Читать книгу Mami Staffel 4 – Familienroman - Diverse Autoren - Страница 9

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Gibt es eine Rettung für Silvie?

»Sandra hat geschrieben, Mutti!«

Felix wedelte mit der Karte, die er aus dem Briefkasten geholt hatte. Sie war sehr bunt und zeigte Palmen und weiße Häuser am blauen Meer.

»So, was schreibt sie denn?« fragte Beate.

»Lieber Felix«, las ihr Elfjähriger mit Betonung vor, »ich sende dir viele Grüße aus Südfrankreich. Daniel kann schon schwimmen. Wir haben viel Spaß. Deine Sandra.«

Beate lächelte. »Siehst du, sie denkt doch immer an dich.«

»Ich ja auch an sie«, behauptete Felix.

»Aber du bist schreibfaul«, hielt seine Mutter ihm vor. »Du könntest ihr ruhig auch mal wieder einen Gruß senden.«

»Och, ich telefoniere lieber. Guck mal, was für eine saubere Schrift sie hat. Dafür kriegt sie von unserem Leuchtturm bestimmt ’ne Eins.«

Der »Leuchtturm« war der Klassenlehrer, der seinen Spitznamen seiner Länge von fast zwei Metern verdankte.

Beate warf einen Blick auf die Mädchenhandschrift. Sie nickte. »Da kommst du freilich nicht mit«, bemerkte sie.

Ein Lausbubenlächeln ging über das runde Gesicht ihres Sohnes.

»Papa sagt immer, ich hätt’ ’ne Klaue!«

»Womit er nicht ganz unrecht hat«, sagte seine Mutter.

»Siehste, dann kann Sandra das vielleicht gar nicht lesen, was ich ihr schreibe«, folgerte der Junge.

Beate tupfte ihm auf die sommersprossige Nasenspitze. »Um eine Ausrede bist du nie verlegen, du Schlingel.«

»Aber im Anfang«, redete Felix weiter, »da hab’ ich Sandra doch viele Ansichtskarten geschickt, damit sie auch sieht, was für eine tolle Stadt Hamburg ist. Und das Foto, das sie mir mal geschickt hat, hab’ ich sogar in einen Rahmen gesteckt.« Er blickte zu seiner Mutter auf. »Ob sie immer noch so hübsch aussieht, wo sie doch jetzt schon zehn ist?«

»Warum sollte sie das nicht«, lachte Beate amüsiert.

»Also«, Felix reckte sich in den Schultern, »dann pinn’ ich die Karte mal an die Wand.« Damit flitzte er in sein Zimmer.

Beate fuhr in ihrer Bügelarbeit fort. Sie lächelte leise in sich hinein. Es war rührend, daß diese Kinderfreundschaft die Jahre überdauerte! Dabei waren sie doch so verschieden gewesen, die kleine, zarte Sandra Fabricius und ihr kräftiger Bub Felix. Und wie lange hatten sie sich nicht mehr gesehen. Beate rechnete nach. Ja, das waren mehr als fünf Jahre.

Mein Gott, wie doch die Zeit verging!

Sie waren seinerzeit Nachbarn gewesen, der Chirurg Dr. Clemens Fabricius mit seiner schönen Frau Bianca, die eine berühmte Pianistin war, und eben diesem Töchterchen Sandra. Freilich war es ein großer Unterschied zwischen der Villa Fabricius und ihrer, Beate Herders, bescheidener Dachwohnung in einem neuerbauten Mietshaus zwei Straßen weiter, wo sie den Lebensunterhalt für sich und ihren Felix mit dem Übersetzen von Büchern verdiente. Doch die Kinder hatten sich zusammengefunden auf dem Spielplatz im großen Garten, der die Villa umgab.

Sie war oft einsam gewesen, die kleine Sandra, deren Mutter mehr auf Konzerttournéen war als zu Hause. Beneidet hatte sie den Nachbarsjungen, der seine Mama ganz für sich hatte. Sie hatte nur Frau Scholl, die das Haus tadellos in Ordnung hielt und dafür sorgte, daß es dem Kind an nichts fehlte. Nur der liebeshungrigen Seele des kleinen Mädchens konnte sie kaum Genüge tun.

Sandra hatte einen Vater, der ihr all seine Liebe gab. Doch ihn nahm sein Beruf sehr in Anspruch. Allzuviel Zeit blieb da nicht.

Auch Clemens Fabricius war im Grunde einsam gewesen…

Beate setzte ihr Bügeleisen ab, sah mit einem verlorenen Blick zum Fenster hin.

Sie hatte ihn gemocht, den hochgewachsenen Mann mit dem ernsten, markanten Gesicht. Durch die Kinder hatten sie sich kennengelernt und auch hin und wieder eine Stunde zusammen verbracht. Zwei Menschen, die abends, wenn ihre Kinder schliefen, zumeist allein waren.

Bianca Fabricius feierte irgendwo ihre Triumphe, und sie – ach, sie hatte Nils Eckert längst aus ihrem Leben gestrichen, auch wenn Felix sie mit seinen Augen ansah.

