Читать книгу Die großen Western Staffel 4 - Diverse Autoren - Страница 6
ОглавлениеDas Frieren saß plötzlich in David Jerichos Nacken und kroch dann nach beiden Seiten davon: Einmal über die Kopfhaut, zum anderen über das Rückgrat.
Du großer Gott, dachte David Jericho Graves, Undertaker, Sargmacher, Posaunenkünstler und Townmarshal von Jerome in Arizona, da ist jemand gewesen und…
Er dachte gar nichts mehr, er senkte nur den Blick an dem Wasserschlauch vorbei, den er gerade hatte eintauchen wollen. Noch war der Wasserspiegel still, glatt und silbrig wie ein Spiegel. Und im Spiegel, da war eine Gestalt zu sehen.
Allmächtiger!
In diesem Augenblick wusste Jericho, was er falsch gemacht hatte. Nachdem er heruntergestiegen war, hätte er am Ufer entlanggehen müssen, weil er mit dem Wagen hier nicht an das Wasserloch gekommen wäre. Der Wagen stand über dem Steilufer des Hassayampa Rivers, der manchmal auf zehn, fünfzehn Meilen kein Wasser führte, wenn der Sommer heiß und die Nächte kurz waren.
Gerechter Gott, dachte Jericho, ein Gewehr, ich habe das Gewehr auf mich zeigen sehen. Der Bursche steht jenseits zwischen den Büschen. Die Spuren dort drüben – von oben konnte ich sie nicht sehen, auch dann noch nicht, als ich am Ufer stand. Die Sonne wirft Schatten auf, verwischte Spuren – und ich Narr sehe sie erst, als ich mich hingekniet habe. Nur ruhig bleiben, dachte David Jericho, nur nicht rühren. Vielleicht wartet der Kerl darauf, dass ich etwas tue, damit er einen Grund hat, den Finger krumm zu machen.
Und das passiert mir!
In diesem Moment sah er noch einmal auf das Spiegelbild und erstarrte.
Plötzlich hatte er ein Schlucken im Hals.
Eine Frau stand breitbeinig jenseits des Wasserloches über ihm auf dem Hang.
Jericho sah ihr Spiegelbild, aber in erster Linie das Gewehr, das die Frau im Hüftanschlag hielt.
Er schielte nach links, nach rechts und löste etwas aus damit, weil sie sehen musste, dass er schielte.
»Manos arriba!«, schrie die Frau jäh los, dann erkannte sie ihren Fehler und wiederholte es im kehligen Amerikanisch: »Hände hoch!«
Irgendetwas war in diesem Gesicht, das Jericho warnte und höllisch vorsichtig machte. Dieses Gesicht verriet Erschöpfung, eine nervöse, zitternde Anspannung, in der ein Mensch anders als normal reagierte, vielleicht zu schnell und unüberlegt.
»Hände hoch!«
Jesus Maria, dachte Jericho und ließ seinen Wasserschlauch nur fallen, wagte es nicht, ihn zur Seite zu werfen, weil ihm bewusst wurde, dass schon der kleinste Fehler die Frau zum Schießen bringen konnte, nur die Nerven behalten. Reden hilft vielleicht, wenn man mit ihr in ihrer Sprache spricht, oder?
»Si, si, Señora«, sagte er sanft, ganz freundlich und langsam, damit es beruhigend wirkte. »Non tirar – nicht schießen, nicht schießen. Ich bin ein friedlicher Mensch – un hombre pacilico, Señora. Da Sie meinen Wagen gesehen haben, müssten Sie doch wissen, dass Leute meines Berufes die friedliebendsten Menschen der Welt sind. Ein Totengräber ist immer ein friedfertiger Mensch – oder? Sie werden doch nicht glauben, dass ich Ihnen etwas tue, oder? Ich tue niemand etwas, ich helfe vielmehr allen Leuten, die Hilfe brauchen, wenn ein persönliches Unglück sie heimgesucht hat. Sie werden doch nicht auf einen Totengräber schießen wollen, der keine Reichtümer besitzt – oder?«
»Ist – gut«, sagte die Frau im nächsten Moment kehlig. Sie hatte eine sehr dunkle und raue Stimme. »Sie sind ein amerikanischer Totengräber, ja? Hören Sie, Señor, ich will Sie nicht töten, ich brauche Hilfe, aber ich kenne Sie nicht, ich traue niemand, den ich nicht kenne, verstehen Sie? Gut, dass Sie spanisch sprechen, sehr gut. Ich spreche nicht gut Amerikanisch, nur sehr schlecht. Sie – Sie haben einen Revolver?«
»Ja«, gab er zu. Seine Jacke war geöffnet, und sie hatte die Waffe wahrscheinlich gesehen. »Ich werde ihn aber nicht benutzen, ich verspreche es.«
»Sie haben einen Revolver«, sagte die Frau, und nun klang ihre Stimme hart. »Nehmen Sie die Waffe vorsichtig mit der linken Hand und lassen Sie sie ins Wasser fallen, sonst schieße ich. Señor, ich warne Sie, wenn Sie etwas versuchen, drücke ich ab. Dann sind Sie tot, verstehen Sie mich?«
»Natürlich«, gab Jericho sanft zurück. »Keine Angst, Señora, ich werde den Revolver ganz langsam mit zwei Fingern aus meinem Hosenbund ziehen und ihn dann ins Wasser fallen lassen – einverstanden?«
»Ja, Mistär – ich passe auf, Mistär!«
Er zog die Waffe behutsam und ließ sie ins Wasser fallen.
»Nun?«, fragte Jericho. »Zufrieden, Señora?«
»Das Messer!«, sagte sie scharf. »Wo haben Sie Ihr Messer, Mistär?«
»Ich habe nur ein kleines Federmesser, Señora«, erwiderte Jericho sanft. »Ich besitze kein Messer, das man Waffe nennen könnte. Es ist wirklich nur ein kleines Federmesser – so lang wie mein Finger!«
Er hielt den Mittelfinger der Linken hoch.
»Sie lügen bestimmt nicht, Señor?«
»Ich lüge nicht«, sagte Jericho und hob den Blick. Er sah sie an und schwieg dann, weil dieses Gesicht viel jünger war als jenes im Wasserspiegel, der es doch nicht so deutlich und klar widergespiegelt hatte. Mein Gott, das war ja keine Frau, das war ein Mädchen, höchstens zwanzig Jahre alt.
Das Mädchen sah ihn über den Lauf des Gewehres hinweg an und hatte die Waffe nun an die Schulter genommen. Es zielte auf ihn.
»Gut«, murmelte das Mädchen nach einem Augenblick des Schweigens. »Vielleicht lügen Sie nicht – ich weiß nicht, ich traue niemandem in diesem Land. Nehmen Sie beide Hände hoch und stehen Sie auf, Mistär!«
»Hören Sie, Señora, ich tue Ihnen nichts, ich schwöre es«, erklärte Jericho. »Sie können mir trauen.«
»Ich weiß nicht«, antwortete sie unsicher. »Dies ist ein fremdes Land, ich kenne nur wenige Amerikaner. Steigen Sie den steilen Hang herauf und halten Sie die Hände oben, sonst schieße ich. Gehen Sie jetzt los nach rechts, Mistär.«
»Und wenn ich auf dem Steilhang abrutsche?«, fragte Jericho, den Hang rechts musternd. »Ich müsste dann die Hände herunternehmen, verstehen Sie?«
»Sie werden nicht abrutschen, Mistär. Sie kommen herauf und bleiben oben stehen. Versuchen Sie nicht in die Büsche zu springen – ich passe auf, ich schieße!«
»Also gut, ich versuche hochzusteigen«, erklärte Jericho kopfschüttelnd. »Sollte ich straucheln und meine Arme herunternehmen müssen, um mich zu halten, ist das kein Trick. Sie werden jemanden aus Versehen töten, Señora, fürchte ich. Ich tue Ihnen bestimmt nichts, ich habe keine bösen Absichten, wirklich nicht. Sie haben gesagt, dass Sie Hilfe brauchen – für wen, für Sie selbst?«
»Mein Begleiter – er ist krank, er hat hohes Fieber«, erwiderte das Mädchen, das Jericho dennoch aus Höflichkeit mit Señora anredete. »Mein Begleiter braucht unbedingt Hilfe – er …, er kann nicht aufstehen, er redet wirr – Sie müssen helfen, Señor!«
»Ja«, sagte Jericho und stieg vorsichtig den Hang empor, um ja nicht zu straucheln. »Wenn ich kann, werde ich ihm helfen, Señora. Keine Angst, ich komme Ihnen nicht zu nahe.«
Sie wich jetzt zurück, nutzte geschickt den freien Raum, als sie hinter den Büschen heraustrat.
Angst, dachte Jericho, sie hat Angst und scheint sehr erschöpft zu sein. Dies ist für sie ein fremdes Land.
Vielleicht hat sie über die Gringos und die andere Moral hier einige Dinge gehört. Wahrscheinlich befürchtet sie, ich könnte über sie herfallen. David Jericho stieg über die Kante und blieb stehen, sah in das Gewehr, das auf seine Brust zeigte.
»Rechts«, sagte das Mädchen scharf. »Gehen Sie nach rechts zu dem Baum zwischen den hohen Büschen drüben. Mein Begleiter liegt dort im Schatten. Sie müssen helfen, Mistär.«
»Si«, versprach Jericho. »Wenn ich kann – si, si!«
Er ging los, sah ihren Schatten, den die Sonne über den Boden warf, sich bewegen. Sie blieb hinter ihm, das Gewehr jetzt wieder im Hüftanschlag. Und dann schoss ihm der Gedanke durch den Kopf, dass der Mann, der dort zwischen den Büschen unter der schattenspendenden Baumkrone war, vielleicht gar nicht lag, dass er vielleicht stand oder kniete und vielleicht kein Pferd besaß, dass dieses Mädchen ihn dem Mann zutrieb.
Du großer Gott, wenn der wirklich Fieber hat und ein Pferd braucht, erschießt er mich, dachte Jericho beklommen. Mexikaner sind geborene Pferdediebe, die bringen jemand kaltblütig um, wenn sie sein Pferd haben wollen. Der Bursche dort wird nicht gehen können, aber schießen kann er bestimmt noch. Warum bin ich Narr nicht auf dem Fahrweg geblieben, warum musste ich abkürzen und quer durch die Gegend fahren?
Jericho schielte buchstäblich nach hinten. Das Mädchen war gut fünf Schritt hinter ihm und hatte todsicher den Finger am Abzug. Sie hatte das Gewehr ihres Begleiters, also hatte der Mann nur seinen Revolver.
Das ist es, überlegte Jericho blitzschnell, er hat den Revolver, also wird er kaum gehen können. Bis zu den Büschen und dem Baum sind es gut sechzig Schritt. Ist der Bursche zu sehen?
Jericho äugte scharf nach vorn, aber er sah nichts zwischen den Büschen. Sand, dachte Jericho – Kakteen und Sand. Dort liegt die Chance für mich – an den Kakteen. Ich lasse mich doch nicht wie ein Stück Vieh vor den Revolver irgendeines fiebernden und ein Pferd brauchenden Mexikaners treiben. Nicht mit mir, Señorita!
*
Er hielt die Arme hoch, ging scharf links an den Kakteen vorbei und sah die Sandwächte rechts neben sich, die der Wind zusammengeblasen hatte.
David Jerichos Blick flog nach unten, huschte über den Boden zu dem Schatten, der nur noch knappe vier Schritt hinter ihm war. Anscheinend hatte die Señorita nicht bemerkt, dass Jericho den Schritt unmerklich verlangsamt hatte. Sie hielt die Winchester zwar im Anschlag, jedoch schien der Lauf mehr zu Boden zu zeigen als vorher.
Jetzt, dachte Jericho, jetzt!
Er sprang jäh los, stieß sich mit dem linken Fuß blitzschnell ab und warf sich auch schon herum, indem er sich über die Sandwächte hinweg hinter die Kakteen hechtete.
Hinter ihm gellten die beiden Worte: »Ich schieße!«
Und dann war das Brüllen auch schon da, raste der Knall durch das Buschgelände. Die Kugel fetzte mit einem seltsam schmatzenden und klatschenden Geräusch durch die dicke Saguaro-Kaktee, doch sie fuhr viel zu hoch durch den Stamm und jagte dann in den Sand. Der flog hoch, als Jericho schon die Hände in den Sand gekrallt hatte, mit einem wilden Satz links der Kaktee erschien und dann den Sand nach dem Girl schleuderte.
Der Sand schien eine Wolke zu bilden, weil er so fein wie Staubzucker war. Das Mädchen hebelte bereits durch. Es stand zusammengekrümmt vor Jericho, die großen Augen vor Schreck geweitet, den Mund geöffnet und jetzt einen schrillen Angstschrei ausstoßend.
»Miguel – Miguel!«
Dann brach der Schrei jäh ab. Die Sandwolke fuhr der Señorita jäh ins Gesicht. Jetzt schrie sie nicht mehr nach Miguel, sie schrie vor Schmerz, sah nichts mehr, aber sie hebelte wieder zurück, sodass Jericho das Einrastklicken des Unterhebels laut hörte.
In diesem Moment war er schon heran und trat zu. Sein linker Stiefel schnellte blitzschnell in die Höhe. Der Tritt fegte das Gewehr zur Seite, brachte den Lauf aus der Richtung und riss auch die Señorita herum.
Rumms!
Der brüllende Knall fuhr aus der Gewehrmündung, die Kugel jagte irgendwohin gegen Geröll und irrte heulend ab, aber da hatte Jericho schon die Rechte herausgestoßen. Seine Hand traf die Hüfte des Mädchens, wirbelte das Girl noch weiter herum, sodass es taumelnd zu Boden ging und nicht mehr durchhebeln konnte.
David Jericho bückte sich rasend schnell, packte das Gewehr, drehte es mit einem harten Ruck und hatte dann die Waffe, während die Señorita beide Hände zu den Augen riss und wieder gellend schrie: »Miguel – Mikel – Mikel, schnell, Mikel – socorro, Mikel – Hilfe, Mike! Hilfe!«
Mikel, dachte Jericho verstört, als er sich duckte, den Saguro als Deckung gegen die Büsche nutzte, das Mädchen liegen ließ und an ihm vorbeistob, um hinter sie zu kommen Mikel, nicht mehr Miguel? Was ist das denn – warum schreit sie nach Mikel?
Er war schon hinter ihr, hatte sie jetzt zwischen sich und die Büsche gebracht und stieß das Gewehr ziemlich grob in ihre Hüfte.
»Ruhig«, fauchte Jericho messerscharf. »Halten Sie den Mund, Señorita schweigen Sie doch endlich, ich tue Ihnen nichts!«
»Mikel – Mikel!«
David Jericho hatte viel erlebt. Nur das, was nun passierte, hätte er nie erwartet. Statt liegen zu bleiben, weil das Gewehr sie bedrohte, sprang das Mädchen, dem die Tränen aus den Augen liefen und das wahrscheinlich kaum etwas sehen konnte, plötzlich auf. Das Girl heulte richtig, das merkte Jericho erst, als es schluchzend vor ihm herlief.
»Bleiben Sie stehen, zum Teufel!«, brüllte Jericho los und rannte nun auch.
Das Mädchen erreichte die Büsche, zwischen denen sich nichts rührte. Es blieb still hier, Mikel antwortete nicht, während Jericho keine zwei Schritt hinter dem Mädchen herrannte und die Winchester schussbereit hielt.
»Miguelito – mi amor!«
Zwei Schatten tauchten auf – ein brauner und ein schwarzer Schatten – Pferdeleiber nahe des Baumstammes, der seine riesige Krone über die Büsche breitete. Dann war die Lichtung auch schon erreicht. Das Mädchen stürzte an den links stehenden drei Pferden vorbei und auf den Mann zu, der unter dem Baum auf einer Decke im Schatten lag und sich nicht rührte.
Der Mann lag dort wie tot, die Hände auf der Brust, ein Halstuch zusammengefaltet und klatschnass, wie es schien, auf der Stirn.
Das Mädchen rief: »Mikel, Mikel – oh, mein Gott, hilf mir doch!«
Jerichos Blick flog zu Mikel, der sich nicht rührte.
Du großer Gott, dachte Jericho, kein Irrtum, er ist es.
Mike Shannon – Mike … hier?
Jericho knurrte finster: »Mein Gott, ich will nichts von Ihnen, wie oft soll ich das noch sagen müssen? Señorita, was hat er – was ist passiert, was fehlt ihm?«
»Er«, wimmerte das Girl. »Oh, dios – dios, er ist verwundet. Er …, er heißt Mikel Miller, ein Americano, mein Beschützer, mi amor, Señor. Er hat eine Kugel in der Seite – Bravados haben auf ihn geschossen – ein Bravado. Señor, kennen Sie Mikel, Señor?«
David Jericho blinzelte nur einmal, schwieg eine Sekunde und verdaute es, dass Mikel Shannon also Miller heißen sollte. Nur die Gedanken rasten durch Jerichos Kopf. Er dachte an John Shannon, an die Ranch bei Chino Valley, an den Besuch vor sechs Wochen, den Mann, der durch Jerome geritten war und nach der Ranch von John Shannon gewollt hatte. Und dann fiel Jericho noch seine Schublade ein, in der viele schöne Blätter lagen mit Beschreibungen von Männern. Manche dieser Blätter hatten sogar ein Bild, damit man den Mann auch besser erkannte, um ja keinen Falschen einzulochen.
»Mikel Miller?«, fragte Jericho. »Nein, ich kenne diesen Miller nicht, Señorita. So, ein Bravado hat ihm in die Seite geschossen? Ja, ich sehe jetzt den Verband unter dem Hemd. Hören Sie, wollen Sie vernünftig sein? Dann sehe ich mir Mikel Miller an.«
Er sprach und dachte dabei unausgesetzt an Shannon, den dieses Mädchen Miller nannte, den es als seinen Geliebten bezeichnete.
Großer Gott, was ist passiert, dachte Jericho bedrückt, was denn nur? Mikel hätte sich doch nie einem Girl als Miller vorgestellt, der und ein Girl – unglaublich. Aber immerhin, dieses Mädchen hier ist schön, wirklich schön. Wie muss es erst in einem Kleid und richtig frisiert aussehen? Mikel hat ein Girl – in seiner Situation macht er so etwas? Dieser schweigsame Bursche, der mit Frauen nicht viel im Sinn hatte, soll sich ausgerechnet eine Mexikanerin genommen haben – Mikel?
David Jericho hielt das Girl fest und wartete auf dessen Antwort. Dabei dachte er an Mikel Shannon und daran, dass jemand zweitausend Dollar Belohnung auf Mikels Kopf ausgesetzt hatte – tot oder lebendig!
Shannon hatte zwei Männer erschossen und war verletzt geflohen. Er musste nach Mexiko geflüchtet sein, aber nun war er hier, beinahe dort, wo er zu Hause war – in Arizona.
Verrückt, dachte David Jericho, das ist alles verrückt. Mike Shannon ist in Arizona mit einer hübschen Mexikanerin, das ist schon irre genug. Dass er eine Kugel in der Seite hat, ist weniger verrückt, das musste mal so kommen. Aber, dass der Kerl herkommt und genau weiß, dass man ihn hängen wird, wenn man ihn erwischt, das ist so verrückt, dass ich es kaum fassen kann. Völlig irre ist es jedoch, dass ich ihn treffe. Ich muss ihm ein paar Armbänder verehren – ich, David Jericho Graves, denn dazu verpflichtet mich das Gesetz. Gesetz?
David Jericho Graves, Undertaker, Sargmacher, Posaunenkünstler und Townmarshal atmete tief durch.
Ich, dachte Jericho, der seltsamste Bursche, den Arizona jemals hervorgebracht hatte, ich werde den Teufel tun. Ehe ich Mike Shannon Armbänder verpasse, geht diese verrückte Welt unter. Zur Hölle mit dem Gesetz und dem Richter. Und wenn man mich dafür einlochen sollte – ich habe einen Mike Miller gefunden. Shannon – wer ist Shannon? Den Mann kenne ich nicht! Ich sch… auf das Gesetz, jawohl, ja!
Manchmal, das wusste niemand besser als David Jericho, taugte das beste Gesetz für keinen Cent. Vor allen Dingen dann nicht, wenn es von einem Richter ausgenutzt werden wollte, um eine persönliche Rache an einem Mann zu vollziehen, der seinen einzigen Sohn erschossen hatte.
Richter Aldrich, ich pfeife auf deinen Steckbrief, dachte Jericho grimmig.
David Jericho sah das Mädchen an und wartete.
*
»Sie – Sie wollen Mike helfen, bestimmt – können Sie ihm helfen, Señor?«
Das Mädchen schluchzte nicht mehr und schien jeden Versuch, sich aus Jerichos Griff zu befreien, aufgegeben zu haben.
»Vielleicht«, antwortete Jericho knapp. »Ich verstehe etwas von Wunden, Señorita, aber wenn ich helfen soll, dann müssen Sie vernünftig sein und tun, was ich sage. Seit wann ist er nicht mehr bei Besinnung?«
»Seit heute früh«, gab die Mexikanerin hastig zurück. »Gestern nach dem Sturm war es schon schlimm. Am Abend redete er nur noch wirres Zeug, aber er hatte noch ein paar wache Momente und sagte, ich solle hierher mit ihm reiten. Er beschrieb mir den Weg. Wasser, er wollte ans Wasser, damit ihn das vor dem Fieber rettete, doch es wurde immer schlimmer, Señor …, Señor …«
»Graves«, brummte Jericho und ließ sie los. »David Graves – ich komme aus Jerome – von Norden, Señorita …, wie ist Ihr Name?«
»Inez«, schluckte sie und blickte an ihm vorbei auf den angeblichen Mike Miller. »Ines Ramirez.«
Es kam Jericho vor, als wollte sie dem Namen noch etwas hinzusetzen, denn sie holte Atem, schloss dann aber nach einem winzigen Zaudern die Lippen.
»Also gut, Señorita Inez«, sagte Jericho gleichmütig.
»Dieser Mann ist sehr krank, ich muss mir seine Wunde ansehen. Sie dürfen mich dabei aber nicht stören. Versuchen Sie auch nicht wieder, mich mit einer Waffe zu bedrohen – ich mag das nicht besonders, verstehen Sie? Sie haben auf mich geschossen, als ich hinter die Kakteen sprang, weil ich nicht wusste, ob der Mann hier nicht hinter den Büschen lauerte, vielleicht meine Pferde oder mein Geld haben wollte. Der Mann hätte auch auf mich schießen können. Sie hatten sein Gewehr, das ich Ihnen abnehmen musste, bevor wir so nahe an den Büschen waren, dass er mich mit einem Revolver hätte treffen können. Verstehen Sie, was ich gedacht habe?«
Inez Ramirez blickte ihn groß an.
»Deshalb haben Sie mich angesprungen, Señor Graves?«
»Ja, nur deshalb«, brummte Jericho mürrisch. »Jetzt weiß ich, dass der Mann ungefährlich ist, doch Sie sind es immer noch – Sie könnten mich angreifen.«
»No, no, no, Sie sollen ihm helfen, bitte, Señor Graves, bitte.«
»Nun gut«, meinte Jericho. Er nahm das Gewehr und warf es neben die Pferde, den Revolver Shannons zog er aus dem Holster und steckte ihn in den Hosenbund. »Gehen Sie nicht in die Nähe des Gewehres, bleiben Sie an der linken Seite des Mannes, verstanden? Kommen Sie schon, er hat hohes Fieber, es ist keine Zeit zu verlieren. Sagen Sie mir nur eins: Hat ihn die Kugel unter den Rippen oder zwischen die Rippen getroffen?«
Das Mädchen schluckte schwer, hastete neben Shannon und kniete nieder. Es nahm den Hut ab, um Shannon Luft zuzufächeln.
»Rechts«, erwiderte Inez gepresst. »Oh, dios, Mike hat gesagt, die Kugel hätte ihn zwischen der zweiten und dritten Rippe unten getroffen und würde sehr tief stecken. Er war so tapfer. Er ist geritten und hat mich auf dem Pferd festgebunden, als der Sturm losbrach. Danach ging es ihm plötzlich so schlecht, dass er die Richtung änderte, in der wir flo…, eh, ritten.«
Jericho tat so, als hätte er ihr Stocken nicht bemerkt. Er öffnete Shannons Hemd und zog es behutsam aus der Hose.
»Wann hat er die Kugel bekommen, Inez?«
»Vor – vor vier Tagen genau – am Abend vor vier Tagen, eine Stunde vor Mitternacht, Señor Graves. Warum fragen Sie?«
»Es ist wichtig«, sagte David Jericho kurz. »Die Kugel kann kein Organ verletzt haben, sonst lebte er nicht mehr, verstehen Sie? Er hat jetzt hohes Wundfieber oder eine Entzündung im Leib, aber wenn man etwas gegen das Fieber hat und die Entzündung bekämpfen kann, überlebt er. Er ist groß und stark, ein kräftiger Mann, Señorita Inez. Sicherlich muss die Kugel heraus, ganz sicher sogar.«
Er beobachtete sie, sah die jähe Furcht in ihren Augen, und wusste, woher diese Angst kam.
