Читать книгу Mami Staffel 4 – Familienroman - Diverse Autoren - Страница 6
ОглавлениеSandra schlich ins Schlafzimmer und betrachtete ihre schlafende Mutter.
»Mamas Konzert war anstrengend«, hatte Papa erklärt. »Du mußt verstehen, daß sie Ruhe braucht.«
Wie schön sie aussah! Das lange rotblonde Haar breitete sich wie Seide auf dem Kissen aus, und ihre Haut war so zart und weiß wie niemandes sonst.
Sandra wartete, bis sie die Augen aufschlug. »Mama, gehst du heute mit mir in den Zoo?«
»Oh, Kind«, seufzte die Mutter nur und streckte sich ein wenig.
»Du hast es aber gesagt…«
»Hab ich das?« fragte Bianca zerstreut.
»Ja. Bitte, Mama.« Die kleine Hand schob sich in ihre.
»Nein, Sandra, es geht wirklich nicht. Ich muß doch noch üben.«
Sandra ließ den Kopf hängen. »Darf ich mit dir üben?« wisperte sie nach einer Pause. Mit ihr üben, das hieß, still neben ihr zu sitzen und ihr manchmal Noten zureichen.
»Heute nicht.« Es klang ein wenig gereizt. »Geh nach draußen spielen.«
Sie sah ihrem Töchterchen nach, wie es, langsam einen Fuß vor den anderen setzend, das Zimmer verließ. Für einen Moment hatte sie ein schlechtes Gewissen. Nun habe ich sie schon wieder enttäuscht, dachte sie. Sie sagte so manches Mal etwas, nur um Sandra zu vertrösten. In den Zoo gehen! Als ob es nichts Wichtigeres gäbe.
Chopin stand als nächstes auf dem Programm, ein selten gespieltes Werk von ihm. Da mußte sie sich hineinknien. Ja, alles wollte sie wieder geben, um das Publikum
zu Begeisterungsstürmen hinzureißen.
Mit allen Gedanken schon bei der Musik, schlug Bianca Fabrizius die seidene Decke zurück und lief ins angrenzende Bad, wo Frau Scholl schon das Wasser einlaufen ließ.
Sandra wußte wieder einmal nicht, was sie mit sich anfangen sollte. Nun war ihre schöne, berühmte Mama mal zu Hause, und sie hatte doch keine Zeit für sie. Aber das war ja meistens so.
Sie sah sich in ihrem Zimmer um. Es war groß, und es gab eine Unmenge Spielsachen darin. Auch Puppen in allen Größen, mit goldlockigen Haaren und langbewimperten Augen. Die sahen alle wie Filmstars aus und waren auch so angezogen. Aber sie waren starr und steif, wenn man sie in den Arm nahm. Wie sollte man sie da liebhaben?
Der Papa hatte ihr schon mal versprochen, ihr eine zum Kuscheln zu kaufen. Das hatte er natürlich längst vergessen. Er hatte ja auch so viel zu tun in seiner Klinik. Da konnte er doch nicht an Puppen denken.
Sie sollte draußen spielen, hatte die Mama gesagt. Also ging Sandra hinaus in den Garten, wo die Sonne schien und die Bäume und Sträucher zu grünen begannen. Sie ging über den Rasen zu »ihrer« Ecke, wo die Schaukel stand und das Klettergerüst mit einer Rutsche. Auch ein Sandkasten war da, aber darüber war sie längst hinaus, mit Förmchen im Sand »Kuchen zu backen«! Das war nur etwas für kleine Kinder, und sie war doch schon fünf.
Sandra setzte sich auf die Schaukel, sie stieß sich mit den Füßen ab, aber, lustlos, wie sie war, kam sie nicht richtig in Schwung. Am Zaun, der das Grundstück begrenzte, sah sie einen Jungen stehen, der durch das Spalier neugierig zu ihr herübersah.
Sie schaute zurück, da lachte er und winkte ihr zu.
Sandra hatte ihn noch nie hier gesehen. Es gab überhaupt kaum Kinder in dieser Straße. Höchstens mal zu Besuch in den umliegenden Häusern.
Schließlich rutschte sie von der Schaukel herunter und ging zu ihm hin. Er war blond, hatte kurz geschnittenes Haar, das gerade in die Luft stand, und ein rundes, rotwangiges Gesicht.
»Hey«, machte er, als sie sich ihm näherte.
»Wo kommst du her?« fragte Sandra.
»Von dort.« Der fremde Junge zeigte auf ein neuerbautes, etwas zurückliegendes Haus. Es hatte zwei Etagen und eine Dachwohnung. »Wir sind neu eingezogen. Da oben wohnen wir, wo die Blumenkästen sind. Wie heißt du?«
»Sandra. Und du?«
»Felix.« Er betrachtete sie ungeniert nach Kinderart, und er fand sie hübsch. Dann ging sein Blick zu dem Haus hin. »Gehört euch das schöne Haus?« wollte er wissen.
»Ja. Da wohne ich mit meinen Eltern drin.«
»Super.« Er hätte gerne noch länger mit ihr geredet, aber er wußte nun nichts mehr. Sie war auch so zierlich, so fein, nicht wie jemand, mit dem man herumtollen und spielen konnte.
Auch Sandra stand unschlüssig. Plötzlich sagte sie: »Wenn du magst, kannst du rüberkommen und mich auf der Schaukel anschubsen. Allein geht die Schaukel schwer.«
Sie hatte es noch nicht ganz ausgesprochen, da kletterte er schon über den Zaun. Verblüfft lachte Sandra auf. Und wie er da heruntersprang, als wäre das nichts. »Du hättest vorn durch die Gartentür kommen können!«
»Pah, wozu denn. Ist doch nicht hoch.« Er streifte sich die Hände an seinen Jeans ab und marschierte geradewegs auf die Schaukel zu. Sandra bewunderte ihn heimlich. Er war bald einen halben Kopf größer als sie, und er hatte
Kraft.
Das zeigte sich auch, als er ihre Schaukel in schwindelnde Höhen trieb. »Jetzt ist es aber genug«, rief Sandra ängstlich. »Sonst flieg ich noch runter.«
»Du mußt dich festhalten«, lachte Felix übermütig. Aber sie war eben nur ein Mädchen und leicht wie eine Feder dazu. Deshalb ließ er die Schaukel sacht ausschwingen.
»Möchtet du jetzt mal?« fragte Sandra.
Er nickte eifrig, und im Nu schwang er hoch hinauf. Dann wollte er mal auf das Klettergerüst. »Da können wir uns vorstellen, wir wären Jäger auf ’nem Hochstand«, meinte er. »Dann kommt eine Wildsau, und wir machen peng-peng!« Er tat, als hielte er ein Gewehr im Arm.
»Wir machen doch kein Tier tot«, sagte Sandra vorwurfsvoll. Überhaupt, was dieser Felix für eine Phantasie hatte!
»Neee«, dehnte der Junge das Wörtchen, »wir doch nicht. Aber so im Wald, wenn es zu viele werden, und manche richten ja auch Schäden an, dann muß schon mal eins dran glauben. So ist das eben.«
»Du gehst wohl schon in die Schule«, vermutete Sandra, als er so daherredete. Felix schüttelte den Kopf. »Erst im Herbst, wenn ich sechs geworden bin.«
Er sauste ein paarmal die Rutsche hinab, dann setzte er sich auf das Gerüst zu Sandra. Plötzlich merkte er auf. »Wer spielt denn da Klavier?«
»Das ist meine Mutter«, antwortete Sandra nicht ohne Stolz. »Es ist ein Flügel, kein Klavier.«
»Ach so.« Felix kannte den Unterschied nicht so genau. Eine Weile hörten sie zu. »Sie kann das aber gut, nicht?«
»Ha«, Sandra warf das Köpfchen in den Nacken, »meine Mutter ist doch auch eine berühmte Pianistin und gibt Konzerte in allen großen Städten.«
»Echt?« Beeindruckt sah der Junge sie an. Dann blickte er auf seine Sandalen. »Meine Mutter«, sagte er, als müßte er dem etwas entgegensetzen, »kann Englisch und Französisch. Sie übersetzt Bücher. Da steht dann vorne drin: Ins Deutsche übersetzt von Beate Herder. So heißt meine Mama nämlich. Die werd’ ich alle mal lesen.«
Sandra dachte darüber nach, wie das wohl ging, Bücher übersetzen. »Muß sie dann gar nicht weg?« fragte sie schließlich.
»Wie, weg?« fragte Felix etwas verwundert zurück.
»Ich meine, ist deine Mutter da immer zu Hause?«
»Ja, klar«, antwortete er eifrig, »wo soll sie denn sonst sein. In unserer neuen Wohnung hat sie jetzt auch Platz für ihren Schreibtisch. Vorher hatten wir es ziemlich eng.«
Eine Mutter, die immer da war… Sandras Gesichtchen nahm einen sehnsüchtigen Ausdruck an. Sie horchte auf die Töne, die herüberklangen. Es waren jetzt immer dieselben Läufe, die Mama übte.
»Da geht deine Mutter wohl auch mal mit dir in den Zoo«, meinte sie.
»Hm, da wollen wir jetzt bald mal hin, da gibt’s jetzt Junge.« Plötzlich sprang er auf. »Ich muß jetzt nach Hause, meiner Mama beim Kochen helfen.«
Das fand Sandra komisch. »Kann sie denn kochen?«
Verdutzt sah Felix sie an. »Pff, du kannst aber fragen«, platzte er heraus. »Das können Mütter doch.«
Sandra nickte etwas geniert. Bei ihnen machte das Frau Scholl. Sie hatte ihre Mama noch nie in der Küche gesehen. Aber dafür war sie ja auch eine große Künstlerin.
»Also tschüs, Sandra!« Auf halbem Wege vom Klettergerüst herab fragte er noch: »Kann ich mal wiederkommen, wenn du draußen bist?«
Sandra nickte. Sie sah ihm nach, wie er sich über den Zaun schwang und hinüberlief zu dem Haus, in dem seine Mutter immer da war.
Sie mußte an diesem Mittag allein mit Frau Scholl essen. Die Mama blieb im Musikzimmer, sie wollte nicht gestört werden, und der Papa war noch in der Klinik.
Von seinem Vater hatte Felix gar nichts gesagt. Was der wohl machte? Sandra nahm sich vor, ihn
das nächste Mal danach zu fragen. Wenn sie schon keinen Bruder bekam, wie sie sich das immer gewünscht hatte, dann konnte Felix vielleicht ihr Freund werden.
*
»Ich hab’ ein Mädchen kennengelernt«, berichtete Felix seiner Mutter. »Sie heißt Sandra. Sie ist ziemlich klein und dünn, aber sonst hübsch.«
»Soso.« Beate schmunzelte in sich hinein. Ihr Sohn fing ja gut an. Sie hackte die Petersilie für die Gemüsesuppe, indessen Felix zwei Teller auf den Tisch stellte und die Löffel danebenlegte. Dann durfte er den Obstsalat mischen und in Glasschalen füllen.
»Sie wohnt in dem großen weißen Haus dahinten«, erzählte er weiter. »Im Garten hat sie einen Spielplatz ganz für sich allein. Ich bin über den Zaun geklettert…« Mit einem Lausbubenlächeln sah er schräg zu seiner Mutter.
»Das solltest du aber besser nicht tun«, meinte sie.
»Warum, hat doch keiner gesehen, und Sandra wollte doch, daß ich sie schaukelte. Ihre Mutter spielt Klavier und reist damit herum. Sie soll berühmt sein. Aber vielleicht hat Sandra auch nur ’n bißchen angegeben. Was denkst du, Mama?«
»Keine Ahnung. Ich kenne die Leute doch nicht. – Bringst du mir noch den Müll weg, Felix?«
Schon flitzte er los zu den Tonnen unten im Hof. Zwei Minuten später war er wieder da. »Wenn wir mal in den Zoo gehen, könnten wir die Sandra vielleicht mitnehmen«, sagte er.
»Sie scheint dich ja sehr zu beschäftigen«, lächelte Beate. »Aber wieso sollte sie mit uns gehen wollen? Wir wissen doch weiter gar nichts von den Nachbarn in der Villa dort.«
»Hm…« Sie hatten sich inzwischen zum Essen niedergesetzt. »Sie ist ein komisches kleines Mädchen«, bemerkte er zwischen zwei Löffeln Suppe.
»Wieso ist sie komisch?«
Felix zuckte die Achseln. »Irgendwie – anders.« Er vermochte es nicht näher auszudrücken.
»Nachher kommt Tante Ingeborg mit Uli«, sagte Beate, um ihren Sohn vom Thema »Sandra« abzubringen. »Da könnt ihr zusammen spielen.«
Ingeborg Basler war Beates Freundin. Sie war Zahnarzthelferin, Mittwochs nachmittags hatte sie frei. Ihr Sohn Ulrich war sieben und auch gut Freund mit dem jüngeren Felix.
Als die beiden kamen, hatte Felix schon die Federbälle bereitgelegt. Die Buben gingen hinunter zum Spielen.
»Und wir machen uns ein gemütliches Kaffeestündchen«, sagte Beate und wollte sich in die Küche begeben, um ihn aufzubrühen. Aber Ingeborg hielt sie zurück.
»Du, ich habe nicht soviel Zeit«, sagte sie etwas hastig. »Kann Uli bei euch bleiben, bis ich ihn abhole, so gegen sechs?«
»Natürlich. Das ist aber schade, daß du schon wieder gehen willst. Hast du Besorgungen zu machen?« Sie verstand schon, daß die Freundin den freien Nachmittag nutzen mußte.
Ingeborg sah beiseite. »Ich bin verabredet…«
Es klang bedeutungsvoll, so daß Beate in scherzhaftem Ton äußerte: »Und mit wem, wenn man fragen darf?«
Ingeborg wandte ihr langsam das Gesicht wieder zu. »Dreimal darfst du raten…« Ein kleines Lächeln hob ihre Mundwinkel.
Betroffen sah Beate ihre Freundin an, in deren Augen ein seltsamer Glanz war. Ingeborg war eine aparte, attraktive Frau, mit ihrem dunklen Pagenkopf, den hohen Wangenknochen und dem etwas großen, schöngeschwungenen Mund. »Du wirst doch keine Dummheiten machen«, sagte sie.
Nur ein Achselzucken war die Antwort. Beate senkte die Lider. Also doch. Sie würde sich wieder mit Torsten Fendrich treffen, ihrem jungen Chef. Seit dieser die Praxis von dem betagten Dr. Müller übernommen hatte, war sie wie ausgewechselt. Sie kaufte sich neue Sachen und beklagte sich nicht mehr über verlängerte Sprechstunden.
»Der Neue ist tatsächlich zum Verlieben«, hatte sie vor einiger Zeit gesagt, »aufmerksam und charmant, wo gibt’s denn heute so was noch.«
Beate hatte das nicht ernstgenommen – bis sie die beiden eines Tages zusammen gesehen hatte. Sie gingen vor ihr her, plaudernd, lachend und scherzend, mit einem rasch gewechselten Kuß auf offener Straße. Ingeborgs schwärmerischer Beschreibung nach konnte der gutaussehende Mann nur Dr. Fendrich sein. Wer denn auch sonst?
Sie hatte die Freundin zur Rede gestellt. Aber Ingeborg lächelte nur. So, wie sie auch jetzt lächelte, verträumt und wissend.
»Wie weit geht eure Beziehung denn schon?« fragte sie.
»Darauf erwartest du wohl keine Antwort von mir, Beate«, erwiderte Ingeborg mit leisem Spott.
Aber Beate war das Antwort genug. »Du hast einen guten Mann, wie kannst du ihn betrügen!« warf sie der anderen heftig vor.
»Gut, aber zum Sterben langweilig«, erwiderte Ingeborg. »Mir ist, als hätte ich jahrelang geschlafen und wäre erst jetzt wieder zum Leben erwacht.
»Werde doch nur nicht so pathetisch. Wohin verrennst du dich? Was denkst du, was daraus werden soll?«
»Danach frag ich jetzt noch nicht. Ich will glücklich sein, auch wenn es vorläufig nur ein gestohlenes Glück sein kann.« Sie griff nach ihrer Handtasche. »Und jetzt gehe ich, bevor du mir weitere Moralpredigten hältst. Ich weiß ja, du meinst es gut. Aber das hier geht nur Torsten und mich etwas an. Bis später, Beate.«
Es geht auch Bertold und Uli sehr viel an, dachte Beate unwillig, während sie nun für sich allein eine Tasse Kaffee bereitete. Wollte Ingeborg die ganze Familie unglücklich machen? Ihre Ehe war sicher nicht besser und nicht schlechter als Millionen andere auch. Nach zehn gemeinsamen Jahren mochte sich der Alltag eingeschlichen haben. Bertold war, zugegeben, weniger temperamentvoll als seine Frau. Er ging seiner Arbeit nach als Angestellter in einem Elektrogeschäft, und abends machte er es sich gern gemütlich zu Hause. Ingeborg hatte sich auch nie besonders beklagt, nur über seine »Pomadigkeit«, wie sie es nannte, hin und wieder eine spöttische Bemerkung gemacht.
Aber sollte sie nicht dennoch zufrieden sein! Es gab keinen wirklichen Streit, keine tiefgreifenden Auseinandersetzungen, Bertold war dem Sohn ein liebevoller Vater.
Mit einem Aufseufzer setzte sich Beate an das Manuskript, das sie zu einem bestimmten Termin dem Verlag abliefern wollte.
War es am Ende doch besser, allein zu sein. Sie hatte wenigstens ihren Seelenfrieden. Wunden waren verheilt, und allein würde sie vermutlich auch bleiben, weil sie ihre einzige große Liebe nicht vergessen konnte. Aber die Erinnerung schmerzte nicht mehr. Sie hatte ihren Felix. Das war aller Dankbarkeit wert.
*
Dr. Clemens Fabrizius war Chirurg in der Rosenberg-Klinik. An diesem Tag hatte er vier Stunden operiert. Es war eine komplizierte Operation gewesen, die ihm und seinem Team höchste Konzentration abverlangte. Die Nervenanspannung ließ erst nach, als er nach Hause fuhr. Das gute Gefühl überwog, ein Leben gerettet zu haben.
Es war erst halb fünf. Clemens freute sich auf die vor ihm liegenden Stunden mit Bianca und mit seinem Töchterchen. Familienleben wurde ja nicht gerade großgeschrieben bei ihnen. Um so kostbarer war es, wenn sie Zeit füreinander hatten.
»Ihre Frau ist in ihrem Schlafzimmer, Herr Doktor«, sagte Frau Scholl, als er Bianca weder im Musikzimmer, noch im Wohnraum oder im Salon fand.
Clemens ging hinauf. Sie hatten getrennte Schlafzimmer. Bianca hatte es von Anbeginn so gewollt, da sie eine sehr unregelmäßige Tageseinteilung hatte. Er hatte es akzeptiert, denn auch bei ihm wurde es manchmal spät, wenn etwas Unvorhergesehenes vorlag.
Überrascht blieb er an der Schwelle stehen. An den breiten Schrankwänden standen die Türen offen, Biancas große Koffer waren zur Hälfte gepackt, über dem Bett lagen Abendkleider und Kostüme hingeworfen.
»Ist es denn schon soweit?« fragte er betroffen. »Ich denke, die Tournée beginnt erst Ende nächster Woche.«
»Ich brauche unbedingt noch ein paar neue Abendkleider, deshalb habe ich mich entschlossen, morgen schon nach Berlin zu fliegen«, sagte Bianca, ohne sich in ihrem Tun stören zu lassen.
Clemens trat näher. Seine Augen hatten sich verdunkelt. »Ich dachte, wir würden uns einen schönen Abend machen. Dieses Wochenende sollte noch uns gehören«, sprach er vor sich hin.
»Geht leider nicht, Clemens. Mir tut es ja auch leid.«
»Tut es dir wirklich leid? Manchmal habe ich das Gefühl, daß dir alles andere wichtiger ist als ich, als unsere Sandra und als dieses Haus.«
»Müssen wir wieder davon anfangen? Ich bin an meine Verträge gebunden, mein Lieber. Es gehört nun einmal dieses und jenes dazu. In diesen Fetzen da hat man mich schon gesehen, und für neue muß ich erst noch die passenden Acessoires auftreiben.«
Geistesabwesend sah Clemens auf die schillernden »Fetzen«, von denen jedes einzelne mehr kostete als manch einer in wochenlanger Arbeit verdiente. Dann sah er auf seine Frau. Sie war ungeschminkt, das lange Haar hatte sie lose aufgesteckt, ein paar Strähnen fielen an ihren Wangen herab. Sie sah sehr jung aus in den schmalgeschnittenen Hosen und dem lose darüberfallenden Pulli mit den hochgeschoppten Ärmeln.
Eine heftige Sehnsucht nach ihr überfiel ihn, sie jetzt in die Arme zu nehmen. Er umfaßte sie und preßte sie an sich, suchte ihren Mund. »Laß das alles jetzt«, raunte er.
»Oh, du riechst nach Krankenhaus!« rief Bianca aus und wandte ihr Gesicht ab.
Ernüchtert ließ er sie los. »Wieso bist du überhaupt schon da?« fragte sie.
Clemens trat einen Schritt zurück. »Ich hatte einen harten Tag, und es lag weiter nichts vor«, antwortete er.
»Na fein. Aber du siehst ja, was ich noch alles zu tun habe. Frau Scholl soll mir nachher noch helfen. Und dann«, ein Lächeln huschte um ihren Mund, ihre Stimme klang weicher, als sie hinzufügte: »Dann haben wir schon noch Zeit füreinander, Clemens.«
Der Mann nickte und wandte sich zum Gehen. Schon an der Tür, fragte er: »Wo ist eigentlich Sandra? In ihrem Zimmer war sie nicht.«
»Sie ist noch im Garten, mit so einem kleinen Jungen aus der Nachbarschaft, der manchmal kommt. Sie spielen zusammen.«
Clemens überlegte, ob er zuerst duschen oder nach seiner Kleinen sehen sollte. Er entschied sich für letzteres. Sandra würde es nicht stören, wenn er noch Krankenhausgeruch mit sich trug.
War das ein hübsches Bild, die beiden Kinder da dicht nebeneinander auf dem Rand des Sandplatzes hockend, seine Sandra mit dem leichtgelockten dunkelblonden Haar und der Junge mit dem ährenblonden Stoppelhaar. Sie schafften an einem turmartigen Gebilde aus Sand, das sie vor sich aufgebaut hatten. So vertieft waren sie, daß sie ihn nicht sogleich bemerkten.
»Hallo«, lächelte Clemens. »Du mochtest doch gar nicht mehr im Sand spielen, Sandra.«
»Papa. Papi!« Sie sprang auf. »Wir haben einen Schloßturm gebaut, guck nur mal, da sind Zinnsoldaten drauf, die bewachen den.«
Ihr Vater sah auf die kleinen Figürchen. »Hoi, wo habt ihr die denn her?«
»Der Felix ist rasch rübergelaufen und hat sie geholt«, berichtete Sandra eifrig. »Er wohnt nicht weit, nämlich da drüben. Und er meinte, die gehörten noch dahin.«
Felix war auch aufgestanden, denn das gehörte sich wohl so. »Guten Tag«, sagte er. »Ich heiße Felix Herder.«
»Guten Tag, mein Junge.« Clemens gab ihm die Hand. »Das ist aber nett, daß du Sandra Gesellschaft leistest.«
»Er kennt ganz viele Geschichten, Papa, von Rittern und so –«
»Sagen nennt man die«, warf Felix ein.
»Die erzählt ihm seine Mama«, fuhr Sandra fort. »Die schreibt Bücher.«
»Übersetzt Bücher«, verbesserte Felix seine kleine Freundin.
»Aha. – Und, ist er jetzt fertig, euer schöner Burgturm?«
»Ne, da links muß er noch befestigt werden.« Schon hockte sich Felix wieder nieder und griff zu der kleinen Schaufel.
