit roten Tupfen. Würgen, Grunzen und Laute, die sich nach dem Schmatzen klebrigen Matsches anhörten, drangen aus dem Container nach draußen.

Die Taschenlampe, die Walther Jaspers durch den Angriff aus der Hand gefallen war, rollte im Halbkreis über den Boden des Oberdecks und blieb wie von Geisterhand gesteuert vor dem Spalt der halb geöffneten Containertür liegen. Was sich in ihrem Schein offenbarte, hätte einen zufälligen Beobachter an den Rand des Wahnsinns getrieben und vor seelischer Agonie haltlos brüllen lassen.

Doch schon eine Sekunde darauf verlöschte der Lichtstrahl, als ein Schwall aus Fleisch und Gedärm die Taschenlampe unter sich begrub!

*

Gemächlich schleppte sich das Containerschiff MS ›Commonwealth‹ durch die sternenlose Nacht über dem Golf von Mexiko. Die See war ruhig; ein schwarzer, glänzender Spiegel im Kegel der Schiffsscheinwerfer.

»Bei konstanter Fahrt erreichen wir morgen gegen Abend METROCITY III.«

Hellmar Kronen, 1. Maat der ›Commonwealth‹, sah Captain Jorge Blunt an, der regungslos von der Brücke aus in die Nacht starrte.

»Worauf Sie sich verlassen können, Kronen!« Nicht der Captain hatte gesprochen, sondern Maschinenführer Till Tempest, der in genau diesem Augenblick die Brücke betrat und zumindest die letzten Worte des 1. Maats noch mitbekommen hatte.

»Was machen Sie hier?«, fuhr Kronen herum. »Haben Sie nicht noch etwas Wichtiges im Maschinenraum zu verschrauben?«

»Da würde ich gerne mal bei den lockeren Dingern in Ihrem Schädel anfangen!«, knurrte Tempest zurück. »Keine Bange, Kronen: Meine Männer bugsieren den Kahn schon ans Ziel.«

»Mit dem Flickwerk, das Sie bei den Motoren hinterlassen haben und dreist als professionelle Reparatur bezeichnen, werden wir den nächsten Hafen wohl nur im Schlepptau erreichen.«

»Die ›Commonwealth‹ ist keine gelenkige Jungfrau mehr, sondern ein altes, narbiges Mädchen«, verteidigte sich Till Tempest und merkte, wie ihm die Zornesröte ins Gesicht stieg. »Seien Sie froh, dass sie sich überhaupt bewegt! Das ist unter diesen Umständen nämlich schon fast ein Wunder …!«

»Seemänner und ihre Weibergeschichten«, versetzte Hellmar Kronen herablassend. »Klar, dass unter so viel Romantik die eigentliche Arbeit leidet.«

Tempest riss drohend den Zeigefinger hoch.

»Das sagen Sie doch bloß, weil Sie doch nur den Seemann spielen und an sich ein Stubenhocker sind!«

»Und Sie«, erregte sich nun auch der 1. Maat, »haben Ihren Schraubenschlüssel doch lediglich als Phallusersatz!«

»Elende Landratte!«, keuchte Till Tempest wütend.

»Schmieriger Hobbymechaniker!«, blaffte Kronen zurück.

Mühsam hielten die beiden Männer sich zurück, nicht sofort übereinander herzufallen. Als es dann doch so aussah, als könnten sie der Versuchung nicht widerstehen, schaltete sich Captain Jorge Blunt ein, der bisher nur stumm gelauscht hatte.

»Bitte! Meine Herren!«, sagte er scharf. In seinen Augen funkelte wilde Entschlossenheit, wenn er auch äußerlich gefasst wirkte. »Wenn Sie freundlicherweise Ihren Disput zu den Akten legen könnten, damit Ihre volle Aufmerksamkeit der gegenwärtigen Situation gilt.«

»Welche Situation?« Hellmar Kronen warf dem Maschinenführer rasch noch einen geringschätzigen Blick zu, bevor er durch die Panoramaverglasung der Brücke auf die See schaute, die von den Scheinwerfern aus der Finsternis gerissen wurde. »Ist doch alles ruhig, Captain.«

Beinahe mitleidig schaute Jorge Blunt seinen 1. Maat an.

»Mister Kronen«, sagte er in belehrendem Tonfall, »angesichts einer Fracht wie der unseren, ist es niemals ruhig.«

Hellmar Kronen wurde blass. Magisch wurden seine Augen von den Containern angezogen, die sich tief unten auf Deck in langen Reihen aneinanderdrängten. Er konnte nicht viel erkennen, wusste aber nur zu genau, wovon der Captain sprach.

»Was transportieren wir da eigentlich?« Der 1. Maat hatte die Frage schon so oft gestellt und keine befriedigende Antwort darauf erhalten, dass die erneute Wiederholung eine absurde Groteske darstellte. Dieses Mal jedoch schien sich Jorge Blunt überraschenderweise zu einer Erklärung hinreißen zu lassen.

»Überlegen Sie doch mal, Kronen. Abgesehen von unserer normalen Fracht, stammen viele der Container aus dieser Erdölraffinerie in Midland.«

»Das weiß ich.«

»Dann wissen Sie sicherlich auch, dass diese Raffinerie schon seit Jahrzehnten stillgelegt ist.«

»Sicher …«

Captain Jorge Blunt schmunzelte.

»Also überlegen Sie mal fleißig, welches Produkt einer außer Betrieb befindlichen Erdölraffinerie wir wohl an Bord haben könnten, Kronen.«

»Was soll das heißen?«, wurden Hellmar Kronens Augen groß und rund. »Das kann jedes nur erdenkliche Produkt sein. Wie soll ich jemals das richtige herausfinden?«

»Sehen Sie«, erwiderte der Captain, »genau das habe ich mir auch gedacht. Und seitdem mache ich mir keine Gedanken mehr über unsere Fracht, sondern nur über die Bezahlung. In dem sozialistischen Sumpf unserer verlogenen Gesellschaft ist Bares das einzige Mittel, das jeder kennt und versteht …«

»Demnach wissen auch Sie nicht, was sich in den Containern befindet?«, hakte Kronen nach.

»Deshalb sind Sie der 1. Maat«, lächelte Blunt, »weil Sie mit dieser überlegenen Kombinationsgabe gesegnet sind.«

Till Tempest unterdrückte einen spontanen Lachanfall, was in einem prustenden Grunzen endete.

»Amüsieren Sie sich über irgendetwas?«, fuhr Hellmar Kronen den Maschinenführer barsch an.

»Hab mich verschluckt«, entgegnete Tempest und hatte Mühe, seine entgleisten Gesichtszüge einzurenken.

»Schluss jetzt mit den Streitereien!«, brauste Jorge Blunt auf. »Im Moment haben wir andere Sorgen, als uns mit Kleinkinderquerelen zu beschäftigen!«

Hellmar Kronen setzte eine interessierte, aber ratlose Miene auf.

»Wovon reden Sie, Sir? Was bereitet Ihnen Sorgen …?«

Der Captain ließ einige Sekunden verstreichen, in denen er in die Nacht vor dem Bug des Containerschiffes hinaussah auf die fast unbewegte See.

»Es ist diese Ruhe«, war seine Stimme ein raues Flüstern. »Diese gottverdammte Ruhe …«

»Die Ruhe vor dem Sturm«, fügte Till Tempest hinzu und bekam plötzlich einen verklärten Blick, der seine Augen wie Glasmurmeln erscheinen ließ.

Die äußere Stille breitete sich nun auch auf der Brücke aus, bis sie vom Schrillen eines Funkempfängers brutal unterbrochen wurde.

»Sicherheit an Captain!«, schnarrte es aus den Lautsprechern. »Wir haben bei den Containern die Leiche eines Menschen gefunden!«

Sofort war Blunt am Mikrofon.

»Was ist geschehen? Um wen handelt es sich!«

»Das … lässt sich nicht genau sagen! Der oder die Tote ist grässlich verstümmelt. Es ist furchtbar, Sir! So etwas haben wir noch nicht gesehen …!« Deutlich war aus der Leitung vernehmbar, dass sich jemand erbrach.

»Ich komme runter«, sprach der Captain tonlos ins Mikrofon. Und an Kronen und Tempest gerichtet fuhr er fort: »Es geht los, meine Herren …«

Keine zwei Lidschläge darauf wurde der Rumpf der MS ›Commonwealth‹ von einem verheerenden Schlag erschüttert!

*

Blunt, Kronen und Tempest wurden von den Füßen gerissen, stießen hart gegen Konsolen und gingen aufstöhnend zu Boden.

»Himmel!«, schrie der 1. Maat. »Wir sind auf Grund gelaufen!«

»Verfluchter Unsinn!«, presste Captain Blunt hervor, über dessen Lippen ein breites Blutrinnsal lief. »Das ist ein Angriff …!«

Zwischen Hellmar Kronen und Maschinenführer Till Tempest herrschte einvernehmliche Übereinstimmung, als sie sich ansahen und beide wussten, dass der Captain verrückt geworden war.

Erneut schwang der Rumpf des Containerschiffes wie ein gigantischer Resonanzkörper, als ein weiterer Schlag erfolgte und durch die Brückenverglasung der sich aufbäumende und seitwärts wegkippende Bug der MS ›Commonwealth‹ sichtbar wurde.

Jorge Blunt musste seine gesamte Körperkraft aufbringen, sich an der Steuerkonsole hochzuziehen, ohne quer durch den Brückenraum geschleudert zu werden. Kronen und Tempest schenkte er keine Sekunde seiner Aufmerksamkeit mehr, als sich seine Pupillen an einem Objekt festsaugten, das sich an der Außenwandung des Schiffes hochzog, sich darum schlang und immer größer zu werden schien.

Der Atem stockte dem Captain, als er die wahren Ausmaße einer Kreatur zu erahnen begann, die mit ihrem titanischen Leib und einer Unzahl an Pseudopodien den 150.000-GRT**Gross Registered Tons = Bruttoregistertonnen bzw. Bruttoraumzahl-Frachter nicht nur zum Stillstand brachte, sondern ihn jederzeit versenken konnte. Diese Bestie der See hielt den Schiffsrumpf unerbittlich umklammert. Der Stahl ächzte bereits markerschütternd unter dem Zugriff der mächtigen Tentakel.

Noch schien das Monstrum unschlüssig, was es mit seiner Beute zu tun gedachte. Doch Captain Jorge Blunt wusste, dass seine Zeit und die seiner Crew lediglich noch nach Minuten zählte. Oder weniger.

Er stürzte zum Funkgerät, stellte eine Frequenz ein und wartete mit angespannten Nerven, dass an der Gegenstation abgenommen wurde.

»Sie wissen doch, dass Sie diese Leitung nicht ohne Ortungsschutz benutzen dürfen«, meldete sich eine vorwurfsvolle, aber dennoch freundlich intonierte Stimme.

»Keine Zeit für Verschlüsselungen!«, spie der Captain regelrecht ins Mikrofon. »Ihre Ladung ist extrem gefährdet! Ich rechne mit dem völligen Verlust! Da ist etwas schiefgegangen! Wir werden alle draufgehen …!«

In der Leitung knackte es. Danach folgte ein Rauschen.

»Dieser verfluchte Bastard!«, presste Jorge Blut zwischen den Zähnen hervor.

»Von wem reden Sie, großer Gott?«, standen Hellmar Kronen die Haare zu Berge.

Die Brücke vibrierte. Jeder hatte Mühe, festen Halt zu bewahren.

»Vom Satan persönlich«, erwiderte der Captain nach einigen Momenten.

Vom Wasser her ertönte ein grausiges Heulen. Die Meereskreatur drückte den Bug der ›Commonwealth‹ mühelos unter Wasser, sodass sich das Heck des Schiffes fast senkrecht aufrichtete. Tosend ergossen sich die Containerreihen in die aufschäumenden Fluten. Durch die Fenstergalerie der Brücke sahen die drei Offiziere den Meeresspiegel rasend schnell näher kommen. Eine Möglichkeit zur Flucht gab es nicht mehr.

Commonwealth, sinnierte Captain Blunt in den letzten Sekunden seines Lebens, wie widersinnig der Name doch klingt, wenn man weiß, wer hinter der Unternehmung steckt …

Die Fluten sprengten die Verglasung der Brücke und verschluckten die drei Männer.

Blasen werfend versank das Containerschiff in der kochenden See …

*

Von den Wänden der kleinen Suite im Hotel ›Les Cinq Étoiles‹ hallte ekstatisches Stöhnen wider.

»Oh ja! Schieb ihn mir tief rein!«

Nicoleta Belà reckte ihr Gesäß weit heraus, während Jericho sie von hinten nahm und heftig in sie eindrang.

»Ich spür’s kommen!«, stieß Nici keuchend hervor und erwiderte die wilden Stöße ihres Liebhabers. »Ja! Ja! – Jetzt!!!«

Von Zuckungen durchgeschüttelt bäumte Nici sich auf, krallte ihre Finger in das Laken und drückte ihr Gesicht hinein. Die Wogen des Orgasmus schossen wie elektrische Entladungen durch ihren Körper. Gleichzeitig zog Jericho seinen Freudenspender aus ihrer Vagina und ergoss sich auf den prallen Hintern seiner Freundin.

»Wow!«, sagte er ein wenig kurzatmig. »Das war mal wieder ein Fick ganz nach meinem Geschmack.«

Noch ein paar Sekunden gab sich Nici den Wellen der Lust hin, die sie immer noch durchströmten, wälzte sich schließlich zur Seite und sah Jericho streng an.

»Hast du denn sonst was auszusetzen an der Bett-Action?« Sie lag nackt vor ihm und wippte mit einem Bein.

»Nö, war doch ganz okay.« Jericho wollte einen treuherzigen Blick aufsetzen, was völlig misslang und ihm ein eher dümmliches Aussehen verlieh.

»Ganz okay«, betonte Nicoleta die beiden Worte, »heißt nichts anderes als ordinäre Hausmannskost.«

»Aber daran ist doch nichts auszusetzen«, bekräftigte Jericho, rutschte vom Bett und griff nach seiner Kleidung. »Außerdem sagte ich doch, dass der Sex richtig gut war.«

»Mit der kleinen Einschränkung, dass du dir wohl etwas anderes vorgestellt hast, was ihn herausragend gemacht hätte.« Sie funkelte den Söldner provozierend an.

»Nein, wirklich«, wehrte er ab. »Du hast mich irre geil gemacht, wir sind beide gleichzeitig gekommen, und das Feeling war einfach super …«

»Red dich nur raus«, ließ Nici nicht locker. »Aber hab wenigstens den Anstand, mir von deinen wahren Wünschen zu erzählen. Ich hätte da nämlich auch ein paar Kleinigkeiten, die verbesserungswürdig wären.«

»So?« Jericho schaute verdutzt drein. »Was denn für Verbesserungen …?«

»Erst du!«, sagte sie forsch und nickte ihm mit dem Kinn zu.

»Also schön.« Er ließ die Kleidung wieder fallen, beugte sich zu Nicoleta hin und flüsterte ihr ins Ohr. Dann stellte er sich neben das Bett und sah sie erwartungsvoll an.

»Du kleiner, perverser Schmutzfink«, raunte Nici ihm mit breitem Grinsen zu. »So läuft der Hase also …«

»Du wolltest es ja unbedingt wissen …«

»Dann hör dir mal meine Vorschläge an«, winkte Nici ihn heran.

Als Jerichos Ohr sich an ihrem Mund befand, flüsterte sie ihm ebenfalls etwas zu. Allerdings nahm er es nicht mit der Gelassenheit auf, die seine Freundin an den Tag gelegt hatte.

»Du machst Witze, ja?«, sagte er perplex und verlieh seiner Miene den Ausdruck von Fassungslosigkeit.

»Nicht im Mindesten«, erwiderte Nici. »Schließlich geht es hier nicht allein um dein Vergnügen.«

Es klopfte an die Zimmertür. Jericho zog sich flink Shorts über und schlüpfte in die untere Hälfte seiner Nano-Panzerung.

»Wir reden zu Hause weiter«, sagte er hart, ging zur Tür und öffnete sie.

Seine Verblüffung steigerte sich noch, als er einem kindlich wirkenden Hotelboy mit streng gescheiteltem Haar und zierlichem, gestutztem Oberlippenbart gegenüberstand.

»Goten Morgen, werter Herr!«, sagte der kleine, quirlige Kerl im Pagendress des Hotels. »Öch bringe Ihnen Fröhstöck mit den besten Empfehlungen des Hauses!«

»Nun sieh mal einer an«, besserte sich Jerichos Laune schlagartig. »Ein abgebrochener Riese mit Servierwagen. Wie finde ich denn das?«

»Lassen Sie sich von meiner oißeren Erscheinung nicht toischen«, entgegnete der Hoteljunge. »Öch bin reinen Geblöts und kann eine beeindruckende Ahnenreihe vorweisen.«

»Da bin ich sicher«, lachte ihn Jericho breit an. »Zähl mal auf, du Lusche, wer sich in deinem Stammbaum so tummelt.«

»Öch verzeihe Ihnen die verbale Entgleisung, werter Herr!«, sagte der Page jovial. »Mein Name ist Alfons Hilter.« Er sah Jericho auf eine Weise an, als erwarte er eine verstehende Reaktion. Jericho jedoch blieb bei seinem frechen Grinsen, was den jugendlichen Hilter veranlasste, eine nähere Erklärung abzugeben.

»Öch stamme ab von einer der bedoitendsten Größen der Weltpolitik. In direkter Linie sozusagen. Daher sehe öch meine Aufgabe in diesem Etablissement lediglich als Sprungbrett zu großen Taten, die noch vor mir liegen.«

»Fang doch erst mal mit kleinen Taten an, Hoschi«, warf Jericho ein, »und fahr das Frühstück ins Zimmer.«

»He!«, rief Nici vom Bett aus. »Lass den Wichtel draußen! Ich liege hier splitterfasernackt!«

»Nun denn«, meinte Jericho und starrte Alfons Hilter glasig an, »dann schiebe ich das Teil selbst rein.«

»Selbstverständlich«, gab Hilter zur Antwort. »Öch froie mich, Ihre Bekanntschaft gemacht zu haben!« Der Hotelboy drehte sich zackig auf dem Absatz herum und wanderte steif wie ein Spazierstock den Gang hinunter.

»Komischer Kauz«, wandte sich Jericho an Nici und zog den Servierwagen in die Suite.

»Hält sich wohl für einen Hitler-Spross«, kommentierte die Rumänin den Auftritt des Hotelboys. »Allein die Aussprache spricht Bände, ganz zu schweigen von dem fettigen Scheitel und der Rotzbremse.«

»Hitler«, antworte Jericho zögerlich, »das ist doch der Bastard, der die Juden aufgemischt hat …«

Nicoleta schmunzelte.

»Deine profunden Geschichtskenntnisse zeichnen dich als Mann von Welt aus.«

»Aber weshalb sollte jemand mit solchen Ahnen prahlen wollen? Der Hitler-Hoschi war doch ein kümmerlicher Zwerg.«

»Aber er hat einiges bewirkt«, stellte Nici richtig und schwang sich aus dem Bett. »Und wie bei Dschingis Khan oder Napoleon erzeugt die verstrichene Zeit ein verschwommenes Bild der Ereignisse. Das verklärt den Blick für die Tatsachen.«

»Bist ja ’ne richtige Bildungsleuchte«, grinste Jericho. Er war mit den Gedanken bereits beim Frühstück, dessen verführerischer Duft ihm in die Nase stieg. »Rühreier, Speck und Rostbratwürstchen. Da fängt der Tag doch absolut edel an.«

»Der Tag hat schon edel angefangen, als du mich eben durchgebumst hast«, widersprach Nici und zeigte erneut das angriffslustige Funkeln ihrer Augen. »Oder hast du das bereits vergessen, Großer?«

»Hab mich versprochen«, lenkte Jericho ein und machte sich bereits über das Essen her. »An den Service könnte ich mich gewöhnen. Besonders wenn man bedenkt, dass dieser aufgeblasene Beck die Zeche zahlt.«

»Bei der Gelegenheit erkundigst du dich am besten Mal nach dem Fortschritt der Reparaturen am Aero-Car.« Nici tapste barfuß an den Servierwagen heran und schnappte nach einem Würstchen. »Ich möchte sobald wie möglich zurück in die Heimat.«

»Uns geht’s doch gut in METROCITY II«, versetzte Jericho mit vollem Mund. »Lass uns das noch ein paar Tage genießen.«

»Mir steckt das Luftduell mit der ARKTUR CARION noch in den Knochen.**siehe BLACK JERICHO #5: »Armee der Vergessenen« Und im Loft kann ich am besten ausspannen.«

In dem Moment schlug das Zimmer-Visiophone an.

»Wer zum Henker will denn nun wieder was von uns?« Unwirsch linste Jericho zum Visiophone hinüber, das gleich neben dem Bett auf dem Nachttisch stand.

»Geh ran und du erfährst es«, sagte Nici fröhlich und nahm sich einen Teller mit Rührei.

Jericho kaute zu Ende und nahm das Gespräch entgegen. Auf dem Schirm erschien das unverbindlich dreinblickende Gesicht eines Rezeptionsangestellten.

»Ein Anruf aus Übersee für Sie, Sir«, sagte eine Stimme.

»Her damit!«, erwiderte Jericho brüsk.

Das Bild auf dem kleinen Monitor wechselte, und Jericho stieß einen Seufzer aus, als er das Gesicht erkannte, in dem der prägendste Bestandteil die obligatorische Sonnenbrille war.

»Beck!«, zischte Jericho. »Welchem Umstand verdanken wir Ihre persönliche Kontaktaufnahme? Wenn’s um das Aero-Car geht: Das ist noch in der Werkstatt. Kann dauern. Aber wir wissen zu schätzen, dass Sie sich derart rührend um uns kümmern.«

»Unterlassen Sie Ihren süffisanten Ton, Mister Blane!«, gab GSA**Global Security Agency, hervorgegangen aus dem US-amerikanischen Nachrichtendienst NSA-Agent Anthony Beck einen scharfen Kommentar ab. »Die Regierung braucht Ihre einzigartigen Talente, nicht Ihre drittklassige Rhetorik!«

»Ich bin zu allem bereit, wenn ich fertig gefrühstückt habe«, überging Jericho die Zurechtweisung. »Aber ohne mobilen Untersatz bin ich für Sie nicht von großem Nutzen.«

»Dann forcieren Sie die Fertigstellung Ihres Gleiters! Die notwendigen Mittel werden Ihnen zur Verfügung gestellt.«

»Das ist ein Wort!« Jericho knipste Nici ein Auge und hob den Daumen.

»Ich werde Ihnen Ihre Aufgabe in groben Zügen darlegen«, fuhr Agent Beck fort. »Meine Spezialisten konnten gestern den Notruf eines Containerschiffes abfangen, das im Golf von Mexiko kreuzte.«

»Hm, da kommt ja echte Urlaubsstimmung auf …«

»Ich bin noch nicht fertig, Blane!«, wurde Beck laut. »Wenn Sie mich freundlicherweise ausreden lassen würden …«

»Nur zu«, entgegnete Jericho heiter.

»Das Schiff, die MS ›Commonwealth‹ hatte eine außergewöhnliche Fracht geladen, über deren Herkunft und Inhalt wir bedauerlicherweise nichts wissen. Dennoch schätzen wir sie als Risiko ein und erwarten, dass Sie, Mister Blane, sich vor Ort kundig machen und herausfinden, worum es sich handelt und wer der Auftraggeber ist.«

»Mächtig viel Wirbel um ein paar Kisten«, hielt Jericho dagegen.

»Es handelt sich unserer Vermutung nach um eine größere Anzahl FEU**Forty-Foot Equivalent Unit = 40 Fuß oder 12,19 Meter-Container mit einem Füllvolumen von 67,6 Kubikmetern oder 26,5 Tonnen. Sie werden verstehen, dass uns diese Mengenangaben einiges Kopfzerbrechen bereiten.«

»Ich kann mich darum kümmern, wenn Sie sich im Gegenzug um das Aero-Car bemühen.«

»Ich regele das mit einer Blitzüberweisung. Sehen Sie zu, dass Sie umgehend wieder in der Luft sind!«

»Dafür trete ich den Werkstatt-Fuzzis gehörig in den Arsch, Meister!«

»Sie erhalten weitere Instruktionen beim Abflug. Vielleicht finden Sie in dem Zusammenhang noch etwas heraus über den derzeitigen Verbleib der MS ›Commonwealth‹.«

»Das Schiff ist verschwunden?«

»Wir nehmen an, dass es gesunken ist. Die Ursachen hierfür sind uns nicht bekannt. Liefern Sie uns welche!«

»Wenn Sie mich dafür bezahlen, bekommen Sie von mir auch die Wahrheit über den Kennedy-Mord.«

Anthony Beck schwieg einige Sekunden.

»Nur das, wofür wir Sie engagieren«, sagte er schließlich reserviert und unterbrach die Verbindung.

»Ein neuer Job?«, erkundigte sich Nici mit vollen Backen, als Jericho sich vom Visiophone entfernte.

»Haste nicht mitgehört?«

»War beschäftigt.« Fleißig schlang Nici ihre Mahlzeit hinunter. »Poppen macht ungelogen tierisch hungrig.«

»Würg deinen Mampf runter und schmeiß dich in deine Kluft.« Jericho hob eine Braue und setzte ein verschwörerisches Hohnlächeln auf. »Wir statten unserer Werkstatt einen Besuch ab und nehmen die Monteure in die Mangel …«

*

»Neue Zeiten sind angebrochen. In jeder Beziehung.«

Verena Dambrosi drehte den Kopf vom NET-TV fort und blickte zur Wendeltreppe hinüber, auf deren oberstem Absatz Zach Darkovicz stand und ihr ein aufforderndes Lächeln zuwarf.

»Möchtest du mich wieder mit Ausführungen zu deiner neusten Erfindung unterhalten?«, fragte die 23-Jährige gelangweilt.

»Dein Scharfsinn«, erwiderte der alte Konstrukteur, Waffentechniker und ehemalige Weltraumpionier, »wird nur von deiner Schönheit übertroffen. Und dieses Mal habe ich wirklich eine revolutionäre Sache entwickelt.«

»Wie bereits Dutzende Male zuvor …«

»Hast du einen Moment Zeit, Bros?« Zachs Augen signalisierten eine hohe Erwartungshaltung.

»Wenn du versprichst, mich danach in Ruhe meine Sendung gucken zu lassen …«

»Ich kann später wiederkommen …«

»Nein, nein, Zach. Ist schon gut. Überrasche mich mit deinen geistigen Ergüssen.«

Darkovicz betrat den offenen Living-Room und setzte sich neben Verena auf die Couch.

»Es geht um Fische«, begann der Senior seine Ausführungen.

»Große? Kleine?«, erkundigte sich Verena. »Oder gar um einen lukrativen Fischzug?«

»Weder noch. Oder anders gesagt: Es geht ganz allgemein um den Fischfang.«

Verena Dambrosi unterdrückte ein Gähnen und schaffte es sogar, ein aufmunterndes Lächeln aufzusetzen.

»Das hört sich auf den ersten Blick nicht sonderlich aufregend an«, erzählte Red Zach weiter. »Und daher will ich dir eine Frage stellen: Was ist die größte Schwierigkeit, der sich ein ambitionierter Angler ausgesetzt sieht?«

Die Dambrosi dachte einen Augenblick nach und antwortete: »Dass er statt des Köders versehentlich seinen eigenen Finger auf den Haken spannt?«

Darkovicz schmunzelte.