»Sie muss heraus – eine Operation, Señor Graves? Sie meinen, ein Doktor muss ihn operieren?«
»Er muss«, sagte Jericho ernst. »Wollen Sie, dass er stirbt? Diese Kugel kann ich nicht herausholen, das muss ein Arzt tun. Wenn ich genau wüsste, wo das Geschoss sitzt, könnte ich es vielleicht riskieren, doch die Wunde ist schon zu alt, verstehen Sie? Das kann wirklich nur ein Arzt machen.«
»Ein Arzt«, stammelte Inez Ramirez. »Wo ist hier ein Arzt? Wie weit ist es bis zur nächsten Stadt – Sie müssten Mikel doch in eine Stadt bringen, oder?«
»Genau das«, antwortete Jericho bestimmt. »Wenn ich den Wagen herhole und wir ihn in dem transportierten, könnten wir zwei Stunden vor Einbruch der Nacht in Wagon Creek sein. Dort lebt ein alter Arzt, der sich jedoch wie kaum ein anderer auf Wunden versteht. Er war einmal Armeearzt.«
»Wagon Creek, ist das eine große Stadt?«
»Nein, eine kleine«, gab Jericho zurück und machte den Verband wieder fest. »Dort leben keine fünfzig Menschen, aber der Arzt ist da, das allein ist wichtig.«
»Und – und die Stadt – hat sie einen Sheriff?«
»Warum?«, fragte Jericho und stellte sich erstaunt. »Nein, in Wagon Creek gibt es keinen Sheriff oder Marshal. Warum fragen Sie nach einem Sheriff, Inez?«
»Nur so, nur so«, flüsterte sie und sah zu Boden. »Ein Sheriff würde fragen, woher er die Wunde hat, weshalb man auf ihn geschossen hat, oder?«
»Sicher – wenn einer in Wagon Creek wäre«, brummelte Jericho. »Er ist in Mexiko verwundet worden, nehme ich an.«
»Ja, zu Hause. Es war ein Bravado – ein schlechter Mensch, den man in diesem Land sucht. Darum will ich nirgendwohin, wo ein Sheriff ist. Mikel hat gesagt, er will in keine Stadt, er will keine Fragen gestellt bekommen. Das ist eine persönliche Sache zwischen Mikel und diesem Bravado gewesen – ganz persönlich, verstehen Sie, Señor Graves? Ich bin schuld gewesen, oh, dios, ich habe die Schuld, ich allein. Aber ich liebe ihn doch, nur ihn, und ich werde niemals einen anderen Mann lieben, niemals. Oh, mein Gott, wenn Mikel sterben muss, dann töte ich mich auch, ich will nicht mehr leben ohne ihn.«
»Na, na, nun mal langsam, Inez«, sagte Jericho besänftigend, als sie wieder zu schluchzen begann. »Mikel wird schon nicht sterben, wenn er heute noch die Kugel herausgeholt bekommt. Außerdem ist er ein zäher Brocken – und er liebt Sie genauso wie Sie ihn – wirklich?«
»Ja, ja, ich glaube, er liebt mich auch sosehr. Er hat gesagt, er wolle nicht an meinem Unglück schuld sein, er ginge besser fort, ganz weit fort, denn wenn er bliebe, würde er mir nur Unglück bringen. Er wollte nicht, dass ich mit ihm ritt, aber ich bin ihm gefolgt, ich habe gesagt, ich bringe mich um, wenn er mich nicht mitnimmt. Sie hätten ihn ohnehin verfolgt und …«
»So ist das – er wird also verfolgt«, sagte Jericho düster und hielt die Hand noch geschlossen, die er gerade unter der Weste hervorzog. »Deshalb ist er durch den Sturm mit Ihnen geritten und hat die Richtung geändert – die Verfolger damit abschütteln wollen, denn der Sturm muss jede Spur verwischt haben. Da war also ein Bravado, den man in diesem Land sucht – ein Mexikaner, oder war es ein Gringo – vielleicht Gus Flynn, der seit zwei Jahren irgendwo in Mexiko lebt und den man hier sucht? Hat Flynn auf Shannon geschossen?«
Er sah ihr mitten in das kreidebleich werdende Gesicht, in die großen dunkelbraunen Augen, die sich vor Entsetzen weiteten.
»Wer war es?«, frage Jericho messerscharf. »Flynn oder einer der Bravados, für die Flynn als Späher reitet, wenn die Kerle über die Grenze kommen? War es etwa der Mann, den wir nur als Don Carlos kennen, Inez, war es dieser Mann, dessen Bande die Grenze unsicher macht?«
Das Mädchen kauerte auf den Knien und sah auf Jerichos rechte Hand, die sich nun öffnete.
In der Hand lag der Marshalstern von Jerome.
»Chino Valley«, fuhr Jericho eisig fort. »Die Ranch der Shannons – sein Bruder John Adam, dort wollte er hin, oder? Jerome ist nur vierzig Meilen von Chino Valley entfernt. Die Shannons kamen manchmal nach Jerome, ich kenne sie alle – John Adam und Sue, seine Schwester. Ich habe seine Eltern gekannt und verdanke Mikel mein Leben. Ich bin der Marshal von Jerome, doch ich würde Mikel niemals verhaftet und eingesperrt haben, weil er keinen Mord begangen hat. Es war kein Mord, das weiß ich seit einigen Wochen, seit jemand aus Morenci, wo die Schießerei war, durch Jerome kam und zu John Adam Shannon wollte. Der Mann erzählte mir die Geschichte des Revolverduells zwischen Johnnie Aldrich, dem Sohn des Richters und dessen Freund Latman auf der einen und Mikel auf der anderen Seite der Mainstreet. Dieser Richter John Aldrich ist ein alter, verbohrter Mann, der nicht wahrhaben will, dass sein einziger Sohn nichts taugte. Er will auch nicht zugeben, dass sein hinterhältiger Sohn jenen Latman in Mikels Rücken schickte, damit der auf Mikel schoss, sobald er, Johnnie Aldrich, zum Revolver griff. Johnnie Aldrich plante einen Mord – der Sohn des reichen, angesehenen Richters, verstehen Sie? Ich weiß es – ganz Morenci weiß es und auch John Adam hat es erfahren und den US-Marshal auf meinen Rat hin mit der Untersuchung der Sache beauftragt. Wissen Sie, wie mächtig ein Richter sein kann, wenn er dazu noch reich ist und ihm die halbe Stadt mit einigen Minen gehört?«
»Oh – oh, Sie wissen, Sie haben gewusst …«
»Ja, ich habe es gewusst«, knurrte Jericho finster und steckte den Orden wieder in die Innentasche seiner Weste. »Da haben Sie etwas, Sie Närrin – na los, heben Sie ihn auf!«
Er ließ seine Rechte nur einmal zucken. Shannons schwerer Colt mit dem glatten dunklen Walnußkolben landete vor Inez Ramirez am Boden.
»Nun los!«, forderte Jericho das Mädchen auf. »Da ist sein Revolver, mit dem er angeblich mehr als zwanzig Menschen erschossen haben soll, dieser Revolvermann Mikel Shannon. Nehmen Sie ihn, erschießen Sie mich, wenn Sie mir nicht glauben, Inez! Ich habe Sie nicht angelogen, obwohl ich das von Ihnen nicht behaupten kann, denn Sie haben mich belogen. Der US-Marshal untersucht die Sache, sie kommt vor den Gerichtshof von Anzon, was noch Wochen oder sogar Monate dauern kann, weil die Absetzung eines Richters durch andere Richter eine verdammt eigenartige und langwierige Sache ist – überall auf dieser Welt, nehme ich an. Vielleicht setzt man bei Ihnen überhaupt nie einen Richter ab, oder? Bei uns dauert so etwas seine Zeit, ich kann es nicht ändern. Ich sage Ihnen, dieser Steckbrief wird außer Kraft gesetzt werden – nicht heute oder morgen, aber irgendwann. Ich hätte Mikel niemals verhaftet, verstanden, Inez? So – und wenn Sie mir nicht glauben und trauen, dann nehmen Sie jetzt den verdammten Revolver und schießen Sie mich nieder. Nur – dann kann niemand mehr Mikel helfen – und sterben soll er doch nicht, oder?«
»No – nein, nein, er darf nicht sterben. Oh, dios, Sie sagen, Sie verdanken Mikel Ihr Leben, Señor Graves, doch es gibt viele Sheriffs und Marshals in Arizona, und der Steckbrief besteht doch, oder?«
»Himmel noch mal – in Wagon Creek ist keiner, dort wird man Mikel auch nicht kennen. Ich denke nicht, dass dort jemand lebt, der Mikel jemals begegnet ist. Wir werden sehen, ob man Mikel erkennt. Jetzt müssen wir ihn erst einmal hinschaffen. Und dann darf ich mich um den Doc kümmern, damit Mikel geholfen wird. Ich habe immer ein fiebersenkendes Mittel dabei, wenn ich unterwegs bin. Das flößen wir Mikel ein. Bevor ich jetzt losgehe und meinen Wagen herfahre, erzählen Sie mir noch, wer hinter Mikel her ist.«
Inez hob den Revolver auf und reichte ihn Jericho zurück.
»Ich traue Ihnen, Señor Graves«, sagte sie leise. »Das ist ein Wunder – der Himmel hat ein Wunder für Mikel und mich gemacht. Señor Graves, Mikel glaubt, dass sie alle hinter uns her sind – Don Carlos und Rual Sastre, der Mann, der auf Mikel schoss. Auch die anderen werden dabei sein, weil sich Carlos und Sastre vor Mikel fürchten – vor seinem Revolver und Gewehr. Sie werden alle nach uns suchen – alle, aber vielleicht Flynn nicht. Mikel sagt, Flynn täte das nicht, obgleich er für Carlos reitet. Flynn ist sein bester Freund, sein Blutsbruder, verstehen Sie?«
»Ich weiß das«, brummte Jericho. »So, Flynn nicht? Dachte ich doch, dass Mikel nach der Schießerei in Morenci über die Grenze und vielleicht zu Flynn geritten wäre. Nur ließ ich mir nicht träumen, dass ich Mikel begegnen könnte. Inez, warum ist man hinter Ihnen und Mikel her – warum?«
Das Mädchen senkte tief den Kopf.
»Es ist meine Schuld, bestimmt nur meine«, flüsterte Inez zitternd.
»Sastre – Carlos wollte, dass ich ihn heirate. Sastre und ich galten als verlobt, so gut wie verlobt, versprochen, verstehen Sie, Señor Graves? Ich habe Carlos immer gesagt, ich würde es nicht tun – ich habe Sastre nie gemocht. Und dann ist die Fiesta an Carlos’ Geburtstag gewesen – eine große Fiesta. Flynn und alle sind gekommen, auch Mikel. Er hatte den Arm noch in der Schlinge, durch den die Kugel dieses Latman in Morenci gefahren war. Er …, er hat mich angesehen, nur angesehen. Und ich habe gewusst, ich liebe ihn, ich will diesen Mann haben. Ich habe in seine Augen gesehen, verstehen Sie, Señor Graves?«
Du großer Geist, dachte Jericho. So ist das? Ein Mädchen von knapp zwanzig Jahren und Mikel, der Schweigsame, ich werde verrückt!
»Ich verstehe«, sagte er träge. »Mikel und Sie – kaum zu glauben, aber manchmal passieren die verrücktesten Dinge. Heißen Sie wirklich Ramirez oder ist der Name etwas länger, Inez?«
»Ich habe Sie belogen – es tut mir jetzt sehr leid, Señor Graves. Ich bin Inez Carmen Ramirez de San Sebastian y Pueblo. In neun Monaten werde ich die Duena sein, dann ist mein Geburtstag. Bis dahin bestimmt nach unseren Gesetzen mein Vormund über mich und unseren Besitz.«
Ihre Stimme versiegte in einem flachen Stöhnen.
»Bis dahin«, sagte Jericho bohrend. »Und wer ist dieser Vormund, Inez?«
»Der – der Vetter meines Vaters, ich nenne ihn meinen Onkel.«
»Und er heißt?«, fragte Jericho gepresst, dem eine dumpfe Ahnung kam. »Wie heißt er?«
»Don – Don Carlos!«
»Gerechter Gott!«, entfuhr es Jericho. »Darum die Verfolger. Ihr Onkel hat diesen Sastre für Sie bestimmt, er will Sie zwingen, den Kerl zu heiraten, damit er … Inez, wie groß ist Ihr Vermögen, was erben Sie?«
»Allen Besitz der de Sebastian y Pueblo, Señor Graves. Es ist viel Land, aber es ist wenig Geld. Don Carlos hat das Geld verschwendet, wie er alles verschwendet hat, was ihm gehörte. Der Vormund kann alles tun, auch mich verheiraten. Das sind unsere Gesetze, verstehen Sie?«
»Allmächtiger!«
Heiliger Rauch, dachte Jericho bestürzt, dieser Bravadoanführer ist der Onkel von Inez. Der Bursche brachte es im mexikanischen Bürgerkrieg unter Juarez bis zum Oberst, ließ sich jedoch General nennen. Er soll wie ein Fürst gelebt und wie ein Despot in dem von ihm kontrollierten Gebiet geherrscht haben.
Jericho hatte plötzlich ein Würgen in der Kehle. Don Carlos, wie sich der Halunke nennen ließ, hatte zuerst die Grenze von New Mexico unsicher gemacht. Dann hatte man ihn vor zweieinhalb Jahren beinahe erwischt und seine Horde von etwa sechzig Bravados zusammengeschossen. Doch der Schuft war wie durch ein Wunder entkommen. Ein halbes Jahr lang war er verschwunden geblieben und dann im Grenzgebiet von Arizona aufgetaucht. Allein die Stagecoach von Ajo zur Grenze war von ihm und seinen Kerlen ein dutzendmal ausgeraubt worden. Einmal hatte er sogar die Soldkasse von Fort Huachuca überfallen und die Begleitung aus dem Hinterhalt zusammengeschossen.
»Ihre Eltern, Inez«, sagte Jericho knapp. »Wann starben sie?«
»Vor zwei Jahren – im Frühjahr«, erwiderte Inez Ramirez mit zitternder Stimme. »Es war ein Unfall – Vater und Mutter waren mit unserem Mayordomo, dem alten Verwalter, nach Santa Margerita zur Viehauktion unterwegs. Die Kutsche stürzte in den Geresa-Bergen ab – ein Steinschlag hoch droben. Sie waren alle tot.«
»So – ein Unfall«, murmelte Jericho. »Und danach tauchte Ihr Onkel auf, der nicht Ihr Onkel ist, sondern nur der Vetter Ihres Vaters, oder?«
»Si«, nickte Inez und blickte scheu zu Jericho hoch. »Mein richtiger Onkel – Don Jaime Ramirez, hielt es mit den Maximilianeros. Er wurde von den Juaristas, auf deren Seite sein Sohn, Don Carlos, kämpfte, erschossen. Sein Besitz war schon vorher verwüstet worden, nur noch das Geld der Familie blieb Don Carlos. Sie wissen, wie er gelebt hat? Es hat in diesem Papier …«
»Den Steckbrief, meinen Sie?«, unterbrach Jericho das Mädchen. »Ja, ich kenne alle Steckbriefe. Wie viel Männer hat dieser sogenannte Don noch, Inez?«
»Ich weiß nicht genau«, antwortete das Mädchen nachdenklich. »Da ist Sastre, seine rechte Hand, der Segundo. Außer Sastre kenne ich noch sieben, acht – neun Männer, Señor Graves, aber es können mehr sein, vielleicht ein Dutzend. Sie leben etwa zwanzig Meilen von unserer Hazienda entfernt auf einer Dependencia.
Da ich aber seit Jahren nicht mehr dort war, habe ich diese Männer gar nicht alle zu Gesicht bekommen. Señor Graves, glauben Sie, er hat unsere Spuren nach dem Sturm noch finden können? Mikel sagte, er könnte sie nur durch ein Wunder wieder entdecken.«
David Jericho blickte über das Mädchen hinweg auf den reglosen Mikel Shannon und dachte an Gus Flynn, jenen Mann, der Arizona besser als jeder andere kannte. Flynn war der geborene Fährtenleser, ein Mann mit dem Instinkt eines Raubtieres. Wenn die Grenzpatrouilen Don Carlos bisher nicht erwischt hatte, dann war es zweifellos Flynns Verdienst.
»War Mike sicher, dass Flynn sich nicht an der Verfolgung beteiligen würde?«, erkundigte sich Jericho. »Wenn Don Carlos Flynn bei sich hat, könnte er die Spur doch entdecken.«
»Flynn hilft Don Carlos nicht, das hat Mikel mehrmals gesagt – und darauf hat er seine Hoffnungen gesetzt«, erklärte Inez. »Mikel sagt, Flynn würde es unter keinen Umständen tun, da er Amerikaner ist und nicht viel von unseren mexikanischen Moralauffassungen hält. Ja, Flynn könnte unsere Spuren finden. Außer ihm vielleicht noch Sastre – ich weiß, dass er von Flynn gelernt hat, doch Mike, meint, Sastre findet nichts.«
»Hoffentlich behalten Sie recht«, erwiderte Jericho düster. »Inez, Ihr Onkel Carlos ist also der letzte männliche Verwandte – richtig?«
»So ist es, Señor Graves, er bestimmt alles, was mich betrifft, bis ich volljährig bin und die Duena, wie man es bei uns nennt.«
»Bis Sie die Herrin sind«, stellte Jericho fest. »Nun gut, betrachten wir die Dinge nüchtern, Inez. Don Carlos will, dass Sie Sastre heiraten, ehe Sie volljährig sind. Damit würde Sastre der ganze Besitz Ihres Vaters gehören – oder besser, Don Carlos hätte ihn sich über Sastre gesichert. Hat Ihr Onkel jemals den Gedanken geäußert, Sie täten gut daran, den Besitz zu verkaufen?«
»Ja, er wollte es«, bestätigte Inez Ramirez, Jericho verwundert ansehend. »Er sagte mir schon vor zwei Jahren, die Hazienda hätte durch den Bürgerkrieg zu sehr gelitten. Warum fragen Sie, Señor Graves?«
»Ich zähle nur zwei und zwei zusammen«, brummte Jericho griesgrämig. »Hätten Sie verkauft, hätte er die Verwaltung des Geldes gehabt. Das wollten Sie nicht, oder?«
»Natürlich nicht«, antwortete Inez entrüstet. »Dieses Land nahmen einmal meine Vorfahren in Besitz vor sechs Generationen, Señor Graves. No, ich hätte niemals verkauft, es wäre auch gar nicht möglich gewesen. Das Testament meines Vaters verbietet jeden Verkauf, solange ich nicht volljährig bin.«
»Aber es untersagt keine Heirat, oder?«
»No, die nicht«, gab Inez verwirrt zurück. »Señor Graves, was denken Sie?«
»Dass der Vetter Ihres Vaters ein ausgemachter Schuft und Halunke ist«, knurrte Jericho vor sich hin. »Inez, Sie können mir später, wenn wir nach Wagon Creek fahren, alles ausführlich erzählen. Eigentlich reicht das schon, was Sie mir bisher gesagt haben. Dieser verschlagene Bursche Carlos hat nichts weiter vor, als Sie auf irgendeine Art um den Besitz zu bringen und ihn dann zu verkaufen, um sich ein herrliches Leben zu machen. Ich wette, Mike hat ihn genauso durchschaut. Was hat Mike über ihn gesagt?«
»Dasselbe wie Sie, Señor Graves, und …, und noch etwas mehr.«
»Und was?«, fragte Jericho.
»Dass er mich nie…, niemals heiraten würde«, stammelte Inez, während ihre Augen sich wieder mit Tränen füllten. »Er …, er ist so stolz, er will keine reiche Frau, hat er gesagt, denn eines Tages könnte ich ihm vorwerfen, er hätte mich nur wegen meines Geldes …, oh, Señor Graves, ich würde ihm das doch nie vorwerfen, ich liebe ihn doch wie mein Leben und …«
»Ja, ja«, sagte David Jericho und kratzte sich am Hinterkopf. »Sicher tun Sie das, Lady Inez. Aber jetzt hole ich den Wagen.«
David Jericho hastete davon und dachte mit einiger Besorgnis an Doc Alec Sheppard. Heute war der zweite Tag des Monats. Der Doc musste neben seiner spärlichen Armee-Rente auch jene wenigen Dollar erhalten haben, die ihm die mit Kindern gesegneten Leute in Wagon Creek dafür zahlten, dass er ihre Ableger unterrichtete.
Einen Tag nach Monatsanfang, dachte Jericho beklommen, wenn das nur gutgeht mit dem Doc. Alec teilt sich zwar sein Geld ein, aber gewöhnlich ist er die ersten drei, vier Tage eines jeden Monats betrunken. Ist das auch heute der Fall, könnte ich gleich mit Mike nach Prescott weiterfahren. Der Teufel soll den Fusel holen, den der Doc in sich schüttet, als hätte er Wasser im Glas.
David Jericho Graves seufzte einmal.
Er hatte das Gefühl, dass er Alec Sheppard völlig dunkelblau vorfinden würde. Um Don Carlos machte sich Jericho jetzt keine Sorgen. Der Wüstensturm musste jede Spur von Shannon und Inez gelöscht haben. Zudem hatte Shannon die Richtung geändert.
»Er hat alles getan, was er noch tun konnte – und hoffentlich ist es genug gewesen«, brummte Jericho, als er sich dem Wagen näherte. »Wenn ich Glück habe, ist Alec ausnahmsweise halbwegs nüchtern. Und was tue ich, wenn er voll wie eine Haubitze ist?«
Genau das wusste Jericho nicht. Was sollte er machen, wenn der Doc nicht vernehmungsfähig war?
*
»Santa Clara de Cristobal«, kam es halberstickt über Inez’ Lippen. »Señor Graves, was ist mit dem alten Mann – ist er tot?«
»Tot nicht«, erwiderte Jericho finster. »Er ist nur noch stockbetrunken. Haymes, hilf mir mal, ihn auf den Rücken zu drehen – er ist schwer wie ein Klotz Blei.«
Bis jetzt hatte niemand Shannon erkannt, da kaum anzunehmen war, dass irgendwer in Prescott die Steckbriefe studiert hatte.
»Für einen Mann, der sich zu Tode saufen will«, grinste Haymes, der Waiter des Bloomefield-Saloons, breit, »ist er einfach zu gesund, Jericho. Hast du geglaubt, dass er von der Sauferei magerer werden würde? Ich sage dir, er wiegt eher dreißig Pfund mehr als letztes Jahr.«
Haymes stöhnte, als sie Doc Sheppard auf den Rücken legten.
»Himmel, er ist wirklich noch dicker geworden«, stellte Jericho schnaufend fest. »Haymes, wo hat er seine Handtasche?«
»Wo wird er sie haben – zu Hause, drüben«, antwortete der Waiter achselzuckend.
»Geh rüber und sieh zu, dass du seine Tasche findest, Haymes«, meinte Jericho knapp. »Wenn alles nichts hilft, muss ich versuchen, ob ich die Kugel herausbekomme. Mein Fiebermittel hat dem Verwundeten kaum geholfen. Irgendwie muss ich den Doc munter machen.«
»Das hat noch niemand geschafft, Jericho.«
Haymes hastete hinaus, während Inez verstört auf den wie tot auf der Bank liegenden Doc blickte. Das Mädchen hatte nicht alles verstanden, was gesprochen worden war und wandte sich nun an Jericho: »Señor Graves, dieser betrunkene alte Mann kann doch unmöglich Mikel operieren. Er würde ihn umbringen – por dios! Ich gehe zu Mikel. Vielleicht hilft ihm die Medizin doch noch?«
»Jedenfalls ist das Fieber nicht mehr gestiegen«, murmelte Jericho. Er setzte sich auf den Tisch und blickte auf Doc Sheppard hinab. »Gehen Sie nur, Inez. Es wird etwas dauern, ehe ich den Doc munter habe.«
Jericho starrte auf Sheppards rundes, bärtiges Gesicht, dem der Hängeschnurrbart das Aussehen eines Seehundes verlieh, und dachte an Sheppards Schicksal. Es gab kaum jemand in diesem Land, der mehr von Schusswunden verstand. Die Kugellöcher, die der Doc während seiner Armeezeit und der Apachenkriege zu flicken gehabt hatte, konnte niemand zählen. Vor acht oder neun Jahren hatte Sheppard Frau und Tochter von Fort Verde aus nach Fort Yuma vorausfahren lassen, wohin er versetzt worden war. Er hatte von dort aus nach Kalifornien ziehen und dort seine Pension verleben wollen. Aber alles war anders gekommen, als es sich Sheppard erträumt hatte.
Die Stagecoach, in der Missis Sheppard mit der Tochter gesessen hatte, war nördlich von Wagon Creek von streunenden Apachen überfallen und sämtliche Insassen samt Kutscher und Beifahrer umgebracht worden.