Sandra zögerte. »Ich mag aber jetzt nicht mehr, wenn mein Papa da ist.«
»Ja, vielleicht macht ihr das besser erst morgen fertig«, meinte auch ihr Vater. »Es wird doch jetzt kühl, wenn die Sonne fort ist. Noch ist kein Sommer.«
Felix blickte enttäuscht, aber er gehorchte. Er sammelte seine Zinnfiguren ein und steckte sie in die große Tasche seiner Latzhose. »Also dann, tschüs, Sandra. – Auf Wiedersehen, Herr Doktor.« Es klang ausgesucht höflich. Er wußte nämlich inzwischen, daß Sandras Vater ein Doktor war und Bäuche und Brustkörbe aufschnitt und wieder zunähte. Das imponierte ihm mächtig.
»Auf Wiedersehen, Felix. Du kannst durch das Gartentor, das ist offen.«
Sandra kicherte. »Er klettert immer über den Zaun!«
»Hmhm.« Clemens schmunzelte. »Was so ein richtiger Junge ist, nicht?«
Felix sah zu dem hochgewachsenen Mann auf, verschmitzt lachte er zurück. Und fixer denn je sprang er hinüber.
Sandra sagte: »Ich muß mir noch den Sand abklopfen, und in den Schuhen hab ich auch welchen. Sonst macht Frau Scholl ein Gesicht, wenn ich so ins Haus komm.«
Clemens half seinem Töchterchen, sich zu säubern. Wie rosig und belebt ihr oft so stilles Gesichtchen war! Er war ja schon immer der Meinung gewesen, daß sie mehr Umgang mit Kindern haben müßte. Aber in dieser Gegend war kein Kindergarten, und woanders gab es keine Plätze. Vielleicht haben wir uns auch zu wenig darum bemüht, dachte er reuig.
Er nahm die kleine Hand, und so spazierten sie durch den großzügig angelegten Garten. Hier und da verweilte Clemens, er besah sich die vom Gärtner sorgfältig gestutzten Hecken, die angelegten Blumenbeete mit den Tulpen und Narzissen.
Sandra schmiegte sich an ihn. »Papa?«
»Ja, mein Liebling?«
»Mama packt schon wieder Koffer.« Ihr Stimmchen klang dünn.
»Ja, ich weiß«, sagte Clemens gepreßt.
»Mama sagt, sie braucht neue Kleider, darum will sie schon morgen fliegen. Aber sie hat doch so viele schöne Kleider.«
»Ihr Publikum will sie eben immer wieder anders sehen, Sandra. Das muß man verstehen.«
Wie vage sich das anhörte. Er unterdrückte einen Seufzer. Dann, in einer plötzlichen Aufwallung, hob er sein Kind zu sich empor. »Aber wir beide, wir bleiben zusammen, und die Zeit wird auch vorübergehen, bis die Mama wieder da ist.«
Am Abend machte er eine Flasche Champagner auf, um mit seiner Frau auf eine erfolgreiche Tournée anzustoßen. Aber auch das prickelnde Getränk vermochte seine Stimmung nicht aufzuheitern.
»Du bist so ernst, mein Lieber«, sagte Bianca.
»Soll ich es nicht sein, wenn ich weiß, daß wir uns nun wieder viele Wochen nicht sehen werden?« hielt er ihr entgegen.
»Wir können uns doch mal treffen, hier oder da«, schlug sie vor. »Ich werde dich wissen lassen, wo ich gerade bin, und dann kommst du.«
Clemens nahm einen großen Schluck aus seinem Glas, wie um einen bitteren Geschmack hinunterzuspülen. »Und Sandra?« fragte er rauh.
Ein erstaunter Ausdruck trat in Biancas helle graugrüne Augen. »Sandra ist bei Frau Scholl gut aufgehoben. Wo siehst du da ein Problem?«
Der Mann preßte die Lippen zusammen und schwieg. Frau Scholl war eine exzellente Haushälterin, und sie ging auch freundlich und fürsorglich mit Sandra um. Aber konnte das Mutterliebe ersetzen?
»Du bist so sehr mit dir und deiner Musik beschäftigt, daß du gar nicht weißt, was in Sandra vorgeht. Sie ist kein wirklich glückliches Kind. Mir tut das weh.«
Biancas Lider zuckten. »Aber was soll ich denn machen? Soll ich mich in Schuldgefühle hineinsteigern, meine Begabung verfluchen, die es nicht zuläßt, ihr genügend Zeit und Wärme und Zuwendung zu geben?«
»Das erkennst du also immerhin, daß du es ihr daran fehlen läßt«, stellte Clemens fest.
»Ja«, gab sie zu. »Daß ich sie trotzdem liebe, muß sie doch spüren. Ich bitte dich, Clemens, hör auf, mir Vorhaltungen zu machen. Du hast schließlich gewußt, wen du geheiratet hast.«
Clemens nickte vor sich hin. Bianca war ihm wie ein wundervolles Wesen aus einer anderen Welt erschienen. Gemessen an seinem harten Beruf war das ja auch eine andere Welt: Die Kunst, die Musik, soviel unvergängliche Schönheit. Daß er diese Frau hatte für sich gewinnen können, war ihm als ein fast unfaßbares Glück erschienen. Erst im Laufe der Jahre hatte er erkennen müssen, daß er auch Opfer bringen mußte für ihre Kunst. Er, und nicht weniger das Kind.
»Du könntest«, sagte er nach einer Pause schleppend, »dich etwas rarer machen in deinem Beruf. Mußt du dich denn von deinem Agenten von einem Konzert zum anderen jagen lassen? Du hast es doch nicht nötig.«
»Nicht nötig«, wiederholte sie ungeduldig. »Du verstehst überhaupt nichts, Clemens.« Sie streckte ihre Hände von sich und betrachtete ihre langen, schlanken Finger. »Ich muß spielen. Sonst bin ich nur ein halber Mensch. In die Tasten greifen und die Töne über mich hinstürmen lassen… Das ist das Leben für mich.«
»Ja, dann mußt du wohl gehen«, brachte Clemens mit schwerer Stimme hervor.
Sein Verhalten reizte Bianca. Es war doch nicht das erste Mal, daß sie auf eine größere Tournée ging. Wieso machte er heute geradezu ein Drama daraus. Sie brauchte ihre Nerven für die Aufgabe, die vor ihr lag.
»Wenn dir das nicht mehr paßt«, sagte sie mit ungewöhnlicher Schroffheit, »dann mußt du dir eben eine andere Frau suchen, eine Hausfrau, eine Glucke, die jeden Abend auf dich wartet und ihr Kind zu Bett bringt.«
Clemens stand auf, als wäre ihm plötzlich alles zu eng. Waren sie schon so weit gekommen, daß sie solche Worte für ihn fand. Er trat an die Terrassentür und starrte in den dunklen Garten hinaus, lange. Bis Bianca sich hinter ihm rührte, zu ihm kam und ihm die Hand auf die Schulter legte.
»So sollten wir nicht miteinander reden, Bianca«, sagte er leise und schmerzlich.
»Ich habe es nicht so gemeint, Clemens. Wirklich nicht. Ich liebe dich doch. Komm sei gut.«
»Ich liebe dich auch.« Mit einem großen, ernsten Blick umfaßte er ihr schönes Gesicht. Mit ihr zu leben war nicht einfach. Aber ohne sie wäre alles nichts.
Sie bot ihm ihren Mund, er küßte sie. Ihr Körper wurde weich und nachgiebig in seinen Armen, sie drängten zueinander. Versinken, vergessen… Nichts anderes sollte es mehr für sie geben in dieser Nacht.
*
»Darf ich mit Frau Herder in den Zoo gehen, Frau Scholl? Sie will mich mitnehmen«, fragte Sandra etwas atemlos.
»Wer ist Frau Herder?« fragte die Haushälterin.
»Die Mutter von meinem Freund Felix. Er hat gesagt, ich könnte mitkommen.«
»Da hättest du deinen Vater fragen müssen, Sandra.«
»Ich weiß es doch erst seit eben«, verteidigte sich das Kind. »Mein Papa hätte bestimmt nichts dagegen.«
»Kennt er denn diese Frau Herder?«
»Nein, aber er kennt den Felix«, sagte Sandra ein wenig trotzig. Wenn Frau Scholl sie nicht gehen ließ, dann würde sie weinen.
»Ich weiß nicht«, zögerte die Haushälterin, eine gepflegte, etwas streng aussehende Frau um die Fünfzig. Sie trug die Verantwortung für das Kind. Nur ungern wollte sie es einer ihr unbekannten Nachbarin überlassen. Den Jungen hatte sie schon gesehen, er war ihr ziemlich wild vorgekommen, wie er da herumturnte. Wohl kaum der richtige Umgang für die zarte Sandra.
»Ich werde versuchen, deinen Vater in der Klinik zu erreichen«, entschied sie nach einer kurzen Pause, währenddessen Sandras Blick flehend an ihr hing. »Ohne seine Einwilligung kann ich dich nicht fortlassen.« Aber von dort teilte ihr eine freundliche junge Stimme mit, daß der Herr Doktor in einer Besprechung sei und nicht gestört werden wollte. »Oder ist es eine wichtige Privatsache?« fragte sie noch.
»Nein, nein, es ist nicht so wichtig«, antwortete Frau Scholl und legte auf.
Sandra wurde rot. »Es ist wohl wichtig!« rief sie aufschluchzend und lief davon in ihr Zimmer.
Dort schob sie sich einen Stuhl ans Fenster, stützte die Arme auf und sah hinaus auf die Straße. Die Tränen liefen ihr über das Gesicht. Nichts durfte sie, nichts!
Dann sah sie Felix angesaust kommen. Er kündigte sich mit einem schrillen Pfiff an. Dafür steckte er drei Finger in den Mund, und es gellte einem in den Ohren. Aber lustig war es trotzdem. Der ganze Junge sah lustig aus, mit den stracks nach oben stehenden kurzen Haaren und den Sommersprossen auf der Nase, die ihm, wie er sagte, jedes Frühjahr kamen.
Nur hatte Sandra in dieser Minute keinen Sinn dafür.
»Komm runter!« rief er und winkte ihr mit einer weitausholenden Armbewegung zu. »Meine Mutter kommt auch gleich, sie hatte grad noch ’n Anruf.«
Verschämt wischte sich Sandra über die Wangen. »Ich darf nicht mit«, sagte sie betrübt hinunter.
Verblüfft, mit zurückgelegtem Kopf, starrte er sie an. Dann sah er die Straße entlang. »Sie darf nicht mit!« rief er seiner Mutter schon von weitem zu, die leichten Schrittes daherkam.
»Hallo, Sandra, guten Tag!« Die schlanke, mittelgroße Frau im weiten bunten Rock und kurzer Leinenjacke lächelte dem Kind am Fenster zu. »Felix hat mir schon viel von dir erzählt. Kannst du nicht mit uns in den Zoo?«
Daß Felix so eine nette, lieb aussehende Mama hatte, machte es Sandra nur noch schwerer. Sie schüttelte den Kopf. »Weil Frau Scholl Sie nicht kennt, und weil mein Papa Sie auch nicht kennt«, teilte sie mit.
Beate stutzte. »Ach ja, natürlich. Aber dem kann man ja abhelfen.« Sie klingelte an der Tür.
Sandra schöpfte wieder Hoffnung. Sie verließ ihr Zimmer und hörte auf halber Treppe zu, wie Felix’ Mutter und Frau Scholl miteinander redeten.
»Ich verstehe das sehr gut«, sagte Frau Herder. »Ich werde mich demnächst auch mit Herrn Dr. Fabrizius bekanntmachen, wenn unsere Kinder sich nun einmal angefreundet haben.«
Sie durfte mit, sie durfte mit! Sandras Herz hüpfte.
»Ist die Olle so schlimm?« fragte Felix, als sie zur Straßenbahn gingen.
»Nein, schlimm ist Frau Scholl nicht, bestimmt nicht«, antwortete Sandra gerechterweise. »Sie hat nur immer Angst, daß mir was passiert.«
»Mit uns passiert dir nix«, sagte Felix burschikos und kickte einen Stein vor sich her.
An diesem Abend hatte Sandra ihrem Papa unendlich viel zu erzählen. Sie wußte gar nicht, wo sie anfangen sollte, und es geriet ihr auch alles ein bißchen durcheinander, so erlebnisreich und lustig war der Nachmittag bei den vielen Tieren gewesen.
»Und dann ist die Mama von Felix noch mit uns ins Café gegangen. Die ist ganz süß. Papa. Die mußt du auch mal sehen.«
»Hat er eigentlich keinen Vater?« fragte Clemens eher nebenbei.
»Nein. Der ist ganz früh gestorben. Ein Seemann war das. Das Schiff ist untergegangen, hat Felix mir erzählt.«
»Das ist sehr traurig«, bedauerte Clemens.
»Hmhm. Aber Felix ist trotzdem nicht immerzu traurig. Vielleicht, weil er ihn gar nicht gekannt hat. Und sicher auch wegen seiner Mutter«, sagte Sandra altklug. »Du, Papa?« Schmeichelnd nahm sie seine Hand. »Ich hab sie eingeladen, am Sonntag mal zu uns zu kommen. Das durfte ich doch?«
Lächelnd sah Clemens auf sein Töchterchen hinab. »So, meine kleine Maus gibt schon Einladungen. Nun, dann laß sie mal kommen.«
Er wollte Frau Herder anrufen, aber sie kam ihm zuvor.
»Ich hoffe, es war Ihnen recht, daß ich Ihre Sandra für einen Nachmittag mitgenommen habe, Herr Dr. Fabrizius«, sagte sie in liebenswürdigem Ton.
»Ja, selbstverständlich. Es hat ihr viel Freude gemacht«, gab Clemens ebenso zurück. »Mich würde es freuen, wenn wir uns einmal persönlich kennenlernen würden, Frau Herder. Darf ich Sie am Sonntag nachmittag zum Tee erwarten?«
»Auf einen kurzen Nachbarschaftsbesuch, sehr gern«, antwortete Beate.
Sie konnten den Tee draußen auf der Terrasse nehmen. Für die Kinder stellte Frau Scholl Eisbecher mit Papierschirmchen hin. Felix benahm sich mustergültig, und Sandra war ganz glücklich, daß sie ihren Papa mit der so lieben Frau Herder zusammengebracht hatte. Es sah aus, als würde er sie gut leiden mögen. Sie hatte es nicht anders erwartet.
Tatsächlich empfand Clemens eine spontane Sympathie für Beate Herder. Sie sah reizend aus in ihrem rosenholzfarbenen Hemdblusenkleid, das braune Haar lag glänzend in leichten Wellen um den Kopf, auch ihre Augen waren braun und hatten einen warmen Glanz. Die ganze Person strahlte eine Herzenswärme aus, die ihn nicht unberührt ließ.
Dazu war sie eine angenehme, kluge Gesprächspartnerin, wie er alsbald feststellen konnte. Zuerst war es nur eine leichte Unterhaltung über alltägliche Dinge gewesen, an der auch die Kinder teilnehmen konnten, aber dann kamen sie auf Beates Tätigkeit zu sprechen. Ein interessanter Beruf, befand der Hausherr. Bücher und ihre Autoren, das war ein weites Feld.
»Dürfen wir spielen gehen?« fragte Sandra, denn davon verstanden sie doch noch nichts. Felix rutschte auch schon auf seinem Stuhl hin und her.
»Ich komme leider zu wenig zum Lesen«, sagte Clemens, als die beiden davongesprungen waren. »Abends bin ich oft sehr abgespannt. Was tut man da, wenn man allein ist? Man setzt sich vor den Fernseher und läßt sich berieseln, was eigentlich falsch ist.«
»Das tun auch viele, die nicht allein sind«, warf Beate ein.
Clemens nickte. »Die Gespräche verstummen mehr und mehr. Das ist keine gute Entwicklung. – Wie wäre es«, unterbrach er sich, »trinken wir noch ein Glas Wein zusammen, Frau Herder?«
»Ich habe nichts dagegen«, lächelte sie, »obwohl –«
»Es nur ein kurzer Nachbarschaftsbesuch sein sollte, ich weiß. Aber eine angenehme Stunde sollte man nicht beschränken.«
Frau Scholl räumte den Teetisch ab, und er holte eine Flasche Wein und zwei Gläser herbei. Er fühlte sich ausgesprochen wohl in Beate Herders Gesellschaft. Ihre ungezwungene, natürliche Art gefiel ihm sehr.
»Auf gute Nachbarschaft!« sagte er, als er eingeschenkt hatte, und er ließ sein Glas gegen das ihre klingen. Dann kam er auf das vorhin angesprochene Thema zurück.
»Ein englischer Roman, von dem ich gehört habe, würde mich sehr interessieren.« Er nannte ihr Namen und Autor. »Leider reichen meine Sprachkenntnisse nicht aus, um ihn im Original zu lesen.«
Ihr hübsches Gesicht zeigte plötzlich einen verschmitzten Ausdruck. »Er ist soeben in deutscher Sprache erschienen, Herr Fabrizius. Es war ein schönes Stück Arbeit«, nickte sie vor sich hin.
»Oh – haben Sie ihn übersetzt?« entfuhr es Clemens überrascht.
»Ja, der Roman wird bald in allen Buchhandlungen zu haben sein. Die Auslieferung hat begonnen. Aber Sie können ihn auch von mir haben. Der Verlag hat mir bereits einige Exemplare zugeschickt.«
»Da müssen Sie mir aber etwas hineinschreiben«, sagte Clemens mit einem heiteren Lächeln. Doch er meinte es nicht so ernst. »Nein, nein, ich werde ihn mir schon kaufen«, fügte er hinzu.
Zwei Tage später aber überreichte ihm Frau Scholl ein Päckchen. »Das hat der Junge für Sie abgegeben, Herr Doktor.«
Es war das Buch. Mit nachbarschaftlichen Grüßen, Beate Herder hatte sie hineingeschrieben.
*
Manchmal rief Bianca an. Das Gespräch verlief immer in ungefähr gleicher Weise. Sie erkundigte sich, wie es um die Familie bestellt war, doch noch bevor ihr Mann recht Antwort geben konnte, berichtete sie schon von ihren Erfolgen, von den Kritiken, die des Lobes voll waren.
Natürlich war es auch ein Streß, räumte sie ein, alle paar Tage in einem anderen Hotel und nur aus dem Koffer zu leben.
»Du willst es ja nicht anders«, bemerkte Clemens.
»Der Applaus meines Publikums entschädigt mich für alles«, versicherte sie. Dann verlangte auch Sandra nach dem Hörer, und ihre Frage war auch stets dieselbe: »Kommst du bald wieder, Mami?«
»Noch nicht so bald, Schätzchen. Ich habe noch ein großes Programm.«
Als mehr als vier Wochen vergangen waren, verabredeten sie endlich ein Treffen. Clemens hatte Sehnsucht nach ihr.
»Aber wir sehen uns erst nach dem Konzert, ja, bitte«, sagte Bianca. »Es ist ausverkauft, du wirst deinen Platz in der Loge des Musikdirektors haben. Ich wohne im Sheraton-Hotel und werde dir dort ein Zimmer bestellen.«
Sandras Augen bettelten und flehten, daß er sie mitnehmen sollte. Sie träumte doch schon lange davon, ihre berühmte Mama auch einmal bei einem öffentlichen Auftritt zu erleben. Davon, daß sie sie zärtlich umarmen würde, bevor sie zur Bühne eilte.
Daraus wurde freilich nichts, auch wenn der Papa schließlich nachgegeben hatte und sie mitfahren durfte. Man ließ sie nicht vor. Es gab strikte Anweisung, die Künstlerin nicht zu stören.
Aber als Sandra dann mit ihrem Vater in der Loge saß, war diese erste Enttäuschung schnell vergessen. Staunend, mit großen Augen, beobachtete sie, was für eine Menschenmenge da in den großen Saal strömte. Die kamen nun alle, um das Klavierspiel ihrer Mama zu hören, und alle waren angezogen wie zu einem Fest. Ihr Papa hatte ja auch einen dunklen Anzug an, und sie das feine neue Kleidchen, das Frau Scholl extra für diesen Abend mit ihr gekauft hatte.
»Ich bin so aufgeregt, Papa«, flüsterte sie. »Kommt sie jetzt bald?«
Aber erst nach dem dritten Klingelzeichen, als jeder, aber auch jeder Platz besetzt war, wurde es still im Saal.
Und dann erschien sie auf der Bühne – Bianca Fabrizius – ihre Mutter!
Sandra hielt den Atem an. Wie wunderschön sie aussah in ihrem bodenlangen Kleid, wie eine Königin. Das Publikum empfing sie mit Applaus, aber als sie sich an den großen schwarzen Flügel setzte, war es wieder mucksmäuschenstill.
Und sie griff in die Tasten, zauberte Mozartklänge von unsagbarer Zartheit aus dem kostbaren Instrument, und mehr und mehr erfüllte die Musik den hohen Raum, manchmal leidenschaftlich und aufwühlend, dann wieder schwebend und träumerisch verhallend.
Ja, wie aus einem Traum erwachte das Kind, als das Konzert zu Ende war.
»Ist sie nicht wunderbar, Papa?« wisperte sie zu ihm empor.
»Ja, das ist sie.« Seine Stimme klang bewegt. »Komm«, er nahm sie bei der Hand und zog sie von ihrem Platz, »wir gehen jetzt zu ihr in die Garderobe.« Der Applaus verhallte hinter ihnen, als sie sich den Weg dorthin bahnten, aber noch verstummte er nicht.
Blumen über Blumen standen da in der Garderobe, und sie waren es nicht allein, die auf die Künstlerin warten mußten, denn wieder und wieder mußte sie sich ihrem dankbaren Publikum zeigen.
Endlich kam sie, erhitzt, strahlend, glücklich, leicht aufgelöst das goldrote Haar.
»Mami, Mami!« Sandra stürzte auf sie zu.
»Ja, mein Liebling, du hier?!« Weit breiteten sich Biancas Arme aus, um ihr Kind zu umfangen. Und dieser Moment war für Sandra nun noch schöner als alle Träume.
Dann begrüßte sie ihren Mann: »Clemens, schön, daß du gekommen bist.«
Er zog ihre Hand an die Lippen. »Du warst wieder großartig, Bianca.«
Schon umringten alle möglichen Leute die Künstlerin, um sie zu beglückwünschen. Sie waren laut, sie waren überschwenglich, Bianca genoß es und vergaß im allgemeinen Freudentaumel ihr Töchterchen. Bis ihr Blick wieder auf das Kind fiel, das da klein und verwirrt stand und sich an die Hand ihres Vaters klammerte.
»Clemens, bitte«, wandte sie sich an ihn, »fahr doch voraus und bring Sandra schon ins Bett. Wir sehen uns später im Hotel.« Und sie ließ sich, huldvoll lächelnd, von ihrem nächsten Bewunderer die Hand küssen. »Folgen Sie mir tatsächlich von Stadt zu Stadt, Baron?« hörte Clemens sie noch sagen, als er sein kleines Mädchen mit sich nahm.
Sandra sagte nicht mehr viel. Sie war nun sehr müde, so lange war sie noch nie aufgewesen. Sie schlief bald ein in dem breiten Bett, darin sie ganz winzig aussah.
Clemens ging wieder hinunter. Bianca war noch nicht da. Als sie nach etwa einer halben Stunde kam, war sie umgezogen, mit Blumen im Arm, und von einem ganzen Troß umgeben.
»Wer sind diese Menschen?« raunte er ihr zu. »Schick sie weg.«
»Unmöglich, Clemens, es sind die Veranstalter und Honoratioren der Stadt.« Sie wurden ihm vorgestellt. Man ging in den Speisesaal, wo die Tafel gedeckt war. Bianca pflegte immer erst nach dem Konzert zu speisen. Es gab diverse Köstlichkeiten, Champagnerpfropfen knallten dazu. Sie war auch hier strahlender Mittelpunkt, zeigte keine Anzeichen von Müdigkeit.