»›Köder‹ ist schon das richtige Stichwort. Aber da ist noch mehr.«

»Die hässlichen, kniehohen Gummistiefel?«

»Die Zeit, Bros!«, erklärte Zach übergangslos. »Stunde um Stunde verbringt der Angler damit, auf seine Beute zu warten, muss den entscheidenden Moment exakt abpassen und geht dabei oftmals mit leeren Händen nach Hause.«

»Und du möchtest am Fischteich ein Kiosk-Geschäft einrichten, in dem der frustrierte Fischer sich seine Trophäe am Ende eines langen, erfolglosen Tages kaufen kann, damit er vor seinen Angehörigen nicht als perspektivloser Loser dasteht.«

Verwirrt blinzelte Darkovicz.

»War nur ein Scherz«, lachte Verena, erkannte jedoch im Gesicht des Mannes einen nachdenklichen Ausdruck.

»Die Idee hat was …«, murmelte er vor sich hin und starrte blicklos in die Ferne. Dann fand er zu seinem eigentlichen Gedanken zurück. »Wie dem auch sei, geht es mir vorrangig darum, dem Angler ein garantiertes Erfolgsversprechen anzubieten. Mit meiner Erfindung geht er keinesfalls ohne die Früchte seiner zeitraubenden Tätigkeit heim.«

»Willst du den armen Tierchen ein Schlaflied singen, damit sie sich mit dem Bauch nach oben anstandslos einsammeln lassen?«

»Du hast eigenwillige Ideen«, musste Darkovicz zugeben und schien leidlich pikiert, nicht ernst genommen zu werden. »Wobei die Bauch-nach-oben-Taktik dem Prinzip meiner Fangmethode durchaus zuträglich ist.«

»Also raus damit!«, drängte Verena. »Mir fällt nichts mehr ein.«

»Ich rede von Electro-Fishing«, ließ der alte Zach die Bombe platzen. »Ein Tornister mit einem leistungsfähigen Strom-Aggregat versorgt die Angel mit der nötigen Energie, um einen 1.000-Volt-Stromstoß durchs Wasser zu schicken und auf einen Schlag alle Fische schachmatt zu setzen. Der Petrijünger braucht die Kadaver dann nur noch aufzulesen und kann den Rest des Tages für einträglichere Aktivitäten nutzen.«

Verena Dambrosi stutzte.

»Hast du dabei nicht einen wesentlichen Faktor übersehen, Zach?«, fragte sie hintergründig. »Ich meine, dir ist schon klar, dass Strom und Wasser sich nicht sonderlich gut vertragen …«

»Um Himmels willen, Kindchen!«, fuhr Darkovicz hoch. »Natürlich ist bei der Anwendung dieser Methode äußerste Vorsicht geboten!«

»Jetzt wundern mich unsere Probleme mit den fabrikinternen Versorgungsleitungen nicht mehr annähernd.«

»Was willst du damit sagen?« Vorwurfsvoll nahm Red Zach die junge Dambrosi ins Visier.

»Nichts«, entgegnete sie. »Zumindest nichts, was unseren letztendlichen Erfolg bei der Installation infrage stellen könnte …«

»Das will ich meinen! Schließlich funktioniert nun alles einwandfrei.«

»Woran ich, gelinde gesagt, beträchtliche Zweifel gehegt habe.«

»Nun denn«, wechselte Darkovicz das leidige Thema, »was hältst du von meiner Idee?«

»Eine Idee ist immer so gut wie die Leute, die sich von ihr begeistern lassen.«

»Das wird der Verkaufsschlager!«, war sich Zach sicher. »Ich kann nicht verstehen, warum ihr euch ständig gegen innovative Konzepte sträubt.«

»Weil«, setzte Verena vorsichtig an, »du unser schmales Budget für zweifelhafte Entwicklungen verpulvern willst.«

»Daran ist absolut nichts zweifelhaft!«, begehrte Red Zach auf. »Ein Prototyp ist mit minimalem Aufwand hergestellt. Ich unterbreite meine Erfindung mehreren Konzernen – und wir schwimmen alle im Geld …!«

»Wie die toten Fische im Wasser, nicht wahr?«

Darkovicz seufzte schwer.

»Ich sehe schon, dass ich mit zukunftsträchtigen Kreationen bei dir an der falschen Adresse bin.«

»Kein Grund, den Kopf in den Sand zu stecken«, munterte Verena ihn auf. »Wenn du Jericho überzeugen kannst, soll dir meine Meinung doch eigentlich egal sein.«

»Jericho«, brummte der alte Zach. »Der ist ja noch sturer als du und kreativem Handeln ebenso aufgeschlossen wie die Schatzkammer der Weltzentralbank für neugierige Touristen.« Mehrere Momente vergingen, bevor er weitersprach: »Zur Not nehme ich die Herstellung auf meine Kappe. Ich bastele das Ding schon irgendwie zusammen.«

»Versuch dich doch lieber damit am Aero-Car«, warf Verena ein. »Nach der notdürftigen Reparatur in METROCITY II wird es noch einiges zu verbessern geben.«

Gerade wollte Darkovicz zu einer Erwiderung ansetzen, als der Außenalarm des Gebäudes losschrillte.

»Da will ein Unbefugter eindringen!«, federte Verena von der Couch hoch. Im Nu war sie bei der Anrichte und holte aus der obersten Schublade ihre beiden COMBAT MARK357 hervor. »Bleib hier, Zach! Ich kümmere mich darum!«

In jeder Hand eine großkalibrige Waffe stürmte Verena ins Erdgeschoss. Sie hielt sich nicht damit auf, das Rolltor hochzufahren, sondern verschwand durch die Hintertür ins Freie. Rasch umrundete sie das Fabrikgebäude und konnte gerade noch erkennen, wie eine Gestalt in den vorgelagerten Büschen untertauchte. Sofort suchte Verena Deckung hinter einem Betonblock, der einmal das Fundament für einen Stahlträger gebildet hatte. Vorsichtig lugte sie um den Block herum, sprang auf und flitzte auf die dichten Büsche zu, die Halbautomatiken in Vorhalteposition.

»Wer ist da?«, rief sie energisch. »Komm raus, dann passiert dir nichts!«

Eine Antwort wartete sie nicht ab, sondern rannte in das Gebüsch hinein, folgte einem schmalen Trampelpfad und suchte erneut Deckung hinter einem Strauch, als sie die offene Betonwüste erreichte, die sich vor ihr erstreckte. Von dem Eindringling jedoch war nicht mehr die geringste Spur auszumachen.

Der kann doch unmöglich in der kurzen Zeit das Weite gesucht haben, überlegte sie nüchtern.

Sie trat aus dem Dickicht heraus und senkte die Pistolen. Argwöhnisch ließ sie den Blick kreisen, ohne die Person zu entdecken, von der sie so gut wie nichts gesehen hatte und die sie auch bei einer direkten Gegenüberstellung niemals würde identifizieren können.

Unverrichteter Dinge begab sich Verena zurück zur Fabrik, suchte nach Spuren, wurde allerdings nicht fündig. Als sie durch die Hintertür Zachs Loft betrat, wurde sie von dem Konstrukteur bereits erwartet.

»Ich habe den Alarm abgestellt«, ließ er sie wissen. »Hast du etwas entdeckt?«

Verena Dambrosi zuckte mit den Schultern.

»Nichts Handfestes«, erklärte sie. »Irgendjemand ist draußen herumgeschlichen und hat sich flugs wieder verabschiedet als ich rauskam.«

»Wer sollte denn bei uns einbrechen wollen?«, wunderte sich Darkovicz. »Man sieht doch schon von außen, dass es hier nichts zu holen gibt …«

»Es sollte mich wundern, wenn es sich um einen gewöhnlichen Einbrecher gehandelt hat.« Verena spitzte die Lippen. »Dahinter steckt etwas völlig anderes. Mein Instinkt trügt mich nicht. Wir sollten auf jeden Fall alarmiert bleiben. Ich kann mir nicht helfen, aber ich fühle deutlich, dass das nicht der letzte unangemeldete Besuch war …«

Betroffen sah Darkovicz sie an, gewann jedoch rasch seine innere Ruhe zurück.

»Ich bastele noch ein bisschen in meiner Werkstatt«, teilte er mit.

»Tu das«, antwortete Verena knapp und nahm beide Pistolen am Lauf in die rechte Hand. »Ich gehe fernsehen.«

Wortlos stieg sie die Stufen zu ihrem Loft hoch.

*

Der Begriff ›Großstadt‹ konnte nur unzureichend die wahren Ausmaße einer METROCITY beschreiben. Tausende Meter hoch drängten sich die Wolkenkratzer dicht an dicht auf einer mehrere Quadratkilometer großen Grundfläche, die das Fundament bildete für eine pyramidale Konstruktion, die sämtliche Gebäude umgab. Die sogenannten Nano-Tubes säumten ringsum die mächtigen Hochhaustürme und waren durchzogen von tunnelartigen Verbindungssegmenten, die über Laufbandstraßen die einzelnen Sektoren der City erreichbar machten. Gleichzeitig bestand die Möglichkeit, in Magnetschienenzügen und Gleitern die gewünschten Distrikte anzusteuern.

»Total ungewohnt, nicht selbst am Steuer zu sitzen.« Jericho stand in der Fahrgastnische einer Einschienenbahn und stierte aus dem Fenster der vorbeirasenden Landschaft aus Stahl und Leichtmetallverbindungen nach.

»Die nächste Station müssen wir raus«, sagte Nicoleta, die es sichtlich genoss, mit ihren nackten Füßen auf beheiztem Boden zu stehen.

Der Zug bremste scharf ab, doch durch die Gravitationskontrolle an Bord bekamen die Passagiere davon nichts mit.

»Dackeln wir ab«, drängte sich Jericho durch die aufgleitenden Zugtüren und ging dabei nicht zimperlich vor, sich Platz zwischen den anderen Fahrgästen zu schaffen. Nici trat gleich hinter ihm auf den Bahnsteig hinaus.

»Da vorne ist ein Expresslift«, deutete sie voraus. »Die Adresse hast du im Kopf, Großer?«

»Die Adresse – ja«, erwiderte Jericho. »Aber vom Boden aus betrachtet sieht doch alles ein wenig anders aus, als wenn man es im Aero-Car anfliegt.«

»Höre ich da eine gewisse Unsicherheit heraus?«, frotzelte Nici.

»Du kannst von mir aus heraushören, was du willst. Tatsache ist, dass ich mich lieber in meinem eigenen fahrbaren Untersatz bewege.«

Sie bestiegen den Lift und rauschten Sekunden später dem Erdboden entgegen. Keine halbe Minute verging, bis die Kanzel aufsetzte.

»Die Klitsche ist zwei Blocks entfernt«, verkündete Jericho.

»Nehmen wir ein Taxi?«

»Falls du es vorziehst, durch die gesamte Stadt bugsiert zu werden, nur weil der Fahrer ein paar Touristen wie uns ausnehmen will – gerne!«

»Es gibt kostenlose Fahrgelegenheiten«, klärte ihn Nici überflüssigerweise auf. »Anscheinend hat Zach dir mit seinen Geschichten aus der guten, alten Zeit einen Floh ins Ohr gesetzt.«

»Klar, nehmen wir die kostenlosen«, erwiderte Jericho spöttisch. »Allerdings werden wir dann heute unser Ziel nicht mehr erreichen, weil die Kisten lange vorher auseinandergefallen sind.«

»Meine Güte!«, stieß Nici hervor. »In welcher Welt lebst du eigentlich? Die Gratis-Angebote sind genauso gut wie die kostenpflichtigen. Gewöhne dich mal daran, dass sich seit der globalen Neuordnung einiges zum Positiven verändert hat. Wenn bei dir schlechte Kindheitserinnerungen ausschlaggebend sein sollten, ist jetzt eine gute Gelegenheit, diese über Bord zu werfen. Die Welt wird nicht mehr allein vom Geld regiert. Wir haben neue, humanistische Ansätze …«

»Blabla«, machte Jericho verächtlich. »Leider hab ich da gegenteilige Erfahrungen gemacht. Und ich hab keinen Bock, bloß ’ne 40-stellige Nummer in einer digitalen Verwaltungskartei zu sein. Mich steckst du nicht mehr in eine nummerierte, farbkategorisierte Schublade in einem miesen Kellerloch einer Alpha-Sektion. Da habe ich lange genug gehaust.**siehe BLACK JERICHO #1–3 Unsere Freiheit im Loft kostet Geld. Und das müssen wir irgendwie verdienen. Also komm mir nicht mit diesem sozialistischen Quatsch!«

»Mannomann!«, tat Nici erschrocken. »Da hab ich wohl ’ne Lawine losgetreten!«

»Wirst schon nicht dran sterben, die paar Schritte zu Fuß zu gehen.«

»Manchmal bist du ein richtiges Ekelpaket …«

»Na, komm schon, Babe«, gab sich Jericho versöhnlich. »Wir sind doch gleich da.«

Immerhin dauerte es noch über eine halbe Stunde, bis die Werkstatt in Sichtweite kam. Sie befand sich im unteren Bereich eines mehrstöckigen Gebäudes, das aus Stahlbeton bestand und im Glanz der schmalen Glastürme wie ein Relikt aus alten Tagen anmutete. Ein zur Straße zeigendes, grelles Neon-Band mit der Aufschrift ›Garson’s Garage‹ passte sich nahtlos ein in die funkelnden und flackernden Schriftzüge, mit denen die Fassaden und haushohen Werbeflächen entlang der Hauptverkehrsader bestückt waren.

Jericho wollte sich nicht lange mit Formalitäten aufhalten und zog Nici vom Haupteingang weg, dessen Plexiglastüren bereits aufgeglitten waren.

»Wir latschen gleich rein in die Werkstatt«, erklärte er trocken. »Die Tussi im Sekretariat blubbert dir eh nur einen vor.«

Über einen Zufahrtsweg gelangten sie zum rückwärtigen Teil des Betriebes. Forsch zerrte Jericho die meterhohen Eisentore auf und gelangte in eine Halle, in der ein ganzes Rudel von Monteuren mit den unterschiedlichsten Aufgaben beschäftigt war.

»Yo, ihr Schraubenquäler!«, grölte er lauthals. »Rückt mein Aero-Car raus! Danach könnt ihr weiter in der Nase bohren!«

»He, wer sind Sie?«, sah einer der Techniker auf und legte sein Werkzeug beiseite.

»Ich bin der Kerl, der dir ’ne Naht vom Scheitel bis zur Arschfalte zieht, wenn mein Gleiter nicht sofort abholbereit parat steht!«

»Melden Sie sich gefälligst vorne an!«, erwiderte der Techniker ungehalten. »Hier kann doch nicht jeder einfach reinplatzen, wie er gerade will!« Mehrere Kollegen des Mannes wurden nun ebenfalls aufmerksam, ließen ihre Arbeit liegen und sammelten sich.

»Erstens bin ich nicht ›jeder‹«, stellte Jericho klar, »und zweitens hast du dir den verdammt Falschen ausgesucht, wenn du meinst, du wolltest dich mit mir anlegen.«

»Mal ganz locker jetzt«, sagte ein anderer und wiegte einen schweren Schraubenschlüssel in der Hand. »Sie haben keine Sonderrechte, Mister. Bei uns wird nach Auftragseingang verfahren.«

»Keine Regel ohne Ausnahme«, stellte sich Jericho breit auf und stemmte die Fäuste in die Hüften. Eine Weile sah er in die Runde, zückte anschließend sein NET-Phone und scrollte über das Touchscreen-Display, bis er den gesuchten Eintrag gefunden hatte.

Schelmisch grinsend wandte er sich Nici zu, die ein Stück hinter ihm gestanden hatte und nun zu ihm aufschloss.

»Ist ein fünfstelliger Betrag auf unserem Konto eingegangen«, sagte er und hielt Nici das Display vor die Nase. »Beck steht anscheinend bis zur Halskrause in der Kacke.«

Mittlerweile hatten die Werkstatt-Techniker sich formiert und kamen drohend näher.

»Gibt’s vielleicht ein Problem, das wir für Sie lösen könnten, Mister?«, tönte es aus der Gruppe. Auch ein paar andere hatten bereits nach schwerem Gerät gegriffen. »Möglich, dass Sie das mit uns ausdiskutieren wollen …«

»Eigentlich«, begann Jericho und steckte das NET-Phone in seine Nano-Rüstung, »hatte ich vor, euch den Mund mit ein paar Extra-Dimes wässrig zu machen. Aber wenn ich die Sache näher betrachte, können wir vorher auch gerne ein Tänzchen wagen, Hoschi.«

Die Belegschaft tauschte kurz einige Blicke aus und schien sich einig zu sein.

»Auf Ihr Risiko«, sagte einer spröde, und schon setzten die Männer sich in Bewegung. Ihre Schraubenschlüssel, Eisenstangen und Schleifgeräte hatten sie in eindeutiger Geste erhoben.

»Wunderbar«, ballte Jericho die Fäuste und setzte sich in Marsch. »Ein kleines Massaker hebt die Laune …«

Noch bevor die Kontrahenten aufeinanderstießen, peitschte eine schrille Stimme durch die Halle.

»Zum Teufel! Was ist los da unten?«

Auf einem Metallsteg hoch über dem Hallenboden stand ein Mann in grün-blauem Overall.

»Ein Kunde, dem’s nicht schnell genug geht, sucht Streit, Chef!«, rief ein Monteur nach oben.

»In meiner Werkstatt will ich keinen Ärger!«, trampelte der Mann lautstark die Stufen des Gerüsts herunter. »Und ihr macht euch an die Arbeit! Ich regele das!«

»Schade, Jungs«, zwinkerte Jericho den Technikern zu, »wär’ bestimmt lustig geworden mit euch …«

»Und Sie!«, schrillte der Werkstatt-Chef weiter und erreichte das Ende der Treppe. »Sie sagen mir jetzt sofort, weshalb Sie diesen Auflauf provoziert haben!«

»Keine Panik, Meister«, zeigte sich Jericho gelassen. »Will nur mein Schmuckstück abholen und bin schnurstracks wieder weg.«

»Ich erinnere mich an Sie«, sagte der grün-blaue Overall. »Sie haben mir doch diesen durchlöcherten Gleiter abgeliefert! – Den können Sie vorerst abschreiben. Keine Ahnung, wie lange die Reparatur dauert. Mit Schweißen und Lackieren ist das eben mal nicht getan.«

»Vergiss den Lack, Bursche! Die Kiste soll fliegen. Und am besten wär’ es, wenn sie’s jetzt gleich tun würde.«

»Völlig unmöglich!« Der Mann bekam einen hochroten Kopf. »Wir haben jede Menge zu tun! Ich kann keinen meiner Leute von den Auftragsarbeiten abziehen. Kommen Sie übernächste Woche noch mal her!«

»Wenn ich das korrekt verstanden habe«, blieb Jericho ruhig, »bist du in dem Laden der Boss …«

»Ich bin Garth Garson. Ich leite diese Werkstatt.«

»Schön. Denn der Boss hält immer die Rübe für seine Mitarbeiter hin.«

Bevor Jericho den verdutzten Mann packen konnte, sprang Nicoleta dazwischen.

»Hören Sie, Garson. Wir haben’s wirklich eilig. Würden Ihnen 20.000 Extra-Dimes eventuell auf die Sprünge helfen …?«

»20.000 …« Garth Garson verzog herablassend die Mundwinkel und musterte Nici. »Woher wollen Sie so viel Geld haben? Offenbar reicht es bei Ihnen nicht mal für die Anschaffung von vernünftigem Schuhwerk. Ich überlege tatsächlich, ob ich den Reparaturauftrag übernehmen soll …«

»Zeig’s ihm, Großer«, sagte Nici zu Jericho. Der holte bereits mit der Faust aus, wurde dann jedoch von seiner Freundin zurückgehalten.

»Zeig ihm die Überweisung«, tadelte sie ihn.

Jericho holte sein NET-Phone hervor und hielt es Garson hin.

»Überprüf’ meine ID«, erklärte er. »Und grüble nicht zu lange drüber nach …«

»Ich will eine Vorschusszahlung«, erwiderte Garson prompt.

Jericho wickelte den Transfer noch in derselben Sekunde ab. Über den Namen des Werkstattinhabers konnte er die genaue Bankverbindung ermitteln. Garth Garson fingerte nach seinem eigenen NET-Phone und überprüfte den Eingang. Er enthielt sich jeglichen Kommentars, nickte nur kurz und drehte sich seinen Leuten zu: »Alle Arbeiten einstellen! Der zerschossene Gleiter dieses Herrn hat absoluten Vorrang! Es wird rund um die Uhr gearbeitet!«

»Geht doch«, meinte Jericho gutgelaunt.

»Übermorgen ist Ihr Fahrzeug in fabrikneuem Zustand«, versicherte Garson.

»Morgen!«, schüttelte Jericho den Kopf. »Wie meine zuckersüße Begleitung bereits sagte: Wir haben es eilig …«

Garth Garson wirkte wenig begeistert. Schließlich jedoch stimmte er zu.

»Wird erledigt«, sagte er knapp.

*

Weiches Kunstlicht erhellte den weißen Raum mit dem weißen Mobiliar und erzeugte eine Stimmung, die nicht von dieser Welt war. Geheimnisvolle Apparaturen blinkten. Ein Mann mit braunem, krausem Haar, gehüllt in einen weißen Einteiler, auf dem blau leuchtende Leitungen verliefen, war vertieft in die Anzeigen eines Monitors und wandte sich erst von diesen ab, als ein zweiter Mann den Raum betrat.

»Der Notruf der ›Commonwealth ist abgefangen worden«, teilte der Neuankömmling mit.

Der Kraushaarige verhielt einen Moment wie erstarrt. Dann sah er auf.

»Und?«, fragte er.

»Das Signal konnte nicht zu uns zurückverfolgt werden.«

Das Leuchten der blauen Leitungen schien eine Spur intensiver zu werden.

»Weitere Schwierigkeiten können wir uns auch nicht leisten.« Der Mann in dem Einteiler bewegte kaum die Lippen. »Der Verlust der Ladung ist schwerwiegend genug. Es wird sich nicht vermeiden lassen, dass ich mir vor Ort ein Bild der Lage mache, bevor diese vollends eskaliert.«

»Die Einrichtungen dürfen keinesfalls verloren gehen«, gab der andere Mann unter Anspannung zu verstehen.

»Das werden sie nicht, wenn ich es verhindern kann. Die Anlagen sind zu wertvoll.«

Der Kraushaarige gab seinem Gegenüber ein Signal, dass er allein sein wollte.

Nachdem sein Gesprächspartner gegangen war, widmete er sich wieder konzentriert den Monitoranzeigen.

*

»Haste prima hingekriegt, Garson«, lobte Jericho und stiefelte zufrieden um das Aero-Car herum. Wie vereinbart waren er und Nicoleta vierundzwanzig Stunden nach ihrem letzten Besuch in der Werkstatt von Garth Garson erschienen, um ihren arg in Mitleidenschaft gezogenen Gleiter abzuholen. Zwischenzeitlich hatte Jericho sich mit Agent Beck ausgetauscht und diesen über den aktuellen Stand der Dinge informiert.

»Sogar die Gondeln sind bombig in Schuss«, nickte Nici anerkennend.

»Ist auch nicht ganz billig«, kam es zögernd über Garsons Lippen.

»Keine Sorge wegen der Bezahlung«, winkte Jericho lässig ab. »Meine Auftraggeber sind nicht zimperlich.«

»Sie arbeiten für die Regierung?«, hakte Garson nach. Unauffällig wollte er seinem Kunden einige Informationen entlocken.

»Hast gut aufgepasst, Hoschi«, sagte Jericho nebenher, war jedoch immer noch mit der Inspektion des Aero-Cars beschäftigt.

»Ich wollte auch immer schon an so einen Auftrag herankommen«, erklärte der Werkstatt-Chef. »Instandhaltung der Fahrzeuge und Ähnliches. Hat aber nie geklappt.«

Jericho klopfte auf die Verglasung des Gondelauslegers.

»Was so ein paar Mäuse doch alles bewirken«, meinte er im Selbstgespräch. Und an Garson gewandt fuhr er fort: »Musst dich nur richtig einbringen, dann leierst du denen ’nen Service-Vertrag aus’m Ärmel.«

Garth Garson bekam ein hoffnungsfrohes Glitzern in den Augen.

»Könnten Sie … ich meine, besteht die Möglichkeit, dass Sie da etwas arrangieren würden?«, formulierte er verhalten.

»No way!«, erwiderte Jericho unmissverständlich. »Bin doch keine Arbeitsvermittlung. Wenn du ’n Stück von dem Kuchen willst, musste’s dir schon selber abschneiden.«

»Ich dachte ja nur …«, brummelte Garson kleinlaut.

Jericho beachtete den Mann nicht weiter, stieg ins Aero-Car und spielte an einigen Knöpfen und Schaltern herum. Die MG-Lafette auf dem Dach des Gleiters schwenkte nach rechts und links, das Maschinengewehr selbst nach oben und unten. Kurz betätigte Jericho den Abzug und gab eine kleine Salve ab. Im hinteren Werkstattbereich hackten die Kugeln in ein Regal, durchlöcherten einen Motorblock und ließen einige Behältnisse zerplatzen. Mehrere Mitarbeiter warfen sich in Panik zu Boden und hielten schützend die Hände über dem Kopf verschränkt.

»Funktioniert ja bestens«, strahlte Jericho und hüpfte aus dem Gleiter. »Lass mal die Rechnung rüberwachsen. Dann können wir ’nen Abflug machen.«

Garth Garson hielt den entsprechenden Ausdruck bereits in der Hand, den ihm Nici mit einer flinken Bewegung aus den Fingern riss.

»Jau!«, stieß sie wie vom Donner gerührt aus und reichte Jericho das Blatt.

»Mann«, sagte der, »dafür kann ich ein Jahr im Puff übernachten!«

»Wir mussten komplette Karosserieteile austauschen«, verteidigte sich Garson. »Und die Leute wollen auch bezahlt werden.«

»Gibt’s da eine Lücke im Sozialsystem?«, fragte Jericho barsch. »Ist doch alles abgedeckt!«

»Aber die Überstunden muss ich extra vergüten.« Garth Garson ging unwillkürlich einen Schritt rückwärts, als er Jerichos finstere Miene erblickte. »Und die Leute haben im Akkord ohne Pause gearbeitet.«

Jerichos Empörung verrauchte schlagartig.

»Na, ist schließlich nicht meine Kohle, die du verjubelst. Sollst auch nicht leben wie ein Hund.«

»Wie … verbleiben wir denn jetzt mit der Rechnungsbegleichung?«, erkundigte sich Garson schüchtern.

»Den Bonus haste doch schon. Die Rechnung leite ich weiter.«

»Verstehe …« Dem Werkstatt-Chef war anzusehen, dass ihm diese Regelung nicht gefiel, doch er hielt sich mit weiteren Bemerkungen zurück. Auch ging er nicht auf die kleine Zerstörungsorgie ein, die Jericho abgehalten hatte. Eher hoffte er, dass seine seltsame Kundschaft zügig die Halle verließ, ohne neuen Schaden anzurichten.