Jetzt gab es auf dem Hügel über Wagon Creek nur noch das Doppelgrab, und Sheppard war in Wagon Creek geblieben, weil er nichts mehr auf dieser Welt als jenes Doppelgrab zu besitzen glaubte.
Haymes kam schnaufend mit der Arzttasche herein, schüttelte den Kopf und brummte: »Alle Wetter, weißt du, wo ich das Ding gefunden habe? Unter dem Bett inmitten von zweihundert leeren Flaschen. Das sieht aus in seinem Bau. Gerechter! Da hast du sie – und was kann ich noch tun?«
»Heißes Wasser machen«, erwiderte Jericho, die Tasche aufklappend, in der ein unbeschreibliches Durcheinander herrschte. »Mal sehen, ob ich etwas finde, was einen Fuselscheintoten lebendig machen könnte. Wann legte er sich hin und schlief ein?«
»Vor gut zwei Stunden etwa«, meinte Haymes grinsend. »Ich sage dir, versuche es wie McDunn. Nur haben wir kaum Wasser im Creek, aber da ist noch Weldons Brunnen drüben. Ablassen und eintauchen, bis …« Haymes verstummte, starrte auf das Glas mit dem Gummikork und las die Aufschrift des Etiketts: Brechwurz. Durch das braune Glas war das körnige, gemahlene Zeug gut zu erkennen.
»Steht nicht drauf, wie viel man davon nehmen soll«, sagte Jericho trocken. »Mach heißes Wasser – ich denke, zwei Esslöffel voll werden reichen, um einen anständigen Tee zu brauen.«
»Wa…, wa…, was?«, stammelte Haymes entsetzt. »Hör mal, als sich Bloomefields Ableger mal die verdammten Yellow Buttons abgepflückt und gefressen hatten, das verdammte Giftzeug, brachte ihn schon ein Teelöffel von dieser Medizin zum elenden Gespucke. Du willst dem Doc sein eigenes Spuckmittel einflößen?«
»Ich hoffe jedenfalls, dass er es schluckt und nicht zu früh merkt, was es ist«, grinste Jericho. »Soviel ich weiß, hat er etwas gegen Wasser oder Tee.«
»Austricksen – wie denn?«, stotterte Haymes und sah zur Tür, durch die Isaak B. Bloomefield, Besitzer des Hotels und Boss der kleinen Bank von Wagon Creek, hereinkam. »Hallo, Boss, hier will jemand ein Wunder vollbringen und den Doc munter machen.«
»So?«, fragte Isaak B. Bloomefield, die Augenbrauen hochziehend. »Hallo, Graves, auch mal wieder hier. Man erzählte mir, der Mann hätte eine Kugel im Leib – wer ist der Bursche?«
»Ein gewisser Miller«, erwiderte Jericho gleichmütig.
»Wo hat dieser Miller die Kugel eingefangen, Graves?«
»Diesseits der Grenze, als er und das Mädchen irgendwelchen Bravados begegneten«, log Jericho achselzuckend. »Die Kugel muss heraus, oder der Mann stirbt.«
»Seltsam«, grübelte Bloomefield laut. »Eine Mexikanerin mit einem Amerikaner als Begleiter – wohl eine Art Leibwächter, wie?«
»So ähnlich«, antwortete Jericho, kaltblütig das wiedergebend, was er mit Inez unterwegs abgesprochen hatte. »Die Mexikanerin hat Verwandte oben in Flagstaff – ihre Tante schickte ihr Miller zum Schutz nach drüben.«
»Na, viel muss der Bursche nicht wert sein, wenn er nicht mal mit ein paar lausigen Bravados fertig wird«, murrte Bloomefield. »Graves, wenn er hier im Hotel liegen soll – kann er bezahlen?«
»Ja«, antwortete Jericho gelassen. »Er wird zahlen – keine Sorge um die Dollar, Mister Bloomefield.«
Bloomefield stakste zum Tresen, füllte sich ein Glas mit Wasser, da er zu geizig war, um von seinem eigenen Whisky zu trinken.
»Spuckt Alec mir den Boden voll, Graves, wischen Sie anschließend auf. Sie werden Alec auch nicht so weit munter bekommen, dass er operieren kann.«
»Wetten, dass?«, murmelte Jericho. »Immer abwarten, Mister Bloomefield.«
»Ich wette nie«, erklärte der hagere Geizhals. »Ich bin manchmal neugierig. Sie bringen Alec nicht auf die Beine, Graves – niemand kann das.«
»Wir werden sehen«, sagte Jericho achselzuckend. »In fünf Minuten werden wir es wissen.«
Er blieb auf dem Tisch sitzen und grinste dünn.
Es musste verdammt möglich sein, auch einen Volltrunkenen nüchtern zu bekommen. Bloomefields magerer Hals bewegte sich jetzt so ruckhaft wie der eines Geiers, der an einem zu großen Aasbrocken würgte. Dazu quollen dem hageren Salooner und Bankier die Augen hervor, mausgraue und irgendwie stechend-gierig wirkende Augen mit kleinen Pupillen, in denen sich nun das blanke Verwirrtsein zeigte.
Haymes, sein Waiter, traute seinen Augen kaum, denn was er sah, war kaum zu glauben.
Jerome hielt die Whiskyflasche leicht schräg. Bloomefields angeblich echter Scotch lief in einem dünnen Faden aus dem Flaschenhals auf den Verbandsmull herunter. Jericho hatte eine Lage Verbandsmull aus der Tasche des Doc genommen. Danach hatte er einen Streifen abgeschnitten, zusammengefaltet und über Doc Sheppards wuchernden, struppigen Schnurrbart unter die Nasenlöcher gelegt.
Der zusammengelegte Streifen sog sich schnell voll Whisky.
»Zur Hölle, wer bezahlt mir meinen guten …« Bloomefield schwieg, als Jericho die Flasche wieder verkorkte und auf den Tisch stellte. Vielleicht kam Bloomefield zu Bewusstsein, dass Jericho nicht mal ein halbes Whiskyglas für die Anfeuchtung des Mulls gebraucht hatte und die Bemerkung geradezu blamabel war.
Hatte Doc Sheppard schon bei den ersten Tropfen die Nasenflügel gebläht, so begann nun seine Nasenspitze geradezu zu wackeln. Es sah tatsächlich so aus, als hätte ein Honigbär den Geruch eines Topfes besten Honigs in die Nüstern bekommen. Das Nasenspitzenwackeln Sheppards steigerte sich. Gleichzeitig klappte Sheppard den Mund auf und begann laut zu schmatzen.
»Ich werde verrückt!«, ächzte Bloomefield verstört. »Er ist stockbesoffen und riecht es dennoch, obgleich er nicht zu Bewusstsein kommt? Das gibt es doch gar nicht?«
»Dies ist seine Medizin«, grinste Jericho. »Ich glaube, es ist die einzig richtige, die ihn munter machen kann. Na, dann wollen wir mal!«
David Jericho griff nach dem Milchtopf, in dem eine bräunliche Brühe schwappte. Vor weniger als drei Minuten hatte Jericho drei Esslöffel jenes gekörnten Brechwurzes mit dem kochenden Wasser übergossen, sodass eine Art Brei entstanden war, den er mit einer Gabel durchgemengt hatte. Danach hatte er kaltes Wasser aufgefüllt und einen kaum lauwarmen Tee gebraut.
Im gleichen Augenblick, in dem Jericho den Ausgießer des Milchgefäßes an Doc Sheppards Unterlippe setzte, drückte er mit der Linken den getränkten Mullstreifen gegen die Nasenlöcher Sheppards.
Der »Säufer-Doc«, wie ihn manche Leute in Wagon Creek heimlich nannten, schien jetzt noch mehr des Whiskyduftes zu schnuppern und sperrte den Mund ganz weit auf.
»Und jetzt wollen wir mal sehen, ob du was merkst«, sagte Jericho halb grimmig, halb grinsend. »Hinein mit der Brühe!«
Haymes wich einen halben Schritt zurück. Er war sicher, dass der Doc sich gleich in einen Walfisch verwandeln würde, der die Brühe in einem gewaltigen Strahl ausspie. Bloomefield, der sich voller Staunen und Neugierde vorgebeugt hatte, sank mit ruckendem Geierhals zusammen und machte sich hinter der Stuhllehne klein. Und dann erstarrten die beiden Zuschauer, denn der Doc schluckte die Brühe nicht nur, er schien sie gar nicht schnell genug in seinen Bauch bekommen zu können. Wahrscheinlich hätte er den Milchtopf bis auf den Grund geleert, doch Jericho war sich nicht sicher, welche Nachwirkungen drei Esslöffel Brechwurz haben können, und er ließ Doc Sheppard nur die Hälfte saufen. Danach stellte er den Topf auf den Tisch, sah Haymes, der mit Mondkalbaugen neben der Bank stand, an und nahm Haymes den Eimer ab.
»Jetzt wollen wir sehen, was passiert und ob es wirkt«, sagte Jericho voller Neugierde. »Ich lasse den Fuselmull mal liegen. Irgendwann müsste sich in seinem Bauch etwas rühren und …«
In derselben Sekunde bewegte sich Doc Sheppards Kugelbauch. Die Kugel schien anzuschwellen und die ohnehin eng sitzende Weste platzen lassen zu wollen. Bloomefield und Haymes blickten entgeistert und erschrocken auf den Bauch, der sich hob, jäh senkte und dann wie ein Blasebalg zu arbeiten begann. Er pumpte immer schneller.
Ein grausiges Geröchel ausstoßend, fuhr der Doc von der Bank in die Höhe, rutschte ab, krachte auf die Knie, stemmte die Arme ein und gurgelte so schrecklich, dass Haymes der Angstschweiß ausbrach.
»Ich sterbe – oh, mein Gott, dass ich so elend sterben muss – ich sterbe – ich sterbe. Oh, mein Gott, ist mir sterbenselend! O Herr, hilf mir, lass mich nicht so elendig umkommen. Oh, mein Gott, mein Gott!«
Dazwischen gab es Pausen, würgte, jammerte und klagte Sheppard in Tönen, die selbst Haymes, der Betrunkene dutzendweise hatte spucken sehen, nie zuvor vernommen hatte. Es war, als müsste Sheppard tatsächlich sterben. Zuletzt verließen ihn die Kräfte. Zitternd und bleich wie der Tod, blieb Sheppard zusammenrutschend liegen.
»Es geht mit mir zu Ende«, lallte der Doc mit einer Stimme, die einem Sterbenden zu gehören schien. »Mit mir ist es aus. O Herr, hätte ich doch niemals den verfluchten Whisky angerührt. Dass ich so elend von dieser Welt muss …«
Der Doc lag wieder still, lächelte dankbar, als Jericho ihm den Wasserbecher an die Lippen setzte, und lallte dann: »Tut das gut – klares, frisches Wasser, welche Wohltat. He, da bist du ja, Jericho.«
»Ja, das bin ich, Doc«, erwiderte Jericho. »Wie wäre es jetzt mit einem anständigen, starken Kaffee, Doc?«
»Kaffee – Kaffee?«, dachte der Doc mit geschlossenen Augen laut nach. »Das ist gut – du bist ein guter Junge, Jericho. Gib einem Sterbenden die letzte Labsal. Oh, Himmel, ich saufe nie wieder, wenn ich das überlebe. So ist das also, wenn einem richtig kotzübel wird? Furchtbar, furchtbar …«
»Ja, ja, entsetzlich«, bestätigte Jericho salbungsvoll, als müsste er einen Leichnam von dieser Welt verabschieden.
Der Doc lag still, sah ihn dankbar an und röchelte: »Junge, du bist mein barmherziger Samariter, du machst es mir leicht, von dieser schäbigen Welt zu gehen. Was täte ich ohne deinen Beistand?«
»Das ist doch nicht zu fassen«, meldete sich Isaak B. Bloomefield polternd. »Der und ein barmherziger Samariter! Der Kerl hat dir Brechwurz eingetrichtert.«
Der Doc wandte langsam den Kopf, sah Jericho zuerst nur verwirrt, dann jedoch mit wachsendem Grimm an und gurgelte schließlich: »Du verdammter Hundesohn – hol dich der Teufel siebenspännig! Was hast du mir eingeflößt – Brechwurz? Darum…, darum! Oh, die Hölle, die Finsternis – der Satan soll dich verschlingen! Schnell, schnell, das Fläschchen aus meiner Tasche – Carbo Vegetabilis steht drauf. Du Hundesohn, du elender …
Er bekam einen Löffel voll Carbo Vegetabilis, spülte mit Wasser nach, rülpste danach wie ein Fuhrknecht nach zehn Tagen Bohnenfraß und stöhnte: »Wie viel Brechwurz hast du Leicheneinsarger mir eingetrichtert?«
»So anderthalb Esslöffel voll, Doc.«
Sheppard erstarrte, glotzte wie ein Ochse, der zum ersten Mal im Leben sein Spiegelbild in einem stillen Gewässer betrachtete. Dann röchelte er: »Davon sterbe ich. Anderthalb Esslöffel – du gemeiner Sargzusammenbauer, du Ausgeburt des Wahnsinns, was hast du getan?«
»Du kannst den Rest auch noch haben«, sagte Jericho ungerührt und zeigte ihm den Milchtopf. »Ich dachte immer, du wolltest unbedingt sterben, also tue es jetzt. Die Chance kehrt nie wieder.«
»Du frecher Lauselümmel, du Galgenstrick – du und deine verfluchten Tricks! Lass mich in Ruhe, ich will sterben.«
»Du weißt verdammt genau, dass du nicht sterben wirst«, erwiderte Jericho trocken. »Ich kann dich nicht in Ruhe lassen, ich brauche dich dringend.«
»Die Engel warten auf mich – kein Mensch auf der Welt braucht mich noch. Lasst mir meinen Frieden.«
»Ich fülle dir den Rest auch noch ein, wenn du nicht Vernunft annimmst, Doc!«, knurrte Jericho jetzt scharf.
»Da ist jemand, der sterben wird, wenn du ihm nicht hilfst. Du bist der einzige Mensch, der ihn retten kann, also nimm dich zusammen.«
Der Doc lag still, schloss die Augen und stöhnte, bis er fragte: »Kugel?«
»Ja«, sagte Jericho genauso sparsam.
»Wo sitzt sie?«
»Hüfte – irgendwo tief drin.«
»Wie lange schon, Mensch?«
»Vier Tage.«
»Und der lebt noch?«
»Ja, aber gerade so.«
»Wozu brauchst du mich, he? Du hast von Maple, diesem lausigen Sanitätssergeanten, genug gelernt – mach es selbst!«
»Kann ich nicht«, grimmte Jericho. »Ist zu gefährlich für den Mann. Das kann nur einer, der die richtigen Hände und reichlich Erfahrung hat.«
»Paaah!«
»Komm schon«, murmelte Jericho. »Du schaffst es, Doc, wenn du willst.«
Dr. Sheppard stemmte sich auf und blieb sitzen. »Ist mir schlecht, gerechter Gott! Mir wird zwei Tage schlecht sein, weißt du das?«
»Wenn du die Kugel heraus hast, kannst du dich dem Gefühl ganz hingeben, Doc, niemand wird dich dann noch stören.«
»Oh, mein Gott, wie soll ich aufstehen können?«
»Ich helfe dir schon.«
Er stützte Sheppard. Der sank über den Tisch und stöhnte von dort aus weiter: »Haymes, du Riesenrindvieh, wo bleibt mein Kaffee? Eine Kanne voll und stark, dass der Löffel steht, bloß keinen Zucker – schwarz und ohne was, verstanden?«
»Ja, Doc, ich bin schon weg.«
»Jericho, du Galgenstrick, wo ist der Verwundete?«
»In meinem Wagen, Doc, ich hole ihn mit Adams Hilfe herein.«
»Kennst du den Mann?«
»Nein«, log Jericho. »Er heißt Miller, Mikel Miller.«
Damit ging er schon hinaus und hatte nur den einen Gedanken: Wenn der Doc ihm bloß nie begegnet ist. Der Doc kennt ganz Arizona …
*
Sie legten ihn sacht auf die Tischplatte, den angeblichen Miller. Der Doc hatte sich am Stuhl neben dem Tisch gehalten und starrte jetzt Mikel mit gefurchten Brauen an. Dann hob er langsam den Kopf, sein Blick wanderte zu David Jericho.
»So«, sagte Sheppard gepresst. »Dann wollen wir mal deinen Mister Miller ansehen. Wo bin ich dem bloß schon mal begegnet, wo denn nur?«
»Wahrscheinlich oben bei Flagstaff – er arbeitet dort auf einer Ranch, Doc.«
»Richtig«, murmelte Sheppard. »Dort ist es gewesen – und wie heißt sein Rancher? Kann mich doch verdammt an den Namen nicht erinnern, Jericho, du Galgenstrick!«
»Benton – Charles Benton«, log Jericho und wusste, dass der Doc Shannon erkannt hatte. »Du weißt doch – der mit der mexikanischen Frau – die kennt doch jeder, oder?«
»Sicher, sicher, natürlich«, nickte Sheppard. »Diese hübsche Mexikanerin. Hieß sie nicht Rosita?«
»Nicht Rosita – Marguerita, Doc.«
»Teufel, Teufel, was man doch alles vergisst«, sagte der Doc und blickte nun Inez an. »Und wie heißt dieses hübsche Mädchen, Jericho?«
»Inez Ramirez«, erwiderte Jericho. »Sie macht sich große Sorgen um Mikel, sie kennt ihn schon länger und möchte ihn gern eines Tages heiraten.«
Der Doc erstarrte buchstäblich. Dann blickte er auf den reglosen Shannon hinab.
»So ist das«, sagte er gepresst. »Sie will diesen …, alle Wetter!«
»Ja, Doc, verstehst du jetzt, warum ich dich munter machen musste?«
»Mensch«, knurrte Sheppard. »Mensch, du bist doch – und du hilfst …, das ist doch …, nun gut, nun gut, ich verstehe schon. Die Liebe ist was sehr Schönes, Junge. Ich habe auch mal sehr …, ja, ja. Sie will ihn wirklich?«
»Si, Señor Doctor«, lispelte Inez und griff nach Sheppards Hand. »Bitte – por favor, Señor Doctor, retten Sie ihn, bitte!«
Der alte Doc, den sie heimlich den Säuferdoc nannten, sah dem Mädchen in die dunklen Augen und las die Angst in ihnen.
»Schön«, sagte er in ihrer Sprache, die er gut beherrschte. »Du bist sehr schöne, kleine Señorita. Du liebst diesen Mann sehr?«
»Si«, flüsterte Inez. Die Tränen traten ihr in die Augen und verwandelten sie für Sekunden in zwei leuchtende Sterne.
»Sehr, Señor Doctor, sehr – mehr als mein Leben.«
Der Doc nahm ihr schmales, rassiges Gesicht in beide Hände.
»Das hat sie auch einmal gesagt«, murmelte er wie geistesabwesend. »Sie war so jung und schön wie du, mein Kind, sie war viel jünger als ich, aber …, ja, mein Kind, ich werde alles tun, damit er dir bleibt. Willst du bleiben oder lieber gehen?«
»Bleiben, Señor Doctor, ich bleibe bei ihm.«
Er sah nicht auf, der alte Mann mit dem Kugelbauch, er nahm die Hände herab und wandte sich um.
Seine Frau, dachte Jericho, er hat von seiner Frau Elizabeth gesprochen. Ich habe sie nur einmal gesehen, aber ich habe diese Frau nie vergessen. Sie war so jung und schön. Und er trug sie, erzählte mir Vater damals, buchstäblich auf Händen. Da oben auf dem Hügel liegt sie nun mit ihrer Tochter Judy, die ganze sechs Jahre alt wurde. Seine Tochter wäre ja heute noch ein Kind. Man sagt, Elizabeth Sheppard hätte so lange geschossen, bis sie von einer Apachenkugel getroffen wurde. Aber sie soll noch die Kraft gehabt haben, ihre Tochter zu erschießen, die von den Apachen sicher mitgeschleppt oder getötet worden wäre.
Der Doc straffte sich, richtete sich hoch auf und sah dann Jericho an.
»Wir reden noch«, sagte er ganz ruhig. »Du hilfst mir, verstanden?«
»Sicher«, murmelte Jericho. »Retten musst du ihn, Doc.«
»Ja«, kam knapp die Antwort. »Fangen wir an.«
Er schafft es, dachte Jericho, er braucht nur an seine Frau zu denken, dann schafft er es. Shannon, du wirst leben!
*
Sie schwiegen beide und dachten an den Mann, der nur zwei Türen weiter schlief und die Kugel nicht mehr im Leib hatte: ein Stück Blei, leicht deformiert und dunkel glänzend, das Inez Ramirez nun besaß und aufheben wollte.
Leben, dachte Jericho, jemand das Leben retten, das muss ein gutes Gefühl sein. Shannon wird leben und in ein paar Stunden aufwachen, sagt der Doc. Dieses Kraut, das der Doc ihm eingeflößt hat – Apachenkraut, sagt er – es soll verdammt schnell das Fieber verjagen. Inez sitzt bei ihm, hält seine Hand, kühlt ihm die Stirn. Und ich habe dem Doc die ganze Geschichte erzählt. An die denkt er jetzt bestimmt, oder?
Der Doc griff nach der Kanne, goss sich den Becher voll Kaffee und trank schlürfend.
»Wenn das herauskommt«, sagte Sheppard brummig. »Mensch, sie nehmen dir den Orden ab und lochen dich ein, bist du dir darüber klar? Du wanderst ins Jail von Prescott, Junge. Und dort bleibst du.«
»Unsinn«, murmelte Jericho. »Sie werden den Steckbrief außer Vollzug setzen, wie man das nennt. Ich weiß nicht, wann das sein wird – morgen oder in drei Monaten, aber es kommt so, du wirst sehen, Doc. Das tun sie zuerst, ehe sie sich dem Richter John Aldrich beschäftigen. Das wird ein bisschen länger dauern, vielleicht ein halbes Jahr, aber dann ist er kein Richter mehr, wetten?«
»Daran glaubst du wirklich?«, staunte der Doc und paffte dicke Wolken in die Luft. Er rauchte seine Zigarre, die zweite schon, nachdem er die Kugel heraus hatte. »Du und dein Kinderglaube an das Gesetz, Junge. Die tun sich alle nicht weh – keiner wird dem anderen ein Auge aushacken. Richter sind Richter …«
»Und Gesetz bleibt Gesetz«, sagte Jericho stur. »Aldrich hat das Gesetz gebrochen.«
»Junge, Junge, wie viele Gesetze sind denn schon gebrochen worden und nichts ist danach passiert, nichts!«
»Hier passiert etwas, das wirst du sehen, Doc.«
»Dein Wort in Gottes Ohr«, knurrte Sheppard. »Und dieser Don Carlos, was wird der tun?«
»Suchen«, antwortete Jericho. »Ganz sicher suchen. Für den Halunken geht es um etwas mehr als nur darum, eine Heirat zwischen seiner angeblichen Nichte und einem Gringo zu verhindern. Fragt sich nur, ob der Lump sie findet.«
»Kann er das?«
»Ich weiß nicht«, gab Jericho zurück. »Kann sein, dass er die Spuren verloren hat.«
»Und wenn nicht, he?«
»Vielleicht sollte ich mit dem Colt in der Hand schlafen«, grübelte Jericho laut. »Es könnte sein, der Kerl wagt sich mit seinen Halunken sogar in eine amerikanische Stadt.«
»Ein Bravado«, brummte der Doc. »Ich verstehe nicht, warum sie den Kerl nicht schon längst gefasst haben. Ich weiß, sie hätten ihn beinahe gehabt, aber der Lump entwischte unverletzt. Konnte ihn denn keine Kugel treffen, he? Dann wäre es mit der ganzen Horde doch wohl aus gewesen, oder?«
»Sicher, er ist der Kopf. Ohne ihn sind die anderen nicht mehr viel wert«, stimme Jericho zu. »Manchmal hat so ein Halunke eine derartige Menge Glück, dass man geradezu auf die Idee kommen könnte, er hätte einen Pakt mit dem Teufel geschlossen. Inez hat mir erzählt, dass man das in Mexiko von ihm sagt.«
»Wenn er tot wäre – ist noch jemand da, der dann Inez irgendetwas zu sagen hätte?«
»Niemand«, erwiderte Jericho. »Sie würde für volljährig erklärt. Beinahe wünschte ich mir, der Kerl liefe mir über den Weg.«
»Du würdest ihn glatt …«
»Manchmal muss man etwas tun«, grinste Jericho und gähnte. »Prächtiger Mondschein draußen, Doc.«
Der Doc stand auf und trat an das Fenster. Das Mondlicht beschien auch den Hügel mit dem Doppelgrab. Der Alte sagte leise: »Sie verließ mich viel zu schnell, aber wenn ich sie wiedersehe …, ob ich sie wiedersehe, Junge?«
»Ja«, sagte Jericho genauso leise. »Ich bin sicher – tot ist nicht tot. Da muss irgendwo mehr sein, Doc.«
»Das wäre schön«, flüsterte der Alte. »Wenn wir ausrückten und manchmal wochenlang unterwegs waren, dann dachte ich den ganzen Tag und manchmal auch die halbe Nacht an sie. Und wenn ich dann ins Fort zurückkam, fragte sie mich, ob ich an dem und dem Abend dieses oder jenes gedacht hätte. Wir waren so weit voneinander entfernt – und wir dachten dasselbe, stell dir das vor!«
»Ja«, sagte Jericho. »Ich stelle mir das vor, Doc. Vielleicht denkt meine Miss Lehrerin jetzt auch an mich? Ich dachte gerade an sie, während du geredet hast.«
»Deine Miss Lehrerin«, murmelte der Doc. »Verflixt schönes Weib, muss ich schon sagen. Warum nimmst du sie nicht einfach?«
»Du lieber Himmel«, seufzte Jericho. »Es ist ziemlich kompliziert, Doc.«
»Blödsinn – nichts ist kompliziert!«, knurrte der Alte und wandte sich um. »Eine Frau und ein Mann – was ist daran kompliziert? Du kommst dir ihr gegenüber zu ungebildet vor – das ist es. Du hast Komplexe, Mensch, ausgerechnet du?«
»Vielleicht habe ich die wirklich«, grübelte Jericho. »Doc, lass uns schlafen gehen – der Tag war hart genug.«
»Für dich doch wohl nicht, du Verbrecher«, fuhr ihn der Doc barsch an. »Dich hat doch keiner vergiftet, oder? Der bloße Gedanke an Whisky jagt mir die Übelkeit in den Bauch. Mensch, ich könnte jetzt nicht mal an dem Zeug riechen, ob du es glaubst oder nicht. Schlafen gehen – jetzt schon? Ich werde in meine Hütte traben und dort mal ein bisschen Ordnung machen. Und dann komme ich wieder her und lege mich unten auf die Bank, damit ich da bin, wenn man mich brauchen sollte. Gräulicher Gedanke, dass ich zwischen all den Flaschen in meiner Hundehütte schlafen sollte, pfui Teufel! Mach dir um Shannon keine Sorgen, der wacht spätestens nach Mitternacht auf. Er wird zwar schwach sein, aber er wird kein Fieber mehr haben – oder nur ein bisschen. Wird sich die Kleine freuen!«
»Sicher«, nickte Jericho. »Verplappere dich bloß nie – er heißt schlicht und einfach Miller, Doc.«
»Schöner Name«, grinste der Doc und paffte wahre Riesenwolken gegen die Decke.