Es war lange nach Mitternacht, als die Gesellschaft, etwas angeheitert, auseinanderging.
Bianca verabschiedete ihren Mann vor ihrer Tür.
»Ich hatte mir das ja etwas anders gedacht«, sagte Clemens.
»Tut mir leid. Aber so geht das immer zu an einem solchen Abend. Ich gehöre nicht mir allein. Du bleibst doch bis übermorgen, und morgen bin ich frei. Ich werde schon mit euch frühstücken, aber bitte nicht vor zehn.« Sie gab ihm einen flüchtigen Kuß und verschwand in ihrem Zimmer.
Bianca war reizend am nächsten Tag, zärtlich zu dem Kind, ganz liebevolle Gattin zu Clemens. Um
die Mittagszeit unternahmen sie einen Spaziergang, eine glückliche Sandra zwischen sich. Den Nachmittag verbrachten sie in ihrem Appartement, zu dem ein Salon gehörte.
»Ich streiche jeden Tag durch, bis du wiederkommst, Mama«, sagte Sandra. »Es sind noch vierzig Tage, hat Felix gesagt. Der kann schon rechnen.«
»Es werden noch ein paar Tage mehr sein, Schätzchen. In einigen Städten wiederhole ich den Abend, weil nicht alle Platz bekommen haben.«
»Du beabsichtigst die Tournée zu verlängern?« fragte Clemens betroffen.
Als sie nur knapp bejahte, sagte er langsam: »Du nimmst dir sehr viel Freiheit, Bianca.«
»Ich brauche sie, Clemens«, sagte sie kühn. Dabei sahen sie sich ernst und gerade in die Augen.
»Ich habe meinen Urlaub geplant, wir wollten zusammen verreisen…«
»Verschieb ihn«, sagte Bianca leichthin.
»So einfach ist das nicht. Ich habe mich mit meinem Kollegen abgesprochen«, erwiderte Clemens mit gerunzelter Stirn.
Seine Frau zuckte die Achseln. Sie sah auf Sandra, die mit ängstlichen Augen von einem zum anderen blickte.
»Geh nach nebenan, Liebling, da steht ein Fernseher. Nachmittags sind doch Sendungen für Kinder, schau dir ein bißchen was an.«
Sandra gehorchte. Das empfindsame Kind merkte wohl, daß da eine Mißstimmung aufkam. Bisher war alles so schön gewesen. Aber jetzt ärgerte sich der Papa, daß die Mama noch länger von zuhause fortbleiben wollte. Auch sie betrübte das sehr. Natürlich war sie sehr stolz auf ihre Mutter, zumal nach dem gestrigen Abend. Aber waren ihr all die vielen Leute denn wichtiger als sie und ihr Papa? Ein paar Tage länger… Aber wenn nun wieder Wochen daraus wurden?
»Ich habe die Absicht«, begann Bianca, als sie allein waren, »mir von meinen Gagen ein Haus in Südfrankreich zu kaufen. Es ist ein äußerst günstiges Angebot, in traumhafter Lage.«
Clemens glaubte nicht richtig gehört zu haben. »Was willst du mit einem Haus in Südfrankreich?« fragte er fassungslos.
»Mich von Zeit zu Zeit dort erholen. Süden, Sonne, das Meer… Ich habe diese Gegend immer sehr geliebt.«
»Wir haben doch ein schönes Haus«, hielt er ihr entgegen. »Kannst du dich dort nicht erholen zwischen deinen Konzerten? Genügt dir das auf einmal nicht mehr? Soll ich, soll Sandra, noch öfter auf dich verzichten als wir das ohnehin schon müssen?«
»Ich höre schon wieder einen versteckten Vorwurf aus deinen Worten«, behauptete Bianca gereizt.
»Der wohl nicht ganz unberechtigt ist«, sagte Clemens bitter.
»Ihr könnt doch kommen, sooft ihr wollt. Es wird euch als Ferienhaus ebenso gehören wie mir«, erklärte sie, ohne seinen Einwurf zu beachten.
»Das sind doch leere Worte. Ich habe meinen Beruf.«
»Eben«, fiel sie ihm heftig ins Wort, »der dir genauso wichtig ist wie mir der meine. Warum versuchst du immer wieder, mich darin einzuschränken?«
»Das tue ich doch gar nicht.« Clemens schüttelte den Kopf. Sie redeten im Kreis. Das wurde zermürbend wie schon so oft. Und nun auch noch dies: Ein Haus wollte sie kaufen, in dem sie sich »erholen« konnte. Ohne ihn. Ohne ihr Kind.
»Vielleicht willst du ganz deine Freiheit haben.« Seine Stimme schwankte ein wenig. »Manchmal hört es sich fast so an, als würden wir dir allmählich zu einer Last. – Oder«, der Gedanke durchzuckte ihn jäh, »ist da vielleicht ein anderer Mann? An Verehrern fehlt es dir ja nicht.«
»Es gibt keinen anderen Mann, und es wird auch nie einen anderen geben«, widersprach sie erregt. »Ich gehöre meiner Musik und dir. Ich hasse es nur, wenn du mir Vorschriften machen willst. Warum soll ich mir nicht ein Haus in Südfrankreich kaufen, wenn es mir gerade so gefällt.« Herausfordernd sah sie ihn an.
In diesem Augenblick kam Sandra von nebenan. »Ich mag nicht fernsehen«, klagte sie. »Ich möchte bei euch sein.« Und sie lehnte sich gegen ihre Mutter, die im Sessel saß.
»Ja, Schätzchen, ist ja gut.« Bianca streichelte das kleine Gesicht. »Ist ja alles gut…«
Mit einem dunklen Blick sah Clemens auf die beiden, die ihm das Liebste auf der Welt waren. Nichts war gut. Sie entfernten sich voneinander, und er wußte nicht, wie er das aufhalten sollte.
*
»Ingeborg ist zu ihrer Tante nach Karlsruhe gefahren«, sagte Bertold Basler. »Die ist nach ihrer Operation noch nicht so recht auf dem Posten, da will sie sich ein bißchen um sie kümmern an diesem Wochenende. Morgen abend kommt sie wieder. Gibt es einen besonderen Grund für deinen Anruf?«
»Nein, ich wollte mich nur mal wieder melden, weil ich länger nichts von dir gehört habe«, gab Beate zurück. Eine Alarmglocke hatte bei ihr angeschlagen. War Ingeborg wirklich bei ihrer Tante? Sie erinnerte sich nicht, daß da jemals ein besonders herzliches Verhältnis bestanden hatte.
»Ja, in der Praxis ist immer viel zu tun, manchmal kommt sie sehr spät nach Hause«, hörte sie den Mann ihrer Freundin sagen.
Oh, du ahnungsloser Engel, dachte sie.
Aber möglichst leichthin bemerkte sie: »Dann müßt ihr also sehen, wie ihr allein zurechtkommt, ihr beiden Männer. Ich wollte heute nachmittag mit Felix ins Freibad fahren. Es ist ja heute schon fast sommerlich warm.«
»Das ist eigentlich eine gute Idee«, stimmte Bertold ihr zu. »Da könnte ich mich doch mit Uli anschließen.«
»Natürlich, wenn ihr Lust habt«, sagte Beate lebhaft. »Felix wird sich freuen, wenn er Gesellschaft hat.«
»Ich hole euch ab. Um zwei, paßt das?«
Es paßte. Sie verstauten ihre Badesachen in Bertolds Wagen, die Söhne hatten sich gleich viel zu erzählen.
Es herrschte viel Betrieb da draußen, was kein Wunder war bei dem schönen Wetter an diesem Samstag. Zum Glück fanden sie doch noch einen angenehmen Platz auf der großen Wiese im Halbschatten eines Baumes.
Dort lagerten Beate und Bertold nach dem Schwimmen, während die Jungs sich weiter am Wasser vergnügten.
»Hat Ingeborg sich eigentlich bei dir mal über irgend etwas beklagt?« fragte der Mann nach einem längeren Schweigen.
Das kam so unvermutet, daß Beate aufhorchte. »Worüber sollte sie sich denn beklagen?«
»Ich weiß ja nicht.« Er zupfte ein paar Grashalme neben der Matte aus. »Ihr seid doch gute Freundinnen, und einer Freundin vertraut sich eine Frau vielleicht eher an als dem eigenen Mann…« Ein nachdenklicher Ausdruck stand in seinem Gesicht.
Beate, die ausgestreckt lag, die Arme unter dem Nacken verschränkt, sah in das Laubdach über ihr. War er am Ende doch nicht so ahnungslos, wie sie dachte? »Ich habe Ingeborg seit zwei, drei Wochen nicht mehr gesehen, Bertold«, sagte sie ausweichend.
»Hmhm.« Wiederum zögerte er. »Es mag ja sein, daß ich es mir nur einbilde, daß ihr manches nicht mehr paßt. Sie ist launisch geworden, so wechselnd in ihren Stimmungen. Vielleicht ist sie auch nur überarbeitet. Ich habe ihr schon vorgeschlagen, daß sie nur noch halbtags in die Praxis gehen soll, wenn dieser Dr. Fendrich sie über Gebühr in Anspruch nimmt. Dann soll er eben noch eine Kraft einstellen.«
»Aber das will sie wohl nicht«, bemerkte Beate, um Zeit zu gewinnen. Was sollte sie dazu sagen. Sollte sie sagen: Deine Frau betrügt dich. Wüßte sie doch nur nichts davon!
Bertold seufzte auf. »Nein, sie will es nicht. Dabei wäre es auch besser für Uli, wenn seine Mutter ab mittags zu Hause sein könnte.«
»Was ist mit Uli?« Sein Sohn Ulrich hatte sich von hinten angeschlichen und sprang ihm auf den Rücken. Er hatte nur gerade seinen Namen gehört.
»Du Räuber!« Auflachend duckte sich der Vater. »Wo hast du denn Felix gelassen?« Aber da kam er auch schon, warf sich neben seiner Mutter auf die Matte. »Da ist so ein großer Junge, der ärgert uns immer, aber ich hab ihn zurückgeärgert«, berichtete er.
»Das ist so ein Blödian, der ist bei uns in der Schule«, warf Uli ein.
Zu Beates Erleichterung waren sie damit von dem heiklen Thema abgekommen. Sie nahm sich vor, Ingeborg nochmals ins Gewissen zu reden. Ihr Groll richtete sich aber auch gegen diesen Dr. Fendrich, der leichtfertig und skrupellos mit seiner verheirateten Assistentin eine Liaison anfing. Ja, wirklich, sie mußte alles tun, um die Freundin vor dem Abgrund zurückzureißen, auf den sie zusteuerte.
Doch dazu sollte es nicht mehr kommen.
Am Abend, als sein Sohn schon schlief, griff Bertold spontan zum Hörer und wählte die Nummer der Tante Hannelore Milster in Karlsruhe.
»Bertold«, sagte die ältere Dame erstaunt, nachdem er sich gemeldet hatte, »daß du mich mal anrufst!«
»Wie geht es dir?« erkundigte er sich. »Ich hoffe, du bist auf dem Wege der Besserung.«
»Ja, ja, es geht schon wieder, danke der Nachfrage. Es muß ja gehen.«
»Und, macht ihr es euch gemütlich zusammen?« fragte Bertold angeregt.
»Wer – wir? Ich bin doch allein. Mein einziger Freund ist der Fernseher«, kam es trocken zurück.
Bertold stutzte. »Aber Ingeborg ist doch bei dir?«
»Ingeborg?« Das klang mehr als verwundert. »Wann hätte Ingeborg mich mal besucht. Ich verstehe das ja auch, daß sie dafür gar keine Zeit hat. Mit Beruf und Familie ist sie eingespannt genug.«
Bertold war es, als würde ihm der Boden unter den Füßen weggezogen. Sekundenlang war er keines Wortes fähig.
»Wieso kommst du denn darauf, Bertold?« fragte Hannelore Milster in verändertem Ton. »Wollte sie denn zu mir?«
»Ja… Sie ist heute vormittag losgefahren… Mein Gott, da muß doch etwas passiert sein!« stieß er hervor.
»Ist sie mit dem Wagen gefahren?« fragte die Tante nun auch aufgeregt.
»Nein, mit dem Zug. Sie wollte zum Bahnhof.«
»Aber da kann doch eigentlich nichts passiert sein. Und wenn,
hättest du Nachricht bekommen. Sie hat doch einen Ausweis bei sich.«
»Aber was sollte denn sonst sein?« Der Mann atmete schwer.
Ratlos schwiegen sie beide. Bis Bertold sagte: »Entschuldige, daß ich dich angerufen und auch in Aufregung versetzt habe, Tante Hannelore.«
»Aber ich bitte dich, Bertold.« Sie räusperte sich. »Vielleicht«, fuhr sie zögernd fort, »ist sie statt zu der alten Tante lieber zu einer Freundin gefahren, und alles wird sich ganz harmlos aufklären.«
»Das möchte ich gern glauben. Aber ich wüßte nicht, wo
sie noch eine Freundin hätte. Und daß Ingeborg es sich so plötzlich anders überlegt haben sollte, erscheint mir auch unwahrscheinlich.«
»Ruf mich bitte an, wenn du etwas erfährst, denn natürlich mache ich mir jetzt auch Sorgen.«
Bertold versprach es. – Und was jetzt? Alles in ihm war in Aufruhr. Es erschien ihm undenkbar, tatenlos in der stillen Wohnung zu sitzen, die Minuten zu Stunden vergehen zu lassen und von schrecklichen Bildern bedrängt zu werden. Frauen wurden verschleppt, vergewaltigt…
Aber doch nicht an einem hellichten Frühlingstag, versuchte sich sein Verstand gegen solche Horrorvorstellungen zu wehren, nicht bei einer so harmlosen Reise von Stadt zu Stadt.
Mitten in seine wirren Überlegungen hinein läutete das Telefon. Er riß den Hörer an sich.
»Hallo, guten Abend«, sagte die muntere Stimme seiner Frau, »ich wollte mich mal erkundigen, wie es bei euch läuft. Ward ihr beim Italiener zum Essen, wie wir es besprochen hatten?«
»Wo bist du, Ingeborg?« Bertold begriff jetzt überhaupt nichts mehr.
»Wo soll ich sein? Tante Hannelore geht doch abends nicht mehr weg. Wir sitzen hier zusammen. Sie läßt dich grüßen.«
»Danke«, sagte er mechanisch und starrte gegen die Wand.
»Ist Uli schon im Bett? Was habt ihr denn heute getan?«
»Ja, Uli schläft schon. Wir waren den ganzen Nachmittag mit Beate und Felix im Freibad.« Bertold war es, als stünde ein anderer neben ihm und antwortete an seiner Stelle.
»Wie nett. Also, dann macht’s gut, ihr beiden. Bis morgen.«
Eine Nacht lag dazwischen, in der Bertold Basler begreifen mußte, daß seine Frau ihn betrog. Aus welchem Grund sollte sie sonst ein solches Lügennetz um ihn spinnen.
War seine Ehe denn auf Sand gebaut gewesen? Zehn Jahre waren sie verheiratet. Es waren gute Jahre gewesen. So hatte er es zumindest empfunden. Was war mit Ingeborg geschehen, daß sie ihr auf einmal nichts mehr gelten sollten?
Bereits am frühen Sonntagmorgen rief Hannelore Milster an. »Hast du denn noch nichts von Ingeborg gehört?« fragte sie unruhig.
Ach Gott, daß er sie vergessen hatte, nach diesem Schlag, der ihn niedergeschmettert hatte!
»Doch, es hat sich aufgeklärt, Tante Hannelore. Ingeborg soll es dir selber erzählen, warum sie ihre Absicht geändert hatte.«
Ihr würde schon irgend etwas einfallen. Auf eine Lüge mehr oder weniger kam es ihr sicher nicht an.
»Gut, daß du wieder da bist, Mama«, empfing Uli seine Mutter, als sie gegen abend heimkam. »Mit Papa war heute nicht richtig was anzufangen. Er hat mich dann zu Tante Beate gebracht. Da hab ich mit Felix Federball gespielt und so.«
Sein Vater legte ihm die Hand auf die Schulter. »Solltest du nicht noch mal in deine Bücher sehen, wegen der Klassenarbeit, die ihr morgen schreibt?«
»Ooch«, machte Uli. Aber er zog es doch vor, zu gehorchen, und ging in sein Zimmer. Sein Vater war wirklich nicht gut drauf. Es war eben nix, wenn die Mutti nicht da war.
Mit einem düsteren Blick wandte sich Bertold an seine Frau.
»Bevor du mir erzählst, wie nett es bei deiner Tante war, sollst du wissen, daß ich gestern bei ihr angerufen habe. Es war eine peinliche Sache, wie du dir denken kannst. Dein ganzes Lügengebäude ist also haltlos geworden.«
Glühende Röte stieg in Ingeborgs Gesicht. Mit einer schroffen Bewegung kehrte sie sich von ihm ab.
»Es liegt wohl auf der Hand, daß du mich betrügst«, sprach Bertold weiter. »Wer ist der Mann?«
»Dr. Fendrich«, sagte Ingeborg tonlos.
Bertold nickte, als habe er es geahnt. Diese merkwürdigen Überstunden, zu denen sie sich so bereitwillig hergab, ihr verändertes Wesen…
»Jetzt weiß ich doch, wie einem Mann zumute ist, dem Hörner aufgesetzt werden. Schämst du dich eigentlich nicht?« Neben aller Bitterkeit klang Verachtung in seiner Stimme auf.
Ingeborg fuhr herum. Ihre Augen flackerten, ihr Atem ging rasch. »Wir lieben uns, Bertold«, stieß sie hervor. »Ich hätte es dir vielleicht schon früher sagen sollen. Aber«, sie schluckte hart, »ich weiß auch, was ich damit aufs Spiel setze.«
»Unsere Ehe. Willst du dich scheiden lassen?«
Sie wandte den Kopf und sah zu Boden.
»Es ist wohl bequemer zu lügen und zu denken, der Trottel von einem Ehemann merkte nichts…«
»Bequemer ist es nicht, wenn man nicht den Mut hat, klare Verhältnisse zu schaffen. Ich habe auch mit Torsten noch nicht darüber gesprochen.« Ihre Stimme erhob sich. »Du mußt nicht denken, daß ich es mir so leicht mache, Bertold! Es geht ja auch um den Jungen.«
»Der Junge bleibt bei mir, wie es auch kommen mag, das muß dir klar sein«, sagte Bertold mit Härte.
Sie maßen sich mit Blicken wie zwei Fremde.
Daß sich doch zwischen zwei Menschen, die jahrelang unverbrüchlich zusammengehörten, ein solcher Abgrund auftun konnte!
»Wir wollen später weiter reden, Ingeborg. Unserem Sohn wollen wir doch so lange wie möglich seine Unbefangenheit bewahren.«
Aber im Grunde genommen gab es gar nichts zu reden an diesem Abend. Noch nicht. Die quälenden Auseinandersetzungen würden erst später kommen, wenn die Starre wich. Ihre Worte »Wir lieben uns«, dröhnten noch in Bertolds Ohren. Einfach so: Wir lieben uns, hatte sie gesagt. Daß ihr das Ungeheuerliche über die Lippen gekommen war.
Ingeborg suchte auch nicht nach Erklärungen. Er würde es doch nicht verstehen. Sie dachte an Torsten, und was er dazu sagen würde, daß ihr Mann es nun wußte. Sie spürte seine Küsse noch auf ihrem Mund, und sie zitterte dem nächsten Tag entgegen.
Die anderen Helferinnen in der Praxis hatten es längst gemerkt, daß zwischen dem Doktor und Ingeborg Basler etwas spielte, auch wenn diese den Schein zu wahren suchten und bei der Arbeit betont offiziell miteinander umgingen.
Sie sahen sich denn auch nur bedeutsam an, als sie nach beendeter Sprechstunde die Kollegin etwas abseits vor dem Haus auf und ab gehend bemerkten. Anscheinend hatten die beiden wieder ein Rendezvous.
»Daß sie sich nicht schämt, wo Mann und Kind zu Hause auf sie warten«, sagte Beatrix zu Anja, mit der sie zur Straßenbahn ging. »Ich hätte das nie von ihr gedacht. Als unser Dr. Müller noch da war, haben wir uns immer prima verstanden. Jetzt sehe ich sie in einem anderen Licht.«
Anja zuckte die Achseln. »Soll ja oft genug vorkommen, daß verheiratete Frauen Seitensprünge machen. Der Fendrich hat ihr den Kopf verdreht.«
Als er kam und mit raschen Schritten auf seinen Wagen zugehen wollte, stellte sich Ingeborg ihm in den Weg.
»Aber heute doch nicht«, sagte der Mann, noch bevor sie den Mund auftun konnte. »Ich habe etwas vor.«
»Doch, bitte«, versetzte sie mit blasser Stimme. »Ich muß mit dir reden.« Auch ihr Gesicht war blaß, sie hatte Schatten unter den Augen.
»Was ist denn los? Du warst unaufmerksam heute, Ingeborg.«
»Entschuldige.« Ihre Lider zuckten. »Du wirst es mir nachsehen, wenn ich dir sage, was passiert ist.«
Mit einem langen Blick sah er sie an. »Dann komm, steig ein«, sagte er kurz und ging ihr voraus.
»Fahren wir zu dir«, bat sie, als sie nebeneinander im Wagen saßen.
»Ich sage dir doch, daß ich heute keine Zeit habe«, kam es etwas ungeduldig zurück. »Hatten wir nicht das ganze Wochenende zusammen?«
Da hatte er andere Töne für sie gehabt. Da war sie sein Ingelein gewesen. Ihre Hände krampften sich um ihre Tasche. Am liebsten wäre sie davongelaufen. Aber das ging nun nicht mehr.
»Also sag schon, was du auf dem Herzen hast«, drängte Torsten Fendrich.
»Mein Mann weiß alles«, preßte Ingeborg hervor. »Er hat bei meiner Tante angerufen, und so ist die Sache aufgeflogen.«
»Ach herrje! Was hast du ihm denn gesagt, hast du dich herausreden können?« Dabei warf er einen raschen Blick auf die Uhr.
»Ich habe ihm die Wahrheit gesagt, Torsten. Daß wir uns lieben… Aber ich weiß nicht, wie es jetzt weitergehen soll«, fügte sie beinahe flüsternd hinzu, während ihr Kopf ihr auf die Brust sank.
»Ja, Ingeborg, aber was soll ich denn dabei tun?« Es schien ihn nicht einmal sonderlich zu berühren. »Du mußt schon allein sehen, wie du jetzt aus dieser dummen Geschichte wieder herauskommst.«
Ingeborg zuckte zusammen. Eine dumme Geschichte nannte er es! War das noch der Mann, der ihre Beziehung für eine zauberhafte Romanze gehalten hatte und sich wünschte, daß es nicht nur eine Episode bleiben möge?
»Irgendwie wirst du deinen Mann schon wieder versöhnen können«, fuhr er fort. »Du hast ihn mir doch als einen ruhigen, gutmütigen Typ hingestellt. Er wird sich nicht gerade mit mir duellieren wollen. Wir werden eben in Zukunft vorsichtiger sein.«
So elend fühlte sich Ingeborg, daß sie keines weiteren Wortes fähig war. Was hatte sie sich denn nur vorgestellt? Daß Torsten sie tröstend in den Arm nehmen würde, ihr am Ende sagen würde: Es sollte wohl so sein, nun dürfen wir uns zueinander bekennen.
Törin, die sie gewesen war! Er wollte sie ja gar nicht für immer, wie er im Rausch der Sinne vorgegeben hatte.
Illusionen, nichts als Illusionen!
Torstens Finger trommelten auf das Steuerrad. Richtig, er hatte es ja eilig, fortzukommen. »Entschuldige, daß ich dich aufgehalten habe«, sagte sie tonlos, stieg aus und lief wie mit frierend hochgezogenen Schultern davon.