Nici hatte sich derweil auf dem Co-Piloten-Sitz breit gemacht und in gewohnter Weise die Füße auf das Armaturenbrett gelegt. Jericho nahm ebenfalls Platz und startete die Maschine.

»Nettes Städtchen!«, rief er Garson durch die geöffnete Flügeltür des Aero-Cars zu und versuchte das Donnern des Triebwerks zu übertönen. Schon hob der Gleiter ab, schwenkte gemütlich um die eigene Achse und positionierte sich mit der Schnauze zum Hallentor.

»Schau mal in die Datenbank, ob Beck die Auftragsanweisungen übertragen hat«, forderte Jericho seine Freundin auf. Als er die Flügeltür schließen wollte, sah er Garson noch einmal heranwieseln.

»Geben Sie bitte Acht beim Verlassen der Halle!«, schrie der Werkstatt-Chef gegen den Motorenlärm an.

»Alles cool!«, beschwichtigte ihn Jericho. »Bin doch kein Verkehrsrowdy!«

Kaum hatte er es ausgesprochen, gab er Vollschub. Es gab einen Knall, der einer mittelschweren Detonation ähnelte und als grollender Donner von den Hallenwänden widerhallte. Blitzartig schoss das Aero-Car zwischen den Torflügeln hindurch und entfachte einen Orkan, der alles, was nicht angenagelt war, wild durch die Gegend fliegen ließ. Die explosionsartig ins Vakuum einfallende Luft schleuderte Garth Garson gegen einen Tisch, mit dem er gemeinsam zu Boden ging. Das flammende Triebwerksaggregat hinterließ breite Schmauchspuren auf dem Untergrund.

»Beck ist echt auf Zack«, meinte Nicoleta, als sie zwischen den Wolkenkratzern hindurchflogen. »Die Daten sind gestern Abend noch eingegangen.«

»Wie lautet unser nächstes Ziel?«, fragte Jericho nach und passierte das Außengerüst der Stadt.

»Wir sollen nach Galveston. Ist ’ne Hafenstadt am Golfstrom.«

Jerichos Miene bekam einen energischen Ausdruck.

»Dann los!«

*

Der Autopilot lenkte das Aero-Car in einem mehr als siebenstündigen Flug von METROCITY II an die texanische Küste. Jericho und Nici hatten sich einige Stunden Schlaf gegönnt und wurden von der Automatik geweckt, als sie kurz vor der Küstenstadt waren.

»Zieh dich wieder an«, raunte Jericho seiner Begleiterin zu, die pudelnackt neben ihm im Copilotensitz lag. »Sonst komme ich noch auf dumme Gedanken, bevor wir überhaupt mit der Recherche begonnen haben.«

Nici blinzelte schläfrig und sammelte ihre spärliche Bekleidung ein, die sie vor ihrem Nickerchen abgelegt hatte.

»Gibt nix Besseres, als sich über den Wolken bräunen zu lassen«, sagte sie und rekelte sich genießerisch im Schalensitz. »Die Vorzüge eines knackig-braunen Frauenkörpers solltest du doch zu schätzen wissen, Großer.«

»Ich setze zur Landung an, Babe«, ignorierte Jericho ihren Einwurf. »Wäre also gut, wenn du nicht jedermanns Blicke auf dich ziehen würdest.«

»Na denn«, murrte Nici, zeigte sich aber gleich wieder von ihrer heiteren Seite. »Ich hoffe doch, du hast nicht vergessen, was ich dir im Hotel ins Ohr geflüstert habe …«

Jericho übernahm die Anflugkontrollen und warf Nicoleta einen kurzen Blick zu.

»Alles zu seiner Zeit«, meinte er nur und zeigte einen grimmigen Gesichtsausdruck, der der jungen Rumänin verriet, dass ihr muskelbepackter Liebhaber gegenwärtig für Gespräche dieser Art nicht zu haben war. »Beck finanziert uns keine Vergnügungsreise. Und die Kohle haben wir bitter nötig. Vielleicht erinnerst du dich auch an dieses Gespräch.«

»Uuuhh, sei doch nicht so grummelig«, versetzte Nici, zog sich die Shorts über die Hüften und legte auch das knappe Top an. »Ein bisschen Spaß wird einem doch noch gegönnt sein.«

Das Aero-Car überflog die Dächer von Galveston. Konzentriert hielt Jericho nach einem geeigneten Landeplatz Ausschau und fand schließlich eine Stelle, die ihm geeignet erschien. Abseits der Hauptverkehrsstraßen setzte er den Gleiter auf einem kleinen Hof ab, der mit allerlei Gerümpel, Kartons und Kisten zugestellt war. Die Rückstoßdüsen erzeugten eine wallende Staubwolke. Als sie sich verzogen hatte, stiegen die beiden aus.

»Wir müssen sehen, wie wir an Waffen kommen«, gab Jericho zu bedenken. »Durch Beck haben wir uns nicht das erste Mal mächtigen Ärger eingehandelt.«**siehe BLACK JERICHO #1–3

Nachdenklich tappte Nici über den heißen, staubigen Boden.

»Und wo willst du welche bekommen?«, fragte sie. »Vor allem: Wo willst du hier irgendwelche Hinweise auf die verschwundenen Container und das gesunkene Schiff sammeln? Wir kennen doch kein Aas in der Stadt.«

Jericho grinste. Es war jenes Grinsen, das eine gewisse Hinterhältigkeit und gerissene Schläue vermuten ließ.

»Die wichtigsten Informationen bekommt man da, wo sich das Volk tummelt und unter Alkoholeinfluss alles Mögliche ausplaudert, was man für gewöhnlich nicht zu hören bekommt.«

»Du willst einen Kneipenzug veranstalten?«, bekam Nici große Augen. »Da solltest du aufpassen, dass du nicht plötzlich irgendwas ausplauderst.« Sie klopfte demonstrativ auf die Griffe ihrer COLTs, die an ihrer Hüfte baumelten. »Die beiden werden uns vorerst über Wasser halten, Jerri, wenn’s hart auf hart kommt.«

»Ich verlass mich lieber auf meine eigenen Knarren«, erwiderte Jericho.

»Jungs und ihre fetten Wummen«, neckte ihn Nici. »Wenn du nicht eine große geladene Kanone in der Hose mit dir rumtragen würdest, könnte man glatt denken, du bräuchtest einen Phallusersatz.«

»Ich will ein FLUX!«, beharrte Jericho. »Mit deinen COLTs machst du ein halbes Dutzend Gegner platt, aber keine Armee.«

»Nu mal nicht gleich den Teufel an die Wand!«, regte sich die junge Rumänin auf. »Vielleicht löst sich die Sache ganz einfach und ohne Stress auf. Schiffe sinken nun mal, Frachtgüter gehen verloren. Ist doch nichts Ungewöhnliches.«

»Nicht, wenn die Regierung mit ihrer Nase im Dreck schnüffelt. Da steckt mehr dahinter. Und ich bin kein Freund von Überraschungen und gerne vorbereitet.«

Nicoleta Belà zuckte die Schultern.

»Dann hören wir auf zu quatschen und machen uns an die Arbeit.« Nici gestikulierte erwartungsvoll und drängend zugleich. »Wie gehen wir vor?«

»Wir schwingen uns in ein Taxi und lassen uns ins Zentrum kutschieren. Der Rest ergibt sich.«

Jericho sicherte das Aero-Car und schlenderte die schmale Gasse vom Hof zur Straße entlang. Zwei Minuten darauf preschten sie in einem Cab zur Innenstadt.

*

Das Zentrum von Galveston war weniger pompös und lebhaft, als sie es aus den METROCITYS kannten. Die höchsten Gebäude hatten gerade einmal zwanzig Geschosse, es gab kaum Neonwerbung und auch weniger Verkehr. In den Straßen liefen zwar eine Menge Menschen herum, doch es herrschte bei weitem nicht das turbulente Gedränge der Großstädte.

»Na, hier sind wir doch genau richtig.« Jericho stützte die Fäuste in die Hüften und begutachtete die Front einer Bar, an der verhaltene Leuchtreklame blinkte.

»Du suchst dir auch gleich mal wieder die finsterste Spelunke aus, die es im weiten Umkreis gibt«, nörgelte Nici und deutete auf die heruntergekommen wirkende Fassade und großflächige, eingetrocknete Flecken darauf, die an Blut erinnerten, das bereits in die Wände eingezogen war und sich kaum noch entfernen ließ.

»Da werden Erinnerungen wach an die schönsten Zeiten in ›Teague’s Tavern‹«, strahlte Jericho, machte zwei Schritte vor und stieß die Tür auf. Qualm und Fuselgeruch schlugen ihm entgegen. Nici, die ihm folgte, rümpfte die Nase. Und mehr noch zeigte sie sich pikiert, als sie im Dämmerlicht, das im Inneren herrschte, mehrere leichtgeschürzte Damen erkannte, die gelangweilt am Tresen und an den Tischen hockten.

»Hast echt ein gutes Gespür, Großer«, maulte sie. »Willst du jetzt ein paar Strichbienen ausquetschen? Glaub mir, die wissen nichts von dem Schiff. Die hängen dir höchsten die Syphilis an und behaupten, du hättest sie eingeschleppt.«

Schon setzten sich zwei Mädchen in Bewegung und schaukelten auf Jericho zu. Der ließ sie erst gar nicht zu Wort kommen, schob sich ruppig zwischen ihnen hindurch, sodass sie beiseite torkelten und unterdrückte Flüche losließen, und ging zielstrebig auf einen Tisch zu, an dem ein einzelner Mann saß und versonnen sowie offensichtlich benebelt in ein großes Glas Bier starrte.

»He, Alter!«, rief Jericho. »Ist dir’s Gebiss in die Brühe gefallen oder guckste immer so?«

Sekundenlang tat der Angesprochene völlig unbeteiligt, bis er den Kopf leicht drehte und Jericho aus trüben Augen anschaute.

»Lassen Sie mich zufrieden, Mister. Bin nicht in der Stimmung für Frage-Antwort-Spielchen.«

»Dann weißt du auch nichts über ein Schiff namens ›Commonwealth‹, das vor der Küste gesunken ist, ja?«

Für einen Moment war es Jericho, als würde der Mann am Tisch sich versteifen, doch dann raunte dieser ihm zu: »Hauen Sie ab! Ist gesünder.«

Jericho schürzte die Lippen, beugte sich vor und stützte sich auf die Tischplatte. Noch bevor er jedoch das Gespräch wieder aufnehmen konnte, tönte vom Tresen her eine scharfe Stimme herüber.

»Belästigen Sie meine Gäste nicht! Sie haben doch gehört, dass der Mann nicht gestört werden will!«

»Hab was an den Ohren«, meinte Jericho gelassen und drehte sich langsam zu der Stimme hin.

»Riecht nach Ärger«, flüsterte Nici. Unwillkürlich legte sie die Handflächen auf ihre beiden COLT M2011 G.

»Wenn Sie nicht trinken oder vögeln wollen, machen Sie sich schleunigst vom Acker.« Der Kerl hinter der Theke war um die vierzig, gut genährt vom eigenen Bier, stoppelbärtig und mit fettglänzender Haut. Seine Hände verharrten irgendwo unter dem Tresen, als könnten sie jederzeit einen verborgenen Alarmknopf auslösen.

»Keine Hektik, Meister«, entgegnete Jericho, blieb entgegen seiner Gewohnheiten gelassen und zeigte seine leeren Handflächen. »Ich will nur ein paar Auskünfte. Nicht mehr.«

»Die bekommen Sie bei uns nicht«, antwortete der Schankwirt widerborstig. »Bei mir gibt’s Bier, harte Sachen und Weiber.«

»Kein Bedarf«, winkte Jericho ab. »Ich interessiere mich für Schiffe.« Leutselig fügte er hinzu: »Das ist doch eine Hafenkneipe, nicht wahr?«

Unmerklich zuckte der linke Arm des Wirtes unterhalb der Theke. Starr blieb er stehen und verschränkte nun seine Arme vor der Brust.

»Falls Sie Streit suchen, können Sie den haben, Mister.«

»Und was willst du dagegen machen, Schwuchtel?«, funkelte Jericho ihn kampflustig an. »Haste über’n Alarmbutton deine Schlägerhoschis gerufen?«

Der Kerl hinter dem Tresen gab keine Antwort. Das musste er auch nicht, denn in diesem Moment flog die Tür der Bar auf, und drei fleischige Kolosse stampften herein.

Jericho wiegte den Kopf und hob eine Braue.

»Siehste!«, zischte Nici. »Das haben wir jetzt davon!«

Die drei Fleischberge schoben sich weiter vor. Einer wandte den Kopf in Richtung des Wirtes.

»Macht der Typ Stunk?« Er wiegte ein Eisenrohr in seinen Pranken.

»Nehmt ihn euch vor«, sagte der Keeper. »Das Landei stellt ’ne Menge dämliche Fragen. Der Weißkopf schreit geradezu nach Prügeln.«

Mehr wollten die drei Schläger nicht hören. Einer rasselte mit seiner Eisenkette, der Schmerbäuchige neben ihm hieb mit einem kurzstieligen Hammer immerzu spielerisch in seine Handfläche. Der Dritte im Bunde ließ die Eisenstange in der Hand kreisen, als wäre sie lediglich ein netter Zeitvertreib und nicht dazu bestimmt, einem Gegner den Schädel einzuschlagen.

»Lasst mal sehen, was ihr auf der Pfanne habt«, provozierte Jericho siegessicher. »Speckarme und Fettbäuche lassen mich nämlich nur kotzen und nicht vor Angst zittern.«

Gleichzeitig sprangen die drei vor, und sie legten eine Schnelligkeit und Gewandtheit an den Tag, mit der Jericho nicht gerechnet hatte. Aus der Luft kam das Eisenrohr herangedroschen, während der in der Mitte befindliche Kerl die Eisenkette losschnellen ließ. Die wickelte sich um Jerichos Unterschenkel, der in derselben Bewegung weggerissen wurde und den Söldner hart zu Boden gehen ließ. Im letzten Augenblick noch konnte er dem Schlag des Eisenrohrs ausweichen, das dicht neben seinem Kopf die Fußbodenkacheln zertrümmerte. Jericho zog kraftvoll das Bein an, das von der Kette umschlungen war, und zerrte den Dicken auf sich zu, der dabei das Gleichgewicht verlor und einen wuchtigen Stiefeltritt abbekam, den Jericho mit dem freien Bein ausführte. Sofort rollte er sich, getragen vom eigenen Schwung, zur Seite, wälzte sich auf den fettleibigen Kerl, der wie ein Sack Pudding aufgeschlagen war, und rammte ihm den Ellbogen mitten ins Gesicht. Der Nasenknochen krachte laut und wurde zertrümmert. Eine Rolle rückwärts brachte Jericho außer Reichweite des dritten Angreifers, der seinen Hammer schwang und damit die Luft quirlte. Geschickt landete Jericho auf den Füßen, stieß sich ab und bohrte dem Hammerakrobaten den Kopf in die Eingeweide. Als dieser über ihm zusammenklappte, hebelte Jericho ihn über sich hinweg und ließ auch ihn auf die Kacheln krachen. Doch da war Mister Eisenrohr bereits heran, hieb seine Waffe in Jerichos Seite, dass dieser aufstöhnte, und setzte zweimal mit blitzartiger Geschwindigkeit nach. Jericho ging in die Knie und stützte sich mit beiden Armen am Boden ab. Einen flüchtigen Moment lang drohte der Schmerz ihm die Besinnung zu rauben. Er erwartete den nächsten Schlag, der ihn vermutlich außer Gefecht gesetzt hätte. Stattdessen donnerte ein Schuss los – und in den darauffolgenden Schrei mischte sich das Platschen einer Unmenge Blut, das sich halb über Jericho und halb über den Boden ergoss. Ein weiterer Schuss folgte, dann das Poltern eines Hammers und der dumpfe Aufschlag eines schwergewichtigen Körpers.

»Schluss mit den Faxen!«, rief Nicoleta wütend. »Für Schulhofkeilereien hab ich nichts übrig!«

Schwerfällig drehte Jericho sich um. Misstrauisch betrachtete er den Kerl mit dem Eisenrohr, der stumm und starr vor ihm stand. Sein Gesicht war eine einzige blutende Wunde und zusätzlich durch ein großes Loch von der Kugel entstellt, die Nici ihm durch den Hinterkopf gejagt hatte. Der Fleischberg musste tot sein, aber irgendetwas hielt ihn noch aufrecht auf den Beinen. Erst jetzt begann er zu schwanken und kippte wie ein fettdurchsetztes Gebirge nach vorn. Beinahe hätte er Jericho unter sich begraben, wenn der nicht rasant zur Seite ausgewichen wäre.

Missmutig warf er einen Blick auf den Dicken, der die Kette ums Handgelenk geschlungen hatte und wimmernd am Boden lag. Zitternd tastete er nach seiner Nase und zuckte immer wieder unter Schmerzen vor der Wunde zurück. Der Hammerwerfer lag mit ausgebreiteten Armen gleich bei ihm. In seinem Rücken klaffte ein faustgroßes Loch.

»Haste noch mehr von der Sorte?«, fragte Jericho den Schankwirt frech. »Bin nämlich gerade erst warmgelaufen.«

Der Mann hinter dem Tresen hob abwehrend die Hände und duckte sich leicht.

»Ein kleines Dankeschön wäre nett«, brachte Nici sich in Erinnerung.

»Wieso?«, wunderte sich Jericho. »Hast doch den ganzen Spaß verdorben.«

Die Rumänin steckte ihren COLT ins Halfter.

»Du bist ein unverbesserlicher Ignorant! Und als Diplomat taugst du auch nicht.«

»Ich kann ja nicht nur Vorteile haben.« Jericho zwinkerte ihr schelmisch zu.

»Was machen wir nun?«, fragte Nici genervt. »Hast du noch ein paar von diesen tollen Ideen?«

Jericho brauchte nicht lange zu überlegen.

»Auf in die nächste Kneipe«, sagte er gut gelaunt. »Es gibt noch ’ne Menge zu tun.«

Gereizt stieß Nici die Luft aus, folgte dem Söldner jedoch.

Sonderlich weit kamen sie allerdings nicht …

*

Gleich vor dem Ausgang stellte sich Jericho und Nici ein Mann in den Weg. Er war herangehuscht wie ein Schatten, hager und mit einem langen schwarzen Ledermantel samt Stetson bekleidet. Unvorsichtigerweise packte er Jericho am Oberarm, um ihn aufzuhalten, und hätte dieser nicht sofort gemerkt, dass der Dürre für ihn keine Gefahr darstellte, er hätte ihm die vorwitzige Hand abgerissen und den Kerl ungespitzt in den Boden gerammt. So aber blieb er stehen und wartete, bis der Fremde sich zu erkennen gab.

»Sie sind am Leben«, wisperte der Schwarzgekleidete heiser. »Das kommt selten vor, wenn sich jemand mit den Arbuckle Brothers anlegt.«

»Aha«, machte Jericho, »die Speckklöpse haben auch einen Namen. Dann wird sich der, der noch übrig ist, wohl umbenennen müssen in ›Brother‹.«

»Sie haben zwei von denen getötet?«, kam es erstaunt.

»Ich war das!«, spielte sich Nici in den Vordergrund. »Mein Partner« – sie deutete mit dem Kinn auf Jericho – »fand es komisch, sich erst mal aufmischen zu lassen.«

»Dennoch – meinen Respekt.«

»Gibt’s irgendeinen Grund«, fragte Jericho, »dass deine Gischtklaue an meinem Arm klebt? Ich frage mich gerade, warum ich sie dir nicht mit dem kompletten Arm in den Hals stopfe.«

»Verzeihen Sie«, sagte der Hagere, und seine Hand zuckte augenblicklich zurück. »Mein Name ist Shane Grissom. Ich habe ein wenig an der Tür gelauscht und mitbekommen, dass Sie sich für die MS ›Commonwealth‹ interessieren …«

»Weißt du was über das Schiff, Bursche? Dann spuck’s lieber gleich aus!«

»Ich komme viel herum und höre eine Menge«, wich Grissom aus. »Vielleicht habe ich genau die Informationen, nach denen Sie suchen.«

»Vielleicht«, meinte Jericho abweisend, »bist du aber auch nur ein Aufschneider, der uns für dumm verkaufen will. In diesem Fall solltest du dich mit Lichtgeschwindigkeit verdünnisieren, bevor ich meine guten Manieren vergesse.«

»Nicht doch!«, wehrte Grissom ab. »Ich weiß mehr als Sie glauben. Schließlich bin ich einige Zeit auf der ›Commonwealth‹ mitgefahren, bis –« Er stockte plötzlich.

»Bis was?«, hakte Nici nach.

»Ist ein verflixt großer Kahn«, erwiderte Shane Grissom, »mit ordentlich Platz für allerlei zwielichtige Fracht.«

»Aus Regierungskreisen wird berichtet, dass der Pott bis obenhin vollgeladen war, als er gesunken ist«, war Jerichos Interesse geweckt.

Shane Grissom äugte ihn neugierig an.

»Sie arbeiten für die Regierung?«, erkundigte er sich schwach.

»Das habe ich nicht gesagt«, entgegnete Jericho barsch.

»In den Medien ist noch kein Ton vom Verschwinden der ›Commonwealth‹ verlautet worden. Woher also haben Sie Ihre Informationen?«

»Ich hab sie eben. Das wird wohl reichen.«

»Nun gut«, lenkte Grissom ein. »Kann mir auch egal sein. Wichtig ist nur, dass endlich ans Tageslicht kommt, was auf dem Schiff transportiert wurde, woher es stammt und wofür es gedacht ist.«

»Sie wissen es nicht?«, schaltete Nicoleta sich ein. »Sagten Sie nicht, Sie seien ein Besatzungsmitglied gewesen?«

»Das stimmt. Doch Captain Jorge Blunt hat sich nie dazu geäußert. Vermutlich wusste er es selbst nicht. Er hat sich immer damit herausgeredet, wir würden gut für unseren Job bezahlt und hätten keine Fragen zu stellen. Anfangs habe ich mich damit zufriedengegeben, doch die Umstände haben mich schwanken lassen. Schließlich hielt ich es für das Beste abzumustern.«

»Umstände?«, fragte Jericho ungeduldig. »Welche Umstände? Lass dir doch nicht alles aus der Nase ziehen!«

»Ich muss Sie doch höflichst bitten, Ihre gute Kinderstube nicht zu vergessen«, sagte der Schwarzgekleidete forsch. »Ich bin der einzige ernstzunehmende Informant, den Sie in ganz Galveston finden werden. Zudem zwingt mich niemand dazu, Ihnen Auskünfte zu geben.«

»Willst dir wohl ein saftiges Taschengeld verdienen«, schloss Jericho.

Shane Grissom zeigte sich nachgiebig.

»Gegen eine kleine Aufwandsentschädigung hätte ich natürlich nichts einzuwenden.« Er sah sich um. »Müssen wir das auf offener Straße besprechen? Ich nehme an, Ihr Geplänkel hat einiges Aufsehen erregt. Ich möchte nur ungern den Cops in die Arme laufen.«

»Er hat recht«, sagte Nici. »Wir sind nicht in den Wastelands. Hauen wir ab!«

Grissom rückte seinen Stetson gerade.

»Ich weiß ein Plätzchen, an dem wir ungestört sind.«

»Soll mir recht sein«, nickte Jericho. »Aber dann lässt du die Katze aus dem Sack …«

*

Fünf Minuten etwa schlenderten sie durch Nebenstraßen und lichtlose Gassen, bis sie ein Gebäude erreichten, das einer klassischen Hafenspelunke alle Ehre machte. Auf dem Gehsteig lagen komatöse Zecher, eine Scheibe des Hauses war eingeschlagen; ein paar Meter weit auf dem löchrigen Asphalt lag ein Stuhl, der wohl während einer handgreiflichen Auseinandersetzung hindurchgeflogen war. Nah beim Eingang waren zerbrochene Flaschen verteilt und eine Unmenge Scherben. Der ausgelaufene Fusel hatte dunkle Flecken auf der Straße hinterlassen und bildete einen nett anzusehenden Kontrast zu dem hellen Brei, der in mehreren Pfützen aus Erbrochenem schwamm. Es konnte noch nicht allzu lange her sein, dass an diesem Ort reger Betrieb geherrscht hatte.

»Keine Sorge«, sagte Shane Grissom. »Um diese Zeit ist nichts los. Wir werden ungestört sein.«

Sie traten ein. Der Geruch der vergangenen Nacht lag wie ein schweres Parfüm in der Luft, aber außer einem verschlafenen Barkeeper, der die Ankömmlinge nicht weiter beachtete, befand sich keine Menschenseele im Gastraum.

»Setzen wir uns«, forderte Grissom seine Begleiter auf.

»Ich hoffe, das wird kein Endlos-Smalltalk«, mäkelte Jericho. »Würde nämlich lieber noch ein paar Bars auseinandernehmen.«

»Sie sind ein Mann der Tat, ja?«, sagte Grissom anerkennend.

»Er ist ein großes, dummes Spielkind«, mischte Nici sich ein. »Und Galveston ist sein neuer Sandkasten.«

»Kommen wir wieder auf die außergewöhnlichen Umstände zu sprechen, von denen du geredet hast, Hoschi«, sagte Jericho zu Grissom und widmete seiner rumänischen Freundin einen scharfen Seitenblick.

»Wie wäre es vorher mit einer kleinen, ähm, Anerkennung …?« Grissom hob die Hand und rieb Daumen und Zeigefinger gegeneinander.

Jericho kramte ein paar Terra-Dimes hervor und knallte sie auf den Tisch. Shane Grissom hob den Stetson an, fuhr mit der Hand über die Scheine und zog sie auseinander.

»Ist recht wenig«, meinte er und verzog den Mund.

»Wir haben auch noch nichts bekommen!«, fauchte Jericho. »Bin doch kein Kreditinstitut.«

»Nun gut«, lenkte der Mann in Schwarz ein. »Sie sollen bekommen, wofür Sie zahlen.« Eine längere Pause folgte. Dann sprach Grissom weiter. »Während meiner Zeit unter Captain Blunt sind wir etwa zehn Mal von Galveston aus aufgebrochen. Wir hatten Fracht aufgenommen von Kolonnen aus dem Landesinnern, die wir die Küste hochtransportierten.«

»Wo haben Sie sie abgeladen?«, wollte Nici wissen.

»METROCITY III. Die Container wurden von einem Konvoi abgeholt. Das weitere Ziel ist mir unbekannt.«

»Ziemlich vage.« Nici kratzte sich am Kinn.

»Keinen müden Dime sind die Infos wert!«, wurde Jericho laut, packte Grissoms Hand, die die Scheine hielt, und wollte sie zur Seite biegen.

»Warten Sie!«, rief ihr geheimnisvoller Gesprächspartner. »Ich bin noch nicht fertig!« Er wollte seine Hand wegziehen, doch Jericho hielt sie eisern fest. »Die Wagenkolonne, die die MS ›Commonwealth‹ belieferte, stammt aus Midland. Dort gibt es einen riesigen Industriekomplex, eine ehemalige Erdölraffinerie. Ich bin sicher, Sie finden dort Antworten auf Ihre Fragen.«

»Wie weit ist Midland entfernt?«, fragte Jericho.