Er ging kichernd zur Tür, blickte an sich herunter und schüttelte sich, als gefiele er sich selbst nicht.
»Irgendwo in dem Wirrwarr meiner Hundehütte«, sagte er, »muss ich doch noch eine Kleiderbürste haben. Mal sehen, ob ich nicht anständig aussehen kann – und den Bart könnte ich mir auch mal beschneiden. Und dann werde ich noch meinen alten Army-Colt suchen – falls dieser ehrenwerte Hundesohn Don Carlos erscheinen sollte, verstehst du?«
»Vorsätze hast du ja«, sagte Jericho trocken.
Der Doc starrte ihn seltsam an.
»Ja«, meinte er nachdenklich. »Vorsätze sind gut, sie auch durchzuführen, ist noch besser. Lass dich mal überraschen, Junge. Du kennst mich noch lange nicht.«
Er knallte die Tür ins Schloss und pfiff, als er die Treppe nach unten ging, die Melodie von »Oh, my Darling Clementine« vor sich hin.
Ich lasse mich überraschen, dachte Jericho, mal sehen, ob er morgen nicht schon wieder an einer Flasche nuckelt.
David Jericho grinste.
Er sollte überrascht werden, nur ganz anders, als er es sich gedacht hatte …
*
Sie schrie und riss sich los, wich vor ihm zurück, seine Miss Lehrerin. Sie schrie und wollte ihn, weil er auf sie zukam, zurückstoßen.
»Ireen«, sagte Jericho, der wirklich geglaubt hatte, dass es doch keine Probleme gab. »Aber Ireen!«
Sie schrie – und David Jericho, Undertaker, Sargmacher, Posaunenkünstler und Townmarshal von Jerome in Arizona, Jericho riss erschrocken die Augen auf. Dann fuhr er hoch und sah das Fenster, durch das die Sonne in das Zimmer schien. Er saß in diesem alten Bett, das irgendwo knarrte, glotzte das Fenster an und wunderte sich über den Sonnenstand. Dann begriff Jericho, dass er geträumt und Ireen noch gar keine Ahnung von der Tatsache hatte, dass es zwischen einem Mann und einer Frau keine Probleme gab, wenn sie sich nur einig waren.
Dennoch schrie sie. Sie schrie hell und durchdringend – und die Schreie kamen beinahe von nebenan.
Es war Inez, die dort schrie, das wusste Jericho sofort. Sie schrie, weil Mikel Shannon etwas passiert war, auch das wusste Jericho. Es gab gar keine andere Möglichkeit für David Jericho Graves. Inez schrie, denn Mikel war nicht durch das Apachenkraut gesund geworden. Mikel war tot – und dieses Mädchen, das ihn wie wahnsinnig liebte, drehte nun durch!
Jericho flog von dem Bett, auf dem er vollständig angekleidet irgendwann eingeschlafen war. Der Mond hatte auf das Bett geschienen und Jericho nicht schlafen lassen. Er war aufgestanden, nach unten gegangen, hatte noch mit dem Doc geredet und nach Mikel gesehen, der auch nach Mitternacht noch nicht erwacht war. Die Apachenmedizin hatte wohl nicht geholfen, sondern das Gegenteil von Gesundung bewirkt – Mikel war tot.
Das war es, was er dachte, als er die Tür ausriss und in den Flur springen wollte. Rechts war das Zimmer, in dem Mikel schlief, links war die Treppe nach unten.
Ehe Jericho auch nur begriff, was mit ihm passierte, schoss er bereits nach links und flog mit so unwahrscheinlicher Geschwindigkeit der Treppe entgegen, dass er nicht mal dazu kam, seinen linken Arm an den Körper zu nehmen. Der Steintopf mit der spitzblättrigen Agave stand auf einer Holzsäule neben dem Geländerpfosten. Jericho sauste mit dem linken Arm gegen den Steintopf und dann mit dem Rücken gegen den Geländerpfosten.
Einen Augenblick, der Jericho winzig erschien, sah er die Tür seines Zimmers ins Schloss fliegen. Er sah, dass sie zuknallte. Den Knall hörte er aber nicht mehr, weil er schon über den Pfosten hinwegsegelte und jenem verfluchten Agaventopf nachkippte. Es war ein glatter Überschlag rückwärts, sozusagen ein Salto in wahrster Vollendung. Nur gab es unter Jericho keinen Flur mit einem billigen Kokosläufer mehr. Unter Jericho lag die Treppe, deren Stufen in die Unendlichkeit zu führen schienen.
David Jericho sah die Treppe plötzlich vor sich und hatte nur noch etwas wahrgenommen, bevor er den Salto probierte: hinter seiner ins Schloss fliegenden Tür hatte jemand gestanden. Der Jemand trug einen Hut, den in diesem Land kein Mensch aufsetzte. Er hatte auch keinen Holsterriemen, sondern dafür zwei kreuzweise über die Brust laufende Patronengurte. Der Jemand hatte die Figur eines aus dem Urwald entsprungenen Menschaffen und auch beinahe dessen Gesicht.
Irgendwie schaffte Jericho es gerade noch, sich mit beiden Händen von irgendeiner Treppenstufe abzustoßen, ehe er mit dem Schädel auf sie donnerte. Es gelang ihm tatsächlich, sich noch wie durch ein Wunder in die Bauchlage zu bringen. So schoss er nun die Stufen hinunter.
Danach explodierte die Treppe vor Jericho. Jemand hatte eine Sprengpatrone geworfen, von deren Detonationsblitz er in die Höhe geschleudert wurde. Das Letzte, was David Jericho, Undertaker und Sargmacher, vorläufig hörte, war der brüllende Knall der Detonation. Der Knall begleitete ihn beim Sturz in ein schwarzes Loch.
Der Mann, der unten im Saloon auf der Bank lag und vor sich jemand stehen hatte, der ihm die Gewehrmündung in den Kugelbauch bohrte, sah durch die aufstehende Tür die untersten neun Stufen der Treppe.
Der Doc hörte das wüste Gepolter jetzt lauter als die helle, durchdringende Stimme des Mädchens. Dann erschien David Jericho, der Giftmischer, der dem Doc jegliche Sucht nach Fusel ausgetrieben hatte. David Jericho sauste die Stufen hinunter, prallte unten auf und drehte sich. Er sauste noch bis an das Türfutter. Dort blieb er liegen und rührte sich nicht mehr. Er war nicht mal dazu gekommen, seinen Revolver aus dem Hosenbund zu ziehen …
*
Das Mädchen schrie jetzt nicht mehr, weil man ihm ein schmutziges Tuch in den Mund gezwängt und es danach an die beiden Haken in der Wand jener Kammer gebunden hatte, in der Bloomefields Bäckereimehl lagerte.
Bei Tagesanbruch hatten die beiden Bravados plötzlich die Tür aufgerissen und sie sofort gepackt. Dabei war dann zuerst das Kleid zerrissen. Danach hatte sie vor Zorn und Hilflosigkeit geweint. Der Fußboden des Zimmers war staubig gewesen, und der Staub war während ihres vergeblichen Kampfes gegen zwei Männer aufgewirbelt worden. Er klebte jetzt wieder auf ihrer Haut, und die Tränen hatten Furchen in ihn gegraben. Der mit Perlen besetzte Schildpattkamm, mit dem sie ihr Haar hochgesteckt hatte, damit Shannon sie nach dem Erwachen so sehen konnte, wie er ihr auf der Fiesta begegnet war, war zerbrochen. Das Haar hatte sich aufgelöst, die kunstvolle Hochsteckfrisur war dahin. Nur etwas war geblieben: Inez’ Zorn, der langsam zum Hass anstieg.
Ich bringe ihn um, dachte sie voller Hass, als sie wieder einmal vergebens die Fesseln zu zerreißen versuchte, ich bringe ihn um, wenn ich nur eine Gelegenheit bekomme. Er ist ein Teufel, dieser schurkische Vetter meines Vaters, der sich Don Carlos nennt. Zorastrón – Canalla – Cochino!
Mehr Schimpfnamen fielen ihr für Don Carlos nicht ein. Sie blieb mit gesenktem Kopf an der kahlen Wand sitzen, starrte vor sich nieder und dachte an das höhnische Gelächter von Don Carlos – an Rual Sastres gemeines, viehisches Grinsen, als der Schurke die Macheta gehoben und sie über dem hilflos im Bett liegenden Shannon geschwungen hatte.
»Nicht doch, Rual, mein Freund«, hatte Carlos gelacht. »Halt, Amigo, halt! Warte, mein Freund, denke erst nach, ehe du ihn umbringst, den Hund von Gringo. Du kannst ihn nur einmal umbringen. Tot ist tot, verstehst du? Zudem weiß er nicht mal, dass wir ihn doch gefunden haben, den schlauen Teufel, diesen Hund, der es gewagt hat, mein Mündel zu entführen – deine Braut, Rual, versteh doch! Na, wer wird ihn denn totmachen, wenn er nichts davon merken kann? Du bist doch kein Dummkopf, Rual, du wirst ihm doch etwas Freude an seinem Sterben gönnen wollen, oder?«
Rual hatte Don Carlos verstört angestarrt, die Macheta zaudernd sinken lassen.
»Etwas Freude – wie meinst du das, mein General?«
»Wie ich das meine, eh? Lass ihn leben, gut ausschlafen, angenehme Träume haben, bis er erwacht und die Wirklichkeit begreift, Amigo. Und dann lassen wir ihn zu Kräften kommen, damit er schreien kann, wenn wir uns mit ihm beschäftigen. Und die da – die darf zusehen, damit ihr in Zukunft die Lust vergeht, sich jemals wieder nicht meinem Willen zu beugen. Du wirst zusehen, wie er stirbt, Chiquita mia, verstanden? Was hast du mit ihm getrieben, du Hure, was habt ihr gemacht, he? Wo ist deine Unschuld, du Dirne, du schmutzige?«
»Die hat er mir nicht genommen«, hatte Inez geschrien, nachdem sie das Entsetzen über Carlos’ viehische Gemeinheit überwunden hatte. »Er hat gesagt, er würde mich nicht anfassen, bis wir Mann und Frau wären, damit du es weißt, du Teufel aller Teufel!«
»Was bin ich, was?«
Carlos tobte und schlug sie. Und dann, als sie schrie, hatte er sie binden und knebeln lassen.
Umbringen, dachte Inez, ich werde ihn töten, sobald ich kann. Mein Gott, er ist ein Satan, er hat kaltblütig gewartet, bis es hell wurde, obgleich er gleich in die Stadt hätte eindringen können. Bei Tagesanbruch hat er sich die ersten Leute aus Wagon Creek gegriffen, ihre Kinder genommen und ihnen gedroht, er würde sie umbringen, wenn sie ihm nicht alles über den Verwundeten erzählten. So hat der Lump alles erfahren und sich mit ein paar seiner Bravados hergeschlichen. Jetzt hat er alle Kinder hier in einen Raum gesperrt, er hat Jericho und den Doctor, er hat die ganze Stadt in seine Gewalt gebracht. Den Leuten hat dieser Teufel erzählt, er würde ihnen kein Haar krümmen, wenn sie täten, was er anordne. Er verließe Wagon Creek wieder, sobald der Verwundete transportfähig wäre.
Einen Augenblick wurde Inez schlecht vor Angst. Die Leute hier kannten Carlos noch nicht, hatten keine Ahnung von seiner bösartigen Grausamkeit, seiner viehischen Gemeinheit, dieser Verschlagenheit. Irgendetwas brütet sein teuflisches Gehirn sicherlich aus – hat es vielleicht längst ausgebrütet. Die armen Leute, der arme Doctor, an dem er bestimmt seine Wut auslassen wird, weil der Mikel die Kugel herausgeholt hat. Man hilft keinem Feind von Don Carlos, oder man ist auch sein Feind …
Inez hob den Kopf, lauschte, glaubte durch zwei Türen und den Gang, der zu dieser Mehlkammer führte, die wütende, laute Stimme von Carlos zu hören. Jetzt vernahm sie es deutlich. Don Carlos tobte.
*
Das bärtige Gesicht vor Alexander George Sheppard verzerrte sich, wurde zur Fratze. Der Mund öffnete sich, sodass Bart und Lippen zuckten. Und dann brüllte der stiernackige, schwergebaute Don Carlos los, dass die Fensterscheiben klirrten: »Was hast du gesagt, du Hund, was bin ich, was darf ich nicht tun?«
Gleich, dachte der Doc, gleich habe ich dich so weit, du Satan.
»Wiederhole es!«, brüllte Carlos Ramirez ihn an. »Los, sage es, – was darf ich nicht, was bin ich?«
Der Doc sah ihn an und grinste dünn.
»Du darfst dich nicht an Kindern vergreifen – nicht in diesem Land«, erwiderte Doc Alex Sheppard. »Wer das hier macht, ist in unseren Augen ein Schweinehund, den verfolgt man, bis man ihn hat, und hängt ihn dann auf, verstehst du, Hombre?«
»Was bin ich?«, tobte er. »Das wagst du – das sagst du mir ins Gesicht, du …, du Säufer-Doctor, du verkommenes Stück Dreck, du stinkendes? Ich bin ein Schweinehund, hast du gesagt, ich bin ein Schweinehund, ja?«
»Du bist einer«, antwortete Alec Sheppard ganz gemütlich und grinste Don Carlos dabei so frech ins Gesicht, dass der Dreckskerl einfach etwas tun musste. »Du bist sogar der größte Schweinehund, der mir jemals begegnet ist, wenn du schon die ganze Wahrheit hören willst.«
Er schrie nicht, dieser selbsternannte General und Don, er schnappte nur nach Luft.
»So«, zischte er, indem er die schweren Lider zusammenkniff und den Doc aus funkelnden und jäh klein gewordenen schwarzen Augen anstarrte. »Du nennst mich einen Schweinehund – du mich? Du denkst, du bist der Doctor – einem Doctor tut man nichts, weil man ihn vielleicht noch braucht – denkst du – ja? Pepe – Felipe!«
Jetzt schrie er doch, brüllte die beiden Männer an, die links und rechts neben dem Doc und der Bank standen, auf der Alec Sheppard hockte. Der eine Kerl blockierte die Tür zum Flur des Hotels, der andere, Pepe, hatte am Tresen gelehnt. Sie kamen jetzt, sahen den Wink von Don Carlos, der sie zu Doc Sheppard jagte.
»Dein Gewehr, Pepe!«, fauchte Don Carlos. »Wirf es mir zu! Und dann stellt ihn hin – haltet ihn fest, verstanden?«
Sie sagten nichts, sie glotzten den Doc nur hähmisch an. Dann flog Pepes Winchester durch die Luft und wurde von Don Caros aufgefangen. Es war die gleiche Winchester, die der Beifahrer der Stagecoach von Ajo nach Lukeville einmal neben sich gehabt hatte, ehe er nach Pepes Schuss vom Bock gefallen war. Danach hatte der Fahrer nie mehr ein Gewehr gebraucht.
»Doc«, sagte jemand drüben an der Wand, wohin man ihn, nachdem man seinen Revolver entdeckt hatte, an den Beinen geschleift und liegen gelassen hatte, bis er dort aufwachte und in seinem armen Kopf ein ganzes Posaunenorchester spielen gehört hatte. »Doc, du musst verrückt sein. Das bezahlst du jetzt, Mann. Er wird dir …«
»Du!«, fauchte Don Carlos und fuhr herum, das Gewehr jäh schwenkend, die Mündung auf Jericho richtend.
»Du still Maul gehalten, verstanden? Du nicht reden – du still, oder du tot!«
»Er ist ein alter Mann«, sagte Jericho ganz ruhig. »Don Carlos, er ist ein alter Mann, der ein bisschen verrückt im Kopf geworden ist. Er ist nicht ganz normal, Don Carlos, das sieht man schon daran, dass er in dieser Stadt geblieben ist – nur wegen der beiden Gräber dort oben, obgleich er Doctor ist und woanders viel besser hätte leben können. Er weiß nicht, was er sagt – zu wem er es sagt, Don Carlos – mi General!«
Don Carlos, der General von eigenen Gnaden, sperrte die Augen und den Mund auf.
»Por Dios!«, stieß er dann halb erstaunt und verärgert hervor. »Du, der Enterrador – der Totengräber, du sprichst ja noch besser meine Sprache als dieser Hund. Seht ihn euch an, sieh hin, Rual! Der ist die ganze Zeit still, sitzt da, als wäre er stumm – und nun redet er – er spricht unsere Sprache wie einer von uns. Por Dios, du glaubst, der Doctor ist ein bisschen verrückt?«
»Si«, nickte Jericho. »Nicht nur ein bisschen – er ist verrückt – richtig verrückt im Kopf, Don Carlos, mi General! Wer würde es sonst wagen, Su Excelencia, Euer Exzellenz, zu beleidigen – nur ein Idiot, ein Verrückter!«
Don Carlos, dieser Klotz von Mann, wandte sich um und starrte seine Bravados an.
»Habt ihr gehört?«, fauchte er. »Das ist ein Gringo, nur ein verdammter Gringo, aber er weiß besser als ihr Tölpel, was sich gehört, wenn man mit mir spricht. Nehmt euch ein Beispiel an ihm, ihr ungebildeten Kerle. Su Excelencia – si, si, das bin ich, so habt ihr mich in Zukunft anzureden, verstanden? Du – Enterrador, wo hast du die Höflichkeit gelernt? In diesem Land redet man von uns wie von Schmeißfliegen, aber nicht so höflich, wie du es getan hast.«
»Ich habe lange mit einem Mexikaner und dessen Freunden gelebt, der ein Grande war, dessen Vorfahren stolz auf ihre Herkunft waren und reines Blut bewahrten.«
»Ah, ein Castiliano – war er ein Castiliano?«
»Ja«, sagte Jericho und log wie gedruckt. »Er kam aus Kastilien, aus einer der vornehmsten Familien. Er war so vornehm, dass er sogar seinen Gegner um Verzeihung dafür bat, dass er ihn umbringen müsste – ein echter Caballero, mi General, Su Excelencia.«
Reden, dachte Jericho verzweifelt, jetzt hilft nur noch reden, damit ich den Kerl ablenke, sonst bringt er den Doc noch um.
Du großer Gott, welcher Teufel hat den Doc denn geritten?
Der stiernackige, schwergewichtige Bravadoboss hatte die Augen geschlossen, schien in sich hineinzuhorchen.
»Si«, sagte er dann düster. »Ein Caballero mit kastilianischem Blut in den Adern lebt und stirbt als Edelmann. Man stirbt aufrecht und stolz – und wie stirbst du, Hund von Säufer-Doctor – he – wie stirbst du?«
Er fuhr jäh herum und schrie plötzlich los, dieser unberechenbare Teufel.
»Pepe – Felipe, packt ihn!«
»Su Excelencia«, meldete sich Jericho hastig. »Euer Gnaden, mi General, hören Sie …«
»Du halten der Maul, Leichenbestatter!«, schrie der Don ihn an. »Du still oder tot. Der Hund – er sagen Schweinehund – Canalla – er sagt zu Don Carlos Canalla! Stellt ihn hin!«
Er schrie es in Amerikanisch und Spanisch, in einem furchterregenden Kauderwelsch und mit solcher Wut, dass Jericho eins begriff: der Halunke war durch nichts aufzuhalten. Mischte sich Jericho noch einmal ein, würde ihn dieser Kerl zum Schweigen bringen, diesmal vielleicht für länger.
Sie packten Alec Sheppard, rissen ihn von der Bank hoch, hielten ihn rechts und links, diesen alten Mann, von dem sie wussten, dass er wie schreckerstarrt und gelähmt bei ihr ein Auftauchen auf der Bank gehockt hatte. Hochgefahren war er noch. Dann hatten sie ihm einen Stoß gegeben, dass er hintenübergekippt und wieder auf der Bank gelandet war, wobei Rual gehöhnt hatte: »Du – Säufer, du einmal Maul aufmachen, dann … krchzzz!«
Rual hatte sich mit dem Zeigefinger quer über den Hals gefahren, das hatte genügt für den alten Doc.
Jetzt stand er, sah in die dunklen Augen von Don Carlos, sah die geröteten Augapfel, diesen seltsamen Perlmuttschimmer, der die Iris zu bedecken schien und wusste, welche Krankheit dieser Mann seit Jahren im Leib haben musste. Die fraß ihn auf, hatte ihn zum Satan gemacht. Der Teufel mochte wissen, wo sich der Halunke angesteckt hatte, während der Krieg drüben in Mexiko getobt hatte.
»Schweinehund – du nennst mich einen Schweinehund?«
Das Gewehr, dachte der Doc und sah die Waffe in den klobigen Händen von Don Carlos nach hinten wandern, den Lauf in der Waage stehen, der knallt mir das Gewehr …
Er spannte die Muskeln seines Kugelbauches an, obgleich er wusste, dass es nicht viel helfen würde.
Liz, dachte Alec Sheppard, Liz, sieh weg, sieh nicht zu, denn ich werde nicht sehr schön schreien und mich krümmen wie ein Wurm, ich werde … Liz, sieh fort!
Der Gedanke an seine Frau war das letzte, was er dachte, bevor die Waffe nach vorn zuckte. Und dann hatte er den Lauf im Leib, dachte, die Mündung würde am Rückgrat wieder herauskommen. Seine Luft war wie abgeschnitten, in seinem Bauch war etwas explodiert.
»Aghhh!«
Der einzige Ton verstummte, den der Alte noch fertig brachte. Er knickte ein, er war auch nicht gerade leicht, stürzte auf die Knie, wollte vornüberfallen, aber irgendwoher sagte jemand: »Fall nach hinten, Alec, nach hinten!«
Die Stimme kam ihm bekannt vor. Sie gehörte Captain Charlie Young, den die Apachen umgebracht hatten. Charlie war ein Held gewesen und zu den anderen in den Heldenhimmel gekommen. Und nun sprach er zu ihm – war das verrückt!
Nach hinten, dachte Alec und kippte wirklich auf den Rücken.
Er krachte hin, stieß die Beine zuckend aus, röchelte, bekam kaum Luft. Und doch arbeitete seltsamerweise sein Gehirn ziemlich klar. Es befahl ihm, sich an die Wand und die Bank zu schieben, indem er seine schiefgelatschten Stiefelabsätze gegen die Dielen rammte.
»Och – öch – oaaghhh!«
Das Stöhnen war grausig anzuhören, es schien sogar die beiden Halunken rechts und links zu beeindrucken. Sie bückten sich nicht nach ihm, sie hatten ihn losgelassen und starrten auf ihn hinab. Dann sahen sie hoch, denn einer begann zu lachen, er hatte ein Pferdelachen, ein bösartiges Gewieher für den Mann am Boden, der sich wie ein Wurm krümmte.