*
»Okay, wenn du unbedingt meinst, daß ich neue Schuhe brauche, dann gehn wir eben, Mama«, sagte Felix zu seiner Mutter. Er hatte eine merkwürdige Abneigung dagegen, in Geschäfte zu gehen und etwas anzuprobieren.
»Wenn wir unsere Einkäufe erledigt haben, besuchen wir auf dem Rückweg Tante Ingeborg, da kannst du mit Uli spielen.«
Beate machte sich Sorgen um die Familie, seit Bertold ihr am Samstag überraschenderweise den Sohn gebracht hatte. Wie versteinert war sein Gesicht gewesen, aber er hatte nur gesagt: »Frag mich nichts.«
Sie hatte es danach nicht gewagt, dort anzurufen, und Ingeborg rührte sich auch nicht. Jetzt verlangte es sie aber doch zu wissen, wie es um die Menschen stand, mit denen sie seit langem freundschaftlich verbunden war.
Uli spielte mit einem anderen Jungen vor dem Haus, als Beate, mit einer Einkaufstüte und an der linken Hand ihr Söhnchen, die Straße entlangkam. Sie ließen ein ferngesteuertes Spielzeugauto dort herumsausen. Als Uli sie entdeckte, lief er auf sie zu.
»Ich muß dir was sagen, Tante Beate!« Er winkte sie zu sich herab, sie beugte sich über ihn. »Bei uns ist es gar nicht mehr schön«, tuschelte er ihr ins Ohr. »Meine Eltern reden fast nichts mehr zusammen, und sie schlafen auch nicht mehr zusammen. Papa nimmt immer sein Bettzeug und schläft auf der Couch.«
»Was flüsterst du denn?« entrüstete sich Felix. »Mich siehst du wohl überhaupt nicht.«
Beate strich Uli über das Haar. »Ist deine Mutti denn jetzt da?«
»Ja, ist doch Mittwoch. Sie ist überhaupt nicht mehr so oft weg. Möcht nur wissen, warum sie sich denn böse sind. Vielleicht kriegst du das raus, Tante Beate.«
Beate nickte ungewiß. »Ich geh erst mal allein hinein. Laßt Felix mit euch spielen.« Der war schon bei dem anderen Jungen und ließ sich mit ihm wichtig über das Auto aus.
Mit einem halben und nur gezwungenen Lächeln begrüßten sich die Freundinnen. Ingeborg war beim Bügeln. »Laß dich nicht stören«, sagte Beate. »Ich setze mich da hin und schau dir zu.«
Ein paar Minuten lang plauderten sie über völlig alltägliche Dinge, das Wetter, die neuen Schuhe von Felix und wie teuer Kindersachen doch waren.
Dann schaltete Ingeborg das Bügeleisen ab. »Ich glaube, wir brauchen uns nichts vorzumachen, Beate. Du wirst schon wissen, was los ist.«
»Ich ahne es nur, Inge. Du warst gar nicht bei deiner Tante, und Bertold muß irgendwie dahintergekommen sein. Er sah schrecklich aus, als er neulich sonntags zu mir kam und Uli brachte.«
Mit müder Miene wandte sich Ingeborg zum Schrank. »Trinkst du einen Kognak mit mir?«
»Jetzt schon, am Nachmittag? He, du wirst doch nicht das Trinken anfangen!« Es sollte scherzhaft klingen.
»Manchmal ist mir danach«, behauptete Ingeborg und schenkte ein.
»Füge den Torheiten, die du schon begangen hast, nicht noch eine neue hinzu«, sagte Beate energisch. Sie sah die Freundin an. »Wie soll es denn nun weitergehen bei euch?«
»Keine Ahnung.« Ingeborg setzte sich, sie nahm einen Schluck. »Es wärmt ein bißchen, weißt du«, murmelte sie wie entschuldigend. Dann fuhr sie fort: »Bertold redet nur noch das Notwendigste mit mir. Er ist von einer Kälte, die mich frieren läßt.«
»Wundert dich das? Innerlich mag er leiden wie ein Hund. Will er sich scheiden lassen?«
»Nein, das will er nicht. Wegen Uli. Unser Sohn soll nicht zu den unzähligen Scheidungswaisen gehören. Wenn ich es wollte, würde er das Sorgerecht für sich erkämpfen. Und wie sollte ich auf Uli verzichten können…« Ihre Stimme war immer leiser geworden.
»Das alles hättest du dir früher überlegen müssen«, sagte Beate unbarmherzig. Tatsächlich galt ihr Mitgefühl mehr Bertold und dem kleinen Ulrich als der Freundin. »Wie stellt sich denn eigentlich dein Liebhaber dazu, dein wunderbarer Torsten Fendrich?«
Ingeborg senkte die Lider, Röte stieg ihr in die blassen Wangen. »Er ist nicht mehr mein Liebhaber«, erwiderte sie fast abweisend. »Dr. Fendrich ist nur noch mein Chef.«
»Ach was, auf einmal«, wunderte sich Beate. »Ist die himmelhochjauchzende Verliebtheit schon verraucht?«
»Er will nichts zu tun haben mit meiner Ehemisere. Als er davon erfuhr, hat er sehr kühl reagiert.« Sie schluckte hart. »Es hat weh getan«, gab sie zu. Sie nahm den letzten Schluck aus ihrem Glas.
Irgendwie tat sie Beate nun doch leid. »Ich möchte nicht in deiner Haut stecken, Ingeborg. Du mußt jetzt durchhalten und darauf hoffen, daß Bertold dir verzeiht. Ich wünsche euch sehr, daß ihr eines Tages wieder zusammenfindet.« In diesem Moment klingelte es. Die Kinder kamen herein. »Tag, Tante Inge«, sagte Felix.
»Jochen mußte nach Hause«, berichtete Uli. »Ich hol uns mal die Bälle.«
»Nein, wir gehen jetzt«, bestimmte Beate. »Deine Mama hat zu tun, da liegt noch viel Bügelwäsche. Du kommst bald mal wieder mit uns ins Freibad, Uli.« Sie legte den Arm um die schmalen Knabenschultern und drückte ihn leicht und wie tröstend an sich.
Er begleitete sie ein Stück bis an die Straßenecke. »Hast du was rausgekriegt, Tante Beate?« fragte er, ohne den Blick vom Boden zu erheben.
»Uli, Schatz«, Beate setzte ihre Worte vorsichtig, »es gibt da ein Problem zwischen deinen Eltern, das zu lösen seine Zeit braucht.
Du kannst ihnen am besten helfen, wenn du geduldig bleibst und zu beiden gleich lieb bist. Nicht viel fragst und dich nicht beklagst.«
Uli nickte. Dann kehrte er um und ging wieder nach Hause.
»Haben die Eltern von Uli Krach zusammen?« fragte Felix.
»Ja, sie sind nicht mehr richtig glücklich«, antwortete seine Mutter bedrückt, während sie auf die Straßenbahn warteten.
»Das kommt bestimmt nur davon, weil Tante Ingeborg meistens den ganzen Tag weg ist.« Ordentlich tiefsinnig sah der kleine Junge aus, während er das von sich gab. »Bei Sandra ist das nämlich auch so. Die haben keinen Krach, ihre Eltern, weil sie sich bald überhaupt nicht mehr sehen. Aber ihr Papa wär’ manchmal traurig, sagt Sandra, weil die Mama nie da ist. Noch viel viel weniger als Tante Ingeborg.« Er faßte nach ihrer Hand. »Da haben wir es doch viel besser, Mami, nicht?« Treuherzig blickte er zu ihr auf, und mit einem zärtlichen Lächeln nickte ihm seine Mutter zu.
An diesem Abend sagte Uli zu seinem Vater: »Die Mama sitzt am Küchentisch und schreibt und schreibt.«
»Laß sie schreiben«, gab Bertold gleichgültig zurück, ohne den Blick vom Bildschirm zu nehmen.
»Dabei hat sie Zeitungen neben sich liegen«, wagte der Junge einen neuen Vorstoß.
»Ich möchte mir in Ruhe die Tagesschau ansehen, Ulrich«, war alles, was sein Sohn darauf zu hören bekam. Daraufhin ging er in sein Zimmer. Wenn keiner mit ihm reden wollte, würde er eben auch nichts mehr sagen.
Aber als er finster brütend auf der Bettkante saß, fielen ihm Tante Beates Worte wieder ein, daß er Geduld haben und lieb sein müßte. Er wünschte sich, schon größer zu sein und mehr zu verstehen.
Der Junge schlief schon, als Bertold, im Wohnzimmer, vernahm, daß die Wohnungstür wieder aufgeschlossen wurde. Er trat in die Diele. Seine Frau hatte eine Jacke übergezogen und die große Handtasche mit.
»Du gehst«, sagte er. Es lag viel in den beiden kleinen Worten.
»Nur zum Briefkasten.« Zum Beweis klappte sie die Tasche auf, in der sich einige braune, frankierte Umschläge befanden. Sie wartete darauf, daß er fragen würde, was sie bedeuteten. Aber Bertold wandte sich wortlos ab.
Da sagte sie mutig: »Es sind Bewerbungen. Ich will da weg.«
Aber nichts konnte das kalte Schweigen unterbrechen, das er ihr entgegensetzte.
*
Clemens Fabrizius stellte den Wagen in die Garage und lief dann durch das strömende Naß die paar Meter zu seinem Haus. Es war schade, daß es angefangen hatte zu regnen. Er hatte gehofft, die dunklen Wolken würden sich wieder verziehen und er könnte mit seinem Töchterchen noch etwas unternehmen, denn seine Tagesarbeit war für heute getan. Aber daraus wurde nun nichts. – Clemens wunderte sich ein wenig, daß Sandra ihm nicht entgegengelaufen kam. Meistens hörte sie doch schon seinen Wagen.
»Ich hatte Sandra erlaubt, mit Felix zu seiner Mutter zu gehen, Herr Doktor«, erklärte ihm Frau Scholl. »Als der starke Wind aufkam, konnten sie nicht mehr draußen im Garten spielen, und der Junge wollte ihr gern mal sein Zimmer zeigen. Sie sollte bald wiederkommen, weil Frau Herder doch zu tun hat. Aber sie werden sie jetzt bei dem Regen nicht fortlassen.«
Clemens machte sich frisch und wechselte seine Sachen. Er sah es nicht ungern, daß Sandra nun einen Spielgefährten hatte. Die beiden, so ungleich sie auch waren – der kräftige Bub und sein zartes kleines Mädchen – waren dicke Freunde geworden. Manchmal mußte Clemens insgeheim schmunzeln, wie Felix sich zurücknahm und geradezu behutsam mit dem Püppchen umging. Er hatte das beobachten können, als sie zweimal zusammen ins Grüne gefahren waren.
»Sie ergänzen sich«, hatte Beate Herder lächelnd bemerkt. »Felix wird sanfter und Ihre Sandra geht aus sich heraus, wenn sie zusammen sind.«
Er rief sie an, als er den Tee getrunken hatte, den die Haushälterin ihm hinstellte.
»Oh, Sie sind schon zu Hause, Herr Fabrizius«, sagte Beate, »und Sie vermissen sicher Ihr Töchterchen. Ich werde einen Schirm nehmen und sie bringen.« Sie lachte ein wenig. »Sandra hat den größten Spaß mit unserem Wellensittich«, fügte sie hinzu.
»Das kann ich mir denken. Vielleicht dürfte ich den auch einmal kennenlernen? Aber im Ernst, Frau Herder, ich möchte nicht, daß Sie bei dem Regen hinausgehen. Es gießt ja immer noch. Ich werde Sandra bei Ihnen abholen.«
Es war eine gute Gelegenheit, sie wiederzusehen. Sich mit Beate Herder zu unterhalten, lockerte die Anspannung, in der er sich oftmals befand. Ihre Nähe, ihre Bewegungen, ihre Stimme vermochten vorübergehend auszulöschen, was an seinen Nerven fraß: Das Warten auf Bianca, die sinnlose Mühle seiner Gedanken, die sich um seine Frau rankten…
Sie nahm ihm den tropfnassen Schirm ab, als er kam. »Jetzt sehen Sie doch auch einmal, wo
ich wohne«, lächelte sie ihm entgegen. Sandra war schon neben
ihr.
»Der Pipsi kann sagen: Komm her«, berichtete sie ihrem Vater mit glänzenden Augen. »Er kann noch mehr, aber nur, wenn er Lust hat. Vorhin hat Felix ihn mal aus dem Käfig gelassen, da hat er sich auf meinen Kopf gesetzt.« Sie prustete vor Lachen heraus.
»Und du hast gequiekt wie am Spieß«, behauptete Felix lachend.
»Nun, da hatten Sie ja keine Ruhe zum arbeiten«, wandte sich Clemens erheitert an Beate, »und dabei sind Sie doch, wie ich weiß, ganz schön im Druck. Werden Sie denn termingemäß fertig?«
»Zur Not lege ich eben mal eine Spätschicht ein«, meinte Beate ebenso. »Das ist das Schöne
an meinem Beruf, daß mir die Stunden nicht vorgeschrieben werden. – Möchten Sie eine Tasse
Tee mit mir trinken, Herr Fabrizius?«
Clemens verschwieg, daß er gerade Tee getrunken hatte. »Dann halte ich Sie ja auch noch auf«, meinte er. »Eigentlich wollte ich doch nur Sandra abholen.«
»Och nö, Papa, wir bleiben noch’n bißchen, es ist so schön hier.«
Da hatte seine Kleine allerdings recht. Diese Wohnung war entzückend und sehr persönlich eingerichtet. Die schrägen Wände störten nicht, im Gegenteil, sie schienen Geborgenheit, Nestwärme zu vermitteln. Wie das doch alles paßte zu dieser anmutigen jungen Frau.
Der Regen trommelte gegen die Scheiben, flutete über die Geranien auf dem Balkon. Beate sah es positiv: »Die Natur braucht den Regen, und meine Pflanzen freuen sich auch.«
Sie tranken Tee, sie unterhielten sich, und Clemens wußte wieder, was das Wort »Gemütlichkeit« bedeutete. Die Tür zu Felix’ Zimmer stand offen, da amüsierten sich die Kinder, Pipsi spektakelte, ihm gefiel das, wenn lebhafte Stimmen um ihn waren.
So war nun doch fast eine Stunde wie im Flug vergangen, als Clemens endlich sein Töchterchen bei der Hand nahm und sie sich verabschiedeten.
Es regnete jetzt nur noch leise. Sandra trippelte unter dem großen Schirm neben ihrem Papa her. »Ich würde gern öfter bei Tante Beate sein, Papa«, sagte sie vor sich hin, denn so durfte sie Frau Herder schon nennen. »Sie ist lieb.«
Da waren sie auch schon angelangt in ihrem großen, schönen und perfekten Haus. Allzu perfekt, mußte Clemens jetzt denken, als er es mit Sandra betrat. Da lag kein Buch herum, da standen die seidenen Kissen ordentlich aufgereiht auf den damastbezogenen Polstermöbeln. Frau Scholl sorgte dafür, daß peinliche Ordnung herrschte.
An diesem Abend gingen Clemens’ Gedanken einmal nicht zu der eigenen, sondern zu der Frau in der Nachbarschaft, Beate Herder. Er überlegte, wieso sie, schön, jung und intelligent, offensichtlich allein war. Sicher, sie hatte schon früh einen schweren Verlust erlitten, aber deshalb konnte sie doch nicht in aller Zukunft nur für ihren Sohn leben.
Er stellte sich vor, wie es sein müßte, eine Frau zu haben, die ihm nicht nur zu einem kleinen Teil gehörte. Kein Star, dem die Musikwelt zu Füßen lag, sondern eine sehr weibliche, liebende Frau…
Es waren gefährliche Gedanken, die er von sich weisen mußte, wollte er nicht den Boden unter den Füßen verlieren…
*
Der letzte Patient war gegangen.
»Ich möchte Sie noch einen Augenblick sprechen, Frau Basler«, sagte Dr. Torsten Fendrich mit undurchdringlicher Miene. »Kommen Sie bitte.«
»Da ist dicke Luft«, tuschelte Anja ihrer Kollegin zu, während sie den weißen Kittel in den Schrank hängte.
»Ich glaube eher, daß es aus ist.« Beatrix griff zum Lippenstift. »Sie hat es doch neuerdings immer eilig, nach Hause zu kommen.«
Ingeborg wußte genau, weshalb er sie zurückhielt. Sie war gewappnet.
»Was soll das?« sagte er unbeherrscht, wenn auch mit gedämpfter Stimme, weil die Mädchen noch da waren. »Da legst du mir einfach die Kündigung auf den Tisch. Ich dachte, ich sehe nicht recht!«
»Damit mußtest du doch eigentlich früher oder später rechnen.«
»Wieso, warum?« unterbrach sie Fendrich. »Wir haben eine Affäre gehabt, die du beenden wolltest, als es Ärger zu Hause gab. Ich muß das akzeptieren. Deshalb kann unsere Zusammenarbeit aber doch weitergehen.«
Ingeborgs Mundwinkel kräuselten sich. Wie geschickt er das hinbog! Er war es gewesen, der keinen Ärger haben wollte. Sie hatte sich doch eine ganz andere Reaktion von ihm erhofft.
Groß war ihr Blick auf ihn gerichtet.
Wäre sie wirklich bereit gewesen, ihre Ehe für diesen Mann aufzugeben, dem Liebesschwüre so leicht über die Lippen gekommen waren, die sie für bare Münze genommen hatte?
Draußen klappte eine Tür. Anja und Beatrix waren gegangen.
»Was siehst du mich so an?« fragte er unwirsch. »Ich habe mir nichts vorzuwerfen und du mir auch nicht.«
»Nein«, sagte Ingeborg langsam, »nur ich, ich – « Mit einer Handbewegung schnitt sie sich selbst das Wort ab. »Lassen wir das. Für mich steht es jedenfalls fest, daß ich hier aufhören werde.«
»Willst du denn in Zukunft nur noch Hausmütterchen spielen?« bemerkte er nicht ohne Ironie.
»Ich habe eine Halbtagsstellung angenommen«, versetzte sie kühl.
»Und wo soll ich so schnell einen Ersatz für dich hernehmen?« brauste der Zahnarzt auf.
»Anja hat sich sehr gut eingearbeitet«, sagte Ingeborg wie vorher. »Es wird gehen, bis du jemand gefunden hast.«
»Wie gelassen du bist.« Jetzt war es an ihm, sie nachdenklich anzusehen. Dieser Mund mit den vollen Lippen hatte so heiß geküßt. »Eigentlich finde ich es schade, daß es dich für mich nicht mehr geben soll, Ingeborg.«
Seine Stimme hatte plötzlich wieder dieses dunkle Timbre, das ihr so süß und verwirrend ins Ohr gegangen war. Heute ließ es sie kalt.
»Auch dafür wirst du bald einen Ersatz finden«, waren ihre letzten Worte, bevor sie die Praxis verließ.
*
Wieder einmal war das Frühstück nahezu schweigend verlaufen.
»Warum ißt du dein Brot nicht?« fragte Ingeborg ihren Sohn.
»Mag nicht«, kam es verdrossen zurück. »Ich brauch auch kein Pausenbrot.«
»Dann nimm wenigstens einen Apfel mit. Aber bring ihn nicht wieder mit heim«, ermahnte ihn seine Mutter.
Mit mürrischer Miene stopfte Uli den Apfel in seine Schultasche.
»Du könntest auch ein etwas freundlicheres Gesicht machen«, warf ihm sein Vater vor.
»Ich guck nur so wie ihr!« stieß der Junge trotzig hervor. Danach herrschte erneut Schweigen in der Sitzecke der Küche. Uli bückte sich nach seinen Schuhen und zog sie an.
»Mußt du heute nicht zum Dienst?« wandte sich Bertold schließlich an seine Frau. Um diese Zeit brach sie doch sonst immer auf.
»Doch, aber ich habe es nicht mehr so weit«, antwortete Ingeborg. »Ich fange heute in der Königstraße bei Dr. Harmsen an.«
Verblüfft legte Bertold den Kopf zurück. »Und das sagst du mir erst jetzt?«
»Ich dachte, es interessiert dich nicht weiter…«
Uli hatte aufgehorcht. »Mir hast du es auch nicht gesagt, Mama, daß du jetzt woanders arbeitest!« rief er hitzig aus. »Früher hast du mir immer alles erzählt.« Bitterer Vorwurf klang aus seinen Worten.
»Es ist nur halbtags, Schatz. Nachmittags werde ich nun immer zu Hause sein. Freust du dich?« Ingeborg versuchte ein Lächeln.
»Weiß noch nicht«, blockte Uli. »Ich muß jetzt los. Tschüs.« Mit seinem Ranzen auf dem Rücken lief er aus der Wohnung. Küßchen war nicht mehr drin, auch wenn die Mama Schatz zu ihm sagte. Aber hinter seinen Augen brannte es, als er die Straße entlangtrabte. Es war nicht weit bis zur Grundschule, und bald traf er auch auf Klassenkameraden. Da nahm er sich zusammen. Keiner sollte ihn weinen sehen.
Bertold sagte zu seiner Frau: »Hast du es dir nun doch überlegt, daß du nur noch halbtags arbeiten willst?«
»Ja. Ich will keine Mutter nach Feierabend mehr sein.«
Das war alles. Bertold fuhr ins Geschäft, Ingeborg räumte noch etwas auf und begab sich dann zu ihrem neuen Arbeitsplatz.
Am Nachmittag desselben Tages sagte Uli: »Ich geh zu Peter Schularbeiten machen.« Er sah seine Mutter dabei nicht an.
»Ist gut, Uli«, nickte Ingeborg. Der Junge wohnte ein paar Straßen weiter, sie kannte auch Frau Ibsen von Elternabenden her.
Er trödelte dann noch eine ganze Weile in seinem Zimmer herum, bevor er wirklich ging, die Schultasche über die Schulter gehängt. An der Tür drehte er sich noch einmal um.
»Auf Wiedersehen, Mama«, sagte er mit stillem Gesicht.
Zwei, drei Stunden vergingen. Ingeborg wunderte sich etwas, daß er so lange ausblieb. Als sie frischgewaschene Jeans und T-Shirts in sein Zimmer brachte, sah sie auf seinem Kopfkissen ein Blatt aus einem Schulheft liegen. Da stand in seiner steilen Kinderschrift. Ich komme erst zurück, wenn Ihr euch wieder liebhabt. Euer Sohn Ulrich.
Ingebort wurde blaß. Was sollte das denn heißen?
Sie ging ans Telefon, um bei den Ibsens anzurufen. Der achtjährige Peter war am Apparat.
»Nein, der Uli war nicht hier«, antwortete er auf ihre Frage. »Wollte er denn kommen?«
»Ja, er sagte, ihr wolltet Schularbeiten zusammen machen«, erwiderte Ingeborg erregt.
»Nö, wir haben doch gar nicht viel auf. Das ist aber komisch.« Er machte eine kleine Pause, währenddessen Ingeborg wirre Gedanken durch den Kopf taumelten. »Frau Herder? Der Uli ist überhaupt so komisch in letzter Zeit. Er paßt in der Klasse überhaupt nicht mehr auf.« Als es wiederum still blieb in der Leitung, sagte er: »Wollen Sie mit meiner Mutter sprechen? Ich kann sie rufen.«
»Nein, das ist nicht nötig. Danke, Peter.« Damit hängte Ingeborg ein. Sie legte die Hand gegen die Stirn, hinter der es hämmerte. Dann rief sie Beate an. Es konnte ja sein, daß er zu ihr gefahren war.
Aber da war er auch nicht. Sie wählte noch zwei andere Nummern an, es waren nur Strohhalme, an die sie sich klammerte. Die Antworten waren ebenso bestürzt verneinend wie die vorherigen.
Dann kam ihr Mann aus dem Geschäft. Wortlos hielt ihm Ingeborg das Blatt hin.