»Annähernd 750 Kilometer.«

»Woher wissen Sie, dass der Konvoi von dort gestartet ist?« Nicoleta Belà verengte die Augen und beobachtete jede Regung in Grissoms Gesicht. Der ließ sich aber nicht aus dem Konzept bringen.

»Einer der Fahrer hat es mir berichtet. Ich war neugierig, verstehen Sie?«

»Offenbar nicht neugierig genug«, versetzte Jericho. »Von dem Frachtgut haben wir immer noch keinen Dunst.«

»Der Schlüssel liegt in Midland«, beharrte Shane Grissom. »Glauben Sie mir. Mir selbst ist die Sache zu heiß geworden. Ich habe schnell herausgefunden, dass an dem Auftrag etwas faul ist. Nennen Sie es Instinkt oder Weitsicht – aber da wollte ich einfach nicht mehr mitmachen …«

Jericho zog seine Hand zurück.

»Behalt den Schotter«, sagte er großzügig. »Ist aber das Einzige, was du siehst.«

Shane Grissom widersprach nicht und ließ die Scheine rasch in einer Manteltasche verschwinden.

»In Ihrem Gleiter sind Sie in einer Stunde in Midland«, sprach Grissom an Jericho gewandt.

»Woher weißt du von unserem Gleiter?«, wurde Jericho hellhörig. »Spionierst du uns nach, Wichtel?«

»Ihre Ankunft war nicht zu übersehen«, entgegnete Grissom und stand auf. »Ist eine kleine Stadt, dieses Galveston.«

Jericho und Nici erhoben sich ebenfalls.

»Je eher wir hier fortkommen, desto besser«, knurrte Jericho. »Midland ist zumindest ein brauchbarer Anhaltspunkt.«

Grußlos verließen er und seine Gefährtin die Bar. Kurze Zeit darauf war das Donnern startender Triebwerke zu hören. Shane Grissoms Züge wurden von einem Lächeln umspielt. Unter seinem Mantel holte er ein NET-Phone hervor. Die Verbindung war voreingestellt und baute sich in Sekundenschnelle auf. Am anderen Ende der Leitung wurde abgehoben, aber eine Stimme war nicht zu hören.

»Sie haben angebissen«, sprach Grissom in das Gerät.

Es erfolgte keine Erwiderung. Lediglich ein leises Knacken verriet, dass die Verbindung unterbrochen worden war.

*

Träge aber unaufhaltsam legte sich Dunkelheit über das Land. Gewitter lag in der Luft, und hoch über den Wolken trafen kalte und warme Luftmassen aufeinander, die hin und wieder das Aero-Car erschütterten. Nicoleta hob ein Augenlid an und blinzelte aus dem Cockpit, während Jericho die Triebwerke drosselte.

»Machst du eigentlich noch was anderes als pennen?«, fuhr er sie an und stabilisierte dabei den Flug des Gleiters.

»Soll ich lieber stricken?«, antwortete Nici und gähnte herzhaft. »Was soll ich denn eine ganze geschlagene Stunde lang anfangen?«

»Was weiß ich? Spiel an den Zehen! Ich kann mich ja auch nicht hinhauen.«

Nici grinste verstehend, sagte aber nichts. Stattdessen wandte sie den Blick voraus. Jericho hatte mit dem Sinkflug begonnen. Die Wolkenfetzen flogen an der Cockpitscheibe vorbei. Hinter ihnen sank die Sonne rasch dem Horizont entgehen, bis sie nur noch ein rotgoldener Halbmond war. Vor ihnen jedoch zeichneten sich die düsteren Konturen verschachtelter Industriegebäude ab. Jericho nahm mehr Schub von den Triebwerksdüsen, hielt ihre Position mehrere Hundert Meter über dem dürren, ausgetrockneten Land und orientierte sich. Der Scanner zeigte einen unüberschaubar großen Komplex auf einer Fläche von etwa 1,2 Quadratkilometern. Je näher das Aero-Car kam, desto bedrohlicher wirkte die Anlage.

»Nicht ein einziges Licht«, sagte Nicoleta bedrückt. »Nur finstere Gerüste, Hallen und Türme. Es ist fast, als würden wir in den Schlund eines gewaltigen Monstrums fliegen.«

»Weiß auch nicht, wie wir da was finden sollen«, brummte Jericho vor sich hin. »Am meisten trauere ich meinem FLUX nach. Lauf nicht gern komplett nackt durch die Gegend.«

»Stimmt, Großer. Irgendwas sagt mir, dass wir es gut gebrauchen könnten. So wie letztens auf Titan.«**siehe BLACK JERICHO #1: »Massaker in den Leichenminen«

»Müssen halt so klarkommen«, meinte Jericho und steuerte das Aero-Car über die ersten Gebäude hinweg. »Ich such uns mittendrin einen Landeplatz. Dann sehen wir uns um.«

»Und ich bin die Erste, die die Beine in die Hand nimmt, wenn’s Trouble gibt.«

»Bist doch sonst nicht zimperlich, Babe.«

Nici überlegte einige Sekunden, bevor sie antwortete.

»Ich kann’s nicht beschreiben, aber da unten ist etwas, das mir Angst macht …« Sie schaute Jericho mit ausdrucksloser Miene an.

»Da vorne liegt das Kraftwerk«, überging Jericho ihren Einwand. »Mit ein bisschen Massel erwecken wir die Raffinerie wieder zum Leben.«

»Die Anlage ist seit Jahrzehnten verlassen«, warf die Rumänin ein. »Wäre ein echtes Wunder, wenn wir da noch Saft rauspressen.«

Der Gleiter verhielt in der Luft und schwenkte kontrolliert mit dem Heck hin und her. Jericho zog das Aero-Car in einem kleinen Kreis bodenwärts und setzte es zwischen einem Gewirr von Rohrleitungen ab.

»Sehen wir zu, dass wir ins Kraftwerk kommen«, übernahm Jericho die Initiative. »Die Sonne steht tief. Bald wird es stockdunkel sein.«

Im Laufschritt hasteten sie zum Kraftwerk. Eine verschlossene Eisentür verwehrte ihnen jedoch den Zugang. Nici zog ihren COLT und gab aus drei Metern Entfernung einen gezielten Schuss auf das alte Schloss ab. Dem Aufschlag der Kugel folgte metallisches Kreischen. An der Einschussstelle hatte sich die Tür nach innen verbogen. Offen war sie aber immer noch nicht.

»Moment mal!«, sagte Jericho und trat wuchtig gegen die Tür. Dem ersten Stiefeltritt folgten zwei weitere, jedes Mal mit mehr Kraft und mehr Wut ausgeführt. Noch einmal kreischte die metallische Verriegelung, dann brach sie auseinander. Die Eisentür schoss zurück und krachte dröhnend gegen die Innenwand.

»Na bitte.« Jericho schritt durch den Eingang und sah sich um.

»Lausig dunkel«, stellte Nici fest. »Ich renn zum Gleiter und hol uns Magnesiumfackeln.«

Jericho nickte, und Nici lief los. Sie öffnete die Flügeltür auf der Pilotenseite, kroch zwischen den Schalensitzen hindurch zur Transportfläche und wühlte in einigen Taschen herum. Schnell wurde sie fündig, klemmte sich ein halbes Dutzend Fackeln unter den Arm und hangelte sich rückwärts zurück ins Cockpit.

Kaum hatte sie die Flügeltür geschlossen, nahm sie zwischen den Röhren und Zuleitungen eine Bewegung wahr. Zumindest war sie der Meinung, eine solche gesehen zu haben. Wie angewurzelt blieb sie stehen, bemühte sich, im Dämmerschein mehr zu erkennen, und suchte mit den Augen nach einem Hinweis, dass sie sich nicht getäuscht hatte. Sie benötigte einige lange Augenblicke, um zu der Erkenntnis zu gelangen, einer Sinnestäuschung erlegen zu sein. Und genau da registrierte sie ein zweites Huschen, klar und deutlich, da sie zufälligerweise genau in jene Richtung geblickt hatte. Es war von oberhalb der großen Rohrleitungen gekommen und hinter einer Turbine verschwunden.

Die Scheiße kocht wieder auf großer Flamme, dachte Nici. Sie verzichtete darauf, eine der Fackeln zu entzünden. Der Schein hätte nicht weit genug gereicht und sie selbst hingegen zur Zielscheibe gemacht. Aufgewühlt sprintete sie zum Kraftwerk.

»Wir kriegen Besuch!«, rief sie ins Dunkel und hörte ein dumpfes Poltern.

»Verflucht!«, schrie Jericho. »Weshalb läuft hier ein Rohr in Kopfhöhe durch den Raum?«

»Hör auf zu jammern!«, drängte Nicoleta. »Draußen geistern irgendwelche Gestalten rum!« Sie riss eine Magnesiumfackel an und warf die Tür zu. Der abgebrochene Sperrriegel schnappte zwar zu, würde einem Eindringling jedoch keinen nennenswerten Widerstand entgegensetzen.

»Hast du schon herausgefunden, wie du die Energiekonverter hochfahren kannst?«, fragte sie Jericho, der sich die lädierte Stirn rieb.

»Ist uralte Technik«, erwiderte der Söldner. »Hab noch keinen Überblick.« Er bedeutete Nici, ihm eine der Fackeln zuzuwerfen.

»Als würde man einen Schimpansen bitten, die Steuererklärung auszufüllen«, schimpfte Nici, meinte es aber nicht gegen Jericho gerichtet. Aus ihr sprach lediglich die Unruhe, die sich von Sekunde zu Sekunde verstärkte.

»Hier sind ein paar Schieberegler«, teilte Jericho mit. »Ich probiere die Dinger mal aus.«

Als nichts geschah, sagte Nici:

»Die Stromzufuhr muss zentral abgestellt worden sein. Such nach einem Verteilerkasten oder was Ähnlichem. Diese Raffinerien besitzen eine autarke Energieversorgung.«

Jericho pirschte im Licht der Fackel umher, während Nici versuchte, den Sinn der Hebel, Knöpfe und Schieberegler einer Schalttafel zu ergründen. Gehetzt sah sie dabei immer wieder über ihre Schulter zur Tür.

»Ich hab was!«, rief Jericho triumphierend auf. Er stand vor einem schrankhohen Kasten, an dem mehrere farbige Buttons und Skalen angebracht waren. »Hier sind Anzeigen für Volt, Watt und Ampere.« Ohne eine Reaktion von Nici abzuwarten, drückte er den erstbesten Knopf.

Ein dumpfer Schlag hallte durch den Generatorraum. Aus unbestimmter Richtung drang das Geräusch anlaufender Motoren heran. Kurz darauf flackerten hoch über ihnen Lampenreihen, blitzten mehrmals auf und strahlten sodann hell und unterbrechungsfrei auf.

»Funktioniert doch!«, meinte er lachend. Doch kaum hatte er die Worte ausgesprochen, polterte es an der Tür. Einen Sekundenbruchteil später wurde sie mit brachialer Gewalt aufgestoßen.

Entsetzt schrie Nici auf.

Jericho wirbelte auf dem Absatz herum und fluchte innerlich, kein FLUX zur Hand zu haben. Denn im Eingang stand eine Absurdität, die nur ein kranker Geist ersonnen haben konnte.

Jerichos ansonsten kalt-berechnende Miene zeigte einen Anflug von Verwirrung. Aber nur für einen winzigen Moment. Denn das fürchterliche Etwas in der Tür ging ansatzlos zum Angriff über.

Und ihm folgte eine ganze Horde seiner Art!

*

»Unser Mann in Galveston hat die Zielobjekte auf die Fährte angesetzt.« Der Sprecher war gerade einmal knapp über ein Meter sechzig groß, hatte dunkelblondes, strähniges Haar, das ihm bis auf die Schultern fiel. In dem steril-weißen Raum wirkte er wie ein Fremdkörper, ganz im Gegensatz zu dem kraushaarigen Mann, der im weißen Einteiler mit seinen rätselhaft leuchtenden Anzugleitungen vor einem Bildschirm saß und schweigend eine Aufzeichnung betrachtete.

Eine Weile noch dauerte es, bis er auf die Worte seines Mitarbeiters reagierte.

»Wie erwartet, Sucksbee«, sagte er schließlich beinahe teilnahmslos. »Die Schritte unserer Kontrahenten lassen sich leicht vorausberechnen.«

»Dank der Überwachung des Regierungssatelliten«, trumpfte Denford Sucksbee auf. Er trat an den Kraushaarigen heran und warf einen Blick auf den Bildschirm.

»Wieder dieser Jericho Blane?«, fragte er. Der Monitor zeigte eine NET-TV-Dokumentation, bei der sich Jericho durch umstehende Passanten auf die Kamera zudrängte, bis dessen Gesicht in Großaufnahme zu sehen war. Das Kamerabild wackelte. Der Moderator der Sendung fuchtelte mit den Händen durchs Bild, wollte Jericho vertreiben, der sich aber nicht beirren ließ und den heftig Gestikulierenden wegstieß.

»Wieder dieser Jericho Blane«, wiederholte der Weißgekleidete tonlos. »Sein erster und einziger Auftritt im NET-TV. Aber die wenigen Sätze aus seinem Mund haben mich der Lächerlichkeit preisgegeben.«

»Das ist doch Jahre her«, versuchte Sucksbee den Vorfall herunterzuspielen.

»Ich sehe es mir immer wieder an, damit ich es nicht vergesse. Zur selben Zeit nähre ich meine Abneigung für diesen Mann. Das macht es mir leichter, ohne Gewissensbisse gegen ihn vorzugehen.«

Das Bild auf dem Monitor fror ein. Weitgehend emotionslos studierte der Kraushaarige die Züge von Jerichos wutverzerrtem Gesicht.

»Würden Sie Mitleid für diesen Herrn empfinden?«, erkundigte er sich bei Sucksbee.

»Das würde ich nicht unbedingt sagen, Sir. Ein Sympathieträger scheint er nicht zu sein.«

Der Mann im schneeweißen Einteiler ließ ein Schmunzeln erkennen.

»Es wird Zeit für mich aufzubrechen. Keinesfalls möchte ich zu spät kommen.«

»Ich verstehe«, nickte Denford Sucksbee. »Die Vorbereitungen für Ihre Abreise sind getroffen.«

Das blaue Licht der Anzugleitungen fluktuierte leicht, als Sucksbees Arbeitgeber aufstand. Er klopfte seinem Mitarbeiter auf die Schulter und schritt an diesem vorbei.

»Sie werden mich begleiten, Sucksbee. Ich habe gerne einen Trumpf im Ärmel.«

Anstandslos folgte ihm Sucksbee.

*

Nici war in der Bewegung erstarrt! Ihr blieb nur ein Augenzwinkern, um die schreckliche Kreatur zu betrachten. Diese war grotesk verwachsen, von pulsierenden Geschwüren übersät und wirkte, als wäre alles an ihr in ständiger Bewegung. Der Schädel des Monstrums war die bizarre Verformung eines annähernd menschlichen Kopfes, völlig kahl und dazu eckig. Die Augen waren halbkugelige Gebilde, die auf dem quaderförmigen, seltsam vom Rumpf abstehenden Schädel saßen. Dass dieses Wesen seinen grobschlächtigen, weit über zwei Meter großen und enorm breiten Körper derart schnell in Bewegung zu setzen vermochte, erschreckte die Rumänin fast noch mehr als der scheußliche Anblick selbst.

Grollend stürzte die Abnormität in den Kraftwerksraum, riss dabei die Türzarge aus der Verankerung und hechtete auf Nici zu. Hinter dem Ungetüm schoben sich weitere Monstren herein, orientierten sich kurz und jagten auf Jericho zu.

Panikerfüllt zog Nici ihre beiden M2011 G und feuerte die Halbautomatiken auf den ersten Angreifer ab. Die Geschosse schlugen fauchend in den bizarren Leib, fetzten große Löcher hinein und verspritzten grüne und gelbe Flüssigkeiten. Den Ansturm des Wesens konnten sie jedoch nicht stoppen.

Nicoleta Belà warf sich zur Seite und schleuderte im Flug die Magnesiumfackel in die Fratze des Ungeheuers. Außer einem zornigen Grollen zeigte sie allerdings keine Wirkung.

Behände sprang Nici auf die Füße, schoss erneut mehrere Salven ab und bemerkte, dass ihr Gegner ins Wanken geriet. Zäher Saft lief aus den großen Einschusslöchern; einige der Geschwüre waren aufgeplatzt und offenbarten rohes Fleisch. Dennoch wusste die Rumänin, dass es unmöglich sein würde, alle Monstren auf diese Weise auszuschalten. Dazu reichte ihre Munition nicht aus.

Jericho stand mit bloßen Händen da, warf sich todesmutig einer Kreatur von insgesamt vier entgegen und ließ seine Faust mit Macht in ihre Grimasse krachen. Bis zum Handknöchel drang sie in den Schädel ein. Jericho packte alles, was ihm zwischen die Finger kam, und riss es aus dem zerschlagenen Gesicht heraus. Mit der zweiten Hand zerquetschte er der Reihe nach die Augen des Mutanten, der aufbrüllend strauchelte und Jericho unter sich begrub. Selbst für den Söldner war es keine leichte Aufgabe, sich einen Freiraum unter dem zentnerschweren Leib zu verschaffen, um sich darunter herauszuschälen. Er war noch nicht aufgestanden, da riss ihn die zweite Kreatur bereits wieder zu Boden. Eitriges Gelee tropfte von ihren Lippen auf Jerichos Brustharnisch; schenkeldicke Arme prügelten auf ihn ein. Verbissen wehrte Jericho die Hiebe ab, umklammerte den verwachsenen Hals der Bestie und versuchte, ihn zu verdrehen.

Völlig unerwartet wurde die Bestie von ihm heruntergerissen, nur, um der nächsten Platz zu machen, die ihren verwundeten Artgenossen fortgeschleudert hatte und bereits zu einem vernichtenden Schlag ausholte. Jericho drehte sich fort und entging um Haaresbreite dem Hieb, der donnernd den Betonboden spaltete. In das bösartige Dröhnen des Monstrums mischten sich die Schüsse aus Nicis COLTs.

Jetzt wird’s echt brenzlig!, dachte Jericho und hievte sich bäuchlings vom Untergrund hoch. Gleichzeitig erhielt er einen schweren Treffer zwischen die Schulterblätter, sackte ächzend zusammen und spürte sofort im Anschluss einen weiteren schmerzhaften Schlag in den Rücken. Eine unnachgiebige Klaue packte ihn im Nacken und zerrte ihn hoch, sodass er glaubte, ihm würde die Wirbelsäule herausgerissen. Wie ein Spielzeug wurde er in die Luft gehoben, schlug mit den Armen um sich, hatte aber keine Chance, irgendetwas zu treffen.

Mehrmals brüllten Nicis Waffen auf – und Jericho registrierte erleichtert, dass der Griff sich lockerte und ihn schließlich aus seiner stahlharten Umklammerung entließ. Jericho federte auf dem Boden ab, entging dem vernichtenden Schlag des dritten Ungetüms und trat nach hinten aus.

»Alber nicht rum!«, hörte er seine Gefährtin schreien. »Ich hab nur noch zwei Magazine! Schaffen wir unsere Hintern raus!«

Jericho rutschte zwischen den Beinen eines Gegners hindurch, wirbelte hoch und verpasste dem Wesen, das ihn zuvor vermöbelt hatte, einen Roundkick gegen die Stirn. Die Zeit, die ihm sein Angriff verschafft hatte, nutzte er, um zum Ausgang des Kraftwerks zu schnellen. Nici war ihm dicht auf den Fersen.

»Auf offenem Gelände sind wir eine leichte Beute«, sagte er keuchend. »Wir brauchen einen Unterschlupf.«

»Rennen wir zum Aero-Car und verständigen Beck!« Noch während sie es aussprach erkannte sie die Aussichtslosigkeit ihres Vorhabens. Der Gleiter wurde von mindestens fünf der monströsen Kolosse belagert, die sofort losliefen, als sie auf sie aufmerksam wurden.

»Andere Richtung!«, schwenkte sie um und hoffte inständig, dass ihr Fluchtweg, der sie tiefer in den Industriekomplex hineinführte, nicht auch versperrt war. »Wenigstens haben wir nun überall Beleuchtung.«

»Lauf!«, brüllte Jericho. »Die Biester aus dem Kraftwerk haben uns schon wieder auf’m Kieker!«

Insgesamt sieben der grotesken Ungeheuer hetzten nun hinter ihnen her.

»Keine Ahnung, wo wir uns verschanzen können!«, keuchte Nici atemlos. »Ich sehe bloß Röhren, Pumpen und Turbinen!«

»Schwing dich zwischen den Rohrleitungen durch! Da haben die Viecher es schwerer, uns zu verfolgen!«

Jerichos und Nicis verzweifelte Flucht wurde zu einem angstschweißtreibenden Marathon.

»Da muss doch bald mal ein Gebäude kommen!«, rief sie prustend aus. »Die Bastarde hetzen uns wie der Teufel die arme Seele!« Sie stoppte mitten im Lauf, drehte sich um und feuerte ihre COLTs ab. Fleischfetzen wurden einem Ungetüm aus der Brust gerissen; gelb-grüner Saft spritzte umher.

Sofort spurtete Nici wieder los, folgte Jericho mit gewagten Sprüngen zwischen mannsstarken Rohren hindurch, kletterte hinter ihm über einen Gitterzaun und landete beim Absprung mit den nackten Füßen auf steinigem Untergrund. Der Schmerz stach durch ihre Fußsohlen bis in die Waden, ließ sie straucheln und der Länge nach hinfallen. Jericho bemerkte es rechtzeitig, kehrte um und lud sich Nici über die Schultern. Dann stürmte er weiter.

Nicoleta machte aus der Not eine Tugend und nahm ihre Jäger ins Visier. Aufgrund der Erschütterungen beim Laufen konnte sie nicht sonderlich gut zielen, doch verfehlen würde sie die Monstren nicht. Ein halbes Magazin jagte sie dem vordersten der Angreifer in den Leib. Das Fleisch explodierte förmlich, Geschwüre platzten auf und verspritzten Unmengen gelblichen Blutes. Wie eine gefällte Eiche fiel der Mutant vor und grub sich in die Erde.

»Nur noch sechs!«, triumphierte Nicoleta.

»Spar deine Munition, Babe!«, hielt Jericho dagegen, der allmählich zu körperlicher Hochform auflief und dem die Anstrengung kaum mehr anzumerken war. »Wer weiß, wann wir deine Knarren das nächste Mal brauchen.« Gleich einem Hochleistungssportler preschte er über das Gelände. Im Schein von Strahlern und Scheinwerfern konnte er sich ausgezeichnet zurechtfinden. Doch es war abzusehen, dass sie nicht ewig vor den Scheusalen davonrennen konnten. Der Abstand zu ihnen verkürzte sich stetig.

»Was soll ich denn machen?«, jammerte Nici. »Die holen enorm auf! Lass mich runter! Ich schaffe das schon!«

»Keine Zeit!«, erwiderte Jericho knapp. Er hatte einen Bau ausgemacht, der nicht weit entfernt lag. Noch einmal mobilisierte er sämtliche Kraftreserven und erhöhte sein Tempo. Er wusste, sie konnten es schaffen.

»Nicht da rein!«, zerschnitt eine helle Stimme die Luft. »Kommt hierher! Schnell!«

Überrascht verlangsamte Jericho seinen Lauf.

»Bleib jetzt bloß nicht stehen!«, schrie Nici ihm ins Ohr.

»Warte!«, sagte Jericho. »Dort drüben …«

Vor einem Schuppen hatte sich eine Bodenklappe geöffnet; eine schattenhafte Gestalt war erkennbar.

»Frag mich nicht wieso«, meinte Jericho, »aber ich denke, da sind wir besser aufgehoben.«

»Dann steh nicht rum wie eine Wachsfigur, sondern schaff uns rüber!« Entsetzt beobachtete Nici die Monstren, die wie blutgierige Raubtiere heranpreschten. Unter ihren kraftvollen Bewegungen wurde die Erde hochgeschleudert. Verbissen ballerte die Rumänin ihre Magazine leer und brachte zwei weitere Ungetüme zu Fall. Energisch stieß sie Jericho mit spitzem Ellbogen in den Rücken. Der Söldner beschrieb eine Biegung weg vom rettenden Gebäude und hin zu der schmalen Luke, in der die Gestalt wild gestikulierte.

»Aus dem Weg, Hoschi!«, donnerte Jericho, griff über seine Schultern hinweg und packte Nici. »Dreh dich so, dass du an mir heruntergleiten kannst!«

Sie zog ihre Beine über seine linke Schulter, hielt sich an seinem Hals fest – und sprang ab!

Mehrmals überschlug sie sich, rollte hinter Jericho her, der zu einem Sprung ansetzte und mit den Füßen voraus in die Bodenöffnung stieß. Haltlos kullerte Nici über den steinigen Boden ihm nach und verschwand ebenfalls in der Luke.

Keine Sekunde zu früh! Nicoleta spürte noch den Lufthauch, mit dem eine der Monsterpranken über sie hinwegfegte. Aber da hatte ihr Retter die Klappe bereits zugezogen.

*

Dumpfes Poltern wurde über ihnen laut. Fäuste wie Dreschflegel hieben auf die solide Stahlplatte ein.

»Keine Angst«, klang die helle Stimme auf. »Die kommen nicht durch.« Die Gestalt stand dicht an eine Eisensprossenleiter gelehnt, während Jericho rücklings aufgeschlagen war und als Puffer gedient hatte, der Nicis Fall ausgebremst hatte. So war sie auch als erste wieder bei sich, tastete ihre geschundenen Fußsohlen und die Blessuren an ihrem Körper ab und fixierte schließlich die Erscheinung, die auf der Leiter zu ihnen hinabgeklettert kam.

»Das ist ja ein Kind!«, stieß Nici verwundert aus. Es kam aus dem dunklen Schacht zu ihnen hinunter und zeigte sich im Licht der uralten Neonröhren.

»Mein Name ist Naud«, sagte der Junge. Er konnte nicht älter als dreizehn oder vierzehn sein.

Erneut folgte brutales, hämmerndes Schlagen gegen die Bodenluke.

»Du bist sicher, das Ding hält?«, deutete Jericho nach oben.

»Ich vermute es«, war Naud nicht mehr überzeugt. »Den Schlupfwinkel habe ich nicht oft benutzt. Aber stabil ist die Klappe schon.«

»Wir sollten uns nicht länger als nötig hier aufhalten«, bestimmte Jericho. »Wohin führt dieser Gang?« Er wies mit ausgestrecktem Arm voraus.

»Es gibt viele Abzweigungen«, wich der Junge aus. »Einige führen an die Oberfläche, einige weiter zum Zentrum. Ich kenne mich gut aus, aber …« Er stockte.

»Was befindet sich im Zentrum?«, wollte Jericho wissen.

»Nun dräng ihn doch nicht!«, schaltete sich Nici ein. Sie wandte sich an Naud: »Lebst du an diesem Ort? Und wenn ja, seit wann?«

»Ich weiß es nicht genau«, antwortete Naud wahrheitsgemäß.