»Hiiiach – hiaaach – hiaaach! Da hast du Schweinehund, da hast du, Sauf-Doctor. Tut dir gut, ja, si, si? Ist schön, nicht wahr, ist dir eine wahre Freude, stimmt es? Hiaaach hiaaach, wie er sich krümmt, der Wurm, der elende, wie er grunzt, dieses Schwein, dieses menschliche. Du vergisst Don Carlos nie, du nicht, wetten? Ah, das tut dir wohl in deinen Gedärmen, was? Dir werde ich zeigen, mich zu beleidigen, du Kröte, du fettbäuchige, hässliche!«
»Mein Kreuz«, lallte der alte Alec. »Mein Kreuz …, oach, mein Kreuz!«
»Das machst du jedes Mal krumm, wenn du mich in Zukunft siehst!«, brüllte Don Carlos. »Verbeugen wirst du dich, sobald ich komme, verstanden? Mit der Nase berührst du Hund den Boden, wenn ich mich nähere. Und dann grüßt du mich, hast du gehört? Su Excelencia wirst du mich grüßen – guten Morgen, Su Excelencia, mi General, verstanden? Das hast du zu sagen. Und wenn du verlauster Hund es nicht sagst, dann erlebst du die Hö… Hö…« Don Carlos riss die Augen entsetzt auf, er sagte nichts mehr, sondern starrte auf die Rechte des Säufer-Doctors, die der zuerst in den Rücken gedrückt hatte, die nun nach vorn kam, während sich der Alte mit der Linken abstemmte.
»Atencion! Vorsicht!«
Der Schrei kam von irgendwoher, jemand bewegte sich rasend schnell: Rual Sastre.
Rual sah die Rechte des Alten, sah den Revolver in ihr und begriff es im ersten Moment nicht, woher der Alte die Waffe haben sollte. Jemand musste ihn doch durchsucht haben – oder? Er, Rual, war mit Don Carlos und Juan, dem bulligen Bravado, nach oben geschlichen. Pepe und Felipe hatten draußen gesichert, danach den Alten bewacht und …, und was hatten sie getan? Ihn etwa nicht durchsucht, diesen Säuferdoctor?
»Atencion!«
»Schweinehund!«, zischte Alec Sheppard. »Schweinehund!«
Er sah das runde Gesicht mit dem Kinnbart zucken, in den Augen des Halunken Carlos die nackte Furcht. Dabei hatte der das Gewehr, hätte es schwenken und feuern können, aber er blieb wie gelähmt stehen, glotzte auf den Revolver, sah den Hammer hochwandern, den Daumen des Alten sich heben und …
Carlos ist der Kopf, dachte der Alte, den Kopf muss man zertreten. Wie bei einer Schlange, die tödlich giftig ist.
Rumms!
Das Brüllen war da und zerriss seine Gedanken. Der Schlag traf Alec Sheppard von halblinks in den Leib und wurde zu einem fürchterlichen Schmerz, der ihn zerreißen wollte. Er wusste, wo ihn die Kugel getroffen hatte, er konnte den Colt nicht mehr in die richtige Höhe bringen, sein Arm schwenkte, der Lauf des Revolvers senkte sich.
»Schieß, Doc, schieß!«
Es war wieder Charlie Youngs Stimme, der er gehorchte. Er sah das Untier Carlos verschwimmen und drückte doch noch ab, schoss nur den Bruchteil einer Sekunde zu spät.
»Uaaah!«
Den tierischen Aufschrei des Schweinehundes hörte er noch, ehe das nächste Brüllen in seinen Ohren hallte.
Er sah den klobigen Schatten umfallen, als der dritte Knall kam und die Kugel ihm in die Brust fuhr.
»Schieß, Doc, schieß!«
Geht …, geht nicht mehr, Charlie, dachte der alte Doc, ich kann nicht mehr, ich kann …
Rumms!
Der vierte Knall ließ den Alten zuckend auf die Seite kippen. Den hörte er noch, ehe das Singen begann und die Schwärze, die vielleicht eine halbe Sekunde vorher wie eine Wolke über ihn gekommen war, sich wieder lichtete.
Dass sie schrien, fluchten, durcheinanderriefen, hörte er nicht mehr, der alte Alec. Er sah ein schönes Bild – eine Wiese mit vielen gelben Blumen, über der das Mondlicht lag und die Tautropfen überall wie kleine Perlen funkeln ließ. Dort, wo der Dunst aufstieg wie lichter Nebel, dort war sie, das wusste er und blickte hinüber. Und dann kam sie, das Haar so blond, die Augen so blau und das schöne weiße Kleid an, das er ihr in Tucson gekauft hatte.
Ich komme schon, Liz, dachte Alec Sheppard und lief ihr entgegen, sah sie die Arme heben und ihr schönes, sanftes Gesicht in einem Lächeln erblühen, Liz, ich komme, ich komme!
Der tote Doc Alec Sheppard, den sie in Wagon Creek Säufer-Doc genannt hatten, er lächelte, während Don Carlos wie ein Tier brüllte und seinen durchlöcherten Oberschenkel umklammerte.
»Demonio – Teufel! Der Hund, das Schwein, das dreckige, elende Schwein, bringt es um, bringt es um!«
»Er ist tot, Don Carlos«, stotterte Rual, aber der Teufel Carlos schien es nicht zu begreifen, sondern brüllte: »Gebt mir einen Revolver, gebt mir eine Waffe, damit ich den Schweinehund erschießen kann. Der lächelt noch, der lächelt, der Hund!«
»Er ist doch schon tot!«, sagte Rual verstört. »Mi General – er ist doch längst tot, verstehst du nicht?«
»Tot?«, gurgelte Carlos mit zuckenden Lippen und flackernden Augen.
»Tot, ja? Aber er lächelt, siehst du nicht, er lächelt doch, der Hund. Mach das Lächeln kaputt, mach es kaputt, Rual!«
»Si, mi General!«
Rual ging los – Jericho schloss die Augen und sah vorher noch, dass Haymes und Isaak B. Bloomefield leichenblass wurden. Dass Rual den Fuß hob, sah er nicht mehr.
Du Satan, dachte Jericho, du verfluchter Satan, dafür bezahlst du irgendwann.
»Raus mit ihm, raus!«, schrie Carlos gepresst, den nun die Schmerzen zu peinigen begannen. »Schafft ihn aus meinen Augen, den Hund. Ohhooo, mein Bein – ohhh!«
Jericho machte die Lider erst auf, nachdem das Getrappel der Sandalen der Bravados genauso verstummt war, wie jenes widerwärtige Schleifgeräusch.
Was denkt dieser Satan jetzt, grübelte Jericho.
Der Satan lag still und dachte an Villa Mendoza, dieses Drecknest in der Sierra, das er damals genommen hatte. Da war dieses Weib gewesen, schön wie die Sünde, glutäugig, schwarzhaarig, und er hatte es zu sich schaffen lassen. Er hatte gleich gesehen, das sie eine Gitana gewesen war, eine Zigeunerin aus Andalusien, eine echte mit dem Feuer und der Wildheit im kochenden Blut.
»Komm«, hatte er befohlen. »Komm, trink und tanz!«
Er war schon angetrunken gewesen, hatte ihr die Flasche hingehalten.
»Ich trinke nie, Señor.«
»Du trinkst und tanzt, oder … Da hatte sie gewusst, was ihr blühen würde, wenn sie nicht tat, was der große Don Carlos verlangte – der Herr über Leben und Tod in Villa Mendoza. Sie hatte getrunken und getanzt. Und dann hatte er sie zu sich gewinkt und ihr befohlen, den Rock auszuziehen, die Bluse abzustreifen.
»Los, ich will dich sehen wie du bist, wie deine Schenkel zittern, dein Becken zuckt, deine Brüste …«
»No, por favor. Señor – bitte, nicht, Señor!«
»Tue es, oder …«
Sie hatte es getan und war drei Wochen seine Geliebte geblieben, bis er eine andere gefunden hatte – jünger, bereitwilliger alles ausführend, was er verlangte. Und dann, ehe sie gegangen war, hatte sie seine Hand genommen, auf die Linien gestarrt.
»He, was soll das – das ist doch Unsinn, du Närrin! He, was liest du denn, na?«
»Du wirst nicht sehr alt, Carlos, du wirst sterben, ehe du das halbe Jahrhundert alt sein wirst.«
»So, du Bestie, werde ich das? Dann will ich bis dahin aber leben wie ein König, verstanden? Was fällt dir ein, mir so etwas zu sagen, du Lügnerin? Ich und keine fünfzig Jahre alt werden – hahaha!«
Gelacht hatte er, ihr einen Tritt gegeben, dass sie hingestürzt war.
»Du wirst sterben, Carlos, wie ich es gesagt habe. Die Handlinien lügen nicht.«
»Scher dich fort, Weib, geh zum Teufel mit deinem Unsinn! Vielleicht erzählen dir die Handlinien auch noch, wer mich umbringen wird, was? Hahahahaha!«
Draußen war gerade Sam vorbeigegangen, Sam, der Gringo, der den einen Krieg gerade hinter sich gehabt und in einen anderen im anderen Land gezogen war, weil er nichts anderes als töten gelernt hatte. Sam, der Gringo, war vorbeigegangen. Und Consuela, die schwarzhaarige Hexe mit den langen Beinen, hatte gekeucht: »Ein Gringo wird dich umbringen, Carlos! Weit, weit von hier – ein Gringo tötet dich!«
Wann immer er sich auf amerikanisches Gebiet gewagt hatte, der Satz war ihm nicht aus dem Kopf gegangen.
Verflucht, dachte Carlos, nun habe ich niemand, der sich richtig auf Wunden versteht.
Diablo, mein Bein, wer soll mich denn von diesen Tölpeln anständig verbinden? Momento – momentito, die Leute haben mir doch erzählt, dass dieser Leichenbestatter dem Säufer dabei geholfen hat.
»Du – Leichenbestatter – du!«
»Si«, sagte Jericho gelassen. »Si, Excelencia?«
»Du verstehst dich auf Wunden, hat man mir erzählt?«
»Ein bisschen, Su Excelencia, ein bisschen!«
»Komm her, sieh dir mein Bein an!«
»Si.«
Jericho erhob sich, dachte an Spanischen Pfeffer in einem frischen Schusskanal, der selbst den Oberteufel zum Geheul treiben würde, nur …, danach würde der Pfefferstreuer wie Alec Sheppard sterben.
»Du, wenn du mich quälst, bist du tot, verstehst du?«
»Ja«, sagte Jericho ganz sanft. »Ich werde ganz vorsichtig sein, Excelencia, mi General, aber dennoch könnte es etwas weh tun.«
»Du, ich warne dich – tut es sehr weh, bist du tot!«
»Ja«, sagte er, »ja, mi General.«
Jericho schlitzte das Hosenbein auf, nachdem er um ein scharfes Messer gebeten und es auch bekommen hatte. Nur hielt man ihm dabei das Gewehr in den Rücken. Er hätte ja vielleicht dasselbe wie der Doctor versuchen können, que?
Die Kugel hatte den Röhrenknochen gestreift, war etwas deformiert abgeglitten und hatte ein ziemliches Loch gemacht, als sie ausgetreten war. Dennoch war die Wunde nicht gefährlich. Gut verbunden müsste der Satan Carlos sogar gehen können.
Jericho sagte es ihm, als er ihm den Verband anlegte. Danach gab er dem Kerl auf dessen Verlangen auch noch etwas von seiner Medizin gegen das Fieber. Und dann erlebte er etwas, was er nicht erwartet hatte.
»Du«, sagte Carlos zufrieden, nachdem er aufgestanden war und sein Bein ausprobiert hatte, »du bist ab heute mein Leibarzt, verstanden? Und du wirst diesen Gringos in dieser Stadt übersetzen, was ich befehle, ist das klar?«
»Ja«, erwiderte Jericho. »Natürlich, mi General. Immer zu Diensten, Excelencia. Was wollen Euer Exzellenz befehlen?«
»Eine ganze Menge«, brummte Don Carlos. »Zuerst haben alle die Waffen hier abzuliefern. Alle Waffen, verstanden? Du rufst die Leute zusammen, damit sie die Waffen abgeben können. Pepe – Felipe, geht mit ihm, passt auf, dass er alles richtig macht. Einen Stuhl für mich hinausbringen und vor die Tür stellen, aber auf eine Kiste auf dem Hof, damit ich höher sitze als diese Gringos stehen.«
Er ist verrückt, dachte Jericho, der Kerl ist größenwahnsinnig, aber tödlich gefährlich. Immer abwarten und sein Spiel mitmachen, aber das eigene Spiel dabei nicht vergessen. Der soll nur glauben, dass ich ängstlich bin, nicht zu den Leuten hier gehöre und nur an mich denke. Der Kerl hat ein paar der Einwohner ausgefragt und weiß, dass hier selten jemand durchkommt und die Holzfäller erst morgen wieder eine Fuhre Bäume heranschaffen. Der denkt sich noch allerhand aus, wette ich, um die Leute in Angst und Schrecken zu versetzen. Wenn er dann endlich die Stadt verlässt, wird er dafür sorgen, dass ihm niemand folgen und keiner nach Prescott jagen kann, um den Marshal zu alarmieren. Wie will er denn sonst davonkommen?
Jericho gab sich ängstlich und fing nun sein Spiel an. Er musste den Halunken Carlos davon überzeugen, dass er harmlos war. Schaffte er das, stiegen seine Chancen, diesem Teufel irgendwann den wahren David Jericho Graves vorzuführen. Bis dahin würde noch allerhand passieren – und es würde nichts Gutes für Wagon Creek und seine Bewohner sein!
Der Mann wurde kreidebleich, die Frau schrie auf, während die anderen wie gelähmt auf der Straße standen und auf den Revolver blickten, der aus der Decke gefallen war. Einer der Bravados, die seit zwei Stunden jedes Haus durchsuchten und jeden Stall und Schuppen durchstöberten, hatte die Decke mitgebracht, mit Don Carlos geflüstert, der sie dann blitzschnell entrollt hatte.
Der Colt war auf die Vorbaubohlen gepoltert und lag nun in der Sonne.
»Abe!«, schrie die etwa dreißigjährige Frau entsetzt auf. »Abe, warum hast du nicht auf mich gehört – oh, mein Gott, Abe!«
»Deine Pistole, ja?«, fragte Carlos drohend und düster. Er nannte wie die meisten Mexikaner jeden Revolver eine Pistole. »Du verstecken Pistole, ja?«
»Oh, mein Gott, Señor, tun Sie ihm nichts«, wimmerte die Frau und brach schluchzend in die Knie. »Don Carlos, er wollte sich nur nicht von ihr trennen, weil sie ein Geschenk seines Vater ist – ein Hochzeitsgeschenk, eine teure Waffe. Er dachte, er würde sie nie wiedersehen, weil sie doch ganz vernickelt und so schön ziseliert ist, sogar sein Name ist eingraviert worden und …«
»Du still!«, schrie Don Carlos wütend. »Totengräber, was sagt sie alles? Diablo, ich mag heulende Weiber nicht. Was hat sie gesagt?«
Jericho übersetzte es, tat noch einiges, was die Waffe noch wertvoller erscheinen ließ, hinzu.
»Pepe – gib sie her!«, befahl Carlos finster. »So, sie ist wertvoll, darum hat sie der Mensch versteckt und behalten wollen? Ah, ja, ich sehe – sehr schöne Arbeit, sehr gute Waffe. Und was habe ich befohlen, he? Du, Totengräber, ich werde jetzt eine Rede halten – du übersetzt genau, was ich den Leuten zu sagen habe, verstanden? Wie heißt der Mann?«
Der Mann hieß Abe Harper und war der einzige Stellmacher von Wagon Creek. Carlos befahl ihm, vorzutreten, was Harper kreidebleich, aber hoch aufgerichtet tun wollte, doch seine Frau klammerte sich an ihn.
»Demonio, das Weib soll ihn loslassen, oder ich erschieße sie beide!«, brüllte Carlos wütend. »Andere Leute sollen sie gefälligst festhalten, während er vorzutreten hat. Sage es ihnen, Totengräber!«
Jericho tat es, und nach zwei Minuten stand Abe Harper, dessen Frau einige Nachbarn zurückhielten, vier Schritte unter Don Carlos, der nun ächzend auf den Stuhl stieg und Harpers Hochzeitsgeschenk auf den stocksteifen Mann unter sich richtete. »Du hast gegen meine Befehle verstoßen«, donnerte ihn Carlos an. »Und wer gegen meine Befehle handelt, der muss sterben, so habe ich es immer gehalten, verstanden, du elender Kerl? Dein Leben gehört mir wie dieser Revolver. Als dein Vater ihn dir geschenkt hat, hat er bestimmt nicht geahnt, dass dich die Waffe eines Tages töten würde, du hinterhältiger, heimtückischer Schurke. Keine Waffe, habe ich gesagt, nicht eine, auch nicht die älteste. Und was tust du, du Sohn eines Strolches, du Vetter eines Coyoten? Juanito – Paco!«
Jericho zuckte zusammen, als Don Carlos nach den beiden Kerlen schrie, die er auf dem Dach des Hotels postiert hatte. Es war das höchste Gebäude in Wagon Creek, hatte einen falschen Giebel, und die beiden Bravados konnten von dort oben meilenweit blicken. Sie sahen alles und jeden, der sich Wagon Creek näherte.
Im nächsten Moment begriff David Jericho, was Carlos vorhin mit dem stämmigen Paco zu flüstern gehabt und der mit einem breiten, viehischen Grinsen quittiert hatte.
Von oben fiel etwas herab, klatschte ans Vorbaudach. Danach setzte ein Schurren ein, und dann sah Jericho den Sparrenbalken oben – irgendeinen alten Dachsparren, den die Kerle wahrscheinlich vom Boden geholt hatten, weil er dort herumgelegen hatte.
Dieser Satan, das hatte gar nichts mit dem Harper zu tun, dachte Jericho verstört, das hat der Hundesohn als Abschreckung für alle geplant, irgendein Opfer hätte er wegen irgendetwas gefunden. Der wollte, oh, der Satansbraten, das hat er also vor?
Jericho fuhr zusammen, denn die Frau schrie jetzt gellend vor Entsetzen auf. Harpers Frau sah das Seil und die Hängeschlinge.
Jericho blickte Adam Harper an, der stumm und nun aschgrau im Gesicht auf die aus mehr als acht Schritt Höhe herabbaumelnde, pendelnde Schlinge sah. Harper sah einen riesigen Galgen und bewegte stumm die Lippen. Er konnte nichts sagen, seine Kehle war wie zugeschnürt.
Einen Augenblick packte die nackte Verzweiflung den Stellmacher. Er wäre beinahe fortgerannt, hätte den Versuch unternommen, vor dem Galgen zu flüchten. In derselben Sekunde traf der Stoß seinen Rücken.
»Du«, sagte der Bravado, den Don Carlos Ricardo gerufen hatte, mit seiner fetten, ölig klingenden Stimme hämisch. »Du hängen – gut hängen, gut, gut, Kamerad – du hängen, Kamerad.«
»Nein, nein, nein!«
Die Frau schrie so durchdringend hell, dass es Jericho durch Mark und Bein fuhr.
»Das verfluchte Weib soll schweigen!«, brüllte Don Carlos wütend. »Sage diesem Frauenzimmer, dass es den Mund halten soll, oder wir werden ihr den stopfen, verstanden? Du, Harper, du nicht gehorcht Befehl von General Don Carlos – ich dich hängen jetzt auf!«
Der, dachte Harper, und ihm war, als dächte nicht er es, sondern ein anderer, den er gar nicht kannte, der macht es – er hängt mich auf.
In diesem Moment wusste er es. Don Carlos, der Teufel, bluffte nicht. Adam Harper würde hängen!
*
Da stand er, die Hände und Füße gebunden. Er konnte nicht mehr denken, der Mann Adam Harper, er fühlte die rauen Fasern an seinem Hals, er stand auf der Kiste, um die einer der Kerle sein Lasso geworfen hatte, um sie gleich wegzureißen. Der Bravado nannte sich Emilio, hatte einen Seehundsbart und starrte Adam Harper mit funkelnden Augen an. Emilio saß auf seinem Pferd, die Hand schon erhoben und bereit, sie auf die Kruppe des Gaules herabklatschen zu lassen.
»Nein, nein«, wimmerte die Frau Harpers. Harper sah sie an und wunderte sich, dass er nichts empfand, gar nichts. Er fühlte sich wie leer, und er sah nur das Gesicht seiner Frau und die Gesichter der anderen Leute, die Betty festhielten. »Nein, das kann doch kein Mensch tun. Meine Kinder, meine armen Kinder – man kann doch den Kindern nicht den Vater nehmen!«
Harper hörte Beuys Wimmern, aber er dachte weder über die Verzweiflung seiner Frau noch über seine Kinder nach. Die hatten die Bravados in einen Raum des Hotels gesperrt und gedroht, sie umzubringen, wenn irgendwer in diesem Lausenest, wie Don Carlos höhnisch gesagt hatte, Widerstand leisten sollte. Neun Kinder lebten in der Town, die schon zur Schule gingen und nun alle im Hotel gefangen saßen. Sie würden keinen Unterricht mehr bekommen, denn der Mann, der ihn gegeben hatte, war von Don Carlos’ Bravados fortgeschafft worden. Er lag dort, wohin er nach Meinung des selbsternannten Generals gehörte – im Stall bei Jacob Bloomefields vier Schweinen.
Dies war auch eine Art Rache des Halunken Carlos: Er saß nun in dem hohen Lehnstuhl, den man für ihn aus dem Wohnzimmer von Isaak B. Bloomefield geholt hatte. Der selbsternannte General Carlos Ramirez thronte über den Leuten und sogar noch über dem auf der Kiste stehenden Adam Harper.
Neben Harper standen zwei der Kerle, die in Blitzesschnelle zu Beherrschern von Wagon Creek geworden waren.
»Ihr werdet lernen, dass man mir zu gehorchen hat!«, donnerte Don Carlos über die Menge hinweg und rollte drohend die schwarzen Augen. »Was diesem Schurken passiert, kann euch auch geschehen, wenn ihr nicht meine Befehle befolgt. Lugo – adelante!«
Lugo, der Kerl, der das Seil hielt, wartete, bis Jericho die Worte des Don übersetzt hatte. Er fletschte dabei – und Jericho erinnerte sein Anblick an den eines Pavians – zu der Übersetzung die Zähne und starrte die Leute drohend an.
Jericho übersetzte und blickte dabei auf Don Carlos’ breite rote Schärpe, in der Harpers Revolver steckte.
Einen Satz, dachte Jericho, nur einen Satz machen. Ich bekäme sie heraus, setzte sie ihm noch auf den dicken Bauch und könnte abdrücken, aber dann wäre ich tot. Die würden mich zum Sieb schießen. Nur die Ruhe bewahren, nichts Unüberlegtes tun. Die Teufelei beginnt gleich, und ich muss zusehen. Seid klug wie die Schlange, aber ohne Falsch wie die Tauben, was? Hier hilft nur Falschheit!
»Lugo – ahora! Lugo – jetzt!«
Betty Harper schrie gellend auf. Und dann bückte sich Lugo, riss das Seil mit und…
Ich hab’s gewusst, dachte Jericho, ich habe das schon mal drüben in Mexiko erlebt. Verdammte Schweinerei!
Lugo zog das Seil blitzschnell durch die Schlinge, die der andere Kerl aus dem Strick um Harpers Fußgelenke geformt hatte. Schwupp, da hatte er schon den Knoten gemacht, fuhr hoch, sah nach oben zu seinen beiden Amigos auf dem Dach des Hotels.
»Estirar – estirar! Ziehen – ziehen!«
Lugos schriller Schrei hallte über die Straße. Und dann passierte es in so rasender Geschwindigkeit, dass keiner der Bewohner von Wagon Creek das Resultat dieses Ziehens erkannte, ehe es nicht vorlag.
Jericho sah den Ruck, der das Seil in die Höhe fliegen ließ, bis es straff gespannt war. Er blickte zu den beiden Halunken auf dem Dach empor, deren Köpfe oben verschwanden und wieder auftauchten. Gleichzeitig schlug Emilio dem Pferd auf die Kruppe. Der Gaul ging an, flog los. Das Lasso riss die Kiste unter Adam Harper fort, mit dem in Sekundenschnelle etwas geschehen war, was kaum einer der entsetzten Zuschauer begriff. Harper hatte sich sozusagen um sich selbst gedreht, als hätte ihm jemand eine Stange durch den Bauchnabel gesteckt. Urplötzlich fuhren seine Beine in die Höhe, während sein Kopf nach unten sauste.
Adam Harper hing an den Beinen, nicht am Hals. Und dann riss man ihn vom Dach aus mit zwei harten Rucken ein Stück höher, sodass sein Kopf nun gut zwei Schritt über dem Boden schwebte. Adam Harper glich einer Menschenpuppe, die sich pendelnd am zuckenden Seil bewegte und hin und her schwang.