Seine Miene erstarrte. »Das
gibt’s doch nicht!« stieß er hervor. »Wo soll er denn hin sein?«
Mit blasser Stimme berichtete sie, wo sie bereits angerufen hatte. Ratlos sahen sie sich an. Es war das erste Mal seit langer Zeit, daß sie sich offen in die Augen sahen. Nichts anderes stand darin als die bange Sorge um den Sohn.
»Wie kann er uns das antun«, murmelte Bertold, »einfach weglaufen…«
»Wir haben ihm wohl viel angetan«, sagte Ingeborg schwer. »Wir hätten es vor ihm verbergen müssen, daß zwischen uns nichts mehr so ist, wie es einmal war. Das hat ihm seine heile Welt zerstört.«
»Was sollen wir denn jetzt machen?« Mit einer fahrigen Geste strich er sich über das Haar. »Ich glaube, ich fahre mal los.«
»Wohin willst du fahren?«
»Die Umgebung absuchen. Vielleicht finde ich ihn irgendwo. Vielleicht sitzt er im Stadtpark auf einer Bank. Weit kann er doch nicht sein«, kam es abgerissen über seine Lippen.
»Ich komme mit«, sagte Ingeborg.
»Nein, du bleibst hier.« Er griff schon nach seinen Schlüsseln, die in der Diele lagen. »Es könnte doch sein…«
In diesem Augenblick läutete das Telefon. Bertold riß den Hörer empor. In den nächsten Sekunden entspannte sich sein Gesicht.
»Er ist bei euch?« hörte Ingeborg ihn ausrufen. »Dann ist es ja gut… Ja, natürlich haben wir uns schon Sorgen gemacht… Ja, Mutter, ja. Es gibt gewisse Probleme bei uns. Behaltet Uli erst mal da. Mit der Schule, das regle ich schon… Ich kann es mir denken. Ich werde es euch erklären, wenn ich komme, morgen, oder übermorgen. Ich rufe euch an.«
Mit einem tiefen Aufseufzer hängte Bertold ein. »Ist er doch tatsächlich mit dem Zug zu den Großeltern gefahren«, sagte er kopfschüttelnd. Dabei huschte ein schwaches Lächeln um seine Lippen. Ein schlaues Kerlchen war er ja doch. »Hatte er den überhaupt das Geld für die Fahrt?«
Ingeborg hatte ihre Hände gegen die Brust gepreßt. Wenigstens war er in Sicherheit. »Uli spart doch immer etwas von seinem Taschengeld. Für die hundert Kilometer wird es gereicht haben.«
Es mußte erst diesen Schock gegeben haben, damit sie wieder miteinander reden konnten.
»Du hast gesagt«, begann Bertold, als sie am Abend beieinandersaßen und der Fernseher ausnahmsweise abgeschaltet blieb, »wir hätten Uli viel angetan. Wer hat denn seine heile Welt zerstört? Ich doch nicht.«
»Ich weiß es ja, daß alle Schuld bei mir liegt. Nur, daß du nie mehr das Wort an mich gerichtet und mich mit kalter Verachtung gestraft hast, das war eben zuviel für unseren Sohn.«
»Hätte ich ihm sagen sollen: Deine Mutter ist ja gar nicht mehr wirklich bei uns, sie liebt einen anderen?« Seine Augen funkelten. »Denn du liebst ihn doch, hast du mir erklärt.«
»Vergiß es«, flüsterte Ingeborg.
»Wie soll ich das jemals vergessen«, sagte Bertold wie zu sich selbst.
Flehend sah Ingeborg ihren Mann an. »Ich glaubte doch nur, es wäre Liebe. Dieses Wort wird so leicht mißbraucht. Er –«, sie stockte, »Torsten Fendrich nannte es eine Affäre, und mehr war es auch nicht. Kann nicht jeder Mensch einmal in die Irre gehen?«
»Wie wäre dir denn zumute gewesen, wenn ich in die Irre gegangen wäre, wie du es so blumig ausdrückst«, hielt er ihr entgegen. »Hättest du es so ohne weiteres abgeschüttelt, wie du es anscheinend von mir erwartest?«
Sie senkte die Lider. »Nein, sicher nicht. Ich verlange das ja auch gar nicht von dir. Aber wenn ich dir schwöre, daß es vorbei ist, daß jedes Gefühl für diesen Mann in mir erkaltet ist, daß ich ihn nie mehr wiedersehen werde – und selbst wenn wir uns einmal zufällig auf der Straße begegneten, mein Herz keinen rascheren Schlag tun würde – könntest du nicht versuchen, mir zu verzeihen?«
Bertold hatte sich abgewandt. »Es wird Zeit brauchen, Ingeborg«, sagte er rauh. »Für Uli will ich mich dazu durchringen.«
Ingeborg hob den Kopf. Sie suchte seinen Blick. »Nicht nur für unseren Sohn«, bat sie, »auch für uns, Bertold.«
Schweigend sah er sie an. Dann nickte er. »Das gehört wohl dazu, wenn Uli wieder froh werden soll.«
Bertold schlief in dieser Nacht wieder im Ehebett. Noch gab es keine Berührung, keine Zärtlichkeit. Aber sie hatten endlich wieder geredet. Das war schon viel.
*
Henny Basler war aus allen Wolken gefallen, als ihr Enkelsohn plötzlich vor ihrer Tür gestanden hatte.
»Jungchen!« rief sie aus. »Wo kommst du denn auf einmal her?«
»Mit dem Zug, Oma. Kann ich reinkommen?«
»Ja, ja, natürlich«, sagte sie verwirrt. »Aber du willst doch nicht sagen, daß du allein gekommen bist?«
»Doch. Weil ich’s nämlich daheim nicht mehr augehalten habe.« Er streifte den Schulranzen vom Rücken und deutete darauf. »Da hab ich ’n paar Sachen drin, noch ’n Hemd und so. Ich möchte bei euch bleiben. Ihr werdet mich schon nicht fortschicken.«
Frau Henny verschlug es die Sprache. Ihr Mann kam aus der offenstehenden Tür des Wohnzimmers. »Tag, Uli.« Er legte dem Jungen die Hand auf die Schulter und sah ernst auf ihn hinab. »Was habe ich da gehört? Bist du etwa ausgerissen?«
»Ja«, sagte sein Enkel trotzig. »Aber ich hab’ einen Zettel hingelegt. Nur, wohin ich bin, das hab’ ich nicht draufgeschrieben.«
»Um Himmels willen«, brachte seine Oma bestürzt hervor. »Da müssen wir doch sofort anrufen, sonst kommen deine Eltern ja um vor Sorge.«
»Nein, bitte nicht!« Uli hängte sich an ihren Arm, umklammerte ihn. »Sie denken doch mal erst, ich wäre bei meinem Schulfreund. Und wenn sie es merken, daß ich fort bin, dann sollen sie mal erst einen ordentlichen Schrecken kriegen!« Er verkniff die Lippen.
»Was redest du denn da, Kind?« erregte sich die Großmutter.
»Laß mal, Henny«, mischte sich ihr Mann ein. Er führte Uli ins Zimmer und ließ ihn sich hinsetzen. »Erzähl uns der Reihe nach, was passiert ist, Uli.«
»Das weiß ich doch eben nicht, Opa. Mir sagt ja keiner was. Tante Ingeborg, das ist Mamas Freundin, sagt, meine Eltern hätten ein Problem, und ich sollte geduldig sein, das würde schon wieder. Aber es wird eher immer schlimmer.« In seinem Gesicht zuckte es.
»Was denn, Uli, was wird immer schlimmer?« Großvater Herbert setzte sich zu ihm. »Streiten sie, zanken sie sich, gibt es böse Worte?«
Heftig schüttelte Uli den Kopf. »Überhaupt nicht. Ein Streit, der ging ja wieder vorbei. Aber sie reden überhaupt nichts zusammen. Höchstens mal mit mir drei Worte. Sonst bin ich Luft für sie. Und Mama ist für Papa auch Luft.«
»Aber, aber, das gibt’s doch nicht!« Ungläubig sah Henny Basler auf den Jungen, der solche Dinge erzählte. Soviel sie wußte, war die Ehe ihres Sohnes durchaus in Ordnung. Wenn sie gelegentlich zu Besuch kamen, verliefen die Stunden immer recht harmonisch.
»Gibt es wohl!« stieß Uli hervor. »Sonst hätte ich mir doch nicht einen Zug genommen und den ganzen Weg zu euch gemacht. Ich hab’ gedacht, nur bei euch kann ich mich verstecken, bis meine Eltern wieder okay sind.«
»Also, von verstecken kann natürlich keine Rede sein, Uli«, erklärte der Großvater energisch. »Wissen müssen sie es schon. Oder willst du, daß sie die Polizei benachrichtigen?«
Seine Frau war bereits am Telefon und wählte die Nummer des Sohnes. Als sie nach dem kurzen Gespräch einhängte, zuckte sie auf den fragenden Blick ihres Mannes hin die Achseln. »Das war nicht sehr aufschlußreich«, bemerkte sie. »Es gäbe gewisse Probleme…«
»Sag ich ja«, warf Uli ein. »Und wenn ich jetzt noch geschimpft krieg, wo ich nichts für die Probleme kann, dann fänd ich das unheimlich ungerecht.« Schnaufend zog er die Luft durch die Nase.
»Ich glaube nicht, daß deine Eltern mit dir schimpfen werden, Uli«, sagte der Opa, »obwohl dein Davonlaufen bestimmt nicht richtig war. Kleinen Jungen kann eine Menge passieren, wenn sie allein unterwegs sind. Aber das alles wollen wir jetzt mal beiseitelassen. Du wirst Hunger haben, und wir haben auch noch nicht Abendbrot gegessen. Dann fragen wir doch die Oma, was ihre Küche zu bieten hat.«
Sie bedrängten Uli nicht mehr mit Fragen, sie lenkten ihn ab und spielten »Mensch ärgere dich nicht« mit ihm. Danach stellte die Oma das Gästebett im kleinen Zimmer auf und deckte ihr Bübchen zu.
»Glaubst du, daß noch mal alles gut werden könnte bei uns, Omi?« wisperte er, den Kopf in das Kissen gedrückt.
»Das glaube ich aber ganz bestimmt«, versicherte sie, wobei sie alle Überzeugungskraft in ihre Stimme legte.
Als sie dann mit ihrem Mann allein saß, gingen beider Gedanken die gleichen Wege.
»Was mag da bloß sein«, überlegte Henny Basler laut. »Tiefgreifende Differenzen hat es doch zwischen Bertold und Inge nie gegeben.«
Ihr Mann wiegte den Kopf. »Das denken wir. Aber schaut man dahinter? Man sieht sich alle paar Wochen einmal für einige Stunden, dazu an Feiertagen und Geburtstagen, und da freut man sich nur des Zusammenseins.«
»Aber ich hätte das schon gespürt, wenn es zwischen den beiden nicht mehr stimmte«, meinte Henny grübelnd.
»Vielleicht ist Bertold fremdgegangen«, sagte sein Vater trocken.
Aber da fuhr seine Frau steil in die Höhe. »Bertold doch nicht! Unser Sohn ist bestimmt der solideste Ehemann, den man sich denken kann. Wie kannst du nur so etwas annehmen«, entrüstete sie sich.
»Ist ja gut, reg dich nicht auf, Henny«, beschwichtigte er sie. »Wir werden es schon erfahren, was da passiert ist – oder auch nicht«, fügte er bei sich hinzu.
Sie kamen beide, Bertold und Ingeborg, am übernächsten Tag, der ein Samstag war. Und sie demonstrierten Einigkeit!
»Wir haben eine Krise gehabt«, sagte Bertold. »Das kommt in jeder Ehe mal vor.« Er sah auf sein Söhnchen. »Deshalb mußtest du nicht gleich davonlaufen, Uli.«
»Gleich hab ich das ja auch nicht getan«, verteidigte sich der Junge. »Ich hab ganz lange gewartet, und erst, als es nicht mehr besser wurde, bin ich mit dem Zug weg zu Oma und Opa.« Unsicher sah er von einem zum anderen. »Habt ihr einen ordentlichen Schreck gekriegt?« wollte er wissen.
»Das kann man wohl sagen«, bestätigte sein Vater. »So etwas machst du nie wieder, hörst du?« Mit Strenge blickte er auf ihn nieder.
»Wenn ihr wieder okay seid, brauch ich das ja auch nicht. Mir war schon ein bißchen komisch, wie ich da allein in den Zug eingestiegen bin«, bekannte er und nickte dazu, »wo wir doch sonst immer nur mit dem Auto hergefahren sind. Dann mußte ich ja auch noch fragen, wie ich mit der Straßenbahn zum Amselweg kommen würde.«
»Hättest du vom Bahnhof angerufen, hätten wir dich abgeholt«, warf sein Großvater ein.
»Das ging da nur mit Telefonkarten, und außerdem wollte ich euch überraschen«, sagte er treuherzig.
»Das ist dir in der Tat gelungen«, bemerkte der Opa in seiner trockenen Art. »Na, Ingeborg«, wandte er sich an seine Schwiegertochter, »da wirst du ja einiges ausgestanden haben, bis der erlösende Anruf kam.«
»Ja, ich habe einiges ausgestanden, Vater«, flüsterte die junge Frau. Sie zog ihren Sohn an sich, der sogleich den Kopf an ihrem Arm rieb.
»Wohl nicht du allein«, sagte Henny bedeutsam. Ihrem mütterlichen Auge war es nicht entgangen, daß Bertold schmaler geworden war.
»Nun genug davon«, entschied ihr Mann. »Du bist doch sicher vom Geschäft aus losgefahren, Bertold. Dann bleibt ihr noch zum Abendessen und laßt euch mit der Heimfahrt Zeit…«
*
Mehr und mehr fühlte sich Clemens Fabrizius zu Beate Herder hingezogen. Es war nicht allein die Freundschaft der Kinder, die sie verband. Da schwang noch etwas anderes mit, wenn sie sich sahen.
An diesem Sonntagnachmittag hatte sie einen Ausflug in die hügelige, waldreiche Umgebung unternommen. Bis zur Kronenburg waren sie gefahren, die mit ihren mächtigen Mauern auf der Anhöhe stolz emporwuchs. Das Burgcafé lud zum Verweilen ein, Tische und Stühle standen draußen auf der Aussichtsterrasse. Unterhalb im Park gab es Wasserfontänen, das war ein silbrigglitzerndes Sprühen. Die Kinder waren dorthin gelaufen, sie vergnügten sich damit, Tropfen in den ausgestreckten Händen aufzufangen. Der kontaktfreudige Felix redete auch gleich mit anderen, die sich um die Wasserspiele scharten und sie bewunderten.
Nach einer Weile kam er mit Sandra an den Tisch zurück.
»Da waren Leute«, berichtete er, »die haben mich gefragt, ob wir Bruder und Schwester wären. Ich hab ja gesagt.« Er lachte verschmitzt.
»Na, von Ähnlichkeit kann aber zwischen euch nicht gerade die Rede sein«, lächelte Clemens. »Und seit wann schwindelst du denn?«
»Hm«, Felix machte eine Kopfbewegung, »wär doch ganz schön.«
»Ja, einen Bruder wie dich tät’ ich schon gern haben«, meinte auch Sandra. »Aber so bist du mein Freund, und das ist auch was. Nicht, Papa?«
»Und ob!« nickte dieser seinem Töchterchen zu. Dann traf sich sein Blick mit dem Beates, die ein wenig verträumt in sich hineinlächelte. Sie dachte, daß so eine Kinderliebe eigentlich etwas ganz Besonderes war. Eine Sandkastenliebe konnte manchmal bis zum Erwachsensein hineinreichen. Als sie gegen Abend wieder zu Hause angelangt waren, hielt Clemens Beates Hand einen Moment länger fest.
»Wollen wir später noch ein Glas Wein zusammen trinken, wenn die Kinder im Bett sind?«
»Ja, macht das man, Mama«, sagte Felix sofort, dem nichts entging. »Mich kannst du doch unbesorgt allein lassen.«
»Du weißt ja auch, wo deine Mama dann ist«, bemerkte Clemens.
»Und wenn nicht«, wie ein kleiner Angeber hob der Junge die Schultern, »ich bin doch kein Baby mehr.«
Nach dem Abendessen zog sich Beate noch um. Felix, schon im Schlafanzug, beobachtete sie dabei, wie sie sich hübsch machte.
»Find ich gut, Mami, daß du das Blumenkleid angezogen hast«, meinte er. Nach einer kurzen Pause fuhr er nachdenklich fort: »Ist doch eigentlich schade, daß Sandras Vater schon eine Frau hat. Auch wenn sie nie da ist, irgendwo gibt’s die ja doch noch.«
»Warum ist das schade, Felix?« Beate steckte sich den zweiten Ohrclip an das andere Ohr. »Sie ist Sandras Mutter, und man kann ihr und Herrn Fabrizius nur wünschen, daß sie bald wiederkommt.«
»Wenn sie nicht wiederkommt, könntest du ihn doch heiraten, Mama«, schlug Felix in aller Unschuld vor. »Dann hätte Sandra eine Mutter, die immer da ist, und ich…« Er stockte und strich über die Lehne des Sessels, in dem er im Schneidersitz saß.
»Und du?« fragte Beate. Leise Röte war in ihre Wangen gestiegen.
»Einen Vater«, vollendete Felix. »Ich meine ja nur, weil er dich immer so nett anguckt und wir uns überhaupt alle so gut leiden mögen.«
Beate atmete langsam und vorsichtig. Es war das erste Mal, daß ihr Sohn den Wunsch nach einem Vater andeutete. Einmal mußte das ja kommen. Spätestens dann, wenn er in die Schule kam, und bis dahin war es nicht mehr weit.
»Herr Fabrizius freut sich, daß seine kleine Sandra in dir einen Spielkameraden gefunden hat, das ist alles. Daß wir einander auch sympathisch sind, sollte dich aber doch nicht zu solchen kühnen Phantasien verleiten, mein Felix«, sprach sie sanft. »Das ist eine Familie, dort drüben in dem Haus, und die darf nicht auseinanderbrechen.«
»Hm, wenn du meinst, Mama…«, kam es zögernd.
Beate brachte ihr Bübchen noch zu Bett. Als sie sich über ihn beugte, um ihm den Gutenachtkuß zu geben, schlang er die Arme um ihren Hals und zog ihren Kopf zu sich herab. »Es ist ja auch ganz genug, daß wir zusammen sind, du und ich«, flüsterte er. »Wir haben es doch schön, nicht, Mami?«
»Ja, wir haben es schön.« Aber daß er es betonte, was ihm bisher so selbstverständlich war, gab Beate schon zu denken.
Es war kurz vor neun, als sie hinüberging in das Haus der Fabrizius’.
»Danke, daß Sie einem einsamen Mann noch ein bißchen Gesellschaft leisten«, empfing sie der Hausherr. Er hatte eine Flasche Wein auf den Tisch gestellt. Die Tür zur Terrasse stand offen, der Duft von Rosen wehte herein.
Kaum hatten sie sich in den breiten Sesseln niedergelassen, da spazierte auf bloßen Füßchen und im langen Nachthemd Sandra herein.
»Ja, ich denke, du schläfst schon längst, Püppchen«, sagte ihr Papa überrascht. »Was macht du denn noch auf?«
Ein schelmisches Lächeln huschte über das kleine Gesicht. »Ich hab’ gehört, wie du gekommen bist, Tante Beate. Kommst du mit rauf und sagst mir auch noch gute Nacht? Dann schlafe ich auch bestimmt ganz schnell ein.«
»Du kannst mir meinen Gast doch nicht einfach entführen«, scherzte der Vater. Aber dann nickte er Beate zu, die etwas verlegen geworden war. »Tun Sie ihr doch bitte den Gefallen…«
Das Kind hatte schon Beates Hand ergriffen und zog sie mit sich fort. So viele Spielsachen, mußte Beate denken, als sie sich flüchtig in Sandras Zimmer umsah, und eine lange Reihe teurer Puppen, wie aus dem Schaufenster, aber keine Mutter, die ihr ein Gutenachtküßchen gibt.
Sie gab es der Kleinen, die sich zurechtkuschelte und sie dankbar ansah. »Erzählst du mir auch noch eine Geschichte? Felix hat gesagt, du könntest schöne Geschichten erzählen. Manchmal hat er mir die auch schon wiedererzählt. Bitte erzähl mir eine neue, die auch Felix noch nicht kennt.«
Beate tat es. Das war die Geschichte von einem Raben, der ein armes, winziges Mäuschen in sein Gefieder nahm und mit ihm empor und weit hinausflog, damit es auch einmal etwas von der Welt sähe. Als die beiden glücklich in einem Baum gelandet waren, schlief Sandra mit einem hellen Lächeln ein.
»Es hat ein bißchen länger gedauert«, sagte Beate heiter, als sie wieder in ihrem Sessel Platz nahm. »Sandra wollte noch eine Geschichte hören. Aber jetzt schläft sie.«
»Wie sehr dieses Kind doch die Mutter vermißt«, murmelte der Hausherr vor sich hin. »Aber trinken wir erst einmal einen Schluck. Auf Ihr Wohl, Frau Herder!« Er hob ihr sein Glas entgegen, und sie tat ihm Bescheid.
»Die Tournée müßte doch nun eigentlich bald zu Ende sein«, meinte Beate, während sie ihr Glas zurücksetzte.
»Meine Frau hat verlängert, des großen Erfolges wegen. Ich weiß nicht einmal genau, wo sie jetzt ist. Vielleicht in Südfrankreich, wo sie sich ein Haus kaufen wollte.«
»Aber Sie haben doch hier dieses schöne Haus«, entfuhr es Beate. Doch hätte sie die Worte gern zurückgenommen, denn was ging sie das an.
»Meine Frau hat ihre eigenen Vorstellungen«, sagte Fabrizius mit abgewandtem Blick.
»Eine große Künstlerin kann man wohl nicht mit den üblichen Maßstäben messen.«
Der Mann nickte. »Dabei wäre mir nichts lieber, als ein ganz normales bürgerliches Leben zu führen«, kam es ihm über die Lippen. »Aber diese Erkenntnis ist mir erst mit den Jahren gekommen. Und verstärkt jetzt, seit ich Sie kenne, Beate…« Mit einem eigenartigen Ausdruck heftete sich sein Blick auf sie. Er ließ Beates Herz rascher klopfen.
»Das – sollte es nicht, Herr Fabrizius«, sagte sie stockend.
»Ich denke manchmal«, fuhr er dennoch fort, »wie anders alles wäre mit einer Frau, wie Sie es sind, und in diese Vorstellung von einem anderen Leben schließe ich unsere Kinder mit ein. Man darf doch einmal träumen, oder nicht?« Der Hauch eines Lächelns lag
um seinen festen, männlichen Mund.
»Nein«, wehrte Beate ab, der es heiß in die Wangen gestiegen war, »nicht solche Träume. Sie versperren den Blick auf die Realität. Sie sind verheiratet, und Sie lieben Ihre Frau…«
»Aber wenn meine Frau nun ganz ihre Freiheit haben wollte, wie es mir manchmal schon so vorkommt«, unterbrach er sie, »und wenn ich sie ihr ließe, dann stünde es mir frei, um Sie zu werben, Beate.«
Sie senkte die Lider. »Darauf kann ich Ihnen nichts erwidern.«
»Könnten Sie nichts für mich empfinden?« fragte Clemens mit dunkler Stimme. Beate schwieg einen Moment, bevor sie ihn wieder ansah.
»Doch«, bekannte sie. »Sie sind seit langer Zeit der erste Mann, an dem ich nicht gleichgültig vorübergehe. Aber ich halte mein Herz fest. Ich möchte für Sie und für Sandra, daß Ihre Ehe hält und Ihr kleines Mädchen die geliebte Mutter nicht verliert.«
Schweigen breitete sich zwischen ihnen aus. Sie tranken langsam den Wein, und sie sahen aneinander vorbei, jeder mit seinen Gedanken beschäftigt. Clemens schenkte nochmals ein von dem edlen Tropfen.