»Was ist passiert, Kleiner?«, hakte Nici nach. »Wo sind deine Eltern?«

»Vater starb kurz nach meinem letzten Geburtstag«, erwiderte Naud. »Glaube ich wenigstens. Jeder Tag ist wie der andere. Die Zeit vergeht, doch ich kann nicht sagen wie viel.«

»Und deine Mutter?«

»Sie war sofort tot, als … als …« Nauds Blick wurde glasig, und er schien in weite Fernen zu entschwinden. Rasch jedoch war er wieder bei der Sache. »Gefahr!«, stieß er aus. »Sie werden gleich durch sein!«

Jericho runzelte die Stirn.

»Was soll das heißen?«

Er erfuhr es noch im selben Moment. Stahl ächzte und verbog sich. Es gab einen scheppernden Knall. Die Eisenluke kam mit tosendem Gepolter den Schacht hinuntergesaust, knallte gegen die Sprossen der Leiter, dann an die gegenüberliegende Wand und zurück an die Leiter, bis sie donnernd am Boden aufschlug. Naud stürzte augenblicklich den erhellten Gang entlang. Nici und Jericho überlegten eine Sekunde, ob sie dem Jungen folgen oder ihr Glück auf eigene Faust versuchen sollten. Doch sie besannen sich und rannten ihm nach.

»Der weiß schon, was er tut«, meinte Jericho, als würde seine Freundin eine dahingehende Erklärung erwarten.

»Viel Auswahl haben wir ja auch nicht, du Witzbold«, keifte Nici.

Grollen schwang durch den Schacht von der Oberfläche her, gleich darauf das Aufprallen schwerer Körper und das Stampfen muskulöser Beine.

»Wie viele sind noch übrig?«, fragte Jericho und versuchte zur selben Zeit zu ergründen, wohin Naud auf flinken Füßen lief.

»Vier«, antwortete Nici. »Falls die Spießgesellen keinen Zuwachs bekommen haben.«

Naud bog an einer Abzweigung nach links.

»Wohin führt der Gang?«, rief Jericho ihm hinterher.

»Zu einem Stahlschott!«, brüllte der Junge über die Schulter. Jericho und Nici waren etwa zwanzig Meter zurückgeblieben. »Dahinter kann uns nichts mehr passieren!«

»Das will ich hoffen«, raunte Jericho. »Mein Bedarf an Überraschungen ist für heute gedeckt.« An der Abzweigung sah er den Gang hinunter. An dessen anderem Ende tummelte sich ein Gewirr aus verwachsenen Leibern und grässlich entstellten Kreaturen, die teilweise nicht die mindeste Ähnlichkeit mehr mit Menschen oder Humanoiden im Allgemeinen besaßen.

»Vier, ja?«, reckte Jericho sein Kinn in Richtung der Meute vor. Immer noch fielen groteske Wesen durch den Schacht zu Boden.

»War nur eine grobe Schätzung«, entgegnete Nici abwehrend, linste um die Ecke Naud nach und gab ihrem Gefährten einen Klaps gegen die Schulter. »Noch ein paar Meter«, sagte sie, »und wir haben es geschafft.«

Naud stand bereits in dem kreisrunden Schott und winkte aufgeregt. Als Jericho und Nici ebenfalls hindurchschlüpften, zogen sie das Stahltor zu und verriegelten es.

»Ein viertel Meter grundsolider Stahl«, gab Jericho eine anerkennende Bemerkung ab. »Daran beißen sich die Fichtenheinis die Zähne aus.« Er stupste Nici an. »Rück mal eine Fackel raus.«

»Hab ich verloren.«

»Ich mache Licht«, bot sich Naud an. Mit schlafwandlerischer Sicherheit bewegte er sich in der Finsternis. Irgendwo klackten Schalter und Hebel. Wenige Sekunden später wurde es hell.

Nicoleta Belà schaute sich um. Schwarze, gusseiserne Kessel standen umher, dazwischen Konsolenschränke mit Anzeigetafeln. An den Wänden und der Decke verliefen dicht gedrängt Rohrleitungen.

»Hältst du dich nachts in diesem Raum auf?«, erkundigte sie sich bei Naud.

»Nein, nein«, sagte der. »Das ist nur eine Zwischenstation.« Der Junge lächelte vielsagend. »Die Raffinerie ist mein Zuhause. Das Versteck, in dem ich mich am meisten aufhalte, liegt auf der anderen Seite des Geländes.«

»Weshalb hast du dich so weit vorgewagt?«, bohrte Nici. »Ist das nicht viel zu gefährlich?«

»Ich war auf Nahrungssuche. Es wird immer schwieriger, etwas zu essen zu finden.«

»Krieg auch langsam Hunger«, machte sich Jericho bemerkbar. »Was steht denn auf der Speisekarte, Wichtel?«

Naud räusperte sich.

»Ab und zu verirren sich wilde Tiere hierher. Einige verenden, die meisten werden von den Monstren erschlagen.«

»Die Scheusale fressen Fleisch?«, erschrak Nici und stellte sich lebhaft vor, was ihnen widerfahren wäre, hätten die Ungeheuer sie in die Pranken bekommen.

»Meistens lassen sie genug übrig«, hielt Naud dagegen. »Selten finde ich auch eins der Ungeheuer tot vor. Naja …« Er ließ offen, was er damit meinte.

»Dann gibt’s Untier am Spieß«, grinste Jericho verstehend. »Na, soll mir recht sein –« Unwillkürlich zuckte er zusammen, als das Stahlschott unter einer wütenden Erschütterung erbebte.

»Unsere fiesen Freunde sind da«, meinte er gelassen. »Ich will weiter ins Innere. Möchte nicht im Schlaf von den Bestien zerrissen werden.«

»Die kommen nicht durch«, bekräftigte Naud. »Sie haben es oft genug probiert.«

»Vielleicht warst du ihnen die Mühe nicht wert«, gab der Söldner zu bedenken. »Außerdem haben wir einen Job zu erledigen. Der wird nicht einfacher, wenn wir länger warten.«

»Ich bringe euch in mein Versteck«, teilte Naud mit. »Aber ihr müsst mir versprechen, bei mir zu bleiben. Kommt nicht vom Weg ab. Bitte, kommt nicht vom Weg ab …«

Jericho und Nici sahen sich fragend an.

»Vorerst bleiben wir zusammen«, sagte Jericho. Suchend blickte er sich um und entdeckte den zweiten Zugang des Raumes. »Also los, Winzling, schwing die Hufe!«

*

Ein niedriger, aus Beton gegossener Korridor schloss sich an. Über den Boden ergoss sich ein Wasserrinnsal, an den Wänden und der gewölbten Decke hatte sich eine moosige Schicht abgesetzt.

»Es stinkt«, rümpfte Jericho die Nase.

»Dafür gibt’s keine qualligen Sabberviecher«, bemerkte Nici.

Jericho schritt weit aus und erreichte die angrenzende Halle. Ein vierzig Meter breites und mindestens zehn Meter hohes, rundes Becken füllte das Zentrum der Halle aus. An den Seiten führten Leitern auf einen Rundsteg.

»Wer sagt dir, dass die Viecher nicht auch von der anderen Seite reinkönnen?«, fragte er und funkelte Nicoleta an. Die zuckte mit den Schultern.

»Die Zugänge sind ebenfalls mit einem Stahlschott gesichert«, antwortete Naud an ihrer Stelle. »Außerdem sind sie niedriger. Die Monster kämen nur langsam voran.«

An Jericho vorbei drängte Nici in die Halle.

»Sieht nach einer Kläranlage aus«, mutmaßte sie. »Aber es muss noch eine Menge anderer Einrichtungen geben wie Werkstätten, Ersatzteillager und Labore.«

»In einer Werkstatt könnten wir Sachen finden, die als Waffen zu gebrauchen sind«, überlegte Jericho laut.

»Und in den Laboren einen Hinweis, was zum Geier in dieser Raffinerie vorgeht.« Nicoleta stemmte die Fäuste in die Hüften.

»Was soll denn hier vorgehen?«, wunderte sich Jericho. »Draußen lungerten irgendwelche Streuner rum, die kontaminiert wurden und sich in hässliche Triefnasen verwandelt haben.«

»Das ist eine Erdölraffinerie«, tadelte Nici, »und kein Atomkraftwerk.«

»Nicht mal einen Grundriss der Anlage haben wir«, winkte Jericho ab. »Wird schwierig, sich zurechtzufinden, geschweige denn, gezielt zu suchen.«

»Ich führe euch«, meldete sich Naud nach längerem Schweigen zu Wort. »Ich war fast überall in der Anlage.«

»Fast überall?«, fragte Nici gedehnt. Ihr fielen einige Äußerungen ein, die Naud gemacht hatte. Auch rief sie sich in Erinnerung, dass der Junge das Durchbrechen der Kreaturen an der Bodenluke vorausgeahnt hatte. Nur ein oder zwei Sekunden zwar, aber die junge Rumänin vertraute ihrem Gespür für außergewöhnliche Vorgänge.

»Einige Bereiche habe ich gemieden«, erwiderte Naud kleinlaut. »Das solltet ihr auch tun. Weicht nicht von meiner Seite.«

»Junger Mann«, hob Nici mahnend den Zeigefinger, »du schuldest uns einige Antworten. Du hast uns immer noch nicht gesagt, warum du hier bist und was mit deiner Mutter geschah. Komisch finde ich auch, dass du so lange Zeit allein in dieser feindseligen Umgebung überleben konntest.«

»Ich habe nicht gelogen!«, verteidigte sich Naud. »Alles, was ich sagte, ist wahr!«

»Das glaube ich dir. Doch du verschweigst mehr, als du uns bisher mitgeteilt hast.«

Naud lehnte sich an die Wand und rutschte daran hinunter, bis er auf dem nackten Erdboden saß. Er reckte ein Bein vor und pitschte mit dem Fuß in das Wasserrinnsal.

»Papa kam irgendwann von der Arbeit heim. Er war sehr aufgeregt, rannte in der Wohnung herum und hat verschiedene Dinge eingepackt. Mama und ich hatten gar keine Zeit, unser eigenes Zeug mitzunehmen. Er scheuchte uns aus der Wohnung zu unserem Gleiter. Viel sagte er nicht. Nur, dass er uns alles erklären werde. Aber das müsse warten. Überstürzt verließen wir die Stadt. Papa hatte wohl einen bestimmten Plan, doch schon bald hingen Verfolger an uns. Sie eröffneten das Feuer. Anfangs konnten wir ausweichen, bis unser Gleiter schwer getroffen wurde. Meine Mutter starb im Maschinengewehrfeuer. Die Verfolger drehten ab, als sie sahen, dass wir abstürzten. Trotzdem schaffte Papa es noch, uns ein gutes Stück weit zu bringen. Dann versagten die Triebwerke, und wir machten eine Bruchlandung. Irgendwie schafften wir die vielen Kilometer von der Absturzstelle bis zu dieser Raffinerie. Wir glaubten sie verlassen und richteten uns einen Wohnraum her. Eifrig war Papa damit beschäftigt, den Gleiter zu reparieren. Täglich wanderte er den weiten Weg dorthin und kam erst spät abends zurück. Es war tiefe Nacht, als wir erstmals die Lastwagenkolonnen sahen. Sie durchfuhren das Gelände und verschwanden in einem Bereich, den wir nicht kannten. Jede Woche kamen die Wagen. Mein Papa wollte herausfinden, was es mit den nächtlichen Besuchen auf sich hatte. Mehrmals pirschte er sich an die Kolonne heran, hängte sich an einen Wagen und blieb immer lange fort. Auch machte er merkwürdige Andeutungen, als ahnte er, weshalb die Fremden regelmäßig hierher kamen. Jedes Mal wurde Papa wagemutiger und blieb länger fort. Bis er eines Tages nicht mehr zurückkam …«

»Trieben sich damals bereits Monstren in der Raffinerie herum?«, fragte Nici.

»Ich schätze, die ersten tauchten zwei, drei Wochen nach Papas Tod auf.«

»Er muss nicht tot sein, Naud. Vielleicht konnte er flüchten und holt Hilfe.«

»Er ist tot«, sagte Naud starr. »Ich weiß es.« Der Junge erklärte es mit einer Eindringlichkeit, die keinen Zweifel an ihrem Wahrheitsgehalt ließ.

Wieder beschlich Nici das eigentümliche Gefühl, dass dieses Kind über außerordentliche Wahrnehmungsfähigkeiten verfügte, eventuell sogar übersinnlich war.

Jericho, der sich derweil zurückgehalten und die Halle oberflächlich inspiziert hatte, ging dazwischen.

»Seid ihr mit eurem Sermon fertig? Außer getrockneter Scheiße gibt’s in diesem Abwasserloch nämlich nichts zu entdecken. Ich will endlich wissen, wer für den ganzen Zirkus verantwortlich ist.«

»Weicht nicht vom Weg ab«, ermahnte sie Naud aufs Neue. »Bleibt dicht bei mir.«

»Hast du etwas gespürt?«, fragte Nici. »Oder etwas gesehen?«

»Es gibt Orte innerhalb der Anlage, die mir Angst machen, wenn ich in ihre Nähe komme. Deshalb meide ich sie. Und weil das Orakel mich vor ihnen gewarnt hat.«

Nici stutzte; Jericho hob eine Braue.

»Das Orakel?« Die Rumänin kniete sich neben Naud. »Was ist dieses Orakel, und wann hat es dich gewarnt?«

»Ich war einige Male mit meinen Eltern dort. Wir mussten den Gleiter nehmen, um hinzukommen. Für jeden von uns hatte das Orakel eine persönliche Botschaft, die nur für den Empfänger bestimmt war und auch nur für diesen einen Sinn ergab.«

»Was hat dir das Orakel gesagt?«

Der Junge schwieg einige Sekunden. Dann antwortete er:

»Deine innere Stimme wird dich leiten, wenn du es ihr erlaubst. Versage dich den Einflüsterungen deines bewussten Selbst, denn es führt dich in die Finsternis …«

Nicoleta erschauerte.

»Auf, auf!«, drängte Jericho. »Schauergeschichten könnt ihr immer noch austauschen.«

Leicht benommen half Nici dem Jungen auf die Füße und folgte ihrem Gefährten. Mit jedem Schritt, den sie tat, wuchs ihre Beklemmung.

*

Hoch über den Dächern von METROCITY III glitten die Segmente eines Kuppelhangars auseinander wie die Finger einer vielgliedrigen Hand. Die Sonne brach sich auf der glasähnlich wirkenden Metalloberfläche und zauberte grelle Reflexe. Die beiden Männer, die sich zwischen den geparkten Gleitern bewegten, verloren sich in der Weite des Kuppelbaus.

»Ich habe den gepanzerten Omni-Gleiter vorbereitet«, erläuterte Denford Sucksbee und wies mit der Hand auf das imposante Gefährt.

»Disponieren Sie um«, erwiderte der Kraushaarige. »Nichts Auffälliges. Es liegt durchaus im Bereich des Möglichen, dass wir unter der Beobachtung von Regierungsbeamten stehen. Der Untergang der MS ›Commonwealth‹ samt der zugehörigen, mysteriösen Umstände hat eine Menge Fragen aufgeworfen. Ich werde mich ihnen zu gegebener Zeit widmen. Aktuell aber ist es von äußerster Wichtigkeit, behutsam vorzugehen und die Wogen zu glätten.«

»Wie Sie wünschen, Sir.« Sucksbee wanderte zum Omni-Gleiter und holte allerlei Gerät daraus hervor, um es zu einem entsprechend kleineren Modell zu schaffen und dort zu verstauen. Die Aktion dauerte nur wenige Minuten.

»Henderson macht mir ein wenig Kopfzerbrechen«, meinte Sucksbee, als er im Pilotensitz Platz nahm. »Es bleibt weiterhin unklar, welche Informationen er gestohlen und weitergegeben hat.«

Der Kraushaarige bewegte zur Verneinung leicht den Kopf.

»Er ist tot. Auch wenn wir ein bisschen nachlässig bei seiner Beseitigung vorgegangen sind, scheinen die entwendeten Daten noch nicht in Umlauf gekommen zu sein. Das jedenfalls vermelden meine Informanten.«

Denford Sucksbee startete die Triebwerke. Sanft hob der Fluggleiter ab und beschleunigte mit Höchstwerten.

»Kein Aufsehen!«, ermahnte der Mann im weißen Einteiler. »Das bezieht sich auch auf unsere Reisemodalitäten. Ich möchte nicht als jemand erscheinen, der auf der Flucht ist oder in Panik handelt. Halten Sie sich an die Durchschnittsgeschwindigkeiten innerhalb der City.«

Sucksbee drosselte die Schubregulierung.

»Wir verzeichnen leichte bis mittelschwere Umsatzeinbrüche im Bereich Gen-Präparate«, kam Denford Sucksbee auf ein anderes Thema zu sprechen. »Die Produktion der Gen-O-Matics stagniert.«

»Eine bedauerliche Entwicklung, die Mister Blane mit seiner Titan-Aktion ausgelöst hat.**Wer sich nicht erinnert, schlägt nach in BLACK JERICHO #1 Ein wenig zu viel Medienrummel, gefolgt von öffentlicher Verunsicherung. Aber ich habe Mittel und Wege, dem entgegenzuwirken. Ich denke, wir können gelassen in die Zukunft blicken. Das Bestehen der Stiftung ist gesichert. Der Markt liegt brach für Männer, die versteckte Chancen zu nutzen wissen.«

Geschmeidig und in moderatem Tempo steuerte Sucksbee den Gleiter zwischen den Nano-Tubes hindurch.

»Ich habe nichts anderes erwartet, Mister Rosgard«, sagte er kaltlächelnd.

*

An das Klärwerk schloss sich eine weitere, allerdings wesentlich kleinere Halle an. Sie mündete in einen lang gezogenen Schacht, der zu beiden Seiten mit Neonröhren ausgestattet war. Die meisten von ihnen verstrahlten helles, weißblaues Licht, ein paar von ihnen flackerten und einige wenige waren komplett ausgefallen. Große, geschlitzte Lüftungsklappen wiesen auf Frischluftschächte hin.

»Was ist das da vorne, Winzling?«, fragte Jericho barsch. Am Ende des Korridors erkannte er in der rechten Wand eine Unregelmäßigkeit in der glatten Verkleidung, die auf eine Öffnung hinwies.

»Ein Schacht, der nicht versiegelt wurde«, teilte Naud mit. Er blieb stehen und schloss die Augen. Offenbar horchte er nach ungewöhnlichen Geräuschen.

Oder nach außersinnlichen Wahrnehmungen, dachte Nici, die jede Regung des Jungen beobachtete.

»Der Kleine hat recht«, meinte Jericho und stellte sich vor die Öffnung. Kabelstränge hingen lose an den Bruchstellen herab. Dahinter zeigte sich nacktes Gestein, das kreisrund ausgehöhlt war. Aber nur etwa anderthalb Meter. Danach gab es lediglich unbearbeitetes Erdreich und nackten, kantigen Fels.

»Da hat wohl jemand frühzeitig aufgegeben«, kommentierte Jericho ihren Fund. »Die Frage bleibt, warum an dieser Stelle in die Tiefe gebohrt wurde.«

Naud öffnete die Augen.

»In den Gängen gibt es noch mehr dieser Bohrlöcher. Die reichen aber alle nicht weit in den Felsen hinein.«

»So hart sieht das Gestein gar nicht aus«, meinte Nici und äugte in die Öffnung hinein.

»Die Arbeiter müssen auf einen Widerstand gestoßen sein.« Jericho kratzte sich am Kopf und schaute Naud an. »Liegt noch ein weiterer Komplex unter der Raffinerie?«

»Nein!« Die Antwort kam zu schnell, um der Wahrheit zu entsprechen. Der Vierzehnjährige bemerkte es und setzte nach: »Ich habe mich nie über diese Ebene hinausbegeben. Ihr solltet nicht nach Dingen suchen, die nicht entdeckt werden wollen.«

»Genau die Dinge sind es aber, die mich interessieren«, erwiderte Jericho. »Unter deinem hässlichen Potthaarschnitt verbirgt sich mehr, als du preisgeben willst, Wichtel.«

»Hab mir die Haare selbst geschnitten«, brummte Naud beleidigt. »Kann nichts dafür, wenn es nicht wie vom Coiffeur aussieht.«

»Du weißt verdammt gut, was ich meine«, fixierte ihn Jericho angriffslustig. »Solltest du uns irgendwas verschweigen –«

»Nun lass ihn doch in Ruhe!«, schimpfte Nici mit ihrem Freund. »Ich bin sicher, Naud wird uns alles sagen, wenn er es für richtig hält.«

»Ich weiß aber nichts«, zeigte sich der Junge trotzig. »Wie oft soll ich euch das noch erklären?«

»Überzeugen kannst du mich sowieso nicht«, machte Jericho deutlich. »Wir kommen dem Geheimnis dieser Anlage schon auf die Schliche. Ob mit oder ohne deine Hilfe.«

Sie setzten ihren Weg fort. Annähernd eine Viertelstunde arbeiteten sie sich die Korridore hindurch, bis sie eine neuerliche Gabelung erreichten, an der sternförmig drei Gänge abzweigten.

»Rechts geht es zu meiner Unterkunft«, sagte Naud.

»Da wollen wir aber nicht hin.« Jericho setzte einen grimmigen Gesichtsausdruck auf.

»Was soll ich denn noch mehr tun als euch zu bitten, auf dem Weg zu bleiben?«

Nici sah den Anflug von Furcht auf den Zügen des Jungen.

»Spürst du etwas?«, fragte sie sanft.

»Meine innere Stimme drängt mich nach Hause«, erwiderte Naud. »Bitte – folgt mir! Es ist nicht gut, vom eingeschlagenen Pfad abzuweichen.«

»Es ist auch nicht gut, auf wimmernde Pimpfe zu hören«, gab Jericho barsch zurück. »Und heute ist nicht der Tag, mit alten Gewohnheiten zu brechen.«

»Bleibt bei mir!«, jammerte Naud. »Ich will nicht, dass euch etwas zu–« Das letzte Wort sprach er nicht aus. Mit einem Mal wirkte er extrem angespannt.

»Was ist los?«, erkundigte sich Nicoleta. »Droht Gefahr?«

Naud nickte. Er zeigte in die Richtung, in der sein Unterschlupf lag.

»Etwas stimmt nicht!«, hauchte er. »Die warnenden Empfindungen kommen nun auch von rechts.«

»Wie sieht’s mit dem Weg aus, der geradeaus führt?«

»Ich kann die Gefühle nicht auseinanderhalten!«, geriet Naud in Panik. »Sie kommen von überall!«

»Also links!«, entschied Jericho. »War sowieso meine erste Wahl.«

»Ich weiß nicht, was ich tun soll!«, klagte der Junge. »Das Orakel will nicht, dass ich in die Finsternis gehe. Doch hier ist nur noch Dunkelheit und Schrecken!«

»Bei uns bist du sicher«, versuchte Nici ihn zu beruhigen. »Es ist unser Job, mit unbekannten Gefahren fertig zu werden.«

Verhaltenes Grollen pflanzte sich durch den Korridor zu ihrer Rechten fort.

»Hört sich nach unseren schwabbeligen Freunden an«, bemerkte Jericho. »Sie haben uns den Weg abgeschnitten. Du kannst eh nicht mehr zurück, Kleiner.«

»Ich kann nirgendwohin!«, versetzte er klagend. »Wie kann ich mich vor dem hüten, was das Orakel voraussagte?«

Jericho packte den Jungen und hob ihn auf seine Schultern.

»Indem du aufhörst zu lamentieren und an unseren Fersen klebst.«

»Schnell!«, forderte Nici ihn auf. »Die Geräusche kommen näher.«

Um die fünfzig Meter rannten sie in den Korridor zur linken Hand hinein, bevor Jericho und Nici abrupt stehenblieben.

»Jetzt schlägt’s aber dreizehn!«, fluchte er laut.

Hinter einer oval gezogenen Biegung wären sie fast vor eine Wand gelaufen.

Der junge Naud verkrampfte sich in Jerichos Nacken.

Keine Türöffnung. Keine Abzweigung.

Sie befanden sich in einer Sackgasse.

Und gleichzeitig mit dieser Erkenntnis ging das Licht aus!

*

»Bist du irgendwo draufgelatscht?«, meckerte Jericho seine Gefährtin an.

Nici tappte auf der Stelle herum. Tatsächlich fühlte der Untergrund sich anders als der des restlichen Korridors. Er war kühler, und die Oberfläche schien bedeckt von einem feinen metallischen und gleichmäßigen Geflecht. Die junge Rumänin spürte es deutlich unter ihren nackten Füßen. Noch bevor sie jedoch eine Antwort geben konnte, erschien ein filigranes Lichtmuster auf der Wand. Ein greller Lichtimpuls sprang von einem Knotenpunkt zum anderen. Die Reihenfolge, in der er die Punkte markierte, schien willkürlich. Jericho konnte sich dennoch nicht des Eindrucks erwehren, dass eine präzise Abtastung dahintersteckte.

Eine Weile beobachteten sie den hüpfenden Lichtpunkt. Eine Wiederholung der Bewegungen konnte keiner von ihnen erkennen. Aber es geschah auch sonst nichts.

»Nun stehen wir da wie die Ölgötzen«, stellte Nici fest. »Irgendeine Idee?« Fragend blickte sie Jericho an.

»Gefahr!«, flüsterte Naud. Die stetig lauter werdenden Geräusche von jenseits des Korridors bestätigten seine Äußerung auf dramatische Weise.

»Hätte ich ein FLUX, wüsste ich, was zu tun wäre«, bemerkte Jericho säuerlich. Zaghaft streckte er seine linke Hand nach dem Lichtgitter aus.

»Was tust du?«, erschreckte sich Nici. »Das kann ein Energieschirm sein, der dich zu Asche verbrennt!«

»Das finden wir nur raus, wenn wir’s ausprobieren.«

Seine Hand ruckte vor und durchbrach das irisierende Muster. Der springende Lichtpunkt kam zum Stillstand und sonderte einen hauchdünnen Strahl aus, der Jerichos Unterarm entlangkroch, die Konturen von ihm und dem auf ihm hockenden Naud grell leuchtend nachzeichnete und schließlich seinen gesamten Körper erfasste.

»Verfluchter Holzkopf!«, schrie Nici wütend und bestürzt zugleich. Hilflos musste sie mitansehen, wie die gleißende Kontur sich in Millionen winziger Lichtpunkte aufspaltete. Von dem Impuls auf dem Lichtmuster ging nun ein fließender Strahlenkranz aus.

Einen Lidschlag später wurden Jericho und Naud von der Wand verschluckt!

*

Ein Transmitter!, jagte der Gedanke durch Nicoleta Belàs Verstand.

Sollte sie Jericho folgen? Eine Seite von ihr sprach sich dafür aus, die andere dagegen. Niemand wusste, wohin der Transmitter – sofern es überhaupt einer war – sie verfrachten würde. Sie konnte unmittelbar vor den Waffen unbekannter Widersacher materialisieren. Möglicherweise waren Jericho und Naud bereits tot. Konnte sie dieses Risiko eingehen? Gab es auch nur einen vernünftigen Grund, sich auf ein solches Wagnis einzulassen?

Sogar zwei!, gab sie sich selbst die Antwort und presste die Kiefer aufeinander. Eine Meute mordgieriger Bestien hängt mir am Rockzipfel. Und wichtiger noch: Ich lasse meinen Loverboy und Kampfgefährten nicht im Stich!