»Adelante – vorwärts!«
Emilios kreischender Schrei ließ die Leute zusammenfahren. Sie glotzten wie gelähmt auf die pendelnde Puppe Adam Harper, die einen Stoß erhielt und nun weit ausschwang – hin und her. Und Emilios Gaul raste am Gehsteig entlang, an den Zuschauern vorbei, die erschrocken zusammenfuhren, als Emilio sein Pferd auf den Hinterhacken steigen ließ und es herumriss.
»Öhöh!«, kam es gurgelnd als Vorbote des ersten Lachens aus Don Carlos’ dickem Hals. »Öhöh!«
Jericho stand still, den Blick auf Emilio gerichtet, der jetzt die Macheta herausriss. Die Sonne fing sich auf der langen, breiten Klinge und ließ sie blitzen.
»Yaihyyhh, yaihyyhhh!«
Emilio feuerte kreischend den Gaul an, raste auf den pendelnden Adam Harper zu, dem das Blut bereits in den nach unten hängenden Kopf absank. Harper wurde schwindlig und schlecht, er verdrehte bereits die Augen. Nach unten hängend und dazu auch noch pendelnd, das war wohl zu viel für Adam Harpers armen Kopf, durch den tausend Gedanken gerast waren. Harper glich einem menschlichen Pendel – und Emilio raste auf dieses Pendel zu. Dabei wirbelte er die Macheta um seinen Kopf. Es sah aus, als kreiste irgendetwas flirrend im Sonnenlicht.
Die Frau Harpers sah das Pferd heranrasen, jenen flirrenden Kreis und dann aus dem Kreis ein blinkendes Etwas werden, als Adam, ihr Mann, dem Gaul entgegenpendelte. Die Macheta zischte nun, aus vollem Jagen geschlagen, auf den am Strick hängenden, pendelnden Körper Harpers zu. Die Frau wusste nichts von diesem Spielchen, das einmal die Azteken erfunden haben sollten und das die Mexikaner wie früher die ersten Spanier unter Cortez »Partida Macheta« das Macheten-Spiel genannt hatten. Es war schließlich ein Spiel, wenn auch ein grausiges. Da hing jemand als menschliches Pendel an einem Baum. Und derjenige Halunke, der auf das Pendel zujagte, durfte sein Pferd nicht verhalten, auch nicht zur Seite treiben – er musste schnurgerade seine Bahn abreiten und dabei versuchen, ob er – sich nur aus dem Sattel lehnend – das Pendel treffen konnte. Natürlich nur an einer Stelle – möglichst genau am Hals, damit der Kopf herunterfiel und durch den Sand kollerte.
Sie hatten es seit tausend oder mehr Jahren so gespielt – rennend und zu Fuß, solange sie noch keine Pferde kannten. Die Spanier hatten ihnen die Pferde gebracht und dieses Spiel etwas spannender gemacht. Und nun trieben es die »Mejicaneros«.
Emilios Macheta zischte durch die Luft – fegte um Armeslänge an dem Pendel Adam Harper vorbei.
»Uhhh!«, machte Don Carlos enttäuscht. »Baaah – schlecht!«
»Mierda de Perro!«, fluchte Emilio und jagte noch zwanzig Schritt weiter, ehe er den Gaul wieder herumriss, der trompetend wieherte, weil Emilio nun seine Wut an dem armen Tier ausließ und ihm die Riesensporen in die Weichen bohrte. »Adelante Yaiihhhiiihhh!«
Das Tier bäumte sich auf, raste erneut zurück. Und wieder war das Flirren da. Betty Harper brachte nun jedoch keinen Laut mehr heraus. Sie hatte das Spiel begriffen und konnte vor Grausen keinen Laut mehr herausbringen.
Das Pendel schwang, das Pferd raste heran. Und wieder verfehlte Emilio sein Ziel.
Irgendwann, das erkannten nun alle Leute von Wagon Creek, würde Emilio treffen. Irgendwann, das wusste auch Harper, dessen Gesicht dunkelrot geworden war, würde er als letztes Geräusch das Pfeifen der Machetaklinge hören.
Er drehte sich am Seil, an dem er pendelte, er sah aus der Drehung, dass der Gaul herumstob und wieder heranraste.
Und dann geschah das, was Jericho erwartet hatte – aus vollem Jagen flog Emilio empor, stand plötzlich auf dem Sattel und schlug zu.
Die Klinge zerschnitt das Seil wie einen dünnen Bindfaden. Harper stürzte ab, krachte hin, prallte in den Staub der Fahrbahn und blieb liegen – röchelnd und spuckend, halb benommen und dem Wahnsinn nahe.
»Eh«, brüllte Don Carlos und war aufgesprungen. »Du – Weib, jetzt kannst du ihn haben, aber ich schwöre es dir und allen: Der Nächste, der nicht gehorcht und meine Befehle genau befolgt, fällt nicht herunter. Dessen Kopf rollt durch den Staub, verstanden? Habt ihr begriffen, was ihr zu tun habt, eh?«
Sie hatten begriffen, weil diese Lernmethode immer einen einmaligen Erfolg bescherte. Das Grausen war ein zu guter Lehrmeister.
»Vamos!«, sagte Don Carlos grinsend, als er sich umwandte. »Gehen wir – der Spaß ist vorbei. Hast du gesehen, Leichenbestatter? Guter Spaß, ja? Höhöhö …, verdammt, mein Bein! Du, du glauben, sie gehorchen jetzt, ja?«
»Ja«, sagte Jericho knapp. »Sicher, Su Excelencia.«
»Gut, gut – und jetzt machen andere Sache – du kommen!«
Was hat er denn jetzt schon wieder vor, dachte Jericho. Der Halunke musste eine neue Gemeinheit ausgebrütet haben.
*
Der Gewehrlauf zuckte blitzschnell vorwärts und traf Isaak B. Bloomefields Leib. Er war groß, dieser Isaak Bloomefield, er war hager und glich einer Bohnenstange, die jetzt in der Mitte einknickte und dann auch schon nach unten sackte.
Du Narr, dachte Jericho bitter, du elender Narr und Geizhals, nun hast du es. Was glaubst du denn, wie hart du bist? Dein Geld geht dir über alles, von dem trennst du dich nicht freiwillig. Lügen haben bei Don Carlos ganz kurze Beine. Jetzt hast du die Quittung, Narr!
Sie hielten Bloomefield rechts und links. Er hing zwischen zwei Bravados an deren Armen und pfiff in seltsamen Tönen. Es wurde keine Melodie daraus – er bekam keine Luft und wäre platt hingeschlagen, wenn sie ihn nicht gepackt gehalten hätten.
»Er hat den Schlüssel nicht?«, fragte Don Carlos ölig und hielt das Gewehr stoßbereit. »Totengräber, hast du jemals einen Mann so niederträchtig lügen sehen? Der will mir erzählen, dass sein Bruder den Schlüssel für den Geldschrank nach Prescott mitgenommen hat, begreifst du so viel Dummheit? Er ist ein Geier, ja? Ein raffgieriger Geier, oder irre ich mich?«
»Ich kenne ihn zu wenig«, erwiderte Jericho achselzuckend. »Vielleicht hat er doch die Wahrheit gesagt und wirklich nur die paar Dollar hier, Excellenz?«
»Das glaubst du doch selbst nicht, Totengräber«, knurrte Don Carlos finster. »Ein bisschen mehr als vierhundert Dollar in dieser Bank? Unmöglich, es sind mehr hier – in dem Schrank dort, wetten? Pass auf, gleich wirst du erleben, dass er gelogen hat, dieser knochige Schurke. In einer Minute spuckt er die Wahrheit aus.«
Die Minute verging, und sie rissen Bloomefield wieder auf die Beine. Er war schmutzig-grau geworden, sein hervortretender Adamsapfel tanzte buchstäblich, seine Augen zuckten noch im gleichen Takt wie jener Schmerz, der durch seinen mageren Leib tobte, aber er hatte wieder Luft.
»Dein Bruder hat den Schlüssel?«, fragte Don Carlos höhnisch und lauernd. »Zum letzten Male, du Hund, wo ist der Schlüssel? Sagst du jetzt die Wahrheit, oder soll ich so weitermachen?«
»Ich …, ich habe den Schlüssel im Schreibtisch«, brachte er schrill hervor. »Die rechte Seite – innen an der Rückwand ist ein Haken. Um Gottes willen, Graves, nicht mehr stoßen – nicht mehr – bitte. Ich sage ja alles, ich tue alles!«
Jener Hochmut, mit dem Bloomefield die Leute und auch Jericho behandelt hatte, war wie fortgeblasen. Der eingebildete Bloomefield, der sich für den größten und schlauesten Mann in Wagon Creek hielt, wusste nun zu genau, was ihm bevorstand, wenn er weiterlog. Er war nicht hart, was Schmerzen anbetraf, wenngleich er mit den Leuten, die sich bei ihm Geld borgten, eisenhart und unbarmherzig sein konnte.
Jericho übersetzte, sah das breite, zufriedene Grinsen von Don Carlos.
»Du verstehen, ja?«, höhnte Carlos und gab Bloomefield einen Tritt in die Rippen. »Du lügen, du toter Mann tot, tot, verstehen? Rual, den Schlüssel!«
Den einen Schlüssel hatte Bloomefield freiwillig herausgerückt und behauptet, das sei nur der eine für die drei kleinen Schlösser. Jenen Mittelschlüssel hätte sein Bruder nach Prescott mitgenommen.
Rual holte den großen Mittelschlüssel aus dem Schreibtisch, schloss den Schrank auf und blickte sich fluchend um.
»Soll das etwa alles sein?«, fragte Rual Sastre giftig. »Hier, mi General – mehr ist nicht da – das sind keine zweitausend Dollar, bestimmt nicht mehr? He, Gringo, frage den Hund, wo das andere Geld ist – frage ihn schnell!«
Isaak Bloomefield wurde kreidebleich und stöhnte: »Mehr ist nicht da, wirklich nicht, Graves. Oh, mein Gott, wir haben hier nie sehr viel Geld. Wenn wir etwas brauchen, bringt es mein Bruder von Prescott mit. Dort ist der Hauptsitz der Bloomefield-Bank, das weißt du doch auch, oder? Du musst es ihnen erklären, ihnen sagen, dass hier immer nur kleine Summen sind. Um Gottes willen, sie müssen mir glauben, Graves.«
Jericho übersetzte, sah das Gesicht von Carlos sich verfinstern, das Misstrauen in den schwarzen Augen aufflammen.
»Das alle Geld?«, schrie Don Carlos. Seine Bravados rissen Bloomefield so hoch, dass er beinahe auf den Zehenspitzen stehen musste. »Du gelogen – das nicht alle Geld, du verstecken andere Geld – wo du verstecken der Geld?«
»Nicht versteckt«, lallte Bloomefield. »Ich schwöre, mehr Geld ist nicht hier. Ich schwöre …, aaah!«
Das Gewehr schnellte nach vorn. Bloomefield knickte erneut ein, fiel diesmal auf das Gesicht und blieb, sich wie ein Wurm krümmend, liegen.
»Er sagen Wahrheit!«, brüllte Don Carlos. »Er sagen, oder ich töten seine Sohn – ich töten Sohn!«
Er suchte nach Worten, starrte Jericho an und keuchte: »Sie sind alle Halsabschneider, diese Bankiers, sie sind wie die Aasgeier und lügen, betrügen und bestehlen andere Leute. Ich kenne sie, ich habe sie kennengelernt. Totengräber, das sage ich dir. Dieser klapperdürre Hund wird mir die Wahrheit sagen, oder ich lasse seinen Sohn herholen und vor seinen Augen umbringen. Mach ihm klar, dass er mit dem Leben seines Sohnes spielt, verstanden?«
»Ja, Su Excelencia«, antwortete Jericho gelassen. »Ich glaube, er sagt die Wahrheit, ich kenne die Bloomefields …«.
»Bloomefield – Bloomefield«, grübelte Don Carlos, die Hand hebend und Jericho das Wort abschneidend. »In Tucson ist auch eine Bloomefield-Bank. Gehört die dem hier, nein?«
»Nein, irgendwelchen Vettern«, klärte ihn Jericho auf. »Die Familie hat überall Bankhäuser. Der Hauptsitz in Salt Lake City, in Utah, der für Arizona in Prescott. Euer Exzellenz verstehen sich doch auf das Bankgeschäft, oder?«
»Si, si, ich verstehe es«, knurrte Don Carlos noch finsterer. »Das sind alles Aasgeier, Schurken, gewissenlose Betrüger. Der Hund ist auch ein Betrüger, aber niemand betrügt Don Carlos, verstanden?«
»Das wird hier niemand mehr wagen«, stimmte Jericho ihm zu.
»Genug – genug!«, unterbrach ihn Don Carlos wütend. »Sage dem betrügerischen Hund, was mit ihm und seinem Sohn passieren wird – sage es ihm sofort!«
Jericho nickte, übersetzte. Bloomefield, der kaum sprechen konnte, aber jedes Wort verstand, verfärbte sich und röchelte dann: »Das kann dieser Satan doch nicht tun – nicht meinen einzigen Sohn, nur das nicht. Oh, mein Gott, ich schwöre es beim Leben meines Sohnes – im Augenblick ist nicht mehr Geld in der Bank. Erst heute Abend, wenn mein Bruder mit den anderen heimkommt, wird …, werden es fünftausend Dollar mehr sein. Mister Barnes hat ein neues Gatter für das Sägewerk bestellt, das aus Galveston mit Wagen über Tucson hergebracht werden wird. Er muss es bezahlen, er bezahlt immer alles in bar, darum kommt so viel Geld her. Erst am Abend wird genug Geld hier sein …« Er verstummte. Vielleicht fiel ihm ein, dass er auch hätte schweigen können. Das Geld gehörte Barnes, der wahrscheinlich schon in Prescott bei Bloomefields Vetter den Empfang quittiert hatte. Sicherlich blieb das Geld hier nur liegen, bis das Gatter eingetroffen war. Der Verlust würde Barnes treffen, aber nicht die Bloomfields.
»Mensch«, knurrte Jericho grimmig. »Nun gut – Geld ist Geld, was? Und solange es nicht dein oder euer Geld ist …«
»Was reden, was reden?«, fauchte Don Carlos dazwischen.
»Er sagt, das sei wirklich alles Geld, aber sein Bruder und Barnes vom Sägewerk brächten am Abend fünftausend Dollar mit …«
Weiter kam Jericho nicht.
»Fünftausend Dollar?«, keuchte Don Carlos. »Das ist gut.«
Er gab Bloomefield einen Tritt und fluchte, weil er sein verwundetes Bein vergessen hatte.
»Largo de aqui!«, brüllte Carlos. »Verschwinde, du Hund!«
Bloomefield kroch zur Tür hinaus und bekam dort noch von Rual einen Tritt.
Die Hölle, dachte Jericho, die Halunken spielen hier ganz auf rau. Der Hundesohn versetzt die Leute absichtlich in Angst und Schrecken, damit ja keiner an Gegenwehr denkt. Dennoch: Sie werden etwas unternehmen, sobald er fort ist. Er muss zuerst mal Jacob Bloomefield, Barnes und die drei Mann überwältigen, die spätestens am Abend aus Prescott zurückkehren werden. Aber dann kommt morgen Bishop, der Holzfällerboss von Barnes, mit den Langholzwagen und seinen fünf Holzfällern in die Stadt. Die Männer sind alle bewaffnet, sie würden den Bravados sofort folgen.
Jericho sah zu Boden und wusste, dass der Bravadoboss das Risiko, von sechs harten Männern verfolgt zu werden, niemals eingehen konnte.
Der Satan muss bleiben, überlegte Jericho, er hat keine andere Wahl, er muss Bishop hier erweichen. Und dann muss er alle Bewohner von Wagon Creek daran hindern, von irgendwoher Hilfe holen zu können. Wie will der Kerl das anfangen?
Jericho sollte nicht lange warten müssen, bis er erfuhr, was sich der Bravado ausgedacht hatte. Die Teufeleien von Don Carlos hatten erst begonnen. Es kam noch viel schlimmer …
*
Gerechter Gott, dachte Jericho entsetzt, das also hat der Hund vor. Das ist eine teuflische Mausefalle.
David Jericho blieb stehen, als ihm Rual Sastre das Gewehr in den Rücken stieß. Auch Jim Weldon, der Zimmermann von Wagon Creek, der Juan hinter sich hatte, ging nicht mehr weiter. Weldon starrte wie gebannt auf die von Axthieben zertrümmerten Bohlen des Verschlages, der den einstigen Eingang zur alten Mine versperrt hatte.
Jim Weldon, der Zimmermann von Wagon Creek, blickte verstört auf den zertrümmerten Eingangsverschlag. Er hatte ihn vor Jahren eigenhändig zusammengezimmert, nachdem sich die Kinder hier oben in den Stollen herumgetrieben hatten und einige beinahe verschüttet worden waren.
Im nächsten Augenblick hörten Jericho und Weldon das Wiehern eines Pferdes aus dem Stollen. Danach setzte ein wildes Gepolter und Grollen ein. Lugo, der eine Bravado, erschien mit einer Laterne, warf einen Seitenblick auf Jericho und brummte dann: »Das war der letzte Gang, Rual. Jetzt sind sie alle eingestürzt. Don Carlos kann zufrieden sein.«
»Gut«, erwiderte Rual Sastre grinsend. »Hole Juan heraus. Und dann bleibt ihr hier oben. In zwei Stunden könnte Bloomefield mit Barnes aus Prescott zurückkommen. Ihr wisst, was ihr zu tun habt.«
Eine Staubwolke wälzte sich jetzt aus dem Eingang, verzog sich und entließ Juan und dessen Pferd. Am Sattel des Pferdes hingen noch einige der Seile, die von den Bravados aus dem Store geholt worden waren. Zwar hatte Jericho die Kerle mit den Seilen verschwinden sehen, aber nicht geahnt, wozu die Halunken sie brauchen wollten. Jetzt wusste er, dass sie die Abstützungen der Stollen mit ihnen niedergerissen und damit die Decken zum Einsturz gebracht hatten.
Weldon blickte Jericho beklommen und unruhig an.
»Totengräber«, wandte sich Rual Sastre, der schlanke, finstere Segundo von Don Carlos, an Jericho. »Ihr beide nehmt jetzt die Laternen und geht vor uns her in den Stollen. Ich werde euch die Stelle zeigen, an der ausgemessen wird. Du kannst Särge bauen – und dieser Mann baut Fenster, Dächer und Holzhäuser – ihr werdet gute Arbeit leisten. Vorwärts!«
Lugo und Juan übergaben Jericho und Weldon grinsend die Laternen. Rual Sastre drückte Jericho die Gewehrmündung in den Rücken und stieß ihn vor sich her in den Stollen. Nach zehn Schritten befahl er ihm stehen zu bleiben und deutete auf die stabilen Stützbalken rechts und links. Hier verzweigte sich der Stollen.
»Vermesst es genau!«, knurrte Sastre düster. »Im Sägewerk liegen dicke Bohlen und Balken genug. Ihr werdet eine stabile Wand von einer Seite zur anderen bauen und eine Tür hineinmachen. Riegel und Fitschen holt ihr vom Schmied, die Nägel und was ihr sonst noch braucht, aus dem Store, verstanden? Don Carlos will, dass ihr schnelle und gute Arbeit leistet, also fangt an.«
Weldon würgte und warf Jericho einen ängstlichen, bedrückten Blick zu.
»Immer ruhig, Weldon«, sagte Jericho kaltblütig. »Er wird uns dort einsperren wollen, aber noch ist es nicht so weit.«
»Was redet ihr?«, fuhr Rual Sastre barsch dazwischen. »Totengräber, an die Arbeit!«
»Ich muss ihm doch erklären, was du von ihm willst«, erklärte Jericho völlig gelassen. Sastre, das wusste er, verstand zwar einige Brocken Amerikanisch, aber wenn man schnell sprach, verstand er so gut wie nichts. Es war ein Glück, dass Don Carlos wegen seines verletzten Beines nicht mit heraufgekommen war. »Wie sollen wir schnell arbeiten, wenn ich ihm die Arbeit nicht erklären kann?«
»Werde nicht frech, Gringo!«, fuhr ihn Sastre giftig an. »Hier wird nicht geredet, hier wird gearbeitet. Macht voran, sonst erlebt ihr etwas!«
Jericho bückte sich und machte am Ende des Zollstockes, mit dem Weldon ausmaß, einen Strich. Dabei dachte er unentwegt an jenen Zugang von oben zum Saloon. Don Carlos hatte Schmerzen in seinem Bein. Wurden sie zu schlimm, brauchte er Jerichos Hilfe. Sperrten die Bravados alle Bewohner von Wagon Creek im Stollen ein, mussten sich die Bravados so sicher fühlen, dass ihnen der eine Mann, der dazu noch alles widerspruchslos tat, ungefährlich vorkommen.
Genau das könnte passieren, dachte David Jericho. Was sollte ihnen von einem Mann drohen können? Dieser Gringo ist ein Totengräber, hat keine Waffe, hat für sie übersetzt und Don Carlos verbunden. Immerhin könnte es sein, dass nachts jemand nach Wagon Creek kommt, irgendein Reiter oder ein Wagen, der hierbleiben will. Dann brauchen sie jemand, der wie ein Gringo aussieht und den Besuch empfängt. Alle Wetter, die behalten mich im Saloon für alle Fälle, wetten? Wie war das mit der Schlacht zwischen den irischen und britischen Bahnarbeitern in Oakflat vor sieben Jahren? Bei den Iren kämpften auch die beiden chinesischen Wäschekulis, und die entschieden die Sache auf ihre Art für die Iren. Das war eine heiße Sache. Wenn ich dasselbe Zeug wie die bekäme.
David Jericho machte den nächsten Strich – der Stollen war keine vier Schritt breit und weniger als zweieinhalb hoch. Dennoch war Jericho in Gedanken schon im Store – dort gab es das, was Jericho brauchte und damals die Chinesen eingesetzt hatten. Kam er heran, war die Sache schon halb gewonnen …
*
Jericho war es, als schnürte ihm etwas den Hals langsam zu. Die Wagen kamen, von Jacob Bloomefield geführt, von Norden die Straße herunter.
»Du«, zischte Don Carlos. »Du Bloomefield, wenn du schreien, du tot, auf Stelle tot!«
Zwei Stunden vor Sonnenuntergang hatten sie vom Dach des Hotels aus die Staubfahne im Norden gesehen. Und dann war Pepe, der Bravado, unten erschienen, hatte Rual Sastre gewinkt. Der hatte nach Jericho wie nach einem Hund gepfiffen und ihn von der Arbeit an jener Sperrwand geholt.
»Runter ins Hotel mit dir, Totengräber, schnell, schnell!«
Beim Abstieg vom Hügelweg hatte Jericho genau auf das Dach des Hotels und den Winkel zum Store geachtet. Seitdem wusste er, dass man vom Dach des Hotels aus nicht sehen konnte, wenn jemand über die Straße zum Store kroch, sobald es dunkel geworden war.
Was der Reiter neben Jacob Bloomefield tun würde, wusste Jericho noch nicht, aber sein Gefühl hatte sich gemeldet, dieses verdammte, flaue Gefühl im Bauch, das immer da war, wenn etwas passierte.
Carding, dachte Jericho und schluckte an dem Kloß, der ihm in der Kehle zu sitzen schien, Carding, Mann, drehe nicht durch, mach keinen Fehler. Die sehen dich von oben, da liegen sie jetzt mit drei Mann hinter den Steinen und zielen schon auf euch. Hinter dem Fenster des Stores lauert der nächste Bravado, noch einer hier oben hinter der Treppe zum Hof. Die haben dich, Carding, ehe du kapierst, dass du alles falsch gemacht hast. Um Gottes willen, sie sind gleich hier, sie sehen die Frau drüben den Vorbau fegen, die beiden spielenden Kinder am Store, den Alten auf der Bank vor dem dritten Haus sitzend. Das sieht alles so friedlich aus. Die Schornsteine rauchen, alles ist ruhig wie immer.
Bud Carding blickte jetzt zum Saloon und sah Bloomefield in der Tür stehen. Dann flog Cardings Blick weiter zum Ende der Straße, an dem die Sägemühle lag, in der Carding so etwas wie der Aufseher war. Dort hinten lag auch das Haus der Fergusons, in dem Mabel Ferguson ihren alten Vater versorgte. Mabel war gerade neunzehn geworden, Carding war jetzt vierundzwanzig. Jeder in Wagon Creek wusste, dass sie heiraten wollten, ehe es Winter wurde.
Mabel stand dort hinten in der Haustür. Der alte Ferguson hockte auf der Bank neben der Tür. So sah Carding sie, nur den Bravado hinter dem Mädchen sah er nicht – Rual Sastre stand dort und zischte jetzt: »Du lächeln – du lächeln, verstehen? Deine Freund sehen dich – du lächeln!«
Sie wollte es tun, aber sie konnte nicht. Sie kannte Carding gut und wusste, dass er ein Hitzkopf war.