»Ich habe mich schon manchmal gefragt«, begann er endlich, »wieso eine Frau wie Sie allein lebt. Haben Sie Ihren Mann so sehr geliebt, daß es nach ihm keinen anderen mehr für Sie geben kann?«
»Er war nicht mein Mann, das heißt, ich war nicht verheiratet mit Felix’ Vater. Er hat seinen Sohn auch nie gesehen.«
»Damit ist meine Frage nicht beantwortet, warum Sie anscheinend nur für das Kind leben. Aber vielleicht rühre ich damit an eine Wunde…«
»Nein«, sagte Beate ruhig, »ich habe mich einfach für diese Lebensform entschieden, und ich bin nicht unglücklich dabei. Oder haben Sie diesen Eindruck?«
Clemens Fabrizius schüttelte den Kopf. »Im Gegenteil. Sie wirken so ausgeglichen, daß sich das wohltuend auf andere überträgt. Ganz besonders auf mich, da ich es anders kenne. – Was war das für ein Mann, den Sie liebten? Darf man das fragen?«
Sie zögerte, dann antwortete sie verhalten: »Sieghaft – strahlend – ungestüm – und hungrig auf das Abenteuer, das Leben heißt.«
»Mein Gott, und das mußte er so jung verlieren«, bedauerte Clemens. »Ein Schiffsunglück war es, nicht wahr?« Er begegnete Beates irgendwie abwesendem Blick und fügte hinzu: »Ich weiß es ja nur von Sandra, der es Felix erzählt hat.«
Beate drehte ihr Glas in der Hand. Als sie nichts mehr sagte, hatte Clemens das Gefühl, zuweit gegangen zu sein.
»Verzeihen Sie… Sie möchten nicht darüber sprechen«, sagte er. Ihr Schweigen galt ihm als Bestätigung. Da lenkte er vom Thema ab. Beate ging bereitwillig darauf ein.
Nicht viel später stand sie auf, um sich zu verabschieden. An der Haustür sagte Beate: »Das war ein schöner Sonntag, mit unserem Ausflug und dieser Abendstunde noch.«
»Mit Ihnen ist es immer schön«, gab der Mann zurück, und er sah ihr dabei in die Augen, auf den Mund. Seine Miene verriet, daß er sie gern geküßt hätte.
Mit einer leichten Bewegung legte ihm Beate die Hand gegen die Wange, strich flüchtig darüber. »Es kann nicht sein, was nicht sein darf«, sagte sie weich. »Gute Nacht, Clemens.«
*
Der Vogelkäfig stand auf dem Balkon, Pipsi untermalte mit Flügelschlägen und allerlei Lauten die Unterhaltung der beiden Frauen, die da am Tisch saßen. Drinnen im Wohnzimmer hockten Felix und Uli auf dem Teppich vor dem Bildschirm und amüsierten sich beim Kinderfernsehen.
»Uli schreibt also wieder gute Noten in der Schule«, sagte Beate, während sie Kaffee einschenkte. »Vorhin, als ihr kamt, hat er mir zugeflüstert, daß zu Hause alles wieder ›super‹ wäre. Ich bin sehr froh darüber, Ingeborg.«
»Super«, wiederholte Ingeborg etwas gedehnt den gebräuchlichen Ausdruck ihres Sohnes, und ein nicht gerade strahlendes Lächeln huschte dabei um ihren Mund, »wenn Uli das so sieht, ist es ja gut. Seinetwegen reden und lachen wir auch wieder zusammen. Aber es ist doch noch viel trügerischer Schein dabei. Ich fürchte, es wird nie mehr so sein wie früher.«
»Nie mehr, das darfst du nicht sagen«, hielt Beate der Freundin entgegen. »Du hast ihn tief verletzt mit deinem Treuebruch. So etwas heilt nicht in ein paar Wochen ab. Doch eines Tages wird die Wunde vernarben, um bei dem Bild zu bleiben.«
»Auch Narben können noch schmerzen«, behauptete Ingeborg. »Bertold hat das Vertrauen zu mir verloren. Er glaubt wohl, daß ich immer noch an den anderen denke.«
»Aber du bist ganz darüber hinweg?« Nur vorsichtig tastend war diese Frage von Beate gestellt.
»Ja, Beate. Wenigstens du solltest es mir glauben.«
Ingeborg seufzte auf. »Mit Fendrich, das war – wie soll ich es nur erklären – wie eine Flamme, die aufgelodert und wieder erloschen ist. Aber mit solchen Vergleichen kann ich Bertold nicht kommen.«
»Vorläufig muß es euch eben genügen, daß Uli seine Unbefangenheit wiedergefunden hat«, meinte Beate. »Wie schlimm das auch für ihn war, hat man doch daran gesehen, daß er sich zu den Großeltern geflüchtet hat. Haben die eigentlich erfahren, was der Grund für euer Zerwürfnis war?«
»Nein, Bertold hat mich nicht bloßgestellt. Eine Krise, sagte er nur, und er ging darüber hinweg.« Sinnend rührte Ingeborg in ihrer Tasse. »Ich glaube, er würde sich immer vor mich stellen, vor anderen. Er ist so gut, so charaktervoll.«
»Wenn du es nur einsiehst«, sagte Beate.
Später kamen die Buben dazu, es wurde lebhaft auf dem Balkon. Das gefiel dem Wellensittich. »Komm her!« schrie er, und »gib Küßchen!«
Als es auf halb sechs zuging, mahnte Uli: »Wir wollten Papa doch heute vom Geschäft abholen, Mutti.«
Sie brachen auf. Beate hieß ihn, Grüße an den Papa zu bestellen. Felix winkte ihnen vom Balkon aus nach. »Mal gut, daß sie sich alle wieder vertragen«, sagte er und machte ein ganz tiefsinniges Gesicht dabei.
Er blieb noch eine ganze Weile da an der Brüstung stehen, zupfte wohl auch ein paar verwelkte Blüten von den Geranien, die seine Mama hegte und pflegte, ebenso wie den Margeritenstock, der die Ecke zierte.
Bei alledem stand der große fremde Mann immer noch da unten und sah an dem Haus empor.
Endlich ging Felix in die Küche, wo seine Mutter beschäftigt war. »Da unten steht ein Mann und guckt immer hoch«, berichtete er. »Was der wohl will, ob der jemand sucht?«
»Vielleicht.« Beate stellte die abespülten Tassen in den Schrank. »Uns gilt das nicht, Felix.« Sie ließ sich in ihrem Tun nicht stören, nahm sich den Salat und die
Radieschen für das Abendessen vor.
»Komm doch mal«, drängte Felix. »Wir können den doch mal fragen. Vielleicht will er zu Müllers. Dann sagen wir ihm, daß die verreist sind.«
»Du bist ja nur neugierig«, lächelte Beate und folgte ihrem Söhnchen auf den Balkon.
»Och, jetzt ist er weg«, stellte Felix enttäuscht fest. »Soll ich mal runtergehn, vielleicht steht er noch irgendwo rum?«
»Aber nein, das machst du nicht. Was geht uns denn ein fremder Mann an.«
Am nächsten Vormittag besuchte Felix wieder seine kleine Freundin in ihrer Spielecke im Garten.
Als er gegen zwölf Uhr zurückkam, hatte er heiße rote Wangen. »Du, Mami, ich muß dir was erzählen«, platzte er heraus.
Beate schob die Manuskriptblätter beiseite und blickte auf. Freilich, er hatte ihr doch immer etwas zu erzählen. »Komm mit in die Küche«, sagte sie, »dann kann ich dabei schon das Mittagessen vorbereiten.«
Ihr Kleiner war ganz zappelig, er konnte es kaum erwarten, loszuwerden, was er erlebt hatte.
»Stell dir vor, Mama«, er schnaufte ordentlich, »eben hab’ ich den Mann wiedergesehen, der gestern da unten stand. Und er hat mich angesprochen!« Felix machte eine Kunstpause.
Beate runzelte leicht die Stirn. Fremden Männern, die kleine Jungs ansprachen, durfte man nicht unbedingt vertrauen. »Was wollte er denn von dir?« fragte sie und nahm ein paar Kartoffeln aus dem Korb.
»Er hat mich gefragt, wie ich heiße, und als ich gesagt hab, Felix Herder, hat er nichts mehr gesagt und mich nur angeguckt. Mir war ganz komisch, Mama, aber echt. Eigentlich wollte ich weitergehen, aber ich konnte ihn auch nicht so stehenlassen. Irgendwie konnt ich das nicht, Mama. Da habe ich ihn dann gefragt, ob er hier zu jemand wollte, oder jemand suchte. Und weißt du, was er da geantwortet hat?«
»Was denn?« Beate hatte, während ihr Sohn dies hervorsprudelte, den Kartoffelschäler sinken lassen.
»Er hat gesagt, und deine Mutter heißt Beate. So hat er das gesagt, als hätte er plötzlich was im Hals. Wie findest das, Mama, wo doch unten an der Klingel nur Herder steht?«
»Wie sieht der Mann denn aus?« wollte Beate wissen. War es nicht, als hätte sie auch plötzlich »was im Hals«?
»Ja, groß, blond, und ganz blaue Augen hat er. Natürlich hab ich ihn gefragt, ob er dich denn kennen tät, da hat er nur genickt. Dann hat er seine Hand auf meine Schulter gelegt, aber nur so eben, ganz kurz, und dann ist er ziemlich schnell weggegangen. Also das war was…« Felix schüttelte den Kopf.
Beate war alles Blut vom Herzen geflossen. Für einen Moment mußte sie die Augen schließen. Nils – war das Nils?
Felix hatte sich auf den Küchenhocker gesetzt. »Eigentlich wollte ich ihn noch fragen, wie er denn heißt«, fuhr er fort. »Dann kennst du ihn ja vielleicht auch, Mami. Kennst du einen Mann, der so aussieht?«
»Männer von diesem Äußeren gibt es mehr«, antwortete seine Mutter ausweichend. Sie schälte weiter Kartoffeln. Es kostete sie eine Menge, sich zu beherrschen.
»Vielleicht«, überlegte Felix laut, »kommt er doch wieder. Ja, das glaub ich sogar, denn für was ist er sonst immer hier herum. Dann wirst du ja sehen, wer das ist. Nur, er könnte doch einfach klingeln, nicht?«
»Nimmst du bitte mal den Blumenkohl aus dem Gemüsefach«, lenkte Beate ihn ab. – Wo sollte Nils denn nur auf einmal herkommen? Konnte es ihm wirklich nach vielen Jahren wieder eingefallen sein, daß er einmal ein Mädchen namens Beate geliebt hatte?
Und wollte sie es denn, daß er wiederkam?
Nein, gab sie sich selber darauf die Antwort. Ihr Herz war doch ruhig geworden. Und wie sollte sie denn Felix ihre Lebenslüge erklären.
Als sie sich zu Tisch setzten, sagte ihr Söhnchen: »Die Sandra ist wieder mal traurig, weil sie nichts von ihrer Mama hört. Ich finde das ja auch ziemlich gemein von der, auch wenn sie noch so doll Klavier spielt und eine Berühmtheit ist.«
Beate tat ihm Blumenkohl und Kartoffeln auf den Teller und Buttersoße darüber. »Ich kann Sandras Kummer gut verstehen«, meinte sie. Sie dachte auch an den einsamen Mann dort drüben in der weißen Villa.
»Hmhm…« Felix griff zur Gabel. »Mama, ich hab’ versprochen, am Nachmittag nochmal zu kommen, damit sie nicht immerzu da dran denkt. Sonst ist sie doch allein mit der Frau Scholl, bis ihr Papa aus der Klinik kommt. Und du mußt ja auch arbeiten, nicht?«
»Ja, Schatz, tröste deine kleine Freundin nur ein bißchen«, nickte Beate.
War es ein Wunder, daß sie an diesem Nachmittag mit ihrer Übersetzungsaufgabe nicht weiterkam? Zu groß war ihre innere Unruhe geworden, als daß sie sich hätte darauf konzentrieren können.
Eigenartig – sie war jetzt fast sicher, daß Nils in der Stadt war, in ihrer Nähe. Nils Eckert, der blonde Seemann wie aus dem Bilderbuch, dessen Fernweh größer gewesen war als seine Liebe zu ihr.
Ich komme bald wieder, hatte er ihr unter heißen Küssen geschworen in ihrer letzten Nacht, da es ihr doch fast das Herz zerriß, daß sie ihn gehen lassen sollte. Und sie hatte ihm blind vertraut.
Aber er war nicht zurückgekommen.
In den ersten Monaten schickte er noch bunte Ansichtskarten aus fernen Hafenstädten, aus Hong-kong, China und Shanghai. Nur noch diese Fahrt, liebste Beate, dann baue ich uns auf dem Festland ein Haus.
Doch auch diese gelegentlichen Lebenszeichen waren versiegt.
Allein war sie gewesen, als ihr Sohn geboren worden war, der auch sein Sohn war und ihm bis aufs Haar glich. Aber davon wußte er nichts. Und die Jahre waren vergangen, und sie war glücklich mit ihrem Felix.
Daß sie dem Kind erzählt hatte, sein Vater sei mit dem Schiff untergegangen, sollte es nur schützen vor quälenden Gedanken und Fragen.
Beate schrak empor, als ein
kurzes Klingelzeichen, nur wie angetippt, an ihr Ohr drang. War er das, Nils? Sekundenlang saß sie noch wie festgebannt, dann ging sie, von widerstreitendsten Gefühlen erfüllt, an die Tür, um zu öffnen.
Sie horchte auf die Schritte, die die Treppe heraufkamen.
Dann stand er vor ihr, kaum anders, als sie ihn in Erinnerung hatte. Nur ausgeprägter, männlicher die Gesichtszüge. Freilich, er war nicht mehr vierundzwanzig, sondern ein Mann um die Dreißig.
»Guten Tag, Beate.«
»Guten Tag, Nils.«
Sie gaben sich nicht die Hand, sie sahen sich nur stumm an.
Dann trat sie beiseite, um ihn einzulassen.
»Ich habe Tage gebraucht, um den Mut zu finden, bei dir zu klingeln«, sagte Nils Eckert mit belegter Stimme. »Ich sah den Jungen auf dem Balkon. Heute morgen habe ich ihn angesprochen, er wird es dir erzählt haben.«
»Ja. Ich dachte mir gleich, daß du es wärst, als er dich beschrieb. So sehr ich mich auch wundern muß, daß ich dir überhaupt noch einmal in den Sinn gekommen bin.«
»Warum hast du es mich nicht wissen lassen, daß wir einen Sohn haben, Beate?« stieß Nils hervor.
Mit einem kühlen Blick sah Beate ihn an. »Auf deine spärlichen Kartengrüße hin, die schon nach einigen Monaten ganz ausblieben?« Sie schüttelte den Kopf. »Nein, Nils. Ich wollte doch nicht einen Mann unter Druck setzen, dem ich nichts mehr galt.«
Nils wandte den Blick beiseite. »So war es ja nicht… Ganz vergessen konnte ich dich nie.«
»Ach, wirklich?« Der Anflug eines bitteren Lächelns spielte um Beates Mund. »Davon habe ich aber nichts gehabt. Jetzt läßt sich das leicht sagen, nicht wahr?«
»Es wäre alles anders gekommen, wenn ich gewußt hätte, daß wir einen Sohn haben«, stieß Nils hervor.
»Du sprichst immer: wir, wir haben einen Sohn«, hielt sie ihm entgegen. »Es war in all diesen Jahren nur mein Sohn.«
»Und was weiß Felix von seinem Vater?« Nils’ Augen brannten. »Er muß doch danach gefragt haben.«
Beate trat ans Fenster. Wie blind starrte sie hinaus. »Ich habe ihm erzählt, daß du bei einem Schiffsunglück ums Leben gekommen wärst«, erklärte sie tonlos.
»Er hält seinen Vater für tot?« fragte Nils erregt. »Wie konntest du ihm eine solche Lüge auftischen!«
Beate fuhr herum. »Was sollte ich denn tun? Sollte ich ihm sagen, dein Vater hat mir das Blaue vom Himmel versprochen, und dann ist er gegangen und hat sich nicht mehr nach mir umgesehen? Das hätte doch, je größer er wurde, immer weitere Fragen aufgeworfen, die schwer zu ertragen gewesen wären. So hat er es akzeptiert, und es war nicht mehr die Rede davon.« Erregt hielt sie inne, und endlich setzte sie sich.
Nils nahm ihr gegenüber Platz, ohne den Blick von ihr zu lassen.
»Und jetzt«, sagte er nach einem kurzen Schweigen rauh, »jetzt, wo ich wieder da bin…«
»Ja, du bist wieder da«, unterbrach Beate ihn herb, »einfach so. Wieso eigentlich? Warum? Ich habe mir mein Leben mit Felix ganz gut eingerichtet, wir sind froh miteinander, es fehlt ihm an nichts. Ich verdiene als Übersetzerin großer Romane genug, daß wir keine Sorgen haben. Du siehst, wir brauchen niemanden«, schloß sie.
Nils senkte den Kopf, er sah auf seine Hände.
»Ich wollte nur sehen, wie es dir geht, darum bin ich gekommen«, sagte er gepreßt. »Ich dachte, du wärst längst verheiratet, und ich hoffte, daß du glücklich wärst. Dann wollte ich dir erklären…«, er stockte, »ja, was eigentlich schwer zu erklären ist. Daß ich die Verbindung abreißen ließ, aus Leichtsinn, aus Unbedachtheit, das Leben war so bunt…«
»Und in jedem Hafen ein anderes Mädchen«, warf Beate spöttisch ein.
»Ganz so war es nicht. Der Dienst war hart, und manche Stürme auf hoher See galt es zu überstehen. Aber es war auch berauschend, fremde Welten kennenzulernen, auf dem Landgang, in Städte anderer Kulturen und Bauweisen einzutauchen. Da kann es geschehen, daß man nicht mehr daran denkt, an sein Mädchen zu Hause zu schreiben. Wenn man wieder daran denkt, stellt man beschämt fest, daß man zu lange gewartet hat, und sicher schon ein anderer da ist. – Du wirst ja auch nicht allein geblieben sein, Beate.«
»Und wenn es so wäre? Vielleicht gehöre ich zu den Menschen, die nur einmal lieben können.«
In diesem Moment klingelte es. Nils sprang auf. »Ist das Felix?«
Beate ging an die Tür. Aber es war nur jemand, der Staubsauger verkaufen wollte. Erleichtert setzte sich Nils wieder hin. »Wo ist er, wann kommt er?«
»Er hat eine kleine Spielgefährtin in der Nachbarschaft«, antwortete Beate. »Ich weiß nicht, wann er kommt.«
»Was wollen wir ihm sagen?« fragte Nils angespannt. »Er soll es doch wissen, daß ich sein Vater bin, Beate.«
Beate legte die Arme vor der Brust zusammen, sie beugte sich etwas vor und starrte zu Boden. »Darauf müßte ich ihn erst vorbereiten«, entrang es sich ihr. »Was wäre das sonst für ein Schock für ihn. Seine Welt war bisher so klar und festgefügt.«
»Könnte es nicht auch eine Freude für ihn sein, daß sein Vater gar nicht tot ist, sondern daß er lebt?« gab Nils zu bedenken. »Du solltest die Dinge nicht komplizierter machen als sie sind.«
»Wie lange bleibst du in der Stadt?« fragte Beate sprunghaft.
»Das liegt bei dir. Ich habe noch eine Woche Urlaub, und ich bin ungebunden.« Er räusperte sich. »Ich würde gern bleiben, um meinem… unserem Sohn näherzukommen.«
Und dann kam er doch, ihr Felix, früher als von Beate erwartet.
»Frau Scholl hat Sandra reingerufen, weil Besuch gekommen ist, da hab’ ich mich schnell verzogen«, erzählte er und wischte sich mit dem Handrücken über das Gesicht.
»Wir haben auch Besuch«, sagte seine Mutter. Sie signalisierte Nils mit einem langen Blick, seine wahre Identität noch zu verschweigen.
»Oh, Sie sind das!« rief Felix aus, als er des Besuchers gewahr wurde. »Sind Sie doch endlich raufgekommen. Kennst du ihn denn nun, Mama?«
»Ja. Das ist Nils Eckert. Wir kennen uns von früher.«
»Guten Tag, Herr Eckert«, sagte Felix artig und gab ihm die Hand, dabei musterte er ihn nach Kinderart ungeniert. Der Mann gefiel ihm. Er fand, daß das ein dufter Typ war. Den Ausdruck hatte er von Uli.
»Tag, mein Junge.« Nils mußte sich bezwingen, dieses rotwangige Bübchen nicht zu packen und über seinen Kopf emporzuschwenken.
»Bleiben Sie länger zu Besuch?« erkundigte sich Felix interessiert.
»So lange, wie mein Schiff im Hafen liegt«, antwortete Nils. »Am 15. muß ich wieder zurück sein in Bremerhaven.«
Felix riß die Augen auf. »Mein Vater war auch auf einem Schiff, aber das ist untergegangen. Gehört Ihnen das Schiff, sind Sie der Kapitän?«
»Nein, das ist ein Fährschiff, das im Besitz einer großen Seefahrts-Gesellschaft ist, und der Kapitän bin ich auch nicht, ich gehöre nur als Schiffsoffizier zur Mannschaft des Kapitäns«, erläuterte Nils.
»Uij, das find ich toll.« Hingerissen sah Felix zu ihm auf. »Dann kommen Sie bestimmt viel rum in der ganzen Welt.«
Beate, die bis dahin geschwiegen hatte, dachte angesichts der Begeisterung ihres Söhnchens, daß Nils auch das Kinderherz wohl im Sturm gewinnen würde. Sie wußte nicht, ob sie sich darüber freuen sollte. Es war doch allein ihr Felix.
»Nils, entschuldige«, sagte sie etwas unbehaglich. »Zwar habe ich einen freien Beruf, aber meine Zeit ist doch eingeteilt. Ich müßte noch einiges aufarbeiten.«
»Ja, dann will ich dich auch nicht länger aufhalten, Beate.«
»Och nö«, machte Felix, »noch nicht gleich wieder gehen, bitte. Wir können ja in meinem Zimmer weiterreden. Da ist auch der Pipsi, mein Wellensittich. Wenn wir die Tür zumachen, stören wir die Mama nicht.«
»Vielleicht doch. Ein anderes Mal, Felix.« Nils griff in seine Tasche, er wandte sich an Beate. »Hier ist die Nummer von meinem Hotel. Ruf mich an, wenn ich wiederkommen soll.« Er suchte ihren Blick und sah ihr bedeutsam in die Augen.
Felix schluckte seine Enttäuschung hinunter, daß dieser interessante Besuch wirklich schon wieder gehen wollte. Dann machte er ein schelmisches Gesicht. »Wenn ihr euch ›Du‹ sagt, darf ich das doch auch, oder?«
»Aber klar doch. Ich heiße Nils.« Die große Männerhand streckte sich nach dem Jungen aus, die kleine Hand schlug kräftig ein.
Felix brachte ihn noch an die Tür. »Aye, Aye, Sir, Seemannsgruß!« rief er ihm übermütig nach. Schließlich sah man fern und wußte Bescheid.
Nils drehte sich auf der Treppe um. »Seemannsdank«, sagte er fröhlich.
Beate mußte ihren Sohn vom Balkon hereinholen, wo er immer noch winkend stand. »Nun ist es genug, geh in dein Zimmer«, kam es mit ungewohnter Strenge. Aber sie meinte es nicht so. Sie war aufgewühlt. Sie mußte allein sein.
An ihrem Schreibtisch stützte sie den Kopf in die Hände. Hinter ihren Schläfen hämmerte es. Sie mußte Felix die Wahrheit sagen, das war ihr klar. Aber wie sollte das Kind es verstehen, und wie sollte es dann weitergehen?
Nils – empfand sie noch etwas für ihn?
Sie wußte keine Antwort darauf. Die Verwirrung über sein Auftauchen nach so vielen Jahren war zu groß. Sie überdeckte alles andere.