Todesmutig durchdrangen ihre Hände das Lichtgitter. Der Vorgang der Abtastung begann von Neuem – und war nach zwei Sekunden beendet. Nicoleta löste sich auf, nur um einen flüchtigen Atemzug später wieder in Materie verwandelt zu werden. Der Transport zeigte keinerlei Nebenwirkungen wie etwa Schwindel oder eine vorübergehende Beeinträchtigung der Sehkraft. Und für einen Moment wünschte sie sich, sie wäre nicht unverzüglich mit der Wahrheit konfrontiert worden und hätte noch mit ihren Sinnen ringen müssen.

Nur aus den Augenwinkeln erkannte sie Jericho und seinen kleinen Begleiter Naud. Doch dafür hatte sie keinen Blick. Mit offenem Mund stand sie reglos da, unfähig zu begreifen, was ihre Augen ihr zeigten.

»Heilige Scheiße!«, hauchte sie überwältigt.

*

Verena Dambrosi schrak auf der Couch hoch, als das Kreischen einer New-Metal-Punk-Band die Lautsprecher ihres NET-TV erschütterte. Schläfrig warf sie einen Blick auf die Zeiteinblendung des Bildschirms.

Kurz nach Mitternacht, murmelten ihre Gedanken. Die Müdigkeit in den Knochen raffte sie sich auf und stellte das Gerät ab. Auf dem Weg zu ihrem Bett zog sie das enge Top aus und schlüpfte aus ihrem Slip. Vor dem Spiegel ihres Schlafzimmers blieb sie kurz stehen und betrachtete sich. Der schmale Streifen ihrer Schambehaarung stieß ihr unwillkürlich ins Auge.

Könnte mal wieder gestutzt werden, dachte sie und fuhr mit den Fingern durch den weichen Flaum. Schlaftrunken wankte sie zum Bett und krabbelte unter die Decke. Ihre Lider waren schwer und fielen ganz von selbst zu. Wenige Momente später jedoch riss sie sie schon wieder auf, als der Eindringlingsalarm durch das Fabrikgebäude gellte.

Das darf doch nicht wahr sein! Bros strampelte die Decke herunter und sprang aus dem Bett. Automatisch langte sie nach ihren zwei COMBAT MARK357 und spurtete nackt los. Über die Wendeltreppe war sie im Nu im Parterre angelangt, wo auch Zach Darkovicz bereits aufrecht im Bett saß und Stielaugen bekam, als er die Söldnerin ohne einen Faden am Leib heranhuschen sah.

»Himmel, Mädchen!«, stöhnte der alte Waffenmechaniker. »Erst der Alarm, der mir das Herz in die Hose rutschen lässt – und nun das!« Seine offene Handfläche deutete auf Verena, die völlig ungeniert durch Zachs Wohnräume turnte.

»Ich wette«, überging Bros den Vorwurf, »das ist derselbe Kerl wie am Vormittag. Aber diesmal erwischen wir ihn!« Die Söldnerin spurtete durch die offene Küche zur Hintertür und riss sie auf. Vorsichtig pirschte sie sich zur Ecke des Gebäude und lugte herum. Deutlich erkannte sie den Schattenriss einer stämmigen Gestalt, die vom rein Äußeren her Jericho nicht unähnlich war.

»Flossen hoch!«, schrie Verena. Die Läufe ihrer schweren Pistolen ruckten hoch und nahmen den Fremden ins Visier. Der machte jedoch keinerlei Anstalten, die Flucht zu ergreifen. Stattdessen ging er sogar weiter auf die nackte Frau zu.

»Ich mach einen Schweizer Käse aus dir, wenn du nicht sofort die Griffel hochnimmst!« Es war Bros todernst. Sie würde nicht zögern, ihre beiden Waffen abzufeuern.

»Keine Angst«, dröhnte eine ihr unbekannte Stimme. »Ich habe Sie nicht aufgesucht, um Ärger zu machen. Aber ich muss dringend mit Jericho sprechen.«

»Ist nicht da!«, stieß Verena hervor. »Wer sind Sie überhaupt?« Immer noch hielt sie die halbautomatischen Pistolen auf den Mann gerichtet. »Treten Sie ins Licht, damit ich Ihr Gesicht erkennen kann! Aber schön langsam.«

Der Fremde schälte sich aus dem Schatten und stellte sich unter einen der Scheinwerfer, die rund um das Fabrikgebäude angebracht waren.

»Sie kennen mich nicht«, sagte der Mann ruhig. »Wahrscheinlich kennt Jericho mich ebenso wenig. Dennoch habe ich ihm eine wichtige Mitteilung zu machen.«

»Was soll das sein?« Angespannt betrachtete Verena die Gestalt. Sie war annähernd zwei Meter groß, durchtrainiert und muskulös. Sie nahm an, dass der Kerl es durchaus mit Jericho aufnehmen konnte. Immer vorausgesetzt, der Fremde verfügte über dieselbe Zähigkeit und den absoluten Willen, vor keiner noch so abartigen Gewalttätigkeit zurückzuschrecken.

»Mein Name ist Smasher. Zumindest nennen mich die Leute so, die ich zu Brei geschlagen habe.«

»Beeindruckend«, meinte Bros abfällig. »Haben Sie sonst noch etwas zu bieten?« Sie hatte gänzlich verdrängt, nichts am Leib zu haben. Smasher registrierte es zwar, enthielt sich jedoch eines Kommentars.

»Gab es in den letzten Tagen eine Postzustellung, die Sie stutzig gemacht hat?«, erkundigte sich der Fremde.

»Was ist denn das für eine Frage?«, antwortete Verena verblüfft. Sie konnte keinen Zusammenhang sehen zwischen ihrer Post und Smashers Auftauchen.

»Steif und Burlinger?«, setzte Smasher nach. »Ist Ihnen ein Schreiben der Agentur bekannt?«

»Die sind doch für Kopfgeldaufträge zuständig«, erwiderte Verena. »Ich sehe immer noch nicht, was –«

Sie wurde unterbrochen, als Zach Darkovicz ihr ins Wort fiel.

»Vielleicht kann ich helfen«, bot sich der alte Mann an. Er hatte den Alarm abgeschaltet, einen Morgenmantel angelegt und stand mit zerzaustem Haar im Schein der Außenlampen. »Ich erinnere mich an ein solches Schreiben.«**siehe BLACK JERICHO #5: »Armee der Vergessenen«

»Haben Sie es geöffnet?«, wollte Smasher wissen.

»Es war an Jericho gerichtet. Er wollte es sich nach seiner Rückkehr anschauen.«

Smasher verzog das Gesicht. Seine Enttäuschung war ihm anzusehen.

»Es ist von äußerster Wichtigkeit, dass ich mit Jericho über den Inhalt des Briefes rede.«

»Da müssen Sie vorerst mit uns Vorlieb nehmen«, meinte Verena schnippisch. Sie hatte die Waffen sinken lassen, stand aber weiterhin breitbeinig vor dem nächtlichen Besucher, um ihre Kampfbereitschaft zu signalisieren. »Wie können wir Ihnen trauen, wo Sie doch am vergangenen Tag auf dem Gelände herumgeschlichen und sich ohne eine Erklärung wieder verdrückt haben?«

»Der Alarm hat mich aufgeschreckt«, gab Smasher zu. »Zu viel Wirbel um eine Sache, die besser im Verborgenen bleibt.«

»Was Sie nicht abgehalten hat, mitten in der Nacht dieselbe Show abzuziehen«, hielt Bros ihm vor.

»Ich habe keine andere Lösung gesehen«, bekannte Smasher. »Ich musste irgendwie mit Jericho in Kontakt treten.«

»Was steht denn nun in diesem ominösen Schreiben?«, trat Zach in den Vordergrund. »Was macht es so außergewöhnlich?«

»Es ist eine Einladung«, antwortete Smasher. »Zu einer Art Wettkampf.«

»Ist doch ideal für Jericho«, zwinkerte Bros dem alten Darkovicz zu. »Da kann er mal richtig die Sau rauslassen.«

Smasher schüttelte den Kopf.

»So interessant es sich auch anhören mag, habe ich ernsthafte Zweifel an der eigentlichen Absicht des Contests. Meiner Vermutung nach bezwecken Steif und Burlinger etwas völlig anderes als sie propagieren. Nur deshalb will ich mit Jericho reden.«

»Der ist viel zu scharf drauf, Prügel auszuteilen, als dass er sich mit den Hintergründen beschäftigt«, gab Verena Dambrosi zu bedenken. »Aber Sie können Ihr Glück in den nächsten Tagen gerne versuchen …« Bros zog anerkennend eine Braue hoch und lächelte geheimnisvoll, als sie den Körper des Mannes begutachtete. »… Smasher«, gurrte sie.

Der muskelbepackte Koloss wandte sich mit einem kurzen Gruß ab und tat einige Schritte, nur um sich noch einmal umzudrehen und Verena zu mustern. Die Scheinwerfer zeichneten die Konturen ihrer weiblichen Formen und die Fülle ihrer Brüste scharf nach.

»Vielleicht ziehen Sie sich etwas über, Miss«, sagte er väterlich. »Trotz der Waffen, die Sie zweifellos zu handhaben wissen, bin auch ich nur ein Mann …«

*

In Nicoleta Belàs Gesicht spiegelten sich Kaskaden bunter Lichteffekte, die hoch über ihrem Kopf vor einem schwarzblauen Hintergrund dahinzogen. Einzelne Lichter traten aus der Masse hervor, vergrößerten sich zu schimmernden Kugeln, in denen sich bewegte Bilder zeigten und in kreisförmiger Anordnung vorbeischwebten. Darunter erschien eine Lichtsäule wie aus filigranem Gespinst. Die sprudelnden Lichttropfen ähnelten einem Regenschauer, der geheimnisvoll leuchtete. Betrachtete man den gleißenden Vorhang allerdings genauer, so schien sich dahinter eine Gestalt abzuzeichnen. Je mehr man sich auf die Details konzentrierte und versuchte, ein Gesicht oder klare Bestandteile desselben zu erkennen, desto verwaschener und diffuser wurde es.

»Klapp die Kiefer zu«, drang Jerichos Organ an Nicis Ohren und zerstörte den Zauber des Augenblicks, »sonst regnet’s noch rein.«

Nici benötigte mehrere Sekunden, um sich von dem Anblick zu lösen und auf Jerichos Gepolter zu reagieren.

»Du tumber Bauerntrampel!«, giftete sie los. »Siehst du denn nicht, was um dich herum geschieht? Wie kannst du nur derart unsensibel sein, du grober Klotz?«

»Wenn es hier etwas Schönes gäbe«, erwiderte er rau, »wären wir am falschen Ort. In der Raffinerie laufen geifernde Ungetüme rum. Der Schrecken regiert in der Anlage. Ein paar bunte Lichter machen daraus keine Oase der Fröhlichkeit.«

»Selbst wenn dir ein Wunder wie dieses in den Arsch tritt, würdest du es nicht erkennen!« Wütend verschränkte Nici die Arme vor der Brust. Sogleich aber entspannte sie sich wieder und blickte zu Naud, der von Jerichos Rücken geklettert war und unschlüssig neben ihm stand.

»Was sagt dein Instinkt?«, fragte Nici den Jungen. »Bemerkst du Ungewöhnliches?«

Naud wollte den Kopf schütteln, überlegte es sich dann jedoch.

»Ich weiß es nicht.« Er wirkte unsicher, und ihm war anzumerken, dass er sich immens anstrengte, um eine brauchbare Empfindung aufzuschnappen. »Entweder ist es in diesem Saal sicher, oder es ist so wahnsinnig finster, dass diese Wahrnehmung alles andere überlagert. Die Eindrücke schwanken. Ich kann sie nicht eingrenzen.«

»Ein toter Punkt«, erklärte Nici. »Eine Art suggestiver Grauzone.«

»Bringen wir mal ein bisschen Farbe ins Spiel«, sagte Jericho und stapfte auf den Lichtvorhang zu. »Wüsste zu gerne, welcher Hoschi sich dahinter verbirgt.«

Einige der Lichtkugeln trudelten wie Seifenblasen heran. Eine von ihnen berührte Jerichos Kopf, und schon blähte sie sich auf, verdeckte die gleißenden Kaskaden und begann eine Szene abzuspielen.

»Das ist eine Filmaufzeichnung!«, stieß Nici aus. »Nimm mal die Rübe aus dem Bild, Jerri!« Aufgeregt richtete Nicoleta ihre Augen auf die Aufnahme. »Schau dir nur diese Wesen in den weiten Gewändern an!«

»Ich hab vorher schon Typen in bodenlangen Kutten gesehen«, murrte Jericho.

»Nein!«, beharrte Nici. »Ihre Köpfe! Die Gesichter! Fällt dir denn nichts auf?«

Drei befremdliche Gestalten schritten über einen Steg an der Kulisse des Weltraums vorbei. Ausschnittweise war ein gigantischer Planet zu erkennen, der von Ringen aus Gesteinstrümmern umgeben war.

»Die sind abgrundtief hässlich.« Jericho konzentrierte sich weniger auf das Äußere der Wesen, als vielmehr auf die Schriftzeichen, die im oberen Bereich des Bildes eingeblendet wurden. Allerdings konnte er nichts mit ihnen anfangen, sondern studierte lediglich den schneller werdenden Wechsel der Informationen. Kolonnen von Daten rasten durch den rechten Rand der Aufzeichnung.

»Die haben entfernte Ähnlichkeit mit den Monstern, die uns verfolgt haben«, flüsterte Naud plötzlich. »Halbkugelige Augen auf Vierkantschädeln.«

»Möglich, dass die Viecher früher genau so ausgesehen haben«, zog Nici ihre Schlüsse. »Irgendetwas Schreckliches muss passiert sein.«

»Was hat sie aber zur Erde verschlagen?«, warf Jericho ein. »Falls ich mich nicht grundlegend täusche, ist der Planet im Hintergrund doch der Saturn.«

Als hätte Jericho ein geheimes Kommando gegeben, wechselte der Bildausschnitt, schwenkte in die Leere des Alls und tauchte mit Höchstgeschwindigkeit in diese ein. Daten rasten ungeheuer schnell über den Bildrand, sodass nur noch ein stetes Aufflackern der Schriftzeichen wahrnehmbar war. Ein winziger Punkt erschien im Zentrum der Aufnahme, der rasch größer wurde und schließlich die Hälfte der Projektionskugel ausfüllte.

»Die Erde«, hauchte Nici ergriffen. »Mein Gott, was hat das alles zu bedeuten?« Vermessungsgitter legten sich über das Abbild des Planeten. An den Kreuzungslinien blinkten Quadrate auf, wurden eingezoomt und mit fremdartiger Beschriftung versehen. Dann erloschen sie und traten in schnellen Wechsel mit anderen Flächen, die kurz aufflammten, bis sich ein reger Kreislauf entwickelte, der den gesamten Globus erfasste.

»Da hat einer unsere Erde kartografiert«, fasste Jericho zusammen. Er sprang auf der Stelle hoch und wischte die Blase beiseite, die augenblicklich schrumpfte und sich in den Reigen der unzähligen anderen Lichtkugeln einreihte. Mit spitzem Finger tippte er die nächste Lichtblase an.

»Das ist eine riesige Datenbank«, sagte Nici begeistert und heftete ihre Augen unweigerlich auf die anwachsende Projektionsfläche. Hier ließ sich allerdings nicht auf Anhieb feststellen, was dargestellt wurde. Erst der junge Naud gab den entscheidenden Hinweis.

»Das sind genetische Codierungsreihen«, brachte er vor. »Ich habe Ähnliches auf dem Rechner meines Vaters gesehen.«

»DNS-Stränge«, bestätigte Nici. »Aber sie sehen reichlich unterschiedlich aus, als gehörten sie verschiedenen Spezies an.«

Plötzlich und unerwartet schnitt eine scharfe Stimme durch den Saal.

»Das reicht!«, schallte es zu ihnen herüber. »Sie haben bereits mehr gesehen, als gut für Sie ist!«

Jericho wirbelte auf dem Absatz herum. Seine Augen verengten sich, und als er den Sprecher erkannte, der in einem weißen, fluoreszierenden Anzug dastand, verzerrten sich seine Züge zu einer wütenden Grimasse.

»Rosgard!«, presste er zwischen den Lippen hervor. »Du abgefuckter Bastard!«

*

Ohne ein weiteres Wort zu verlieren stürmte Jericho wie ein wilder Stier mit geballten Fäusten los. Rubin Rosgard blieb gelassen stehen, nahm nicht einmal eine abwehrende Haltung ein, und verzog auch keine Miene, als Jericho wuchtig gegen eine unsichtbare Wand lief und unter dem gleißenden Blitzen hochenergetischer Entladungen zu Boden geschleudert wurde. Verdutzt betrachtete er seine Fäuste, von denen Brandschwaden aufstiegen. Auch seine Rüstung war in kochenden Dunst gehüllt.

»Nicht alle Probleme können mit roher Gewalt gelöst werden, Mister Blane«, tadelte Rosgard. »Haben Sie allen Ernstes angenommen, ich würde unvorbereitet eine Konfrontation mit Ihnen suchen?«

»Ich zerleg dich in deine Einzelteile!«, brüllte Jericho, sprang auf die Füße, hielt jedoch respektvollen Abstand zu dem Energieschirm.

»Fordern Sie keine Technik heraus, die Sie nicht verstehen«, belehrte ihn Rosgard aufs Neue. »Dies ist mein Refugium. Machen Sie sich nicht zu einem größeren Narren als Sie schon sind.«

Nici nahm Naud an die Hand und trat neben Jericho.

»Da Sie alles so genau zu wissen scheinen«, sagte Nici an Rosgard gewandt, »erklären Sie uns doch bitte, was dieser Saal darstellt. Eine Ihrer eigenen Konstruktionen? Ein neuer Versuch, Kontrolle über die Menschen dieser Welt zu erlangen?«

Rubin Rosgard verschränkte die Arme vor der Brust.

»Die Antwort auf Ihre erste Frage lautet nein«, gab der Wissenschaftler Nici in ruhigem Tonfall zu verstehen. »Ihre zweite Frage muss ich hingegen eindeutig mit ja beantworten.«

»Sie gefallen sich in Ihrer Position als Beherrscher der Elemente, was?« Nici zog ein verächtliches Gesicht.

»Ich genieße meine Macht«, lächelte Rosgard kühl. »Vor allen Dingen aber genieße ich Ihre Hilflosigkeit. Ich kann alles mit Ihnen machen, was ich will. Ein Fingerzeig von mir und Sie sterben …«

»Das will ich sehen«, knurrte Jericho ungehalten. Er war drauf und dran, sich erneut gegen den Schutzschild zu werfen.

»Sie haben sich in dieser Raffinerie eingenistet, um Ihre schändlichen Experimente fortzuführen«, beschuldigte Nici den Wissenschaftler. »Mit Ihrer Vergangenheit braucht man nur zwei und zwei zusammenzuzählen, um zu wissen, dass Sie für die grotesken Kreaturen in der Anlage verantwortlich sind.«

»Ich forsche«, erwiderte Rosgard unbeeindruckt von dem Hass, der in Nicoletas Augen glomm. »Nicht immer funktioniert alles wie geplant. Kleinere Rückschläge muss man hinnehmen. Aber eines kann ich Ihnen versichern: Ich habe mich nicht in diesem Komplex eingenistet. Ich habe ihn übernommen.«

Nici und Jericho tauschten einen kurzen Blick.

»Diese Technologie stammt nicht von Ihnen?«, fragte Nici. Ein eigentümliches Gefühl von Unbehagen breitete sich in ihr aus. Sofort fielen ihr die ›Schatten‹ ein, die bereits Regierungskreise unterwandert und für kurze Zeit beispiellosen Terror verbreitet hatten.**siehe BLACK JERICHO #2: »Blutdürstige Schatten«

»Wir entdeckten sie zufällig und hatten unsere Schwierigkeiten, an sie heranzukommen«, sprach Rubin Rosgard ganz offen. »Von der Oberfläche aus gab es keinerlei Zugang …«

»Daher die Bohrungen in den Korridorwänden!«, platzte Nici heraus.

»Ebenfalls ein Unterfangen, das zum Scheitern verurteilt war«, bekannte Rosgard. »Eine unüberwindliche Abschirmung hat unser Vorkommen behindert. Bald aber entdeckte ich eine ebenso simple wie effektive Art des Eindringens.«

»Die haben wir auch gefunden«, grinste Nicoleta provozierend. »War das reinste Kinderspiel.«

»Überschätzen Sie sich nicht, Miss Belà. Hier unten erwarten Sie Dinge, von denen Sie nicht einmal träumen.«

»Mir kommt es eher vor, als hätten Sie diese ›Dinge‹ nicht unter Kontrolle, Rosgard. Sie spielen mit dem Feuer und können sich jederzeit die Finger verbrennen. War es so, als die MS ›Commonwealth‹ untergegangen ist …?« Nici tat einen Schuss ins Blaue.

»Wir arbeiten noch an einer Aufklärung des Unglücks«, ließ sich Rubin Rosgard nicht aus der Reserve locken. »Aber das braucht ganz sicher nicht Ihr Problem zu sein.«

»Es wurde unser Problem«, erhob Jericho die Stimme, »als die Regierung uns beauftragte, nach den Ursachen zu forschen. Und vor allem nach dem Verwendungszweck der geladenen Fracht.«

»Frisches Gen-Material für METROCITY III«, gab Rosgard unumwunden zu. »Eine heiße Fracht übrigens. Wir haben erstmals völlig fremdes Erbgut mit menschlichem verschmolzen.«

»Erbgut von wem?« Nici spürte, dass sie einer ungeheuerlichen Wahrheit auf der Spur waren.

»Genetische Bausteine von jenen, die dieses unterirdische Labor schufen«, sagte Rosgard in stiller Genugtuung. »Na, arbeitet es bereits in Ihrem begrenzten Verstand …?«

»Sie kamen nicht von der Erde, ja?«

»Absolut korrekt.« Rosgard ließ das Söldnerpaar noch einige Momente schmoren, ehe er hinzufügte: »Wie Sie bereits an der Oberfläche sehen konnten, verträgt sich die außerirdische DNS nicht sonderlich gut mit irdischer und führt zu unvorhergesehenen Mutationen.«

»Wer sind die Aliens?«, forderte Jericho eine Antwort.

Rubin Rosgard schritt nah an den unsichtbaren Energieschirm heran. Offenbar wusste er genau, wo er sich befand. Jericho war vorsichtiger, trat aber ebenfalls näher an den Wissenschaftler. Sie waren sich zum Greifen nahe. Beinahe überkam es Jericho, einfach durch den Schild zu greifen und seinen Widersacher in Stücke zu reißen wie ein vor Schmerz und Zorn blindes Tier.

Eindringlich starrte Rosgard in Jerichos orange gefärbte Augen.

»Wer?«, setzte Jericho nach. Seine extrem angespannten Muskeln zitterten.

Rosgard blieb entspannt.

»Osh-Mecc«, antwortete er gleichmütig.

*

Nicoleta Belà kochte vor Angst und Wut.

»Sie kooperieren mit den Feinden der Menschheit!«, schrie sie. »Sie ebnen den ›Schatten‹ den Weg, die Erde zu erobern!«

»Falsch!«, folgte die scharfe Erwiderung Rosgards. »Ich benutze sie! Und ich habe vor, daraus enormes Kapital zu schlagen. Auf monetärer und ideeller Ebene. Außerdem basiert die Verbindung zwischen Osh-Mecc und den ›Schatten‹, wie Sie sie nennen, auf reiner Spekulation.«

»Dann haben Sie von den ›Schatten‹ gehört?«, fragte Nici hintergründig. Rubin Rosgard konnte im Normalfall nichts wissen von den Vorgängen im General-Custer-Tower von Central Metrocity III.

»Die Regierungsfrequenzen sind leicht abzuhören«, erwiderte Rosgard geringschätzig. »Was denken Sie, woher ich von Ihrem Einsatz in Midland weiß? Sind Sie außerdem tatsächlich der Annahme, Shane Grissom wäre Ihnen rein zufällig über den Weg gelaufen …?«

»Was ist Ihnen über die Osh-Mecc bekannt?«, ging Nicoleta auf die Frage nicht ein.

»Ich verfüge über eine unglaubliche Datenmenge der Außerirdischen.« Rosgard unterbrach sich und machte eine Geste des Bedauerns. »Leider ist es mir bisher nicht gelungen, sie auszuwerten.« In einer weit ausholenden Bewegung mit dem rechten Arm deutete er auf eine eigenwillig geformte Konsole, die mit Kristalldatenträgern bestückt war. Sie war Jericho und seiner Gefährtin bislang nicht aufgefallen. Nun aber deckte Nici einen bedeutenden Zusammenhang auf.

»So ein Ding haben wir Beck überlassen.« Ihre Lungen arbeiteten schwer. »Seine Experten sind ebenfalls mit der Entschlüsselung beschäftigt.«

»Ein langwieriges Unterfangen«, ließ Rosgard verlauten. »Die Struktur der menschlichen Genetik verhindert den Decodierungsvorgang.«

»Ein Schutzmechanismus auf biomolekularer Ebene?«, staunte Nici. »Wieso lassen sich dann diese Anlagen von Ihnen bedienen?«

»Nun«, begann Rosgard eine Erklärung, »die Osh-Mecc experimentierten mit irdischer DNS. Die Technologie musste bereichsweise angepasst werden, um sich nicht selbst zu blockieren. Das ist auch der Grund, weshalb Sie und ich an diesen Ort transferiert werden konnten.«

Nicoleta kam ein kühner Gedanke.

»Besteht die Möglichkeit, dass die Osh-Mecc mit den Ereignissen um Merkur in Verbindung stehen?« Sie stupste Jericho an. »Du weißt schon. Dieses … dieses Tor …«

»Da sagen Sie mir nun etwas völlig Neues«, bekannte Rosgard. »Und vielleicht könnten Sie den einzigen lebenden Ableger der fremden Spezies befragen, der sich hinter Ihnen unter einem Partikelschirm befindet, falls es Ihnen gelingen würde, seine Lebensfunktionen zu reaktivieren.«

Jericho drehte den Kopf und fixierte das pulsierende Gespinst unterhalb der rotierenden Lichtkugeln. Für einen Moment sah er klar umrissen die Gesichtszüge des Extraterrestriers mit seinem kantigen Schädel, den aufgesetzten, halbkugeligen Augen, den Atemschlitzen anstelle einer Nase und dem lippenlosen Mund. Doch wenn er sich auf den Anblick konzentrierte, verlor dieser an Schärfe, wurde diffus und verwaschen.

»Ist mir momentan schnuppe«, entgegnete der Söldner und wandte sich dem Wissenschaftler in dem weißen Anzug zu. »Wir sollten jetzt besser Klartext reden.«

»Klartext?«, dehnte Rubin Rosgard.

»Ja«, sagte Jericho missmutig. »Wie soll’s jetzt mit uns weitergehen?«

»Ganz einfach«, meinte Rosgard jovial. »Ich werde Sie alle töten!«

*

Nicht zum ersten Mal an diesem Tag verfluchte Jericho den Umstand, dass sein FLUX EP 6000 zu Bruch gegangen war. Argwöhnisch musterte er die Gestalt, die neben Rosgard aus dem Dunkel der technischen Anlagen trat und ein kompaktes Gewehr unbekannter Bauart in den Händen hielt.