»Du – gehen!«, befahl Don Carlos hinter Isaak Bloomefield. »Jetzt du gehen – dann bleiben stehen und grüßen Bruder!«
»Hallo, Jake«, sollte Isaak zu seinem jüngeren Bruder Jacob sagen. »Na, wieder zurück, Jake? He, halte mal an, ich habe dir was mitzuteilen. Jake, warte, halte an!«
Die Wagen mussten stehen und mitten auf der Fahrbahn bleiben, so hatte es Carlos gewollt. Standen sie dort, befanden sie sich zwischen den Gewehren der Bravados.
In diesem Augenblick sah Jericho, dass Bloomefield die Peitsche leicht anhob und den Kopf zu Carding wandte.
»Na, Buddy?«, fragte Jake Bloomefield, der die gerunzelten Brauen Cardings bemerkte. »Winkt sie dir heute nicht wie sonst zu? Was hat deine Hübsche denn heute, Buddy? He, Junge, sie wird sich doch in deiner Abwesenheit nicht etwa mit einem der Holzfällerburschen getröstet haben?«
»Hör auf«, knurrte Carding gereizt. Er ging immer zu schnell hoch und regte sich gleich auf. »Sie wird schon winken. Du mit deinem blöden Gerede, dass man den Frauen niemals trauen solle. Pass mal auf, wie sie gleich winkt!«
Jericho sah das Zucken von Cardings Händen, das Zustoßen von Cardings Stiefelhacken. Bud Carding ritt jäh an, preschte los, ehe Isaak Bloomefield die letzten zwei Schritt bis zur Vorbaustütze gemacht hatte.
Einen Augenblick schien Isaak Bloomefield zu erstarren. Er blieb stehen, sah sich verstört und hilflos um.
Das geht schief, konnte Jericho nur noch denken, der Narr sieht sich um, wird kreidebleich.
»Bloomefield!«, zischte Jericho los. »Ruf ihn an, ruf ihn an, schnell!«
Es war die einzige Chance, die noch blieb, und Bloomefield schien sie zu erkennen, wandte sich wieder um, holte tief Luft und rief dann scharf: »Carding – he, Buddy, warte, Junge. Buddy, halt an, ich muss dir etwas sagen, Buddy …«
»Nachher«, rief Buddy Carding zurück. »Später, Mister Bloomefield, dann ist noch Zeit genu…« In dieser Sekunde passierte es.
Rual Sastre sah Carding kommen und aus jenem Viereck der für die Wagen aufgebauten Falle reiten. Gleichzeitig erkannte Sastre, dass die drei Bravados, die hoch oben am Hang hinter den Steinen lagen, Carding jetzt nicht unter Feuer nehmen konnten, denn sie sahen ihn nicht mehr. Der Hotelbau versperrte ihnen die Sicht.
Rual Sastre, der immer zu schnell mit dem Schießeisen bei der Hand gewesen war, handelte sofort. Er stieß ein giftiges Zischen aus, rammte gleichzeitig Mabel Ferguson das Gewehr in die Hüfte und schleuderte das Mädchen zur Seite.
Bud Carding fuhr heftig zusammen. Er sah kaum, dass Mabel hinschlug, als er auch schon den Mann hinter ihr entdeckte. Sastre sprang mitten in die Tür, riss das Gewehr an die Schulter und zielte auf die Brust des heranjagenden Pferdes.
In derselben Sekunde – der Anblick des Gewehres reichte für Carding – riss auch der junge Aufseher die Rechte herum. Er bekam das im Scabbard steckende Gewehr zu fassen, aber bevor er die Waffe hochnehmen konnte, brüllte der Schuss Sastres über die Straße.
Die Kugel traf haargenau. Cardings Brauner knickte wie vom Blitz erwischt ein, während Carding sich geistesgegenwärtig nach links aus dem Sattel warf. Dennoch kam Carding nicht mehr aus dem Steigbügel. Das Pferd riss ihn im Sturz mit. Carding prallte auf und wälzte sich, seine Waffe umklammernd, herum. Er riss die Waffe an die Schulter und schlug auf Sastre an, der bereits wieder durchgeladen hatte. Es war ein Ziel, das Carding nicht verfehlen konnte. Ehe er jedoch abdrücken konnte, brüllte Sastres Gewehr zum zweiten Male auf. Den Bruchteil einer Sekunde nur später drückte auch Carding ab.
Genau in diesem Moment traf Carding die zweite Kugel Sastres knapp unter dem linken Schlüsselbein. Die Gewalt des Geschosses ließ Carding herumzucken. Noch im Abdrücken verriss er sein Gewehr, aber die Kugel fauchte hinaus.
Während Carding nach hinten flog und sein Gewehr dabei verlor, spürte Rual Sastre einen schrecklichen Schmerz an seinem linken Unterarm. Die Kugel Cardings durchschlug ihn, sauste weiter und zog noch eine Furche über Sastres Rippen. Gleichzeitig kippte Carding wie von einer Riesenfaust getroffen, rücklings zu Boden. Carding sah nichts als eine schwarze Wand. Er verlor im Hinschlagen das Bewusstsein.
Keine sechzig Schritt vor ihm schrie Sastre schrill auf. Der Segundo von Don Carlos konnte die Linke nicht mehr stützend unter den Schaft der Waffe halten.
Zur Seite taumelnd und bis an die Bank schwankend, auf der der alte Ferguson wie zur Salzsäule erstarrt saß, knickte Sastre ein.
»Packt den Hund von Gringo und helft Rual!«, brüllte Don Carlos voller Wut los. »Totengräber, ich lasse diese verdammten Kerle von den Wagen schießen, wenn sich einer rührt. Befiehl ihnen, dass sie stillsitzen und die Hände hochnehmen sollen, schnell! Wer sich rührt, wird erschossen!«
Auf dem Vorbau war Isaak Bloomefield zu Tode erschrocken stehen geblieben, Bloomefield begriff augenblicklich, welche Gefahr seinem Bruder Jake und Barnes drohte. Griff einer der Männer zur Waffe, musste es zu einem Massaker kommen.
»Jake – Jake, nicht rühren, nicht schießen – greift nicht zu den Waffen!«, kreischte Isaak B. Bloomefield verzweifelt los. »Ihr seid umstellt, sie haben euch vor den Läufen – rührt euch nicht, um Gottes willen, rührt euch nicht!«
Der Schusswechsel zwischen Carding und Sastre war so schnell erfolgt, dass Jake Bloomefield gar nicht an seine Waffe gedacht hatte.
»Allmächtiger – Jesse, Luke macht nichts«, keuchte Barnes verstört. »Das ist eine Falle – riskiert nichts, oder sie blasen uns von den Böcken herunter!«
Barnes, kaltblütig genug, sich ohne eine sichtbare Chance in etwas einzulassen, nahm die Arme hoch, nachdem er den Wagen zum Stehen gebracht hatte. Einen Augenblick dachte er an das Geld in der Kiste auf dem Planwagen, schluckte schwer und biss sich dann auf die Lippen.
Inzwischen humpelte Don Carlos auf den Vorbau, während Jericho ihm wie ein Schatten folgte. David Jericho hätte jetzt zum zweiten oder dritten Mal eine Chance gehabt, mit einem Satz den Halunken Carlos und dessen Waffe zu erreichen, aber er riss sich zusammen. Das Einzige, was Jericho in diesem Moment vor sich sah, waren zwei Verwundete. Sastre konnte sich anscheinend kaum auf den Beinen halten. Carding lag da wie tot – vielleicht zu seinem Glück, da man ihn sonst todsicher mit Kugeln durchsiebt hätte. Das Geschoss konnte Carding nur hoch über Herz oder Lunge getroffen haben, die Verletzung also kaum tödlich sein.
Zwei Verwundete und Don Carlos mit Schmerzen im Bein, sagte sich David Jericho kaltblütig. Diesem Hundesohn Carlos gebe ich Laudanum gegen Fieber und Schmerz, dann wird der Strolch so müde, dass er unter Garantie irgendwann fest einschlafen wird. Sie brauchen mich jetzt, und ich wette um meinen guten Zylinder, ich werde im Hotel bleiben, sobald man die Leute nach oben in den Minenstollen getrieben hat. Alles, was ich brauche, ist ein anständiger Strick – einer von denen, mit denen die Bravados die Stempel in den Gängen umgerissen haben. Da muss einer sein, und ich will verdammt nicht mehr David Jericho Graves heißen, wenn ich mir keinen unbeobachtet holen, um den Bauch winden und später mit in die Stadt hinunternehmen kann. Sastre, du Dreckskerl, ich wünsche dir nichts Schlechtes, nur eins: du sollst vor Schmerzen heulen. Wenn das klappt, was ich vorhabe, heulst du jedoch nicht lange genug. Ich werde dich irgendwann streicheln, Rual Sastre, aber frage mich nicht, womit das sein wird. Dir Hundesohn ziehe ich einen Scheitel. Wenn die Sperrwand nur schon fertig wäre!
David Jericho lächelte grimmig.
Die Bravados kannten ihn nicht, sie hatten sich bis jetzt täuschen lassen und hielten ihn für harmlos. Wie »harmlos« David Jericho Graves, Undertaker, Sargmacher, Posaunenkünstler und nebenbei Townmarshal von Jerome in Arizona war, sollten die elf Bravados noch in dieser Nacht erfahren …
*
Pfui Satan, dachte Jericho, ich habe doch wahrhaftig einen Geschmack im Hals und ein Brennen auf der Zunge, das auch drei dicke Backpflaumen nicht fortbringen können. Das kommt davon, wenn man dreißig Kisten und Schubladen in einem völlig dunklen und verlassenen Store aufziehen und jedes Mal den Finger in das stecken muss, was in diesen Kisten und Schubladen gewesen ist. Das eine Dreckszeug beißt einem auf der Zunge und zieht einem das Maul zusammen, während das andere wie Feuer brennt. Ich wusste doch, es musste jede Menge davon im Store zu finden sein.
David Jericho hielt die beiden Leinenbeutel, die er im Store mit verschiedenen Dingen vollgestopft hatte, rechts und links vor sich. Er hatte die Hände nicht nur um die Zipfel der Beutel, sondern auch um die braune Decke gekrallt, die er vom Bett genommen hatte.
Einen Augenblick lugte Jericho unter der Decke hervor zum Giebel des Hotels hoch, doch oben rührte sich nichts. Die Schritte, die Jericho oben gehört hatte, waren von einem Mann verursacht worden. Dass Don Carlos nur einen Posten auf das Hotel geschickt hatte, sprach für die Sorglosigkeit der Bravados. Wie Jericho es vorausgesehen hatte, waren alle Bewohner, auch die Kinder, nach oben in den Stollen der Mine getrieben worden. Es war unmöglich, dass jemand dort ausbrechen konnte. Der Schmied hatte die beiden schweren Schubriegel sogar selbst anbringen müssen, mit denen die dicke Bohlentür der Sperrwand hinter den Leuten von Wagon Creek verschlossen worden war. Zudem hockten zwei der Bravados im Gang vor der Tür und achteten auf jedes Geräusch.
Bei einem Ausbruchsversuch sollten die Bravados den Stollen in die Luft sprengen und sämtliche Gringos lebendig einschließen.
Der verdammte Teufel hat das für morgen sowieso vor. Deshalb musste die Sperrwand auch so weit in den Stollen gebaut werden. Er braucht nur oben am Hang eine Sprengung auszulösen, dann kracht alles vor dem Eingang herunter und verschließt ihn. Es würde Tage dauern, ehe sich die Leute ausgegraben hätten. Vielleicht mussten sie sogar vorher ersticken. Ist das ein eiskalter Satan!
Der eiskalte Satan schlief jetzt, dessen war Jericho sicher. Don Carlos hatte eine derartige Menge Laudanum gegen seine Schmerzen geschluckt, dass ihm die Augen zugefallen waren. Nicht viel anders musste es seinem Segundo Rual Sastre gehen, der über wahnsinnige Schmerzen gejammert, obwohl er doch nur leicht verwundet worden war. Dafür ging es Buddy Carding mit Sicherheit schlechter. Die Kugel steckte in Cardings Schlüsselbein fest und musste binnen vierundzwanzig Stunden heraus, wenn Carding nicht den Wundbrand bekommen sollte. Der Schmied, Barnes und seine Leute hatten Carding in den Stollen getragen. Sastre hatte ihn, da er seine Revolverhand nach wie vor gebrauchen konnte, erschießen wollen. Don Carlos hatte es jedoch verboten.
Der schlaue Hundesohn, dachte Jericho zähneknirschend. Hätte er das zugelassen, hätte er nicht sicher sein können, dass die Leute, die er zur Ankunft der schwer bewaffneten Holzfäller wieder herunterholen muss, damit die Holzfäller nichts ahnen, auch wirklich sein Spiel mitgemacht hätten. Er braucht sie noch. Sonst hätte er Sastre glatt den Revolver nehmen lassen. Hoffentlich schläft Sastre noch …
David Jericho kroch jetzt schneller, erreichte das offene Hoftor neben dem Hotel und richtete sich hastig auf. Er hatte Rual Sastre absichtlich hingehalten und ihm das Laudanum erst spät gegeben. Der Bravado war auf Jerichos Warnungen, das Mittel könnte zur Neige gehen und der selbsternannte General Don Carlos dann nichts mehr haben, hereingefallen. Selbst ein Halunke wie Sastre konnte sich nicht sicher sein, ob ihn Don Carlos nicht einfach erschoss, wenn er die helfende Medizin des Don vertilgt und der keine mehr hatte.
Dennoch gab es noch eine andere Gefahr. Bei jedem Postenwechsel sahen sowohl der abzulösende, als auch der abgelöste Posten in Jerichos Zimmer. Manchmal kam auch einer der anderen Bravados aus dem Saloonraum herauf. Da die Kerle jetzt alle müde waren, hatte es Jericho kaltblütig riskiert, sich an einem Seil aus dem Fenster in den Hof abzulassen, Jericho blieb sichernd stehen. Oben rührte sich nichts. Niemand schien gemerkt zu haben, dass er sich davongeschlichen hatte. Sich die Decke und die beiden Beutel, die er mit einem Stück Schnur verbunden hatte, um den Hals hängend, kletterte Jericho am Seil die Wand empor. Dann blieb er zusammengekrümmt knapp unter der Fensterbrüstung sitzen, zuckte hoch und war umsonst vorsichtig gewesen. Unter dem Fenster lauerte niemand auf ihn.
»So ist das – jeder macht mal einen Fehler, Señor Carlos«, zischelte Jericho bissig. Er schwang sich in das Zimmer und zog leise die Tür auf. Da er keine Seele sah, verstaute er Seil und Sachen unter dem Bett. Die Tür ließ er nun offen, hockte sich vor das Bett auf den Boden und begann auszupacken. Zuerst legte er den zweiten Revolver, den er aus seinem Leichenwagen geholt hatte – die Bravados hatten zwar einen Blick in seine Werkzeugkiste geworfen, aber nichts von dem eingearbeiteten Doppelboden entdeckt – schussbereit auf die Bettkante. Danach knotete er den ersten Beutel auf und begann zu grinsen, als er die Tüten herausnahm. Er wusste genau, dass er mindestens noch anderthalb Stunden Zeit bis zur nächsten Postenablösung hatte. Zwei der Bravados marschierten dann zum Stollen empor, der dritte stieg auf das Dach.
Es dauerte beinahe eine ganze Stunde, bis er mit seinen Vorbereitungen fertig war. Er hatte sich sogar durch den Flur gewagt und dicht vor der Verbindungstür zur Saloonbalustrade einen kleinen Schraubhaken über dem oberen Türfutter eingedreht. Kein Bravado – sie schliefen unten alle, und er war nur knapp sieben Schritt von ihnen entfernt gewesen hatte etwas von ihm gehört.
David Jericho Graves, der manchmal einem großen, wilden Jungen glich, wenn er sich einen gewaltigen Streich ausdachte, schlich auf Socken in das jener Flurtür gegenüberliegende Zimmer und trat ans Fenster. Dann wusste er, dass seine Berechnungen stimmten. Ein gespanntes und von einem Faden gehaltenes Schlüpfergummi musste bis zu diesem Fenster reichen. Es einzuhaken würde keine Minute dauern.
Ich lache mich tot, wenn das glückt, dachte David Jericho zufrieden. Jetzt habe ich alles beisammen, auch meinen Hammer und mein dünnes Seil. Mal sehen, ob der Segundo nicht munter wird, wenn sich die Wachen ablösen. Ich möchte wetten, der Schurke wacht auf und jammert gleich wieder nach mir.
David Jericho Graves legte sich mit düsteren Gedanken nieder und beschloss zu schlafen, bis ihn die Wachablösung weckte. Auch Sastre, der noch nicht genug Laudanum in sich hatte, würde erwachen. Und was passierte dann …?
*
Sastre starrte David Jericho aus geröteten Augen drohend an, wagte es aber nicht. Jericho anzuschreien, denn er hätte mit seinem Geschrei Don Carlos wecken können. Don Carlos schlief so fest, dass er auch bei der Ablösung der Posten nicht erwacht war.
»Du musst mir noch etwas geben«, keuchte Sastre wütend. »Ich habe viel größere Schmerzen als Don Carlos, du verfluchter Gringo-Totengräber. Wenigstens einen Löffel voll muss ich haben. Oh, Dios, ich kann nicht schlafen, ich halte es vor Schmerzen nicht mehr aus.«
»Nun gut«, antwortete Jericho gepresst und stellte sich ängstlich. »Auf deine Verantwortung, Sastre. In drei Stunden wird es schon wieder hell. Wenn Don Carlos dann munter wird, Schmerzen hat und die Medizin haben will – was dann?«
»Das lass meine Sorge sein, Gringo«, knirschte Sastre bissig. »Wenn es verbraucht ist, gibt es nichts mehr. Madonna, wie soll ich es denn morgen aushalten? Und erst im Sattel, wenn der verfluchte Gaul stuckernd läuft? Mia Madonna, ich werde vor Schmerzen verrückt werden unterwegs. Weißt du denn nicht, was sonst noch helfen kann?«
»Vielleicht finde ich was im Store«, brummelte Jericho. Er hörte die beiden abgelösten Minenstollenposten kommen. Die beiden Bravados kamen herein, trotteten in die Küche und holten sich etwas zu trinken. Dann wurde es unten ruhig, während Jericho umständlich in der Tasche von Doc Sheppard kramte, die man ihm gelassen hatte. »Hier ist es, aber nur ein Löffel voll, mehr nicht.«
Während Rual Sastre den Löffel annahm, ihn an die Lippen setzte und den Kopf zurücklehnte, um das scheußlich schmeckende Zeug mit einem Ruck hinunterzukippen, stellte Jericho die Flasche in die Tasche zurück. Er tat es mit der Rechten. Und dann griff er neben die Flasche.
David Jericho packte blitzschnell den umwickelten Bolzen. Sastre hielt die Augen geschlossen, hatte den Löffel an den Lippen und schüttelte sich jetzt schon. Dann warf er entschlossen den Kopf zurück. In derselben Sekunde riss Jericho die Rechte aus der Tasche.
Der Hieb kam für Rual Sastre wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Der umwickelte Bolzen traf Sastre am Kopf. Den Bruchteil einer Sekunde hatte Jericho den Eindruck, dass der Bravado noch die Augen aufreißen wollte. Er kam jedoch nicht zu mehr als einem Liderzucken, dann sackte er in sich zusammen. Jerichos kaltblütiger Stoß warf Sastre an die Rücklehne des Sofas. Gleichzeitig entfiel dem Bravado der Löffel. Und dann rutschte der Kerl auch schon langsam von der Lehne ab und kippte zur Seite.
»Das war Nummer eins«, zischte Jericho zu Shannon blickend. »Rühr dich nicht. Ich muss den Hundesohn erst versorgen, ehe er deine Stelle einnehmen kann. Sollte jemand hereinsehen, was ich nicht hoffe, hält er ihn vielleicht für dich, wenn ich ihn zudecke.«
»Alle Teufel, was wagst du?«, flüsterte Shannon verstört. »Was hast du gerissener Halunke vor – und wo ist meine kleine Inez? Der Hundesohn Carlos hat gesagt, er hätte sie eingesperrt? Wo ist Inez, Jericho, wo ist meine …«
»Mensch, halt die Klappe, die hole ich da schon heraus, wenn auch mit Gewalt. Zuerst muss ich dich in den Hof schaffen. Traust du dir zu, an einem Seil nach unten abgelassen zu werden und dabei keinen Laut auszustoßen?«
»Ich traue mir sogar zu, mit einem Colt umzugehen – dazu müsste es reichen, Jericho. Mensch, habe ich doch gleich gedacht, dass du etwas vorhättest. Du bist mir verdammt zu sanft und folgsam gewesen. He, Mann …«
»Halt die Klappe!«, knirschte Jericho. »Ich muss auf jedes Geräusch in diesem Bau achten. Du kommst mit Inez heraus, das schwöre ich dir. Sei still, Mensch!«
Jericho fischte die Schnur aus der Tasche. Er brauchte Zeit, um Sastre so ans Bett zu binden, dass er kein Glied mehr rühren konnte. Den schweren Shannon in sein Zimmer zu tragen, ihm das Seil unter den Armen um den Leib zu binden und ihn dann lautlos in den Hof abzulassen, würde lange genug dauern.
Noch mehr Zeit würde er jedoch brauchen, um nach unten in den Raum zu schleichen, in dem die Bravados alle Waffen untergebracht hatten. Danach erst konnte sich Jericho aufmachen, um mit seinem Hammer, den er auch als Wurfhammer benutzen konnte, die beiden Posten vor dem Stollen auszuschalten. Wie er das schaffen sollte, wusste er noch nicht.
David Jericho Graves brach trotz aller Kaltblütigkeit der Angstschweiß aus. Niemand wusste so gut wie Jericho, dass ein einziger Fehler vielleicht nicht nur ein, sondern viele Leben kosten konnten …
*
Was Jericho befürchtet hatte, geschah in derselben Sekunde, in der Mike Shannon an der Wand heruntergesunken war und zu stehen versuchte. Shannon sackte ganz langsam, wenn auch lautlos, zusammen.
»Das Seil«, konnte Jericho nur zischeln. »Versuche, ob du die Seilschlinge lösen kannst, Mikel.«
In Jericho kam etwas wie nagende Furcht auf, bisher war alles glatt verlaufen, aber nun zeigte sich, dass Shannon noch viel zu erschöpft war.
»Ich …, ich schaffe es nicht, Alter.«
»Warte!«
Das blieb alles, was Jericho ihm zuflüsterte. Dann schwang sich Jericho entschlossen nach draußen, rutschte am Seil hinunter und löste die Schlinge.
»Es tut mir so leid, Alter …«
»Sei still, um Gottes willen«, wisperte Jericho warnend. »Ich trage dich jetzt zu meiner Kutsche. Knarren die Federn, ist alles aus. Dann merkt der Posten etwas und kommt über das Dach nachsehen, was im Hof los ist. Ich werde dich ans Hinterrad bringen und …«
»Sssst!«
Shannon zuckte viel später zusammen als Jericho, der bei dem Gezischel hinter sich stocksteif vor Schreck wurde und dann die Hand spreizte.
Irgendjemand war unmittelbar hinter ihm – jenseits der Hausecke zur Straßenseite und dem Hoftor.
»Sssst!«, zischte es schon wieder. »Macht keinen Unsinn – ich bin das, der alte, verrückte Gus!«
Einen Augenblick hatte Jericho das Gefühl, dass ihm die Haare vor Schreck zu Berge gestanden haben mussten. Dann wandte er vorsichtig den Kopf und starrte den Mann an, der wie ein Geist um die Ecke glitt.
Es war Gus Flynn.
»Gerechter Gott«, japste Jericho. »Mensch, wo kommst du denn … Gus, bist du …«
»Ich weiß, dass ich wahnsinnig bin«, zischelte Gus Flynn. Der hagere Mann mit dem Pferdegesicht und den schlaksigen Bewegungen, dessen scharfen Augen nichts entging, was es jemals an Spuren geben konnte, grinste schief und senkte den Revolverlauf. »Tut mir leid, eher konnte ich nicht kommen. Carlos, der Schweinehund, ließ mir zwei Aufpasser drüben, ehe er zur Jagd auf dich davonritt, Mikel. Schon gut, schon gut, Jericho, du brauchst nichts zu sagen. Ich weiß, dass ich hier vogelfrei bin.«
»Und dennoch bist du … Mensch, welcher Irrsinn!«
»Mein Leben ist ein einziger Irrsinn gewesen – bis neulich«, erwiderte Flynn düster. »Irgendwann wurde mir klar, dass ein Mann wie du, Mikel, nur einmal im Leben liebt. Dachte nie, dass es dich so erwischen würde. Na schön, da bin ich Carlos nach.«
»Und … die beiden Aufpasser?«, stammelte Jericho, Fürchterliches ahnend.
»Was schon?«, murmelte Gus Flynn achselzuckend. »Niemand stellt sich Gus Flynn auf die Zehen, wenn der seinen Freund suchen will. Nun bin ich zweifach vogelfrei. Immer ruhig, Jericho, ich bin schon den ganzen Tag hier. Du siehst aber sicher ein, dass ich mich nicht sehen lassen konnte. Wo ist das schönste Girl Mexikos?«
»In der ehemaligen Mehlkammer – und vor dem Fenster ist ein stabiles Gitter«, wisperte Jericho.