Und dann – Felix. Das lastete ihr schwer auf der Seele. Lieber Gott, sie hatte doch nur das Beste für ihn gewollt!
Im Innersten wie zerrissen, stand sie auf und ging hin und her. Vielleicht sollte sie es gleich hinter sich bringen.
Nein, nein, sie mußte erst ruhiger werden. Sich überlegen, wie und wo beginnen. Morgen, dachte sie. Aber morgen würde es auch nicht anders sein. Und wie sie ihr Söhnchen kannte, würde er für den Rest des Tages von nichts anderem mehr reden als von dem Seemann Nils.
Mal sehen, was er machte…
Unschlüssig öffnete sie die Tür zu seinem Zimmer. Sie mußte sich ja nicht gleich entscheiden.
Felix lag bäuchlings auf dem Teppich, wie er es gern tat. Vor sich hatte er einen Bogen Papier, darauf hatte er zuerst Buchstaben gemalt. Er wollte schon etwas können, wenn er nun bald in die Schule kam. Aber dann war unversehens ein Schiff daraus geworden, wo Nils auf dem Deck in einer großartigen weißen Uniform stand.
»Mami!« Er blickte auf. »Bist du schon fertig? Guck mal, was ich gemalt hab! Das soll der Nils sein.« Lachend deutete er darauf.
Beate hockte sich neben ihn auf den Fußboden. »Er hat dir wohl sehr imponiert«, sagte sie.
»Hmhm.« Felix nickte nachdrücklich. »Dir nicht, Mama? Ich meine, findest du ihn nicht so besonders?«
»Früher«, Beate nahm den Stift, der da lag, und drehte ihn zwischen den Fingern, »früher habe ich Nils Eckert mal sehr gemocht.«
»Echt?« Der Kleine rückte etwas näher an sie heran. »Und dann? Dann nicht mehr?«
»Dann ist er fortgegangen, zur See«, sprach Beate langsam. »Weit, weit fort. So sind wir auseinandergekommen.«
»Schade«, bedauerte Felix. »Da warst du wohl sehr traurig?«
»Ja. Zuerst schon. Das heißt, ziemlich lange war ich sehr traurig. Aber dann –«, Beate zögerte, dann gab sie sich innerlich einen Ruck, »dann kamst du auf die Welt, und ich konnte wieder froh sein.«
Mit halboffenem Mund sah Felix seine Mutter an. Er begann zu begreifen. »Dann kam ich auf die Welt«, wiederholte er stammelnd. »Hast du – hast du mich von Nils bekommen?«
»Ja. Nils ist dein Vater, Felix«, bekannte Beate mit enger Kehle.
Die Augen ihres Kindes verdunkelten sich.
So hatte es sie noch nie angesehen! Beate sank das Herz.
»Und du hast immer gesagt, mein Vater wär tot.«
Es lag mehr als ein Vorwurf in der zitternden Kinderstimme. Es war eine Anklage. Und als eine Angeklagte fühlte sich Beate auch.
Sie standen nun beide auf.
Beate verschlang die Finger und preßte die Hände zusammen. Ihr Sohn stand und sah sich in seinem Zimmer um, als sähe er es zum ersten Mal.
»Felix«, begann Beate unglücklich, »ich glaubte, es wäre leichter für dich, als zu wissen, daß er lebt und doch nichts von ihm zu haben.«
»Er hätte aber doch wissen müssen, daß ich da bin«, sagte Felix.
»Ich wußte doch gar nicht, wo er war!«
»Das hättest du aber rauskriegen können«, meinte der Junge mit einem starren Blick gegen die Wand.
»Du bist noch zu klein, Felix, um das zu verstehen«, erwiderte Beate gepreßt. »Daß eine Frau nicht nur geheiratet werden will, weil ein Kind da ist. Wo ihm doch seine Freiheit mehr galt als alles andere.«
»Das glaub ich nicht«, sagte der Junge trotzig. »Sicher wäre Nils gekommen, wegen uns.« Düster, mit unkindlichem Ernst sah er seine Mutter an. »Daß du gelogen hast, Mama, das find’ ich nicht gut. Zu mir hast du immer gesagt, daß man die Wahrheit sagen müßte.«
»Wenn man aber doch glaubt, mit der bitteren Wahrheit dem liebsten Menschen, den man auf der Welt hat, weh zu tun«, sprach Beate leise. »Du hättest dich womöglich immer nach ihm gebangt, und nach ihm gefragt. Ich wollte dich nicht leiden sehen, Felix.«
»Nur meinetwegen hast du das getan?« fragte Felix zweifelnd.
»Ja. Damit du mein unbefangener, fröhlicher Bub sein konntest. Und das warst du doch auch all die Zeit.«
»Und warum hat Nils mir nicht gleich die Wahrheit gesagt?« forschte der Junge weiter.
»Ich wollte das nicht. Schwer genug mag es ihm gefallen sein. Aber es sollte nicht so ein Schock für dich sein. – Nur war es das jetzt doch, nicht wahr.« Sie lächelte traurig.
»Was hat er denn gesagt, daß es mich gibt?« Ach, es war doch alles so verwirrend. So viel mehr, als ein kleiner Junge es auffassen konnte.
»Er hat sich gefreut«, antwortete Beate. »Und er meinte, du würdest dich auch freuen. So einfach sieht Nils das. Er ist so, weißt du.«
Felix starrte vor sich nieder. »Ich glaub, er hat es gleich gewußt, wie er mich gesehen hat, darum hat er mich auch so komisch angeguckt. Wir sehen uns ähnlich, nicht?«
»Ja, sehr«, flüsterte Beate.
Sie ging hinaus, als das Telefon klingelte. Es würde doch nicht schon wieder Nils sein?
Es war der Verlag, der wegen eines neuen zukünftigen Auftrages etwas mit ihr bereden wollte.
Das Gespräch zog sich ziemlich in die Länge, sie mußte sachlich und konzentriert sein. Als sie endlich aufgelegt hatte und einen Blick auf die Uhr warf, sah sie, daß es allmählich Zeit zum Abendessen wurde. Felix rührte sich nicht, er war noch in seinem Zimmer. Nur der Wellensittich gab sein Gezwitscher von sich.
Es wurde eine ziemlich schweigsame Mahlzeit. Hinter der Kinderstirn schienen unablässig Gedanken hin- und herzugehen. Unwillkürlich überlegte Beate, was Nils jetzt wohl tat. War er im Hotel, lief er durch die Straßen und dachte, daß hier sein Sohn war?
»Wann kommt er wieder?« fragte Felix nach einem Bissen, an dem er lange und abwesend gekaut hatte.
»Bald«, antwortete Beate. Ein Ausweichen gab es nun nicht mehr. Sie konnte Vater und Sohn nicht voneinander fernhalten.
»Morgen?« bohrte Felix weiter.
Beate nickte. »Aber iß jetzt, Felix.«
Er beugte sich über seinen Teller.
»Mein Vater.« Wie ein Hauch nur kam es, kaum daß er die Lippen dabei bewegte.
Am späteren Abend, als Felix eingeschlafen war, rief Beate im Hotel an. »Kann ich bitte Herrn Eckert sprechen?« fragte sie.
»Herr Eckert ist noch im Restaurant, Moment, ich hole ihn«, kam es zurück. Zwei Minuten später war er am Apparat. »Ja?« fragte er atemlos.
»Felix weiß nun Bescheid«, erklärte sie mit spröder Stimme. »Du kannst morgen kommen.«
»Beate, und wie…«
Aber er kam nicht weiter. Beate hatte schon aufgelegt.
*
Sie verließen zusammen die Klinik, Fabrizius und sein Kollege Hentze.
»Was ist denn mit Ihrer Frau passiert?« fragte Hentze teilnahmsvoll. »Ich habe es zufällig gelesen. Das ist doch hoffentlich übertrieben, was das Blatt da schreibt.«
Clemens Fabrizius stutzte. »Was haben Sie gelesen?«
»Nur die Überschrift in großen Lettern: WIRD SIE NIE MEHR SPIELEN KÖNNEN? Ihre Frau mußte wohl Konzerte absagen wegen einer Handverletzung.«
Fragend sah Hentze den anderen an, der jäh erblaßt war. Wußte der denn gar nichts davon? Er wurde plötzlich verlegen. Man munkelte, daß es in der Ehe nicht mehr so ganz stimmte. Man sah die schöne Bianca ja auch kaum noch an seiner Seite.
Da waren sie schon am Parkplatz, auf dem ihre Wagen standen.
»Jedenfalls, alles Gute«, sagte Dr. Hentze etwas hastig. »Sie werden froh sein, daß Sie in den nächsten Tagen Ihren Urlaub antreten können. Guten Abend, Herr Kollege.«
Schweratmend setzte sich Clemens hinter das Steuer. Ihm war, als habe er einen Schlag gegen den Kopf bekommen. Was war mit Bianca? Eine Handverletzung? Das konnte eine Katastrophe für sie bedeuten!
Wo war sie? Warum meldete sie sich nicht? Das war doch zum Verzweifeln, daß er nicht einmal wußte, wo sie war!
War sie am Ende schon in ihrem Haus in Südfrankreich. Wo sich das befand, wußte er inzwischen. Den Ort hatte sie ihm genannt.
Er fuhr nach Hause. Sandra kam ihm entgegen. »Papi, Frau Scholl hat gesagt…«
»Jetzt nicht, Schätzchen«, sacht schob der Vater sie beiseite. »Ich muß dringend telefonieren.«
Von der Auslandsauskunft erfuhr er die Nummer der neuen Eigentümerin. Der Ruf ging mehrmals ab, bis sich jemand meldete. Es war Lucy, die seit Jahren die Pianistin auf ihren Tournéen begleitete, Garderobiere, Friseurin, kurz ihr guter Geist war. Dann konnte Bianca nicht weit sein.
»Ich werde sie rufen«, sagte sie denn auch, und dann, leiser, vertraulich, »es ist gut, daß Sie anrufen, Herr Doktor. Sie ist total am Boden…«
Es dauerte eine ganze Weile, bis Bianca kam. Ihre Stimme klang müde. »Ich bin gefallen und habe mir das Handgelenk gebrochen, Clemens.«
»Und warum erfahre ich das nur mehr oder weniger zufällig?« fragte Clemens erregt. »Warum bist du damit nicht zu mir gekommen, nach Hause?«
»Ich bin in Nizza in Behandlung«, sagte sie tonlos.
»In Nizza, so«, erwiderte Clemens erbittert. »Und Sandra und ich, wir warten und warten auf ein Lebenszeichen von dir. Dein Schweigen ist uns völlig unverständlich.«
»Mach mir bitte nicht noch Vorwürfe. Ich bin geschlagen genug.«
Er räusperte sich. Mühsam beherrscht, sagte er in verändertem Ton: »Bianca, soll ich kommen? Freitag ist mein letzter Arbeitstag vor dem Urlaub. Am Sonntag könnte ich bei dir sein, vorausgesetzt, es ist dir recht. Ich weiß ja nicht, was in dir vorgeht…«
»Was geht in einer Frau vor, der die Musik alles war und die sie wahrscheinlich aufgeben muß«, gab Bianca Fabrizius in demselben matten, resignierten Ton zurück.
»Alles?« betonte ihr Mann fragend. »Existiert wirklich nichts anderes mehr für dich auf der Welt?«
Ein Schweigen trat zwischen sie, in dem viel Ungesagtes lag. Dann sagte Bianca leise: »Ich erwarte dich also mit Sandra. Adieu, Clemens.«
Seine Kleine hatte vor der geschlossenen Tür auf ihn gewartet.
»Wir fahren am Sonntag zur Mama nach Südfrankreich, Sandra.«
Ein heller Glanz flog über ihr Gesichtchen. »Hast du mit ihr telefoniert? Hat Mama endlich Zeit für uns, muß sie nicht mehr spielen?«
»Nein. Sie wird jetzt viel Zeit für uns haben«, antwortete er.
»Aber warum freust du dich denn gar nicht, Papa, warum guckst du denn so ernst?« wunderte sich Sandra.
Clemens sah beiseite. »Die Mama hat sich das Handgelenk gebrochen.«
»Oh!« Das Kind erschrak und legte die Finger an den Mund. »Ist das was ganz Schlimmes, tut das sehr weh?«
»Es ist schlimm für sie, Sandra«, nickte er schwer. »Sie ist sehr niedergeschlagen.«
»Dann müssen wir sie trösten, Papi«, sagte Sandra. Sie machte große Augen dabei und nahm ihn bei der Hand, als wollte sie auf der Stelle mit ihm gehen zu ihrer Mama.
Doch mußte sie sich noch einige Tage gedulden, und die wurden ihr lang. Vergeblich hielt sie auch nach ihrem Freund Felix Ausschau. Sie wunderte sich sehr, daß er nicht kam. Sie hatte ihm doch soviel zu erzählen.
Endlich sah sie ihn wieder angeflitzt kommen. »Wo warst du denn so lange?« fragte sie.
»Im Moment hab ich keine Zeit, Sandra, ich muß auch jetzt gleich wieder gehen«, antwortete er eilig. »Ich bin nämlich viel mit meinem Vater unterwegs, solang er noch da ist.«
Das kleine Mädchen zwinkerte verständnislos. »Hast du denn jetzt einen neuen Vater?«
»Neu ist der nicht. Das ist mein richtiger. Er war gar nicht tot, sondern immer nur weit fort. Er ist ein Seemann!« Triumphierend sah Felix die Spielgefährtin an.
»Das versteh ich nicht«, sagte Sandra verwirrt.
»Mach dir nichts draus, hab’ ich auch nicht, zuerst. Ist auch eine ziemlich komplizierte Sache. Aber jetzt ist alles klar. Für mich und Nils jedenfalls. Meine Mutter hat soviel mit ihrem Buch zu tun, daß sie nicht mitkommt.«
»Nils?« fragte Sandra unsicher.
»So heißt er, Nils Eckert. Manchmal sag ich auch schon Papa zu ihm. Ist nur noch ’n bißchen ungewohnt. Er ist auch mehr so – mehr so ’n Kumpel, verstehst du?«
»Nein«, sagte Sandra.
»Erzähl ich dir alles ein andermal ausführlich. Tschüs jetzt, Sandra.«
»Du, wir fahren weg, nach Frankreich, und da bleiben wir ganz lange«, versuchte sie ihn festzuhalten.
»Viel Spaß!« rief Felix und machte sich davon.
Enttäuscht sah Sandra ihm nach. Das interessierte ihn anscheinend überhaupt nicht. Was hatte er da nur erzählt, von einem Vater, der auf einmal wiedergekommen war?
»Mir kam das vor«, sagte Sandra am Abend zu ihrem Papa, »als hätte Felix mir da nur so eine Geschichte erzählt. Aber so war das auch nicht. Er sagt, das wär sein richtiger Vater.« Fragend sah sie ihn an, als könne er das Rätsel lösen.
Aufmerksam hatte Clemens seinem Töchterchen zugehört. Flüchtig erinnerte er sich an Beates Reaktion, als er das Thema einmal berührt hatte. Wie sie geschwiegen und sich verschlossen hatte.
Er hatte sie sowieso noch anrufen wollen, um sich vor der Reise von ihr zu verabschieden.
Beate war erfreut über seinen Anruf. Wenn er zu seiner Frau nach Südfrankreich fuhr, wie er sagte, schien die Ehe doch wieder ins Lot zu kommen. Sie wünschte es für ihn.
»Da wird Sandra aber nun froh sein, daß sie ihre Mami wiedersieht«, äußerte sie herzlich.
»Ein Grund zu reiner Freude ist es leider nicht«, erwiderte der Mann, und er erzählte ihr, was mit Bianca passiert war.
»Um Gottes willen«, erschrak nun auch Beate. »Es wird doch hoffentlich kein Schaden zurückbleiben. Das wäre ja entsetzlich, bei ihrem Beruf.«
»Ich bin kein Knochenspezialist, mein Fachgebiet sind die Erkrankungen der inneren Organe des Körpers. Ich muß erst näheres wissen. Aber die Befürchtung besteht natürlich, und meine Frau weiß das auch…«
Wenige Sekunden schwiegen sie, Beate etwas hilflos, denn jedes Wort der Teilnahme erschien ihr banal.
»Und wie geht es Ihnen, Frau Herder?« Er kehrte zu der offiziellen Anrede zurück. Es hatte eine Stunde der Vertrautheit gegeben, aber Beate hatte die Grenzen gesetzt.
»Mein Felix«, begann Beate zögernd, »wollte heute mal kurz zu Sandra. War er nicht bei ihr?«
»Doch… Und er hat ihr etwas erzählt, was meine Kleine kaum glauben konnte.« Abwartend schwieg Clemens erneut.
»Es ist wahr. Sein Vater ist wieder aufgetaucht.« Ihre Stimme klang belegt. »Es war nicht einfach, Felix zu erklären, warum ich ein Schiffsunglück erfunden hatte, damit er glauben sollte, sein Vater sei tot.«
»Und warum haben Sie das getan?« fragte Clemens verhalten.
»Ich wollte es meinem Kind leichter machen, und mir vielleicht auch. Wollen Sie mich deshalb verurteilen, Herr Fabrizius?«
»Das liegt mir fern«, sagte er ernst. »Hat der Mann nicht gewußt, daß Sie ein Kind von ihm haben?«
»Nein. Als ich mich schwanger fühlte, war er schon gegangen. Und später hörte ich nichts mehr von ihm.«
»Und was bedeutet es jetzt für Sie, daß er zurückgekehrt ist?«
»Das ist so schwer zu sagen«, antwortete Beate dunkel. »Nils Eckert war die einzige Liebe in meinem Leben. Aber wenn eine Liebe so lange auf Eis gelegt worden ist, kann sie nicht mehr zum Blühen kommen. Es bringt mich nur in einen großen Zwiespalt, daß Felix so begeistert von ihm ist und die beiden ein Herz und eine Seele sind. Der Mann ist voller Vaterstolz, er war es von der ersten Stunde an.«
»Das ist verständlich. Felix ist ja auch ein prächtiger Junge.«
»Ja. – Nun, diese Tage werden vorübergehen, und dann wird Nils Eckert wieder zur See fahren. Man wird sehen, was weiter wird.«
»Ja, meine Liebe«, sprach Clemens mit Wärme, »dann kann ich Ihnen nur wünschen, daß sich alles zum Guten wenden wird, so oder so.«
»Das können wir uns gegenseitig wünschen, Herr Fabrizius…« Mit einem Abschiedsgruß beendeten sie das Gespräch.
*
Zauberhaft war das Haus gelegen, an dessen Mauern Bougainvilleas in bunter Farbenpracht rankten. Ein starker Duft wehte von den Lavendelfeldern her, dahinter breitete sich das sonnendurchglühte Land aus. Gleichzeitig spürte man die Nähe des Meeres, die sanfte Brise, welche die Sommerhitze erträglich machte.
Obwohl nur zwanzig Kilometer vom mondänen Nizza entfernt, herrschte hier tiefster Frieden. Das nahe Dorf war nur klein, dort liefen Hühner gackernd über die Straße, auf dem runden Platz vor der Kirche machten die Männer ihr Kugelspiel, das Boule. Doch bloß das Läuten der Glocke drang bis hier herauf in die Stille.
Clemens Fabrizius mußte zugeben, daß der Kauf dieses Hauses keine Fehlinvestition gewesen war. Auch die Einrichtung, die Bianca vom Vorgänger übernommen hatte, war geschmackvoll und entsprach allen Ansprüchen.
Es hätte wunderschön sein können, wenn Bianca nicht bar jeder Lebensfreude gewesen wäre. Im kühlen, abgedunkelten Zimmer war sie ausgestreckt auf einer Liege und ließ sich von Lucy bedienen. Das war eine eher kleine, flinke Frau um die Vierzig mit hellwachen Augen, denen nichts entging.
»Ihre Frau war völlig überarbeitet, sonst wäre das wahrscheinlich gar nicht passiert«, hatte sie zu Clemens bald nach seiner Ankunft gesagt. »Ich hatte ihr so geraten, die letzten Auftritte abzusagen, aber sie hörte ja nicht auf mich. Und der Lübbert ist ein Hai, der nur ans große Geld denkt.«
Es war Biancas Manager, von dem sie so verächtlich sprach.
»Es ist sehr dankenswert, daß Sie bei ihr geblieben sind, Lucy«, sagte Clemens.
»Ich konnte sie doch nicht im Stich lassen, als sie sich hier verkriechen wollte, Herr Doktor.«
Clemens versuchte es mit Güte, aber auch mit energischem Zureden, seine Frau aus ihrer Lethargie zu reißen.
»Du trägst den Arm in Gips, aber du bist nicht krank«, sagte er. »Du wirst es werden, wenn du dich nicht endlich aufraffst, Bianca.«
Doch sie wandte nur den Kopf beiseite und sah gegen die Wand.
Sandra wußte auch bald nicht mehr, wie sie sich verhalten sollte. Da war die große Sehnsucht in ihr, sich zärtlich über ihre Mama zu werfen, aber sie fürchtete, ihr weh zu tun, wo sie doch den »schlimmen« Arm hatte. So saß sie oftmals still neben ihr und wagte kaum, ihr von alldem zu erzählen, was sie erlebt hatte, mit Felix und mit Tante Beate, wagte nicht, von ihrem und ihres Papas langem Warten auf sie zu sprechen.
Clemens suchte eine Unterredung mit seinem Kollegen in
Nizza, als Bianca wieder zur Untersuchung dorthin mußte.
»Sie sehen, es ist kein glatter Bruch«, erklärte ihm dieser, während er Fabrizius das Röntgenbild zeigte. »Bis zur Heilung werden Monate vergehen, und eine gewisse Steifheit wird noch längere Zeit zurückbleiben.«
»Wieviel Zeit! Was schätzen Sie?« wollte Clemens wissen.
Dr. Prévert wiegte den Kopf. »Das läßt sich schlecht voraussagen, Herr Kollege. Ein Jahr, zwei Jahre? Das Gelenk muß durch Massagen und Übungen zu seiner Beweglichkeit zurückfinden.«
»Wird meine Frau dann wieder Klavierspielen können?«
»In beschränktem Maße, ja, das ist wohl anzunehmen. Nur keine großen Konzerttournéen mehr.« Der Arzt rückte an seiner Brille. »Ihre Gattin hat wohl in letzter Zeit überhaupt ziemlich Raubbau mit ihren Kräften getrieben«, fügte er hinzu.
»Nicht nur in letzter Zeit«, bemerkte Clemens düster. »Ihr Terminkalender war immer prallvoll.«
»Sie war ja auch eine wunderbare Pianistin. Ich habe Aufnahmen von ihr.« Er seufzte. »Ja, es ist schon eine Tragik, daß das passieren mußte.«
»Was hat er gesagt?« fragte Bianca, als sie zurückfuhren.
»Daß du Geduld haben mußt«, antwortete ihr Mann einsilbig.
Tragik – dieses Wort erschien ihm trotz allem zu gewaltig.
Am Abend, als die Sonne im Meer versunken war, brachte er seine Frau dazu, mit ihm einen kurzen Spaziergang im pinienduftenden Wäldchen zu unternehmen. Als sie zurückkamen, hatte Lucy eine Flasche von dem köstlichen Landwein und zwei Gläser auf den runden Tisch auf der Terrasse gestellt. Sie sorgte für alles, sie kaufte ein, sie bereitete leichte Mahlzeiten und hielt Ordnung im Haus, und es geschah mit leichter Hand. Zudem war sie bemüht, wieder einmal ein Lächeln auf Biancas Gesicht zu zaubern.
Clemens war es jetzt, der über Lucys Fürsorge erfreut lächelte. Es war die rechte Stunde, um ein Glas Wein unter einem Sternenhimmel zu trinken.