»Mister Sucksbee«, begrüßte Rosgard den Neuankömmling, »würden Sie sich bitte um unsere ungebetenen Gäste kümmern?«

Denford Sucksbee hob das Gewehr an und zielte entschlossen auf Jericho. Der wiegte sich in Sicherheit, da der unsichtbare Schutzschild noch zwischen ihnen stand. Dennoch hatte er ein Gespür für die unmittelbare Gefahr – und das rettete ihm das Leben!

Ein instinktiver Reflex ließ ihn sich zur Seite werfen, genau in dem Augenblick, da Rosgards Mitarbeiter abdrückte. Ein grün schillernder Strahl raste auf ihn zu und zog eine brennende Schneise durch den Schulterpanzer von Jerichos Nano-Rüstung. Die dünne, extrem verdichtete Metalllegierung verkochte unter der Einwirkung des Energiestrahls. Jericho spürte einen heftigen, stechenden Schmerz und wusste, dass ihnen nur Sekundenbruchteile blieben, bevor der nächste Schuss sie vaporisierte.

»Zum Ausgang!«, brüllte Jericho und blickte bereits wieder in die Mündung des Gewehrs. Erneut konnte er knapp ausweichen, während der Boden zwischen seinen Beinen verdampfte.

Nici beugte sich schützend über Naud und stieß den Jungen vor. Sie fanden Schutz hinter einer Konsole, in die ein Energiestrahl einschlug und Schwaden verdampfenden Stahls erzeugte. Zwei Sekunden darauf war Jericho bei ihnen und deutete auf die andere Seite des Alien-Labors, wo er einen Ausgang entdeckt hatte.

»Sie müssen üben, Mister Sucksbee«, hörten sie Rosgards Stimme. »Wie kann es sein, dass Ihnen eine Gruppe Unbewaffneter entwischt?«

Sucksbee nahm die Konsole unter Dauerfeuer. Das zornige Zischen kochenden Metalls überlagerte für Sekunden jegliches andere Geräusch.

»Hören Sie auf, die technischen Einrichtungen zu zerstören!«, fuhr Rosgard seinen Mitarbeiter an. »Sie sollen die Eindringlinge töten, nicht unsere Arbeit zunichte machen!« Er entwand Sucksbee das Gewehr, schaltete den Schutzschirm ab und machte einige Schritte vor.

»Wenn man sich nicht um alles selbst kümmert«, bedachte er Sucksbee mit einem kritischen Blick.

Jericho, Nici und Naud rannten los. Rosgard gab ein paar Schüsse ab, schien jedoch mit der Handhabung des Gewehrs nicht vertraut und verfehlte die Flüchtenden. Dafür zerplatzten mehrere Schalttafeln und lösten sich in ihre atomaren Bestandteile auf.

»Herrgott noch mal!«, polterte Rosgard los. Genau dieser Ausruf ließ Jericho mitten im Lauf stoppen. Er sah die verzweifelten Versuche seines Widersachers und setzte zum Sprint auf ihn an.

»Bist wohl den Umgang mit Waffen nicht gewohnt«, rief er zu ihm hinüber, duckte sich unter heranrasenden Strahlenschüssen weg und riss Rosgard kraftvoll zu Boden. Spielend leicht entwand er ihm das Gewehr und packte es mit festem Griff. Den kurzen Lauf presste er dem Wissenschaftler gegen die Stirn.

»Fast zu schön, um wahr zu sein«, zischte Jericho und grinste gehässig.

»Sie drücken nicht ab!«, spie ihm Rubin Rosgard entgegen. Er hoffte insgeheim darauf, dass Denford Sucksbee eingreifen würde, doch sein engster Mitarbeiter rührte keinen Finger. Er war der Überzeugung, dass jedes Eingreifen von ihm Rosgards unweigerlichen Tod zur Folge haben könnte.

»Du hast recht, Hackfresse«, sagte Jericho verächtlich und zog den Gewehrlauf nach rechts weg. »Ein Schuss in den Kopf würde mich um den ganzen Spaß bringen.« Hart packte er Rosgard am Kragen und zerrte ihn auf die Füße. Mit der flachen Hand schlug er ihm ins Gesicht, holte mit dem anderen Arm weit aus und schleuderte Rosgard gegen einen Konsolenschrank. Die Armaturen zerbarsten unter dem Aufschlag. Rubin Rosgard schrie auf und rollte haltlos über ein Pult zu Boden. Gleichzeitig fuhren Energieanzeigen hoch; irgendwo blinkte eine holografische Anzeige auf, die man auch ohne Kenntnis der fremden Technik als Warnsignal deuten musste.

»Verdammter Narr!«, schrie Rosgard auf. »Die Energiekontrollen sind zerstört! Der Meiler produziert einen Überschuss, der nicht zu regulieren ist!«

»Wird ein schönes Feuerwerk«, freute sich Jericho, schenkte Sucksbee, der seine Chance zum Angriff witterte, ein mildes Kopfschütteln, und hob das Strahlengewehr auf.

»Jetzt komm schon rüber, Jerri!«, rief Nici aufgebracht. »Oder willst du, dass wir alle draufgehen?«

Als sie erleichtert erkannte, dass Jericho sich in Bewegung setzte, stieß sie mit Naud durch das Transportgitter und löste sich innerhalb von einer Sekunde auf.

Zufrieden folgte ihr Jericho im Laufschritt, das Gewehr wie einen wertvollen Schatz in den Armen haltend.

Unter dem Wüten von Rubin Rosgard entmaterialisierte er …

*

»Das ist nicht der Korridor, durch den wir reingekommen sind!«, hatte Jericho mit einem flüchtigen Rundblick erkannt.

»Kunststück«, belehrte ihn Nici. »Wir haben schließlich auch einen anderen Ausgang genommen.«

Naud in ihre Mitte genommen rannten sie den langen Gang hinunter. Sie hatten nicht einmal die Hälfte zurückgelegt, als an seinem Ende furchterregende Kreaturen um die gewundene Ecke jagten.

»Bleibt hinter mir!«, befahl Jericho und trat vor. Er legte das Gewehr an und gab einige Salven ab. Mit der Präzision von chirurgischen Skalpellen fraßen sich die Energiestrahlen durch die Meute aus grausam entstellten Körpern, zerschnitten die Leiber und trennten Gliedmaßen ab. Gelbgrünes Blut spritzte und verdampfte noch in der Luft. Gequälte Schreie hallten grauenerregend durch den Korridor. Die nachrückenden Bestien trampelten rücksichtslos über ihre verstümmelten und toten Artgenossen und wurden von Jericho gnadenlos niedergemetzelt. Erst als der Boden mit Leichen, Halbtoten, Armen, Beinen und Fleischbrocken übersät war, senkte Jericho die Waffe.

»Worauf wartet ihr?«, forderte er Nici und Naud auf, ihm zu folgen. »Schwingen wir uns ins Aero-Car und drehen Rosgard ’ne lange Nase.«

Angewidert wateten Nici und der Junge durch die Leichenteile. Hin und wieder zuckten einzelne Gliedmaßen, aber eine Bedrohung stellten sie nicht mehr dar.

»Ekelhafter Pamp!«, schimpfte Nicoleta und begutachtete oberflächlich ihre nackten Füße.

»Irgendwie müssen wir uns orientieren«, gab Jericho zu bedenken. »Die Zeit sitzt uns im Nacken, und ich hab keine Ahnung, wo der Gleiter steht.«

Der Gang endete an einem schwarzsilbernen Schott. Jericho hatte Mühe, es aufzuziehen, und als die drei hindurch waren, fanden sie sich in einer riesigen Halle wieder. Sie wurde gesäumt von mehreren Etagen aus Laufstegen, Treppen und Leitern, die mehrere Dutzend Meter in die Höhe ragten. Überall verliefen Rohrleitungen. An der Decke zeigte sich ein engmaschiges Netz kleiner und großer Pipelines sowie gebündelter Kabelstränge, dazu ein ausladender Schienenkran.

»Wohin jetzt?«, fragte Nici. Sie sah Naud an. »Was sagt deine innere Stimme?« Kaum hatte sie die Worte ausgesprochen, bemerkte sie, dass ihre Frage überflüssig gewesen war. Der Vierzehnjährige war blass geworden; ein unmerkliches Zittern hatte seinen Körper erfasst.

»Etwas ist hier«, hauchte er ängstlich. »Etwas Böses …«

Ein länglicher Schatten tauchte hinter den Gerüsten auf, wand sich gleich einem wirbellosen Insekt und verschwand sofort wieder.

»Da!«, schrie Nici. »Da hinten!«

Jericho blickte in die Richtung, in die ihr ausgestreckter Arm zeigte.

»Ich sehe nix«, brummte er. »Verlieren wir keine Zeit. Wir durchqueren die Halle und schauen, wo wir auskommen. Kann sein, dass wir direkt nach draußen gelangen.«

Der Söldner blieb wachsam und pirschte sich mit vorgehaltener Waffe auf das gegenüberliegende Ende der Halle zu. Nici blieb ihm dicht auf den Fersen, richtete ihren Blick nach links und rechts, dann wieder voraus. Allmählich gewann sie den Eindruck, sich tatsächlich getäuscht zu haben. Erst als sie sich nach Naud umdrehte und diesen wie gelähmt weit hinter sich entdeckte, den Kopf in den Nacken gelegt, wurde sie auf etwas aufmerksam, dass sich hoch über ihnen auf einem quer verlaufenden Steg unterhalb des Krans befand.

»Jericho …«, flüsterte sie und tippte ihrem Gefährten auf die Schulter. »Da oben …«

Eine unförmige Masse wand sich in luftiger Höhe. Ihre Bewegungen waren fließend, aber es war auf Anhieb nicht zu erkennen, worum es sich handelte. Stumpfe Glieder züngelten aus der Masse hervor, und feucht glänzendes Gelee tropfte metertief auf den Untergrund, spritzte auseinander und bildete Pfützen aus zäher Flüssigkeit.

»Tentakel«, sprach Jericho seinen ersten – und einzigen – Gedanken aus. »Da hockt ein fieser, hungriger Mutant und brütet irgendeine Schweinerei aus.«

In überlegener Pose und mit feinem Hang zur Theatralik richtete er sein Gewehr in die Höhe.

»Mach schon, Jerri!«, drängte Nici und hatte ebenfalls ihre COLTs gezückt. »Sonst werden unsere Hintern in die nächste Umlaufbahn gesprengt!«

Die Strahlenwaffe hatte keinen Abzug, sondern lediglich einen Schieberegler. Zudem erzeugte das Gewehr starke Vibrationen und ein heftiges Kribbeln in den Armen. Vermutlich waren es diese Umstände gewesen, die Rosgard die Handhabung erschwert und daneben hatten schießen lassen.

Noch bevor Jericho allerdings feuern konnte, erwischte ihn ein mörderischer Schlag in den Rücken. Nur die starke Panzerung der Nano-Rüstung verhinderte, dass ihm sämtliche Wirbel gebrochen wurden. Keuchend ging der Söldner zu Boden; das Gewehr schlitterte meterweit fort.

Im Reflex drückte Nici mehrmals ab, sah jedoch nicht mehr, welchen Schaden ihre Geschosse anrichteten, denn da musste sie bereits unter einem heranjagenden Tentakel hinwegtauchen. Naud hatte sich zu Boden fallen lassen und robbte außer Reichweite der peitschenden Krakenarme.

Während Jericho sich mühsam aufrichtete, einen weiteren Hieb einsteckte und sich mehrfach überschlug, hetzte Nici zu dem Strahlengewehr, hämmerte beim Rennen die letzten Kugeln aus ihren Magazinen und hielt die schwingenden Tentakel auf Distanz. Immer mehr griffen aus dem Dunkel hinter den Laufstegen nach ihnen, und es wurde stets schwieriger, ihnen auszuweichen.

Erstaunlich schnell schien Jericho sich erholt zu haben, warf sich gegen einen der rumpfstarken Fangarme und krallte seine Finger hinein. Die Spitzen bohrten sich in das nachgiebige Fleisch und rissen Stücke heraus. Doch schon wurden seine Beine von armdicken Pseudopodien umschlungen; auch der Hals wurde ihm zugeschnürt. Von allen Seiten rissen die Tentakel an ihm und würden ihm die Gliedmaßen ausreißen und den Kopf vom Rumpf.

In ihrer Hilflosigkeit betätigte Nicoleta den Strahler und zuckte entsetzt zusammen, als ein sengender Strahl Jericho nur um Haaresbreite verfehlte.

»Kannst du dich ein kleines bisschen beeilen, Babe?«, röchelte Jericho. Die Muskeln seiner Arme und Beine waren zum Zerreißen gespannt. Lange würden sie der rohen Gewalt des Monstrums nicht mehr standhalten können.

Nici feuerte erneut, diesmal besonnener. Sie versuchte krampfhaft, die Erschütterungen des Gewehrs zu kompensieren und fetzte einen der größeren Fangarme in der Mitte auseinander. Immer sicherer wurde sie im Umgang mit der Waffe, zerschnitt die Tentakel gleich im halben Dutzend und sah voller Erleichterung, dass Jericho einen Arm und ein Bein frei bekam.

»Nur weiter so«, verstärkte er seinen Widerstand, rupfte einige kleinere Auswüchse der Bestie aus und quetschte den dürren Tentakel ab, der sich um seine Kehle zuzog.

Inzwischen war Nici wie im Rausch, beherrschte das Strahlengewehr mit traumwandlerischer Sicherheit und schoss so lange um sich, bis sich nur noch zuckende Fleischstücke am Boden wanden. Auf dem Untergrund hatte sich ein Brei aus tintenschwarzer Flüssigkeit ausgebreitet.

»Her mit der Wumme!«, rief Jericho, hielt die Arme vorgereckt und fing das Gewehr auf, als Nici es ihm zuwarf. Ein überlautes Platschen gleich neben ihm ließ ihn herumfahren. Die schreckliche Mutation, die unter dem Hallendach auf einem Steg gelauert hatte, war in die Tiefe gefallen, aber lange nicht tot. Zuckende Tentakel und fingerdünne Auswüchse schnellten ihm entgegen.

»Schluss mit dem Zirkus!«, brüllte er auf und jagte eine Energieladung in die gallertartige Masse, aus der die Fangarme stachen. Die Kreatur explodierte in Tausende schwarzer Klumpen. Kochende Brocken spritzten umher und verflüchtigten sich noch in der Luft. Beißender Gestank zog den Söldnern in die Nase. Nici hechtete zu Naud und hob ihn hoch. Der Junge schlotterte und klammerte sich an die Rumänin.

»Später«, sagte Nici mitfühlend. »Erst müssen wir raus aus dieser Hölle.«

Stets in Erwartung neuer Angreifer erreichten sie den Ausgang. Ein Treppenhausschacht schloss sich an, der sie nach oben führte.

»Hoffentlich sind wir hier richtig«, bemerkte Nici zweifelnd.

Das Strahlengewehr in der Armbeuge überwand Jericho die ersten Metallsprossen.

»Wenn wir’s nicht probieren, werden wir’s nie wissen«, antwortete er lakonisch.

In ständiger Alarmbereitschaft kletterten sie die Treppenstufen hoch. Ohne aufgehalten zu werden, gelangten die drei an ein vergittertes Tor. Als sie es öffneten und ihnen kühle Nachtluft entgegenschlug, wussten sie, dass sie es beinahe geschafft hatten.

»Ein paar Meter noch«, stieß Jericho hervor. »Ich will weit weg sein, wenn der Laden in die Luft fliegt!«

*

Im Schutz einer Reihe von Rohöltanks arbeitete die Gruppe sich über das Gelände.

»Kannst du was erkennen?«, zischte Nici an Jericho gewandt.

»Keine Mutantenbastarde«, erwiderte der Söldner. »Aber ich sehe das Kraftwerk.«

Nicoleta Belà verengte die Augen zu Schlitzen.

»Wir kommen von der anderen Seite rein«, meinte sie. »Das Transportsystem hat uns ganz schön rumgescheucht.«

»Ist das euer Flieger?«, deutete Naud voraus. Jericho und Nici mussten sich in der Dunkelheit anstrengen, um das Aero-Car zu erkennen. Als sie aber den Punkt fixierten, auf den der Junge zeigte, wurde der Gleiter für sie sichtbar.

»Die Biester haben sich verzogen.« Jericho peilte über den Kurzlauf des Gewehrs. »Also: einsteigen und abfliegen.«

Zwei Minuten später schwangen die Flügeltüren des Aero-Cars hoch. Mit der gebotenen Eile kletterten Nici und Jericho in die Schalensitze; Naud nahm in dem Spalt zwischen Sitzen und Ablage Platz. Plötzlich aber schrie er auf.

»Gefahr! Wir sind nicht allein!«

Wie als Bestätigung seiner Worte preschten verwachsene Gestalten von der abgewandten Seite des Kraftwerkgebäudes hervor. Sie waren unglaublich schnell. Instinktiv riss Jericho das Gewehr hoch und feuerte durch die Cockpitscheibe. Glas zerbarst und verdampfte. Die sengenden Strahlen rissen die vorderen beiden Kreaturen aus vollem Lauf zu Boden. Doch die Übermacht war zu groß. Eine regelrechte Woge aus Leibern schwappte über dem Aero-Car zusammen. Kraftvolle Schläge erschütterten den Gleiter, Arme wie Baumstämme rissen Teile der Verkleidung ab, zerschmetterten die Scheiben und verbogen die Türen, die sich gerade noch hatten schließen können.

In Nauds hilfloses Kreischen mischte sich das Zischen von Jerichos Strahlengewehr, bis ihn ein machtvoller Tritt vor die Brust traf und den Schalensitz aus seiner Verankerung riss. Das Strahlengewehr polterte in den Fußraum, unerreichbar für Jericho, der als einzigen Ausweg einen Blitzstart sah.

Donnernd heulte das Triebwerk auf. Der Düsenstrahl zerfetzte mehrere Monstren, verteilte sie in blutigen Stücken in weitem Umkreis. Heisere Wutschreie wurden laut. Der Angriff der mutierten Bestien steigerte sich zu tollwütiger Besessenheit. Nicoletas Kopf verschwand vollständig in der Klaue eines Monstrums. Wie eine leblose Stoffpuppe wurde sie aus dem Gleiter geschleudert. Ihre Knochen knackten überlaut beim Aufschlag auf den steinigen Untergrund. Sofort wurde sie unter einem Knäuel Leiber begraben, die sich wie hungrige Aasfresser auf sie stürzten.

»Nici! Nein!« Von dem Tritt betäubt verschwamm Jerichos Sicht. Deutlich jedoch erkannte er, dass seine Freundin keine Überlebenschance hatte.

Der Gleiter hob trudelnd ab, schwenke unkontrolliert von rechts nach links. Eine Anzeige blinkte warnend auf: das Triebwerk überhitzte sich.

Jericho erwehrte sich nach Kräften der zwei Ungetüme, die sich am Gleiter festgeklammert hatten und halb ins Cockpit hineinragten. Ihre Fäuste zertrümmerten alles in ihrer unmittelbaren Reichweite. Immer mehr Warnsignale leuchteten auf, und Jericho fühlte nur noch dumpfe Hiebe auf sich einprasseln. Vor seine Augen legte sich ein Schleier. Er merkte nur noch, dass das Aero-Car nach links wegkippte. Sekunden darauf bohrte sich der Stahl berstend in den Boden. Derb wurde Jericho gegen die Innenverkleidung geprellt. Eine verbogene Strebe schrammte über seinen Kopf und riss ihm die Stirn sowie die linke Gesichtshälfte auf. Die beiden Ungeheuer wurden fortgeschleudert und rissen dabei Verstrebungen aus der Pilotenkanzel mit sich.

Nicht aufgeben!, stachelte Jericho sich an. Blut strömte über sein Gesicht und den Brustpanzer. Wenn ich ohnmächtig werde, ist es vorbei!

Die Kraft der Verzweiflung trieb ihn an, als er sich aus den Trümmern befreien wollte, dabei die Arme an scharfkantigem Metall zerschnitt und mit jeder Sekunde mehr zu der Erkenntnis kam, dass er es nicht schaffen würde. Sein verschleierter Blick zeigte ihm gelbe und rote Alarmsignale auf der Instrumententafel.

Nici!, war der Name seiner Gefährtin wie ein finaler Ansporn, die Situation doch noch zum Guten zu wenden. Nici, ich lass dich nicht im Stich …!

Einen Lidschlag später wurde das Aero-Car in einer brüllenden Explosion in Fetzen gerissen!

*

Gellend aufschreiend fuhr Nicoleta in ihrem Sitz hoch.

»O Gott! Wir sind alle tot!« Sie strampelte wild und schlug um sich.

»Biste bescheuert?«, maulte Jericho und zog die Brauen zusammen.

Ängstlich krallte Nici sich im Polster fest.

»Diese Viecher! Die Explosion …!«

»Den einen Irrläufer hab ich erledigt«, beschwichtigte sie Jericho. »Hab leider das Gewehr verloren, als du eins auf den Deckel gekriegt hast und kurz weggetreten bist. Was die Explosion angeht, sollten wir schleunigst Land gewinnen.«

»Das Aero-Car«, tastete Nici ungläubig um sich, »ist nicht zerstört.«

»Nicht mehr als dein Kappes«, grinste Jericho. Naud kicherte. Sein Kopf lugte zwischen den Schalensitzen ins Cockpit.

»Jericho hat das Viech richtig fertig gemacht«, sagte er und schien seine Angst überwunden zu haben.

»Bin mit dem Gleiter drübergeflogen und hab dem Hoschi den Schädel von den Schultern rasiert.« Er runzelte die Stirn. »Kann sein, dass ich die Schultern gleich mitgenommen habe. War bei dem Blutgespritze nicht so deutlich zu sehen.«

»Ich hab den Schock noch in den Gliedern.« Jericho sah, dass Nici zitterte. »Es war so real«, erzählte sie weiter. »Ich wurde aus dem Aero-Car geschleudert, und dann sind sie über mich hergefallen. Ich habe dich meinen Namen rufen hören und dachte nur: ›Hoffentlich kommt er dir rechtzeitig zu Hilfe.‹ Gleich darauf wurde der Gleiter mit dir darin am Boden zerschmettert und ist detoniert …«

»So leicht zerlegt’s mich nicht«, gab sich Jericho gelassen. »Und wer dich anpackt, handelt sich ’ne ordentliche Tracht Prügel ein. Dann raucht’s wirklich.«

Nicoleta schaffte es, ein dünnes Lächeln zu zeigen.

»Danke«, sagte sie nur, und es war ein verwehender Hauch. »Ich weiß das zu schätzen, Jerri …«

Gedämpfter Donner rollte heran. Das Land unter ihnen wurde wellenförmig aufgeworfen. Dann brach ein glühender Blitz, der in Feuer, Rauch und infernalisches Getöse gehüllt war, aus der Erde in den Himmel. Die Schockwelle erfasste das Aero-Car und verlieh ihm einen mörderischen Schub. Die Andruckkontrolle schlug voll aus, konnte aber den Druck nur bedingt kompensieren. Flammen hüllten den Gleiter ein, züngelten um die Außenhaut und hinterließen feurige Spuren in der Luft. Ein kleiner Monitor zeigte in der Rückansicht, dass mehrere Explosionspilze gleicher Art rund um und in der Raffinerie aufstiegen.

Jericho pegelte den Kurs aus und stabilisierte ihren Flug. Die Gleiterhülle hatte sich kurzzeitig stark erhitzt, kühlte aber durch den Flugwind ebenso schnell wieder ab.

»Denkst du, Rosgard hat die Zerstörungen überlebt?«, fragte Nici.

»Unkraut vergeht nicht«, antwortete Jericho lapidar. »Der hatte noch ein Ass im Ärmel. Jede Wette, dass wir ihn früher wiedersehen, als uns lieb ist. Außerdem« – der Söldner sah Nici keck über seine Schulter hinweg an – »muss er mir doch die Gelegenheit geben, ihn Mann gegen Mann zu Kleinholz zu verarbeiten.«

»Darf ich zusehen?«, wollte Naud wissen und beugte sich neugierig vor.

»Kriegst sogar Backstage-Karten, Wichtel«, entgegnete Jericho gönnerhaft. »Ich mag Jungs, die auf blutige Massaker stehen.«

Naud zog die Nase kraus, Nici lachte.

»Bin ich froh, bald wieder daheim zu sein«, meinte die junge Rumänin. Sie rekelte sich im Schalensitz und legte die Füße in gewohnter Manier auf das Armaturenbrett. »Bin außerdem tierisch scharf. Kann’s kaum erwarten, dass du mich wieder richtig durchf–«

»Pssst!«, machte Jericho und legte den Zeigefinger an die Lippen. »Es sind Jugendliche an Bord.«

Naud lief rot an und legte demonstrativ die Handflächen an die Ohren.

*

Mit gedrosselten Triebwerken passierte das Aero-Car die Nano-Tubes von METROCITY III und fädelte sich in den Verkehr ein.

»Erst sieben Stunden Flug und jetzt noch mal drei«, klagte Nici und reckte sich. »Hoffentlich krieg ich meine Knochen noch mal gerichtet, damit ich nicht zeitlebens als Fragezeichen rumrenne.«

»Mir geht’s genauso«, meinte Naud. Er wusste schon gar nicht mehr, wie er sich drehen sollte. Seine Gelenke und Muskeln schmerzten in jeder Position, in die er sich begab.

»Was soll ich denn sagen?«, beschwerte sich Jericho. »Ich hab das Ding nämlich geflogen.«

»Der Autopilot hat’s geflogen, Freundchen«, korrigierte Nici. »Da wollen wir doch mal die Kirche im Dorf lassen.«

»Und das hier?« Jericho deutete auf den gespaltenen Schulterpanzer. »Damit musste ich mich auch noch rumärgern. Das vaporisierte Metall hat sich höllisch in die Haut gebrannt.«

»Ist so was in deinen Augen nicht nur ein Kratzer?«, bedachte Nici ihren Freund mit einem kritischen Blick. »Verlierste ja auch sonst kein Wort drüber.«

»Meckern einstellen!«, befahl Jericho und konnte sich ein Grinsen kaum verkneifen. »Bevor es nach Hause geht, statten wir Beck noch einen Besuch ab. Will wenigstens sehen, wie ihm die Kinnlade auf die Zehen klappt.«

»Eher verwandelt sich eine Zitrone in Zuckerwatte«, meinte Nici. »Becks Emotionsausbrüche sind ebenso heftig wie ein Glühwürmchen laut ist.«

»Wir werden sehen«, schloss Jericho das Thema ab. Routiniert und in altbewährter Rücksichtslosigkeit lenkte er den Gleiter durch die Häuserschluchten. Bald schon erreichte er die Maschinenfabrik mit dem unterirdischen Hauptquartier der GSA und landete den Gleiter auf einer Plattform.

»Sie kommen spät«, schnarrte es verzerrt aus dem Funklautsprecher, »aber zumindest kommen Sie.«

»Howdy, Beck«, grüßte Jericho fröhlich. »Fahren Sie endlich die Plattform runter. Es gibt Neuigkeiten.«

»Das will ich für Sie hoffen«, antwortete der Agent. »Sie verursachen immense Kosten und verwüsten ganz nebenher noch den halben Globus. Die Raffinerie in Midland geht doch auf Ihr Konto, Mister Blane, oder?«

»Das kann man so und so sehen«, antwortete Jericho ausweichend. »Eigentlich trägt Rubin Rosgard die Hauptschuld …«

»Weil du ihn auf die Energiesteuerung gepfeffert hast«, zischte Nici und knuffte ihren Gefährten in die Seite.