»Ich will einen Gaul nehmen, wenn ich mir die beiden Posten am Stollen geschnappt habe und mit dem Gaul und einem Seil das Gitter herausreißen. Vorher sage ich dem Girl Bescheid, dass es hinter dem herausfliegenden Gitter über den Hof rennen und auf meine Kutsche springen soll. Inez war angebunden und hatte auch einen Knebel – Carlos hat sie davon befreien lassen, da sie zu ersticken drohte.«
»Den Hund bringe ich …«
»Sei still!«, unterbrach Jericho Mike Shannons Grimmausbruch. »Es muss nach meinem Plan laufen. Zuerst die beiden Posten oben …«, er verstummte, als er Flynn anblickte.
»Meinst du, ich ließe jemand in meinem Rücken?«, sagte Flynn eisig. »Der eine Bravado ist tot, der andere liegt gebunden an den Steinen. Die Leute haben nichts bemerkt. Ich wollte mir eine Leiter suchen, um auch den Kerl da oben zu erwischen.«
David Jericho schluckte zweimal schwer, dann hatte er Flynns Nachricht verdaut. Er wusste nur zu gut, dass Flynn mit seinem Messer besser als die meisten Mexikaner werfen konnte. Er konnte sich vorstellen, was mit den Posten oben passiert war. Der eine Bravado hatte den Tod nicht mal gehört, der andere Flynn zu spät bemerkt.
»Großer Gott«, lispelte Shannon. »Gus, was riskierst du für mich?«
»Für dich Idioten?«, spöttelte Flynn. »Für das schönste Mädchen Mexikos, Mensch, für wen denn sonst, he? Jericho, mich hat Liebe immer verdammt gerührt – und so was von Liebe – ist ja verrückt, Mann. Nun mal ernsthaft, wie sieht dein Plan aus? Du hast allein mit den Kerlen fertig werden wollen – normal bist du doch noch, oder?«
»Denke ich, wenngleich das von dir niemand behaupten wird«, antwortete Jericho bitterernst. »Also gut, ich erkläre dir den Plan. Danach werden wir entscheiden. Einverstanden?«
Der immer beherrschte und selbst in der Todesgefahr noch kaltes Blut bewahrende Gus Flynn nickte knapp.
Gut, dass er gekommen ist. Es ist mir gleich, weshalb sie ihn suchen und was er getan hat. Dass ein Mann zu seinem Freund und Blutsbruder hält, ist wichtiger als alles andere, was immer man ihm vorwirft. Wenn dies vorbei ist – und ich bin sicher, mit Flynns Hilfe schaffen wir es, sehe ich nicht hin, wenn er seinen Gaul nimmt und fortreitet. Und wenn es mich später den Orden kostet und sie mich sogar einlochen – ich werde dabei bleiben, dass ich vor Angus Flynn meinen Hut jederzeit ziehen würde. Hätte ich jemals einen Freund, dann einen wie Flynn. David Jericho Graves hob den Kopf.
Er hatte sich entschieden – zum zweiten Male in wenigen Tagen gegen Gesetz und Recht.
Vielleicht gab es nicht wenige Leute, die später seine Haltung verstehen und auch billigen würden.
*
Er stand jetzt still und lauschte. Und dann zuckte er einmal, als ein seltsam dumpfes Geräusch ganz leise zu ihm drang. Danach war es ruhig, so still wie in einem Grab über Wagon Creek, das einer Totenstadt glich.
Tot, dachte Jericho fröstelnd, der Bravadoposten auf dem Dach ist tot. Und ich habe es geduldet, ich habe es gewusst, nichts getan, um es zu verhindern. Warum sind sie in unser Land gekommen, warum haben sie die Stadt besetzt – und weshalb haben sie getötet? Nun sterben sie, und mancher wird es ausgleichende Gerechtigkeit nennen, aber – der Tod ist immer schrecklich, auch wenn es um einen verdammten Bravado geht.
David Jericho sah zur Dachkante, dem Kamin, an dem die Leiter lehnte, die sie hinter dem Stall von der Wand genommen und angestellt hatten. Und dann war Flynn hochgestiegen Sprosse um Sprosse, bis er über das Dach hatte lugen können. Flynn war danach über die Kante geglitten, verschwunden geblieben. Und jetzt …
Er kam jetzt, stieg die Leiter herab, sah an Jericho und Shannon vorbei.
Sie schwiegen einen Moment, bis Jericho sich zusammenriss und leise knurrte: »Ich steige jetzt ein und bringe das Zeug an. In fünf Minuten bin ich damit fertig, dann spannen wir die Pferde vor meine Kutsche und machen das Seil am Gitter drüben fest. Alles klar, Flynn?«
»Ja«, sagte Flynn düster. »Mach nur voran, damit es ein Ende nimmt, Jericho.«
Ein Ende nimmt, dachte Jericho, als er am Seil hochkletterte und sich in sein Zimmer schwang. Das ist so doppelsinnig gesagt worden von Flynn, dass einem angst werden könnte. Wie hat er das gemeint – es nimmt ein Ende?
Er fror plötzlich und wurde das verfluchte Frieren erst los, als er mit seinen Sachen losschlich, um das Gummiband zu spannen und die beiden Tüten anzuknoten. Die Richtung stimmte, der Faden saß fest.
Treffen, dachte Jericho, als er das Zimmer verließ und in jenes blickte, in dem Sastre an Mikels Platz auf dem Bett lag. Sastre war wach und starrte ihn mörderisch an.
»Sastre«, sagte Jericho düster, indem er in die Tasche griff. »Ich hatte es die ganze Zeit bei mir in der Innentasche meiner Weste, und ihr habt es nicht gefunden. Jetzt stecke ich es an, das Stück Blech, Sastre. Es ist immer ein gutes Gefühl, wenn man es trägt und weiß, dass man das Gesetz und das Recht gegen Gesindel vertritt. Ihr seid schlimmer als das schlimmste Gesindel, ihr seid in unser Land gekommen und habt einen alten Mann umgebracht, der trotz all seiner Fehler ein guter Mensch war. Als er starb, habe ich mir geschworen, dass ich euch dafür bezahlen lassen würde. Ihr bezahlt jetzt alle, Sastre. Gott sei euren elenden Seelen gnädig!«
Er sagte es und steckte sich dabei den Marshalstern an die Weste. Dann sah er das Entsetzen und die Furcht in Sastres blutunterlaufenen Augen.
Fair, dachte er, als er ging und durch den Flur kam, fair sein, das kann man nicht immer. Du erlebst die Hölle, Carlos Ramirez, und ich gönne sie dir.
Geh dahin, wohin du gehörst mit deinem Gesindel – in die Hölle!
*
Da war ihr Gesicht, dieses schmale, rassige Gesicht mit den großen dunklen Augen, die ihn glänzend anblickten.
Wenn ich, der Mann aus Jerome, nicht meine Miss Lehrerin lieben würde, dann müsste ich dieses Mädchen lieben. Es sieht mich mit Augen an, in denen Sterne zu glitzern scheinen. Ich lese, was dieses Kind denkt, was es fühlt – und ich könnte ihn beinahe beneiden um sie, diesen Mikel Shannon. Was muss es für ein Gefühl sein, von einem Mädchen wie diesem geliebt zu werden? Ich werde es nie wissen – oder weiß ich es doch, kann ich es mir vorstellen? Natürlich kann ich, aber dieses Mädchen gehört Mikel Shannon und sonst niemand auf der Welt. Vielleicht werde ich von diesen Augen und diesem Mund manchmal träumen. Es müssen schöne Träume sein, aber auch traurige …
»Mikel, Mikel«, flüsterte das Mädchen. »Oh, Señor Graves, mein Mike – das vergesse ich Ihnen niemals im Leben, niemals, ich schwöre es.«
»Ja«, sagte David Jericho. »Ja, kleine Inez, ist schon gut. Und nun zurück. Und wenn das Fenster herausfliegt, dann hinaus. Durch das Tor und gleich nach links, wohin der Wagen rollt, verstanden?«
»Si«, lispelte das Mädchen, das eigentlich zu schön für einen Mann allein war. »Si, Señor Graves – mein Freund.«
Freund, dachte Jericho, wandte sich ab und ließ das Seil durch seine Hand laufen. Ja, ich werde dein Freund sein und bleiben, kleine Inez. Heute, morgen und in alle Ewigkeit. Und manchmal werde ich bestimmt träumen, ganz bestimmt. Träume, die niemals in Erfüllung gehen. Vielleicht würde ich für ein Mädchen wie dich meine Miss Lehrerin eintauschen und sie vergessen. Schade, dass ich nur dein Freund sein werde. Und jetzt hole ich dich da heraus, kleine Inez.
Er war schon am Wagen, trat neben die Pferde und hob die Hand mit dem Colt. Sein Seitenblick traf den Mann, der sehnig und hager an der Hausecke stand, in jeder Hand einen Revolver.
Jetzt, Flynn, dachte Jericho, jetzt ziele ich. Ich habe die Laterne oben ins Zimmer gestellt und sehe den Faden ganz deutlich. Ich lege jetzt beidhändig auf, Flynn, dann treffe ich besser. Pass auf, Flynn, du seltsamer Bursche, dem die Treue zu seinem Freund mehr ist als das eigene Leben, pass auf – jetzt!
Der Mann Jericho spannte sich, hielt den Hammer des Revolvers mit dem Daumen fest. Und dann sah er den dünnen Faden, ließ jäh den Hammer fahren.
Rumms!
Der brüllende Knall raste über Wagon Creek hinweg, und der Mann Jericho wusste, dass mit dem Knall die Hölle begann …
*
Er sah den Faden zerplatzen, sodass das dünne Seil, an dem die beiden Tüten hingen, urplötzlich von unten her hochschnellte. Dann verschwanden die Papiertüten, denn das Schlüpfergummi schleuderte sie in die andere Richtung, in der es vorher gespannt worden war.
David Jericho besaß die Gabe, sich das, was geschehen musste, ganz genau vorzustellen. Er hatte das Gummi gespannt. Nun schnellte es los, riss das dünne Seil mit den beiden am Seil festgebundenen Papiertüten mit. Das Seil zischte durch den Flur und jene weit offene Tür. Das Gummi schleuderte die Tüten vorwärts und dorthin, wo jener mächtige Kronleuchter, ein Wagenrad mit sechs Kerosinlampen, von der Decke des Saloons herabhing.
Jetzt sausten die beiden Papptüten auf den Kronleuchter zu. Sie mussten ihn erwischen und dann platzen. Und dann würden die Bravados vielleicht noch eine Wolke sehen, eine Art Staubregen herabrieseln. Und dann?
Die Chinks mit ihren Zöpfen, dachte Jericho, bevor er die Pferde packte und losschrie, um sie vorwärtszureißen, die Chinks nahmen damals gemahlenen Pfeffer und streuten ihn auf die Briten hinab. Dass sie das Zeug an den Klamotten hatten und jeder Ire, wenn er draufschlug, auch eine Ladung Pfeffer in die Augen und die Nase bekam, hatten sie wohl nicht bedacht, die Zopfträger. Ich habe auch Pfeffer gefunden, nachdem ich den Zeigefinger in den verdammten Kasten gesteckt hatte. Da hatte ich den Pfeffer im Hals, der höllisch brannte. Aber dann fand ich das andere Zeug – Alaun. Ich wusste, der Storekeeper würde das Zeug haben. Wenn man das in den Mund bekommt, dann zieht sich die Schleimhaut zusammen. Außerdem brennt und beißt es höllisch in den Augen.
Klatsch!
Bildete er es sich nur ein, oder hörte er es wirklich durch das aufgeregte Gebrüll, das nach dem Schuss und dem Gedonner, mit dem das Gitter aus der Mauer flog? Da klatschte etwas.
Ideen, dachte David Jericho, Ideen muss man nur haben, Carlos, Hundesohn. Pass mal auf, was meine wert sind!
David Jericho rannte neben dem Wagen und seinen Pferden her. Und dann sah er sich um, sah den Schatten aus dem Fenster stürzen, auf die Beine kommen und loshetzen, dass das zerfetzte Kleid flatterte.
»Komm, komm schnell!«
Er rief es und blieb stehen, als die Pferde seinen Leichenwagen mit dem Sarg durch das Tor im Bretterzaun gerissen hatten.
»Inez, schnell, schnell!«
Jericho raste los, flog mit zwei Sätzen nach links, sah das schönste Mädchen Mexikos kommen und hinter Inez plötzlich das Licht in den bisher dunklen Raum einbrechen. Die Tür, dachte Jericho. Er hob den Colt und zielte auf den Mann, der die Tür aufgerissen hatte.
Rumms!
In Jerichos Hand zuckte der Colt und ließ die Feuerlanze hinausrasen. Der Mann, der aus vollem Lauf den Colt hochgerissen hatte, drückte ab. Das Mündungsfeuer erhellte wie ein Blitz den Raum, in dem Inez gefangen gewesen war. Irgendwo links von Jericho fauchte es – strich die Kugel vorbei und traf nur die Stallwand.
Rumms!
Der Knall hallte durch den Raum und das Haus. Der Mann stolperte vorwärts bis an die ausgebrochene Mauerbrüstung. Dann hing er über ihr, den Blick hebend, die Hand erneut hochnehmend.
Rumms!
Der Mann erhielt einen Schlag, sackte weg, nahm noch die Hand hoch und schoss aus dem Fenster gegen den Himmel. Dann war auch die Hand verschwunden, war nur noch das Gebrüll da – ein schauriges Gebrüll: »Demonio, wo ist diese verfluchte Hexe, wo ist …, öchöchö!«
Jetzt ging es los, kam das belebende Husten, brach sich das erste Niesen Bahn.
Die Wolke musste sich gesenkt haben und wurde durch den ganzen Raum gewirbelt. Sie drang in jede Ecke des Saloons, dessen Frontfenster aufstanden. Wenngleich kaum Wind umging, nun entstand Gegenzug, der von der Vorderfront durch den Gang und zu dem gitterlosen Fenster wehte.
»Que es – que es – diablo, was ist das? Porcachona Madonna, was brennt mir da …, öchöchöcö!«
Das Husten brach ab, machte einem Heulen Platz, einem Geniese von vielen Stellen.
Es wirkt, dachte Jericho grimmig, die Halunken heulen sich die Augen aus. Die niesen und husten sich halbtot und können gleich gar nichts mehr tun, weil sie vor lauter Tränen sich gegenseitig nicht mehr erkennen können. Siehst du, Flynn, so wirkt diese Höllenmischung und …
»Flynn – Flynn!«
Irgendwo hinter ihm war ein halb ersticktes Jubeln, hielt das Mädchen aus Mexiko den Gringo Shannon in den Armen und bedeckte sein Gesicht mit Küssen, obgleich der Sarg neben dem Gringo Shannon stand.
»Mikel, mi amor.«
Ja, dachte Jericho und rannte, stürzte vorwärts. Er sah Flynn nicht an der Ecke. »Flynn, du Idiot, wo bist du denn? Flynn!«
Er schrie nach Flynn und merkte es gar nicht. Obwohl er ihn nicht sah, hörte er ihn.
»Carlos – Perro!«, schrie Flynn. »Carlos – Hund!«
»Flynn – Cochino!«
Der Mann stand mitten in der Schwingtür, in jeder Faust einen Revolver.
Er schoss beidhändig, sah den dicken, massigen Körper von Don Carlos zurückfliegen, zwei, dreimal zusammenzucken und in der seltsamen Wolke aus Pfeffer und Alaunpulver bis an den Tresen schwanken. Dann feuerte er auf Emilio, den die Kugeln packten und gegen Raoul warfen. Er erwischte auch noch Raoul, der kopfüber die Treppe zur Balustrade herunterkugelte. Lugo schrie, rieb sich mit der Linken die Augen, feuerte mit der Rechten. Flynn spürte den ersten Schlag, machte zwei Schritte nach links durch die Tür, bis er die Wand im Rücken wusste und sich gegen sie stemmte.
»Eh, Paco, Cochino!«
Paco war immer ein Schwein gewesen.
Nachdem ihn die Kugeln erwischten, krabbelte er noch ein Stück, bis er zu viel Pfeffer und Alaun im Hals und den Augen hatte.
Pepe schoss und machte Flynn das nächste Loch ins Fell. Dann fegte ihn Flynns Kugel über den Tisch hinweg.
»Bueno«, sagte Flynn grinsend. Er hatte es sich so angewöhnt, Spanisch zu sprechen, dass er es auch jetzt tat. »Mierda damnata!«
Es war alles Scheiße, das wusste er, er wäre nie aus diesem Dreck herausgekommen.
»Verdammte Scheiße!«, sagte Flynn, als es ihm die Beine wegziehen wollte. »Das passiert mir doch nicht?«
Er sah Juan halbblind und feuernd auf sich zukommen, hatte diese Mischung aus Pfeffer und Alaun auch schon in Augen und Hand.
»Eh, Juan – aqui estoy – hier bin ich – Jabali – Wildsau!«
Juan schoss neben ihm in die Wand und brachte Flynn zum Lachen. Dann rissen zwei Kugeln Juan die Beine weg. Er fiel auf die Knie, blieb schwankend sitzen und glotzte Flynn groß an.
»Du«, lallte Juan. »Du, Hund? Hätten wir dich doch umgebracht, du Hund. Mierhi daronata!«
Danach kippte Juan auf das Gesicht.
»Flynn, Mensch!«
Ricardo wälzte sich heulend am Boden und kreischte. Er hatte schon eine ganz seltsame Stimme, die sich irgendwie nach einer Kinderstimme anhörte. Dass das Alaun dem Großmaul Ricardo endlich mal alles so zusammenziehen könnte, dass er sich nach einer Ente anhören würde, amüsierte Flynn derart, dass er lachen musste. Dabei weinte er schon Tränen und hatte diesen sauer-bitteren Geschmack im Hals.
»Raus mit dir, Flynn, raus!«
»Was willst du denn, lass mich doch?«, protestierte Flynn auf Spanisch. »Mierda damnata. Es ist egal, wo ich sterbe!«
»Du Idiot!«, keuchte Jericho. »Ich habe dir doch gesagt, dass wir sie ohne große Schießerei alle bekommen würden. Du solltest doch nur auf die Tür schießen, damit keiner heraus konnte. Flynn, was hast du gemacht?«
»Tabula rasa«, grinste der seltsame Bursche. »Reinen Tisch, Mann. Hurra!«
Jericho riss ihn hinaus. Er wollte ihn schleppen, Flynn ließ sich jedoch an der Mauer sacken, bis er saß.
»Du Narr«, sagte Jericho bitter. »Du verdammter Narr, hat sich das gelohnt, ja? Bleib sitzen – ich hole mir den Rest!«
Er riss das Tuch hoch, das er vorher angefeuchtet hatte. Mit zusammengekniffenen Lidern rannte er in den Saloon, schlug den ersten Mann, der heulend am Boden lag und nichts mehr sah, nieder, erwischte den zweiten und fand dann keinen mehr, der noch lebte.
Flynn, dachte er, Mann, du hast es zu hart gemacht. Mit dem Posten oben am Stollen drei Überlebende nein, vier mit Sastre. Ich wollte, ich hätte sie alle, auch Don Carlos. Flynn, Mann, wozu denn das? Oder hast du daran gedacht, dass ein toter Bravado ein guter Bravado ist?
Er schleifte die beiden Kerle hinaus und band ihnen Hände und Füße zusammen. Schließlich hingen die beiden Bravados rechts und links an den Haltebalkenpfosten und würden dort sitzen bleiben müssen, bis er nach oben gejagt war und die Leute von Wagon Creek aus dem Stollen geholt hatte.
»Flynn, ich schicke dir Inez.«
»Tue das – ein schönes Mädchen kann zuletzt kein besserer Anblick sein«, grinste Flynn. »Ich will die Sonne noch aufgehen sehen, Mann.«
»Ja«, sagte Jericho düster und lief zum Wagen, um Inez zu holen.
»Dios, Flynn – er stirbt?«, stammelte Inez. »Señor Graves …«
»Sage mal David«, murmelte Jericho. »Ich möchte hören, wie das klingt. Und dann lauf zu Flynn. Sie darf doch David sagen, Mikel?«
»Sie darf«, nickte Mikel und lag neben dem Sarg. »Sie ist verrückt, Jericho, sie will den Sarg haben. Sie sagt, kein Ramirez sei jemals ohne Sarg begraben worden. Gibst du ihr den Sarg, Alter?«
»Von mir aus«, knurrte Jericho. »Obgleich den Kerl die Geier hätten …, na, schon gut, ich hole die Leute herunter. Sagst du es noch, Inez?«
»David«, flüsterte sie. »David!«
Die Betonung lag auf dem I, das A sprach sie voll aus. Es hörte sich gut an, sehr gut.
»Schön«, sagte David Jericho sanft. »Dafür fahre ich dich und diesen Burschen da auch bis nach Hause, weil meine Kutsche so gut gefedert ist. Auch Tote reisen bequem und komfortabel, was?«
Er konnte es sich nicht verkneifen, rannte zu den Pferden und nahm sich eins, auf dem er ohne Sattel losjagte.
Ja, dachte er, ich packe den Sarg herunter und Carlos hinein. Wenn es Tradition ist, dann soll er den Sarg haben – sie soll ihn haben für ihn. Ein Sarg für Don Carlos, was? Und dann besorge ich Matratzen für Mikel. Danach fahre ich ihn und sie zu der Hazienda drüben, kommt mir auf ein paar Tage gar nicht an. Und die Leute von Wagon Creek können die gefangenen Bravados nach Prescott zu Sheriff Walker bringen.
Wenn sie Walker einen schönen Gruß bestellen und nichts von Flynn oder Mikel verraten, wird das eine Spazierfahrt nach Mexiko, oder?
Einen Augenblick dachte er an die vier überlebenden Bravados. Und dann hatte er eine Vision, die ihm nicht gefiel. Er sah die Männer von Wagon Creek mit vier Bravados reiten und plötzlich anhalten.
»Hört mal«, sagte Barnes düster. »Wozu soll der Sheriff erfahren, dass Mikel Shannon bei uns gewesen ist wozu eigentlich? Stellt euch mal vor, was Jericho deshalb für Ärger bekommen wird. Und was geht es den Sheriff an, wen wir begraben haben? Der Doc hat seinen ewigen Frieden und liegt nun neben seiner Liz und seiner kleinen Tochter. Flynn hat geholfen, uns zu retten, denn die Kerle hätten uns vielleicht den Stollen über dem Kopf in die Luft geblasen. Kein besonders guter Gedanke, dass wir nun alle tot wären, wie? Und nun seht euch das Gesindel an. Es lebt und macht nur Ärger. Will sich einer von euch noch länger ärgern?«
Du großer Gott, Barnes, das wirst du doch wohl nicht machen, Mann, dachte Jericho beklommen. Das sind Gefangene – Bravados, das gebe ich zu, es sind welche. Und sie hätten euch vielleicht auch den Stollen über den Köpfen weggesprengt, nicht wahr? Barnes, ihr werdet doch nicht?
David Jericho kratzte sich am Hinterkopf.
Ich weiß nicht, grübelte er. Kann einer wissen, was Yankees tun, wenn man sie ärgert? Ich weiß nur, dass ich den Sarg für den Schurken Carlos herausrücken werde. Ein schöner, teurer Sarg aus meiner Werkstatt für den Lumpen Carlos. Das ist stark, verdammt!
Dies war das Einzige, was David Jericho Graves genau wusste: es gab einen Sarg für Don Carlos. Das andere wusste Jericho nicht genau – ich auch nicht, Amigos. Ich weiß nur eins mit Sicherheit: Das Mädchen war schön, war wunderschön und hatte die schönsten Augen von ganz Mexiko. Und noch ein bisschen mehr – genug von allem, was ein Mädchen haben muss.
Von vier Bravados, die irgendwer aus Wagon Creek jemals in Prescott abgeliefert hätte, habe ich auch nie etwas gehört. Die Halunken müssen unterwegs irgendwie verlorengegangen sein, fürchte ich. Bravados gelingt ja manchmal die Flucht – wenn sie Glück haben. Ihr werdet doch nicht glauben, dass anständige Bürger keinen Ärger mehr haben wollen? Ich jedenfalls hätte – na, was denn? Was hättet ihr denn mit vier Bravados gemacht?
Eins steht jedenfalls fest: David Jericho lieferte an eine gewisse, hübsche Señorita einen Sarg aus.
Darin nahm er ihr auch noch die Arbeit ab, den Lumpen hineinzupacken und eine Grube für ihn und seine kunstvolle Handarbeit auszuheben. Einem Sarg kann es schließlich egal sein, was für ein Hundesohn in ihm liegt. Auch jenem war es sicher egal, in dem Excelencia Don Carlos seine Reise in die Hölle antrat.
Ein Sarg für Don Carlos, si, si!
Adios, Amigos – ihr seid alle anständige Bürger und wollt keinen Ärger, nehme ich an, oder?