»Bianca«, begann er, nachdem sie den Wein probiert und eine kleine Weile geschwiegen hatten, »Prévert hat deinen Unfall tragisch genannt. Ich meine, es gibt tragischere Schicksale.«
»Meinst du das? Und was würdest du sagen, wenn du dein Skalpell nicht mehr in die Hand nehmen könntest?«
»Der Vergleich hinkt, Bianca. Ärzte, Internisten und Chirurgen gibt es jede Menge. Große Künstlerinnen wie dich aber nur wenige.«
»Nun, und, worauf willst du hinaus?«
»Ich möchte dir vor Augen halten«, sagte ihr Mann ernst, »daß Menschen viel grausamer geschlagen sein können, als es dir geschehen ist. Ich könnte dir Fälle aus meiner Praxis erzählen – oder du müßtest einmal einen Blick in unsere Intensivstation tun – nein, nein, ich höre schon auf«, unterbrach er sich, als Bianca eine abwehrende Bewegung machte. »Aber denke doch bitte darüber nach, was dir geblieben ist und sei dankbar dafür.«
»Soll ich dankbar sein, daß mein Flügel in aller Zukunft zugedeckt bleiben muß?« fragte sie bitter.
»Erstens wird es nicht in aller Zukunft sein, denn die Aussicht besteht absolut, daß du eines Tages wieder wirst spielen können«, hielt Clemens ihr entgegen, »und zweitens, wäre es nicht denkbar, daß du einen gewissen Ausgleich darin finden könntest, mehr Zeit für Sandra und mich zu haben? Wir lieben dich, Bianca. Achte das nicht gering.«
Bianca legte den Kopf gegen die Lehne des Gartensessels und sah zu den funkelnden Sternen empor. Nur der Gesang der Zikaden in den Bäumen war in der großen Stille zu vernehmen. Im Haus schlief das Kind, allein aus Lucys Zimmer fiel noch ein schwacher Lichtschein.
»Ich liebe euch auch«, murmelte Bianca endlich langsam und gedankenvoll. »Es ist wahr, ich habe es euch oftmals zu wenig spüren lassen…«
Clemens horchte ihren Worten nach. War sie doch auf dem Wege, zur Einsicht zu kommen?
»Es ist nicht zu spät, Bianca«, sagte er weich.
Sie schwiegen, sie tranken den Wein, und dann gingen sie zusammen in das blütenumrankte Haus. Von der Dorfkirche schlug es Mitternacht.
*
Für Nils Eckert war es sein letzter Urlaubstag. Morgen mußte er wieder zurück auf sein Schiff, das erneut zu großer Fahrt in See stechen würde.
»Nur diese Fahrt noch, Beate, dann bewerbe ich mich bei einer Seehandelsgesellschaft an Land«, sagte er.
»Nur diese Fahrt noch«, wiederholte Beate. »Diese Worte hast du mir vor ungefähr sieben Jahren schon einmal geschrieben, Nils.«
»Diesmal ist es mir ernst wie niemals zuvor«, versicherte er beschwörend. »Wir werden zusammenleben, ich werde uns ein schönes Heim schaffen. Sag doch ja, Beate!«
Sie hob den Blick, ihre Lider zuckten. »Du wirst nicht froh sein mit einem Leben an Land«, hielt sie ihm entgegen. »Es wird dich immer wieder hinausziehen. Es steckt doch in dir, dieser Hunger nach Weite und abenteuerlichem Erleben.«
»Der ist gestillt, Beate, ich schwöre es dir. Weißt du«, mit großem Ernst sah er sie an, »so lustig ist die Seefahrt nicht. Mit den Jahren erkennt man doch, daß die meisten von uns am Ende ziemlich einsam sind. Ich möchte es nicht sein. Ich möchte eine Familie haben, die ich nicht nur alle paar Monate einmal sehen kann. Und habe ich sie denn nicht schon?«
In seinen blauen Augen war ein Glanz, er streckte seinen Arm nach ihr aus. Aber Beate tat nicht den letzten Schritt zu ihm hin.
»Es wäre wegen Felix«, sagte sie stockend. »Sein Herz ist dir zugeflogen!«
»Doch nicht nur!« brach es aus Nils heraus. »Ich habe das Mädchen wiedergefunden, das ich vor allen anderen geliebt habe. Es ist eine schöne junge Frau geworden und die Mutter meines Sohnes. Wehre dich nicht länger, Beate. Warum bist du denn allein geblieben? Du hast einmal gesagt, du gehörtest wohl zu den Frauen, die nur einmal lieben können. Und ich bin es doch, dem du dein Herz geschenkt hattest – dein Nils!«
Bei diesen Worten, die sich ihm so leidenschaftlich über die Lippen drängten, floß Beate das Blut rascher durch die Adern. Sie hatte sich ihm gegenüber in all diesen Tagen versteift, war ihm keinen Schritt entgegengekommen. Auf einmal schien die Wand, die sie zwischen ihm und sich aufgerichtet hatte, ins Wanken zu kommen.
Da griff Nils nach ihr. Heftig und zärtlich zugleich schlang er seine Arme um sie, dann küßte er sie…
Irgendwo stand es geschrieben: Wenn unter der Asche auch nur noch der kleinste Funke glimmt, genügt ein Windhauch, um das Feuer wieder zu entfachen.
So geschah es Beate, daß sie zu ihrer einzigen Liebe zurückfand. Sich dazu bekannte, bekennen mußte, weil nun alles in ihr zu ihm hinströmte. Wie vertraut wieder sein Mund, die breite Brust, an der sie lag.
Und so fand Felix die beiden, als er aus seinem Zimmer kam. Mit offenem Mund sah er auf sie, die da eng umschlungen standen.
»Hast du ihn nun doch wieder lieb, Mami?« fragte er atemlos. Denn das schien doch bisher gar nicht so, und das hatte ihn bekümmert.
»Ja.« Beate löste sich aus der Umarmung, mit bebenden Lippen lächelte sie ihrem Sohn zu, der jetzt und für immer auch Nils’ Sohn sein sollte.
Es gab dann bei dem kleinen Jungen doch noch ein paar Tränen, daß sein Vater wieder fortgehen mußte. Sie kullerten ihm über die runden Wangen.
Nils tupfte sie ihm weg. »Ich komme ja wieder«, sagte er tröstend. »Frag deine Mama, sie weiß es genau.«
Er sah Beate an, wie um sich zu vergewissern, daß sie ihm glaubte und seiner Liebe sicher war.
»Ja, ich weiß es, daß dein Papa wiederkommen wird, Felix«, sagte sie verhalten, mit einem leisen Lächeln, in dem alle Zuversicht lag.
*
Ganz allmählich hatte sich Bianca Fabrizius körperlich und seelisch erholt. Das gebrochene Gelenk schmerzte nicht mehr, der Verband, der darum lag, war leichter geworden, und Dr. Prévert war mit dem Heilungsprozeß zufrieden. Dennoch riet er zu größter Vorsicht und Schonung, als sie sich von ihm verabschiedete.
Einen Abschied gab es auch mit Lucy, als die Ferienwochen vorbei waren. »Ich werde nun mit meinem Mann nach Hause fahren«, sagte sie zu der Getreuen. »Ob ich Sie noch jemals brauchen werde, das steht in den Sternen. Tournéen wird es nicht mehr geben, und ob ich jemals noch einen ganzen Konzertabend als Solistin durchstehen werde, ist auch sehr fraglich.«
»Jetzt nicht wieder traurig werden«, bat die um einen halben Kopf kleinere Frau, als sie sah, wie Biancas Züge sich verschatteten. »Sie werden vielleicht nicht mehr für ein Riesenpublikum, aber doch noch für sich und Ihre Lieben spielen können, später.«
»Hoffentlich«, flüsterte Bianca. Dann küßte sie Lucy auf beide Wangen. »Leben Sie wohl, Lucy, und haben Sie Dank für alles. Es waren gute Zeiten mit Ihnen.«
Lucy hatte eine neue Aufgabe gefunden bei einer Sängerin, die an allen großen Opernbühnen gefragt war. Sie reiste zuerst ab, einen Tag später verschloß Clemens das Haus. Eine zuverlässige Frau aus dem Dorf, die auch schon stundenweise hier gearbeitet hatte, würde ein Auge darauf haben, bis sie einmal wiederkamen.
»Nach Hause, nach Hause!« jubelte Sandra. Sie saß schon im Wagen, als ihr Papa noch die Gepäckstücke verstaute. Es war hier ja ganz schön gewesen, nachdem es ihrer Mami nicht mehr gar so schlecht ging. Aber wie schön würde es erst wieder zu Hause sein, wenn sie nun bei ihnen blieb.
»Sie sind wieder da«, verkündete Felix, der auf seinem neuen Fahrrad, einem Geschenk seines Vaters, in den stillen Straßen spazierengefahren war. »Ich hab gesehen, wie sie angekommen sind, aber ich bin nicht hin. Sandras Mutter war auch dabei. Sie hat den Arm verbunden in so ’ner Schlinge um den Hals.«
Beate nickte ernst. »Ja, das ist eine schlimme Sache für Frau Fabrizius«, meinte sie.
»Morgen«, fuhr Felix fort, »geh ich mal gucken, ob Sandra im Garten ist. Da werde ich ihr alles erzählen, von meinem Vater.«
»Warte lieber noch ein bißchen damit, bis sie sich eingewöhnt haben«, riet Beate dem Kleinen.
Er lauerte dennoch, ob sie da wäre, sah sie nur mit ihrer Mutter, und da traute er sich nicht näher.
Doch am nächsten Tag hielt seine kleine Freundin Ausschau nach ihm, lebhaft winkte sie ihm zu. Endlich waren sie nun wieder zusammen. Auf ihrem Stammplatz, dem Klettergerüst, hockten sie sich dicht nebeneinander, Felix platzte geradezu vor Mitteilungsdrang.
Staunend hörte die Kleine ihm zu, als er ihr gestenreich von den bevorstehenden Veränderungen in seinem Leben erzählte.
»Dann zieht ihr wohl fort, zu deinem Vater?« fragte sie kleinlaut.
»Das ist alles noch nicht so raus, das dauert alles, weil er ja jetzt mal erst auf großer Fahrt ist«, sagte Felix überlegen. »Hauptsache, ich weiß jetzt, daß wir zusammenbleiben, Mami, Nils und ich.« Er sah Sandra an. »Und jetzt bist du dran. Wie war das denn da so, in Frankreich?«
»Zuerst nicht so schön, weil Mama so unglücklich war. Aber dann doch, wie sie wieder rausging. Da ist alles viel bunter als hier, die Häuser und so, und Palmen gibt’s da, und überhaupt viel, was es hier nicht gibt. Aber ich bin doch lieber hier«, schloß sie.
»Und deine Mama, ist die immer noch traurig, weil ihre Hand kaputt ist?« erkundigte sich Felix.
»Die ist nicht kaputt«, widersprach Sandra empfindlich. »Die wird schon wieder. Nur eben nicht mehr so wie früher.« Sie senkte den Kopf und sah auf ihre Fußspitzen. »Wie wir nach Hause kamen«, flüsterte sie ganz leise weiter, »und sie ihren Flügel gesehen hat, da hat sie da drüber gestrichen mit der gesunden Hand, und dabei hat sie ein Gesicht gemacht, daß ich weggelaufen bin und weinen mußte.«
»Hm«, machte Felix etwas ratlos und versuchte zu verstehen. Dann lenkte er ab: »Nächsten Monat komm ich in die Schule, Sandra, dann muß ich viel lernen und werde nicht mehr soviel Zeit haben.«
Es klang sehr wichtig.
»Kommst du dann nicht mehr zu mir?« fragte Sandra.
»Ach klar doch«, lachte Felix und zog spielerisch an einer Locke, die ihr über das kleine Ohr fiel, »du bist doch meine Freundin.«
Wie bald war es soweit, daß Felix ABC-Schütze wurde. In der Klasse machte er sich interessant mit Erzählungen von seinem Vater, der ein Seemann war und gerade auf dem Atlantischen Ozean ’rumschipperte. Er schmückte sie mit viel Phantasie aus. »Solltest nur mal sehen, wie die die Augen aufreißen, Mama!«
Beate tippte ihrem Söhnchen auf die sommersprossige Nasenspitze. »Sie werden dich für einen Prahlhans halten, du Schlingel.«
Felix zwinkerte ganz vergnügt. »Wenn’s aber doch wahr ist! Fast alles!«
Diesmal kamen nicht nur bunte Ansichtskarten, die sein Sohn sich neben das Bett pinnte, sondern Nils rief auch manchmal an. »Liebst du mich, Beate? Denkst du an mich? Wirst du meine Frau, sobald ich zurück bin?«
Er konnte es nicht oft genug hören, ihr ja in dem ein heiteres Lächeln schwang. Das Lächeln einer Frau, die sicher war, daß die Zukunft ein neues Glück für sie bereithielt.
*
Als Clemens Fabrizius vom Dienst kam, fand er seine Frau im Musikzimmer. Sie ordnete Notenhefte, legte sie zu mehreren Stapeln zusammen.
»Belaste nur dein Handgelenk nicht, Liebes«, ermahnte er sie.
»Daran hindert mich schon die steife Manschette, die man mir verpaßt hat«, lächelte Bianca. »Ich will nur ein bißchen Ordnung schaffen. Ich brauche das alles ja nun nicht mehr.«
»Vorläufig«, verbesserte er sie. »Warst du beim Arzt, waren die Übungen wieder so schmerzhaft?«
»Ja, ziemlich schmerzhaft. Aber damit werde ich noch viele Monate lang leben müssen.«
»Nimm doch vorher immer eine Tablette«, riet er ihr. »Hattest du nicht noch von den Schmerztabletten, die Prévert dir gegeben hatte?«
»Ich nehme keine Tablette. Ich kann das schon aushalten.« Sie ließ von den Heften ab und wandte sich ihm ganz zu. Ein eigenartiger Ausdruck war in ihren schönen hellen Augen.
»Wie siehst du mich an, Bianca? Als hättest du mir etwas zu sagen und wüßtest nicht, wo beginnen.«
»Ich war«, sagte Bianca zögernd, »noch bei dem Gynäkologen, der seine Praxis im selben Haus hat. Ich bin tatsächlich schwanger, Clemens.«
Es verschlug ihm zunächst die Sprache. Ein Kind, sie würden ein Kind haben. Ein Geschwisterchen für Sandra!
»Aber du kannst dich nicht darüber freuen?« brachte er nach einem kurzen Räuspern hervor.
Sie hob die Schultern. »Ich weiß es nicht, Clemens. An ein zweites Kind haben wir doch nie gedacht.«
»Nein«, gab Clemens zu. »Wie sollte das auch in dein rastloses Leben passen. Sandra hat ja schon weitgehend auf Mutterliebe verzichten müssen. Es war der Preis für deinen Ruhm, Bianca.«
»Ja«, sagte sie still. »Das eine ist mir genommen worden«, sie bewegte die Finger, »und nun erfahre ich, daß ich ein Kind bekomme…«
»Sollten wir das nicht als ein Geschenk betrachten?« fragte Clemens ernst. »Es wird dir über vieles hinweghelfen, Bianca. Über die Leere, in die du ja doch gefallen bist, seit du nicht mehr spielst.«
»Und dir wäre es recht, wenn noch ein Baby ins Haus käme?« fragte sie unsicher.
Seine Züge erhellten sich.
»Und ob es mir recht wäre!« lachte er leicht auf. »Komm, Liebste, wir wollen es Sandra sagen!«
Am nächsten Tag hatte eine strahlende Sandra nichts Eiligeres zu tun, als bei ihrem Freund Felix zu klingeln.
Beate machte ihr die Tür auf. »Ja, Sandralein, kommst du mich besuchen«, sagte sie überrascht.
»Ich wollte Felix was sagen«, stieß das kleine Mädchen hervor.
»Felix ist nicht da, er ist in der Schule.«
»Oh«, Sandra legte die Fingerchen gegen den Mund, »daran habe ich nicht gedacht. Da stör ich dich jetzt wohl, Tante Beate?«
»Du störst nicht«, gab Beate freundlich vor, obwohl sie bei der Arbeit war. »Komm nur rein. Du wirst es doch auch mir sagen können, oder?«
»Ja. Wir bekommen ein Baby. Gestern haben meine Eltern es mir gesagt. Es kommt nächstes Jahr im Frühling.« Mit glänzenden Augen sah sie zu Beate auf. »Sagst du das dem Felix, wenn er kommt?«
»Ganz bestimmt«, versprach Beate lächelnd. »Das ist doch wundervoll!« Sie plauderte noch ein wenig mit Sandra, und aus deren Worten hörte sie heraus, daß die Eltern wohl wieder zusammengefunden hatten. Sie gönnte es Clemens Fabrizius von ganzem Herzen.
»Hm«, machte Felix, als er es erfuhr. »Bis dahin sind wir sicher nicht mehr hier, je nachdem, wo der Papa hinkommt. Aber dann vermißt Sandra mich wenigstens nicht, dann kann sie sich mit dem Baby beschäftigen.«
*
Felix sollte recht behalten.
Die Familie Eckert war längst nach Hamburg umgezogen, als Bianca Fabrizius neues Mutterglück erlebte, und dieses Mal inniger und bewußter. Nicht mehr nur der Musik galt ihr ganzes Sinnen und Trachten, auch wenn der kostbare Flügel unter ihren Händen schon wieder, vorsichtig noch, zum Klingen gebracht werden durfte. Klein-Daniel hielt sie in Trab, Sandra, inzwischen auch sechs, war ein lebhaftes, fröhliches Kind geworden und würde in diesem Jahr eingeschult werden, und nicht zuletzt galt Biancas Liebe und Zärtlichkeit dem geliebten Mann.
Beate und Felix waren wie in einen Wirbel hineingezogen worden, als Nils im Herbst von seiner letzten großen Fahrt zurückgekommen war und nichts als Überraschungen für sie bereithielt.
Er hatte eine gute Anstellung bei einer Schiffahrts-Gesellschaft in Hamburg gefunden und gleich dazu eine schöne Wohnung!
»So schnell – das gibt’s doch nicht«, hatte Beate gestammelt.
»Das gibt es wohl!« rief Nils übermütig, und seine blauen Augen blitzten, während er sie herumschwenkte.
»Der Papa«, krähte Felix und sprang wie ein Böckchen herum, »der kommt mir vor wie ein Zauberer, der alles nur so aus seinem Zylinder zaubert!«
Wie war er erst begeistert, als sie, zunächst nur zur Wohnungsbesichtigung, nach Hamburg fuhren, er den Hafen sah mit den großen Schiffen, die da lagen. »Da gehen wir auch mal drauf?« fragte er aufgeregt seinen Vater. »Die kann ich mir mal näher begucken?«
»Aber sicher«, nickte Nils. »Hier liegt doch mein zukünftiges Arbeitsgebiet.« Aber erst ging es noch einmal in die alte Heimat zurück.
Sie heirateten standesamtlich und ohne viel Aufhebens. Für eine Hochzeitsfeier war jetzt nicht die Zeit. Für Beates hübsche Wohnung fand sich im Handumdrehen ein Nachmieter. Felix mußte aus der Schule genommen werden, die er gerade nur zehn Wochen besucht hatte. Ihm machte das überhaupt nichts aus. Er würde schnell neue Freunde finden!
Auch Beate begann ohne Wehmut, mit Nils’ Hilfe, ihre Sachen zusammenzupacken. Ihre Möbel würden auch in die neue und größere Wohnung passen, nur dieses und jenes mußte dort noch angeschafft werden. »Vor allem ein größeres Schlafzimmer«, meinte der junge Ehemann hintergründig.
Doch bevor der Umzugswagen kam, galt es Abschied zu nehmen von den Menschen, die ihr nahestanden. Da waren vor allem die Baslers, Ingeborg, Bertold und Uli. Die Freundinnen umarmten sich. Sie würden in Verbindung bleiben, bestimmt einander auch irgendwann einmal besuchen.
»Dir werden die Augen aus dem Kopf fallen, wenn du Hamburg siehst, Uli«, behauptete Felix. »Dagegen ist das hier echt Provinz.«
»Ha, ha«, machte Uli, »gib nur nicht so an!« Die Buben knufften sich, um zu überspielen, daß es ihnen ja doch leid tat, sich fortan nicht mehr zu sehen. Es gab ein langes Abschiedswinken.
Beate war froh, die Gewißheit zu haben, daß es auch in dieser Familie wieder Harmonie und Zusammenhalt gab. Bertold hatte seiner Frau den Treuebruch nie mehr vorgeworfen, und Ingeborg dankte es ihm.
Dr. Fabrizius hatte Beate und ihren Mann zu einem Abschiedstrunk am späten Nachmittag in sein Haus eingeladen. »Damit es unseren Kindern nicht so schwer wird, sich Adieu zu sagen«, meinte er.
Aber so war es dann gar nicht. Schön war es im Frühling und Sommer gewesen, in der Spielecke im Garten, doch in der herbstlichen Kühle hatten sie nicht mehr draußen sein können und es schien ihnen schon weit zurückzuliegen. Überdeckt worden war es von den Ereignissen, die ihre Kinderherzen bewegt hatten.
»Ich werde ein Brüderchen haben«, sagte Sandra. »Ich kann schon fühlen, wie es sich bewegt.« Triumphierend sah sie sich im Kreis um.
Sie holte hervor, was sie schon mit ihrer Mama dafür eingekauft hatte, so winzigkleine weiche Sächelchen zum Anziehen für das Baby. Felix beäugte sie kritisch. Er konnte sich nicht vorstellen, daß er in so was ganz früher auch mal reingepaßt haben sollte. Ansonsten interessierte es ihn nicht besonders. Da gab es ganz andere Dinge!
»Mir wird mein Vater die großen Pötte zeigen, die da oben am Hafen liegen«, erzählte er. »Nich’, Papa, das machst du doch?«
»Versprochen ist versprochen«, lächelte Nils.
Schmunzelnd betrachtete Clemens Fabrizius den Jungen, der mit Begeisterung der Zukunft entgegensah. »Vielleicht fährst du auch dereinst zur See wie dein Vater«, bemerkte er.
Ein Glas Champagner hatte der Hausherr für jeden eingeschenkt, die Kleinen bekamen ein Fruchtsaftgetränk, das genauso prickelte, damit sie mit anstoßen konnten. Die zukünftige Mutter nippte freilich nur daran.
Sie ist eine wunderschöne Frau, dachte Beate neidlos. Wie hätte Clemens sie jemals aufgeben können!
Der letzte Schluck – ein letzter Händedruck…
»Leben Sie wohl, Beate«, sprach Fabrizius leise. Sie sahen sich noch einmal in die Augen, mit einem ernsten, wissenden Lächeln, das nur für sie beide war.
*
Mitten in der Nacht wachte Felix auf – und er erschrak. Wo war er denn? Da waren keine schrägen Wände mehr über ihm, die Decke war hoch, und hinter den zugezogenen Vorhängen war es nicht ganz dunkel wie sonst.
Ach, sie waren ja in Hamburg!
Ein großes Glücksgefühl sprengte ihm plötzlich das Herz. Er warf die Decke zurück, lief ans Fenster und schob den Vorhang beiseite. Da war der Himmel hell von den Lichtern dieser großen Stadt, die für ihn voller Wunder war. Er wußte, daß dahinten die Alsterbrücken waren. Tagsüber flogen die Möwen in Scharen hinter den ausreisenden Schiffen her, und im Hafen wehten Flaggen aus aller Welt in dem Wind, der nach Salz und Meer schmeckte.
Felix konnte es kaum allein ertragen, dies alles zu wissen. Er wandte sich vom Fenster ab, zog dem schlafenden Pipsi die Decke über dem Käfig zurecht, dann ging er nach nebenan ins Schlafzimmer seiner Eltern. Er stieg über seinen Vater hinweg und kuschelte sich zwischen ihn und seine Mama.
Sie wurde wach, und auch sein Vater bewegte sich.
»Felix – was ist denn, schläfst du nicht?«
»Es ist nichts«, wisperte er. »Ich bin nur so glücklich.«
Sie rückten nahe zueinander, und mit einem Lächeln auf den Lippen schliefen sie wieder ein.