»Rubin Rosgard?« Jericho konnte förmlich spüren, wie sich Agent Becks Miene verfinsterte. »Ich erwarte Ihren ausführlichen Bericht, Mister Blane.«

Die Plattform begann sich abzusenken. Durch die Einzäunung des Geländes war der Vorgang von außen nicht zu sehen. In einer kreisrunden Halle kam die Plattform Dutzende Meter tiefer zum Stehen. Durch eine der vielen Türen kam Beck in gemäßigtem Laufschritt heran.

»Sie haben ein Kind mitgebracht?«, fragte Anthony Beck säuerlich, als die drei Passagiere ausgestiegen waren. »Das ist eine geheime Station und nicht Disneyland.«

»Wir erwarten auch nicht, dass Sie sich irgendwelche Grinsegesichter überstülpen«, erwiderte Nici mit schelmischem Lächeln und trieb mit dieser Äußerung weitere dunkle Wolken auf Becks Gesicht.

»Keine Sorge«, schlug Jericho in dieselbe Bresche, »der Bursche ist in Ordnung. Schweigt wie ein Grab, wenn’s sein muss.«

»Wie heißt du, mein Junge?«, wandte sich der Agent an den Vierzehnjährigen.

»Naud«, sagte der. »Naud Henderson.«

»Also schön, Naud. Was du hier siehst, unterliegt strengster Geheimhaltung. Glaube mir, ich meine, was ich sage. Die GSA ist nicht zimperlich, wenn es darum geht, Integrität zu bewahren.«

»Nun machen Sie dem Jungen keine Angst!«, ging Nicoleta dazwischen. »Und benutzen Sie keine Wörter, die er nicht kennt.«

Beck straffte sich.

»Du wirst genau an dieser Stelle warten, während ich mit Mister Blane und Miss Belà in den Besprechungsraum gehe. Hast du das verstanden, Naud?«

»Jawohl, Sir!«, rief Naud aus und salutierte flippig.

Beck drehte sich um und bedeutete den Söldnern, ihm zu folgen.

»Ich kann es nicht leiden«, sagte er leise, »wenn man Scherze auf Kosten meiner Person macht …«

*

Durch einen mattschwarzen Korridor führte Agent Beck seine Begleiter in einen Besprechungsraum. Sie setzten sich, und der GSA-Mann eröffnete die Gesprächsrunde.

»Wir sind zu einigen wenigen neuen Erkenntnissen gelangt«, begann Beck. »Aber bevor ich Sie einweihe, hätte ich gerne Ihren Bericht zu den Vorfällen in Midland. Vor allem interessiert mich die Verbindung zu Mister Rosgard, wie Sie sich denken können.«

»Die Raffinerie beherbergte einige bedeutsame Einrichtungen«, fing Nici an zu erzählen und wurde sogleich von dem Agent unterbrochen.

»… bis Mister Blane – wie auch immer es sich zugetragen haben mag – der Meinung war, sie in die Luft sprengen zu müssen. Die Explosionen wurden von Seismografen und unseren Satelliten aufgezeichnet.«

»Ihre Satelliten«, betonte Nici das Wort spöttisch, »scheinen aber wichtige Fakten nicht registriert zu haben. Denn obwohl die Raffinerie seit Jahrzehnten stillstand, gab es weit unter ihr beunruhigende Aktivitäten. Es gab eine verborgene Station, ein großes Labor. Die Einrichtungen dieser Station waren nicht von dieser Welt …«

»Der Posten einer außerirdischen Intelligenz?«, fragte Agent Beck.

»Osh-Mecc«, erwiderte Jericho tonlos. Mehr sagte er nicht und ließ seine Äußerung wirken. Kaum sichtbar befiel Beck innere Unruhe.

»Wissen Sie, was Sie da sagen, Mister Blane? Ist Ihnen bewusst, welche Konsequenzen das mit sich bringen kann?« Der GSA-Agent holte hörbar Luft. »Sind Sie sich absolut sicher, dass die Osh-Mecc in die Sache verwickelt sind?«

»Nicht nur verwickelt«, antwortete Nicoleta Belà an Jerichos statt. »Sie sind die Urheber. Die Anlage bestand vollständig aus Osh-Mecc-Technik. Rosgard hat es uns verraten. Außerdem gab es in dem Labor, das wir entdeckten, jede Menge dieser Datenkristalle, von denen Sie einen seit geraumer Zeit untersuchen, ohne seinen Inhalt ergründen zu können.«

»Rosgard hat mit den Fremden kooperiert?« Beck schien bestürzt, auch wenn seine Miene dies nicht ausdrückte.

»Er hat sich ihre Technik angeeignet«, verbesserte Nici. »Ohne wirklich zu verstehen, wie sie funktionierte, hat er sie benutzt. Wir haben die Auswüchse seiner Experimentierfreudigkeit am eigenen Leibe erfahren. In der Raffinerie tummelten sich scheußliche Kreaturen, die das Ergebnis einer Kreuzung zwischen Mensch und Osh-Mecc waren.«

»Dennoch will ich den Aspekt nicht ausschließen«, betonte Beck, »dass Rosgard indirekt für die Zwischenfälle mit den ›Schatten‹ verantwortlich sein könnte. Falls er den Osh-Mecc den Weg zur Infiltrierung unserer höchsten Ämter geebnet hat, erhebt ihn das in den Status des Weltfeindes Nummer eins. Allerdings …« Beck überlegte.

»Worauf wollen Sie hinaus?« Nici hatte eine böse Ahnung.

»Die Gen-Industrie ist ein wichtiger Zweig unserer Wirtschaft«, erläuterte der Agent. »Millionen Menschen nutzen Gen-Präparate; die Gen-O-Matics sind als leistungsfähige Arbeitskräfte nicht mehr wegzudenken.«

»Sie sind eine Gefahr«, sagte Nici kalt. »Die Degenerierung ihres Erbgutes ist nur eine Frage der Zeit. Wir haben eine Bedrohung erschaffen, derer wir nicht mehr Herr werden.«

»200 Millionen Menschen in jeder METROCITY«, bekräftigte Jericho mit tiefem Bass. »Jeder Einzelne ein potenzielles Risiko. Aber solange Sie Prämien zahlen, schicke ich die Durchgeknallten in den Ruhestand.«

»Die Situation in unserer Gesellschaft lässt sich nicht von heute auf morgen bereinigen«, setzte Beck zu einer Erklärung an. »Wir würden die Ordnung demontieren, nähmen wir die Präparate vom Markt. Der Prozess ist in Gang gesetzt und zu einer Lawine geworden. Unsere Bemühungen können also nur auf Schadensbegrenzung hinauslaufen. Genau das bewerkstelligen Sie beide. Alle weiterführenden Konsequenzen müssen auf andere Art und Weise behandelt werden. Eine Art und Weise allerdings, von der niemand auf Entscheiderebene eine blasse Vorstellung hat.«

»Da ist doch noch mehr«, warf Nici energisch ein. »Ich habe genau gemerkt, wie Ihre grauen Zellen in Bewegung geraten sind, als ich die Verschmelzung menschlicher und extraterrestrischer DNS erwähnte.«

Der GSA-Mann schürzte die Lippen.

»Denken Sie an die Möglichkeiten«, bekannte er. »Nicht nur, dass wir unseren Gegner besser verstehen lernen, nein – wir könnten aus einem völlig neuen Gen-Pool schöpfen, die In-vitro-Gezüchteten verbessern und in neue Dimensionen biogenetischer Schöpfungskraft vordringen.«

Nicoleta starrte den Agent stumm an. Schließlich fand sie ihre Stimme wieder.

»Sie denken an einen militärischen Einsatz«, sagte sie ihm auf den Kopf zu. »Effizientere und leichter kontrollierbare Kampfmaschinen. Kriegsführung auf höchstem Niveau.« Nici verzog abfällig die Oberlippe.

»Wie auch immer Sie das interpretieren wollen, ermöglicht uns die fremde Technologie eine enorme Weiterentwicklung. Sie wird in vielfältiger Weise nutzbar sein.«

»Vergessen Sie nicht, dass der Komplex zerstört worden ist.«

»Das«, erwiderte Beck vieldeutig, »erfordert eine neue Herangehensweise. Ich werde das mit den zuständigen Abteilungen erörtern. Nichtsdestotrotz haben Sie wertvolle Einrichtungen zerstört, was Ihren privilegierten Status beeinträchtigen könnte.«

»Sind wir jetzt die Bösen?«, erregte sich Jericho. »Es ging um Leben und Tod. Da hatten wir nicht viel Auswahl.«

»Sie sind Interessenvertreter der globalen Regierungsgewalt«, unterstrich Beck. »Nur aus diesem Grund tolerieren wir Ihre Eskapaden, Mister Blane. Denken Sie, Sie könnten sich sonst wie ein Psychopath in der Öffentlichkeit aufführen?«

»Meine besonderen Fähigkeiten, wie Sie immer betonen, haben Sie doch bisher stets für Ihre Zwecke genutzt und sind gut dabei gefahren.« Der Söldner blieb erstaunlich gelassen, obwohl es in ihm brodelte.

»In Ihrem Fall handelt es sich um eine Kosten-Nutzen-Rechnung«, belehrte ihn der Agent. »Dahinter steckt ein mathematisches Prinzip. Sollte die Rechnung unter dem Strich nicht mehr stimmen –«

»Schon verstanden!«, fuhr Jericho dazwischen. »Ich mache mir ebenfalls Gedanken, ob ich weiterhin eine Unbekannte in Ihrer Gleichung sein möchte.«

»Sie sind zornig«, lenkte Beck ein. »Halten Sie lediglich den Ball flach, damit wir unsere Zusammenarbeit fortführen können. Schließlich wollen beide Seiten von einer solchen Kooperation profitieren.«

»Hatten Sie nicht ebenfalls Neuigkeiten für uns?«, wollte Nici das Gespräch in eine erfreulichere Richtung lenken.

»In der Tat«, bestätigte Beck. »Und erst unter Berücksichtigung Ihrer Erkenntnisse macht unsere Entdeckung Sinn. Im Golf von Mexiko konnte ein krakenähnliches Wesen geortet werden. Laut unserer Messungen hatte das Tier eine Ausdehnung von annähernd achtzig Metern. Wir gehen davon aus, dass es für den Untergang der MS ›Commonwealth‹ verantwortlich ist. Setzen wir weiterhin voraus, dass es sich um eine Mutation aus den Laboren der Rosgard-Forschung handelt, ist Rubin Rosgard mehr oder weniger selbst an dem Verlust seiner Fracht schuld. Durchaus denkbar, dass er sich dieses Umstands nicht bewusst ist.«

»Laut eigener Aussagen tappt er im Dunkeln«, berichtete Nici.

»Wurde das Ungeheuer vernichtet?«, fragte Jericho.

»Bedauerlicherweise ist es unseren Sensoren entkommen«, gab der Agent zu. »Wohin es sich entfernt hat, ist uns nicht bekannt.« Der GSA-Mann knetete seine Finger. »Was den Jungen angeht –«

»Naud!«, sagte Nici energisch. »Dieser Junge hat einen Namen. Er ist ein Individuum und keine austauschbare Komponente in Ihrem vielgepriesenen System.«

»Nun, haben Sie sich Gedanken gemacht, was seine Zukunft angeht?« Agent Beck zog einen PDA aus der Jackentasche und überflog die Anzeigen auf dem Display. Offenbar hatte er eine Mitteilung erhalten. »Er ist der Sohn von Linda und Jeremy Henderson. Sein Vater hat in der Entwicklungsabteilung der Rosgard-Stiftung gearbeitet. Ich will diesen Umstand nicht dramatisieren, aber der Junge – Naud – könnte sich zu einem Sicherheitsrisiko entwickeln.«

»Er weiß nicht viel über die Arbeit seines Vaters«, sagte Nici. »Außerdem setzt dies nicht voraus, dass er in dessen Fußstapfen tritt.«

»Dennoch sollte er unter Beobachtung bleiben«, hielt Beck an seiner Meinung fest. »Haben Sie dahingehend konkrete Vorstellungen? Ansonsten könnten wir das übernehmen.«

»No chance!«, erwiderte Nicoleta herrisch. »Wir kümmern uns drum.«

Jericho rieb sich das Kinn und schmunzelte plötzlich.

»Ich denke, mir ist da gerade eine Idee gekommen …«

*

Zehn Minuten später startete das Aero-Car unter Vollschub vom Gelände der Maschinenfabrik.

»Was ist das für eine Idee, von der du gesprochen hast?«, fragte Nici ihren Gefährten. »Oder wolltest du Beck bloß in Sicherheit wiegen?« Sie warf einen kurzen Blick auf Naud, der sich wieder hinter die Schalensitze geklemmt hatte. »Du willst ihn doch nicht bei uns einquartieren?«

»Hast du Angst, dass du dann nicht mehr nackt durchs Loft laufen kannst?«, zeigte Jericho ein hämisches Grinsen. Naud riss die Augen auf und zeigte ein spitzbübisches Lächeln.

»Quatsch! Ist einfach zu gefährlich. – Jetzt sag schon, was du vorhast!«

»Kennst du Schwester Barklouse?«, wollte Jericho wissen.

Nici dachte einige Augenblicke lang nach. Dann erhellte sich ihr Gesicht.

»Die leitet doch einen Kinderchor. Schlampe Christel ›Sweet Lips‹ Lippenberry**Die lernt Ihr noch kennen hat in ihrer Kolumne über sie berichtet.«

»Schwester Barklouse ist nicht nur Sängerin, Tänzerin, eine begnadete Köchin und Psychologin, sie ist auch Mutter Oberin des ›Orphan’s Mansion‹.«

»Du willst Naud in ein Waisenhaus geben?«, staunte Nici und war leicht entrüstet. Sie legte eine Hand auf Nauds Schulter und klopfte beruhigend darauf. »Da fällt uns doch sicher was Besseres ein.«

»Oh, es ist kein gewöhnliches Waisenhaus«, klärte Jericho seine Freundin auf, schoss über einen mit mäßiger Geschwindigkeit fliegenden Gleiter hinweg und setzte sich brutal vor dessen Nase, sodass dieser abbremste und ins Schlingern geriet. Wütendes Hupen war die Folge. »Die Barklouse ist eine echte Wuchtbrumme. Da geht richtig der Punk ab.«

»Sehen wir sie uns an«, sagte Nici wenig überzeugt, hatte aber gegenwärtig keine sinnvollere Lösung parat. »Bin gespannt.« Argwöhnisch verfolgte sie den Kurs des Aero-Cars, der zur Stadtperipherie führte.

»Liegt etwas abseits«, kommentierte Jericho die Flugrichtung, »in einem der alten Stadtteile …«

»… mit Ziegelsteinromantik und grüner Lunge«, vervollständigte Nici.

Abseits der gläsernen Gebäude und Leichtmetalltürme füllte alsbald ein Stadtbezirk die Frontscheibe des Gleiters aus, der einem Arbeiterviertel aus dem 19. Jahrhundert zu entstammen schien. Rote Ziegelbauten reihten sich aneinander, durchzogen von schmalen, schmutzigen Straßen mit Fahrzeugen, die so gar nicht in die Gegenwart passen wollten. Das Saugen und Zischen von Dampfturbinen wurde hörbar, das Rattern altertümlicher Motoren.

»Hat den Charme unseres Retro-Viertels«, meinte Nici. »Bei Sonnenschein betrachtet sieht’s gar nicht so übel aus.«

Das Aero-Car donnerte über die Flachdächer hinweg und bremste stark ab, als sich die Bebauung lichtete und das Grün der Natur sich in den Vordergrund drängte. Auf einem Hügel erschien ein eigenwilliges Gebäude, flankiert von spitzen Türmchen mit schwarzen Schindeln. Ein Pfad, auf dem gerade einmal zwei Personen nebeneinander Platz fanden, führte vom Fuß des Hügels hinauf zu einer Pforte, die von derselben Farbe war wie die Spitzdächer.

»Gruselig«, schüttelte sich Nici. »Da halten sich Kinder auf? Außer Gespenstern hätte ich dort oben niemanden vermutet.«

Sanft setzte der Gleiter in leichter Schräglage auf dem Hügel auf. Ein wenig widerwillig stieg Naud aus und musterte das Haus misstrauisch.

»Gefällt mir nicht«, sagte er und kickte einen Stein weg. »Ein Kloster ist im Vergleich ein Freizeitpark. Hier muss man bestimmt den ganzen Tag beten, arbeiten und um acht ins Bett.«

»Aber du hast ein Bett«, blaffte Jericho. »Vielleicht finden wir für dich lieber ein trockenes Plätzchen in der Kanalisation oder in Alpha minus.«

»Hört sich alles irgendwie Kacke an«, murrte Naud. »Wieso kann ich nicht bei euch bleiben?«

Jericho zeigte seine Zähne.

»Weil Nici Kinder nicht leiden kann, unsere andere Mitbewohnerin ein Ferkel ist und ansonsten nur noch ein komischer alter Mann bei uns lebt, der dich womöglich noch zum Kommunismus bekehrt oder dir sonstige Flausen in den Kopf setzt. Sei vernünftig und geh zu Schwester Barklouse. Da gibt’s drei Mahlzeiten am Tag und einen Gutenachtkuss. – Na?«

»Kotz«, machte Naud.

»Ich mag Kinder!«, blökte Nici.

»Hört auf zu nörgeln!«, schimpfte Jericho. »Das ist das hammermäßigste Waisenhaus an der ganzen Ostküste.«

»Weil das einzige.« Nici stellte sich hinter Naud und stupste ihn an. »Na komm. So schlimm wird’s nicht werden.«

»Du musst ja nicht hier leben«, erwiderte Naud. »Bestimmt muss man mit einer Zahnbürste das Klo schrubben oder den Aufpassern den inkontinenten Hintern abwischen.«

»Der redet schon genau wie du, Jerri«, setzte Nici ein keckes Grinsen auf. »Umso schneller sollten wir Naud bei der Barklouse unterbringen.«

»Barklouse«, brummelte Naud. »Das klingt wie eine Tüte voller Flöhe.«

»Und mein Name«, meinte Jericho streng, »klingt wie ein Sack voller Ärger.«

Jericho und Nici stiefelten zur Tür, Naud ließ sich ziehen. Noch bevor sie anklopfen konnten, wurde die Tür geöffnet. Das Gesicht einer muffeligen Dame mit hochgesteckten Haaren und Dutt erschien in dem Spalt.

»Was wollen Sie?«, krähte die Frau genervt. »Bettler mögen wir nicht!«

»Öhm«, war vorerst die einzige Lautäußerung, die Jericho von sich gab. Verdutzt sah er von der Dame mittleren Alters zu Nici und wieder zurück.

»Öhm«, sagte er erneut.

»Sprechen Sie unsere Sprache nicht?«, maulte die Frau ruppig. »Sind Sie Asylant oder Gastarbeiter? Falls Sie uns etwas verkaufen wollen: Wir brauchen nichts! Außer vielleicht einen Beutel Dachsleber und sechzehn mundbemalte Nachttöpfe.«

»Hauen wir ab!«, zerrte Nici ihren Gefährten am Arm. »Das kann ja wohl alles nicht wahr sein!«

»Öhm, ich …« Jericho war derart verdattert, dass er mehrmals ansetzen musste, bevor er mit der Sprache herausrückte. »Ist Schwester Barklouse im Haus?«

In die Augen der streng dreinblickenden Dame trat ein undefinierbares Funkeln. Sie zog die Tür auf und strich ihr beigebraunes Plisseekleid glatt. Dann machte sie aus dem Stand einen Salto rückwärts, steppte wie wild auf dem Holzboden herum, machte einen Spagat und federte in einer Bewegung wieder hoch. Breitbeinig blieb sie stehen, grinste mit gebleckten Zähnen und zog an einer Kordel, die von ihrem Hinterkopf baumelte. Sofort sprangen ihre Haare vom Kopf hoch, wechselten zu giftgrüner Farbe mit rostrot durchsetzten Strähnen und machten den Eindruck, als hätte die anfangs stocksteife Frau einen Griff in die Steckdose getan. Der Effekt war derselbe, als hätte man den Afrolook eines Schwarzen aus den 1970ern in eine Baseballkappe gezwängt und ihm diese im Anschluss ruckartig vom Kopf gerissen.

»Willkommen, Jericho, du fieser Racker!«, rief die Frau und schüttelte ihre Arme, als bewege sie sich zu einem heißen Rumba-Rhythmus. »Ich bin’s! Barklouse!«

»Da bin ich baff«, gab Jericho zu und hoffte, dass niemand seinen ungemein dümmlichen Gesichtsausdruck bemerkte.

»O HAPPY DAY!«, stimmte die Barklouse an. »O HAPPY DAY – AY!« Die Türen zu beiden Seiten des Foyers flogen auf und entließen eine Schar Kinder und Jugendlicher, die den Song weiterführten und einen stimmgewaltigen Choral bildeten. Sie klatschten in die Hände, sangen und wirbelten um Schwester Barklouse herum. Eine kleine aber beeindruckende Choreografie entstand, bei der alle im Takt des Liedes mitschwangen und einige sich nicht scheuten, einen Solopart hinzulegen.

Erst standen Jericho, Nici und Naud stumm und steif im Eingang. Doch die Kinder begannen nun, gleich vor ihnen zu tanzen, ergriffen die Hände der drei und zogen sie in den Kreis der ausgelassenen Sänger und Tänzer. Nici fiel in das Klatschen ein und bewegte ihre Hüften zum Takt. Naud machte es ihr nach, während Jericho darüber nachdachte, den lärmenden Bälgern reihenweise Kopfnüsse zu verpassen. Schließlich aber ließ er die Prozedur über sich ergehen und war sichtlich erleichtert, als die letzte Note verklungen war.

»Was führt dich zu mir, Jericho?«, strahlte Schwester Barklouse und kniff ihn mit Daumen und Zeigefinger in die Wange. »Ich hab dich eine Ewigkeit nicht gesehen.«

Nicoleta wurde hellhörig.

»Hast du vielleicht absichtlich diese Episode aus deiner Vergangenheit verschwiegen?«

»Da gibt es nichts zu verschweigen! Ich hab als Kind oft hier gespielt.«

»O ja!«, zeigte sich die Barklouse begeistert. »Er hat leidenschaftlich gerne mit Pferdeäpfeln jongliert. Damals hatten wir eine Koppel hinter dem Haus. Jetzt ist da nur noch eine Wiese mit großem Spielplatz.«

»Pferdeäpfel?«, bekam Nici Stielaugen.

»Aber sicher.« Schwester Barklouse zeigte sich äußerst gesprächig. »Leider war Jericho nicht sonderlich geübt und hat sich immer von Kopf bis Fuß besudelt. So konnte ich ihn natürlich nicht nach Hause lassen. Aber ein Latschenkieferbad hat ihm den ganzen Schmutz runtergewaschen. Ich habe ihn dann immer in einem bunten Nachthemd heimgeschickt. Geschämt hat er sich, der Kleine, aber er ist stets gerne wiedergekommen.«

»Du hast ja seltene Neigungen«, meinte Nici hämisch grinsend zu Jericho. »Komm mir da nur nicht auf dumme Gedanken. Mein Loft soll sauber bleiben.«

»Ich war fünf!«, verteidigte sich Jericho. »Und das Nachthemd war scheußlich. Alle haben gelacht.«

»War leider nichts anderes da«, ergänzte die Schwester. »Am nächsten Tag aber waren seine Kleider gewaschen und getrocknet. Und schwupps – hat er sich wieder eingesaut.«

Die Kinder stimmten johlendes Gebrüll an.

»Jetzt gibt’s erst mal Mittagessen«, verkündete die Barklouse. »Ihr esst doch einen Happen mit, ja?«

Unschlüssig sahen sich Nici und Jericho an; Naud hatte sich bereits entschieden.

»Ich hab einen Bärenhunger!«, stieß er hervor.

»Na, kommt schon«, packte Schwester Barklouse die beiden Söldner bei den Händen. »Ihr könnt mithelfen, Besteck und Geschirr aufzutischen. Es sind viele hungrige Mäuler zu stopfen.«

Die Tische im Speiseraum waren in lockerer Anordnung aufgestellt. Nici hockte sich zu einigen Kindern an den Tisch, Naud wurde gleich von mehreren Mädchen zu einem anderen Tisch gezogen. Jericho sah sich um. Bei Nici war kein Platz mehr frei. Notgedrungen setzte er sich zu einer Gruppe aus sechs Kindern, die staunend seine beschädigte und mit Schleim und Blut besudelte Rüstung begutachteten. Von allen Seiten drangen Fragen auf ihn ein. Und erst als das Essen auf den Tischen stand und die Kinder sich mit Appetit über die Speisen hermachten, hörten sie auf, ihn zu löchern.

Zwanzig Minuten später waren alle satt. Jericho hatte es mehr als eilig, das ›Orphan’s Mansion‹ zu verlassen und bedrängte Nici, die recht schwatzhaft aufgelegt war und nur widerwillig aufstand.

»Wir sind ein wenig in Eile«, entschuldigte sich Nici bei Schwester Barklouse. »Eine weite Reise liegt hinter uns, und wir möchten uns frischmachen und saubere Kleidung anziehen.«

»Aber natürlich, Kindchen«, zeigte sich die Schwester verständnisvoll. »Verschwitzt und schmutzig wie ihr seid, fühlt ihr euch bestimmt unwohl.«

Nici ging zu Naud herüber und musste ihn heftig an der Schulter rütteln, damit er sie überhaupt zur Kenntnis nahm.

»Wir fliegen los«, sagte sie.

»Ja, macht nur. Danke für alles.« Naud wollte sich abwenden, aber Nici war noch nicht fertig.

»Du kommst zurecht?«, fragte sie den Jungen.

»Klar. Alles cool.« Die Mädchen an seinem Tisch kicherten.

»Dann mach’s gut, Naud.« Sie gab ihm einen freundschaftlichen Klaps auf den Oberarm.

»Jetzt aber bloß weg!«, zischte Jericho ihr zu.

Schwester Barklouse führte ihre Gäste zur Tür und verabschiedete sich herzlich von ihnen.

»Lasst euch mal wieder sehen«, winkte sie ihnen nach.

»Unbedingt«, winkte Jericho zurück.

Im Aero-Car stieß er einen tiefen Seufzer aus.

»Mann, hier kriegst du mich nicht mal unter Androhung von Gewalt und Muschientzug wieder hin.«

»Och«, machte Nici, »bist du traurig, weil die Pferde weg sind und keine Kackahaufen mehr für dich machen?«

»Hör auf damit!«, reagierte er barsch. »Ich mochte halt dieses warme, weiche Gefühl an den Händen.«

»Kann ich dir da eventuell mit meinen Titten aushelfen?« Nici klimperte mit den Wimpern.

»Geiler Vorschlag«, brauchte Nici ihn nicht lange zu überreden. »Wenn da nämlich nicht bald was passiert, bohrt mir der aufsässige Kollege zwischen den Beinen gleich ein zweites Loch in die Rüstung …«

E N D E

10 Galaktische Abenteuer Box 4

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