Fabricius war nach ihm der erste Mann gewesen, der es vermocht hatte, etwas in ihr zum Klingen zu bringen. Sie hatten gute Gespräche miteinander geführt. Er interessierte sich für ihre Arbeit, die Bücher, und nicht nur dafür. Wenn er sich entspannte, sie sinnend mit seinem ruhigen Blick betrachtete, ihre Blicke ineinander versanken, dann konnte es geschehen, daß sie sich plötzlich sehr nahe waren.

Aber es konnte und es durfte nicht mehr zwischen ihnen sein. Er war verheiratet, liebte seine Frau, auch wenn sie ihm nur zu einem kleinen Teil gehörte, weil ihr Leben der Musik geweiht war.

Es kam dann auch bald die große Wende in ihrer beider Leben.

Wie ein Film zog das an Beates geistigem Auge vorüber, während sie ihre Arbeit nun wieder aufnahm.

Nils war plötzlich wieder da, der blonde Seemann, den sie einst so sehr geliebt hatte. Damals hatte er ihr versprochen, wiederzukommen, und sie, die junge Beate, hatte ihm vertraut. Aber das abenteuerliche Leben auf fernen Weltmeeren hatte ihn gefesselt. Allein mußte sie das Kind zur Welt bringen, von dessen Existenz er nichts ahnte.

Dann sah er ihn, der sein Ebenbild war und dessen Herz ihm zuflog. Welcher Junge wäre nicht stolz gewesen auf seinen Vater, und welcher Vater nicht auf diesen prächtigen Jungen.

Nils, wie es so seine Art war, dünkte es einfach, ihre Liebe wiederzugewinnen. Aber einfach war es nicht gewesen. Da war noch eine Sperre in ihr. Sie konnte ihm nicht an die Brust sinken, der sie enttäuscht und verlassen hatte. Sie widerstand zunächst diesem Werben, seinen Versprechungen, fortan an Land zu bleiben und seßhaft zu werden.

Doch ein Funke mußte doch noch unter der Asche geglommen sein, der sich eines Tages unter seinen Küssen wieder zur Flamme entzündete. Sein Mund wurde ihr erneut vertraut, seine Zärtlichkeiten. War es nicht wieder wie früher, als es nichts anderes für sie gegeben hatte als Nils und nochmals Nils – nichts vorher und nichts nachher?

Ja, die Liebe war wieder erwacht. Wie auf Flügeln ging es nun in eine gemeinsame Zukunft hinein. Was Nils auch anpackte, gelang ihm: Er fand eine gute Anstellung bei einer Schiffahrtsgesellschaft in Hamburg, wo sie seither lebten. Eine glückliche kleine Familie namens Eckert.

Ob Dr. Fabricius auch glücklich geworden war?

Seltsam, daß sie jetzt an ihn denken mußte. Der Gruß seines Töchterchens an ihren kleinen Freund Felix hatte die ferne Erinnerung an ihn wieder lebendig werden lassen.

Weil damals ihr Leben auch im Umbruch gewesen war, hatte sie es mehr oder weniger nur am Rande wahrgenommen, was drüben in der Villa geschah. Jedenfalls hatte es Aufregungen genug gegeben.

Seine Frau Bianca hatte sich das Handgelenk gebrochen, was für die Pianistin eine Katastrophe war. Sie würde nicht nur lange pausieren müssen, sondern in Zukunft wohl überhaupt keine großen Konzerte mehr geben können. Es hatte aller Liebe und des Zuspruchs ihres Mannes bedurft, sie wieder aufzurichten aus ihrer Niedergeschlagenheit.

»Mama, wann bist du denn hier fertig mit deiner Bügelei?« unterbrach Felix ihren Gedankengang.

»Gleich, mein Schatz. Warum?« Sorgfältig legte Beate ein Hemd ihres Mannes zusammen.

»Hm, weil ich nämlich schon bald wieder Hunger hab’.«

»In einer Stunde gibt es Mittagessen, dann kommt auch der Papa. Nimm dir inzwischen einen Apfel.« Sie zog den Stecker des Bügeleisens heraus. »Felix, weißt du eigentlich noch, wie das war, als wir uns vor dem Umzug von den Fabricius’ verabschiedeten? Ich mußte eben daran denken, wie lange das schon her ist.«

»Klar weiß ich das noch ganz genau.« Felix nickte bekräftigend. »Da war Sandras Brüderchen unterwegs, und sie hat von nix anderem geredet, als daß sie es schon fühlen konnte im Bauch ihrer Mutter. Von dem Daniel erzählt sie mir auch immer, wenn ich sie mal anrufe. Mit dem ist sie ganz verrückt.«

»Es war ein Glück für Sandra, daß sie noch ein Geschwisterchen bekam, Felix«, sagte Beate ernst. »Sie hatte doch nie ein richtiges Familienleben kennengelernt.«

»Ist ja wahr«, mußte Felix zugeben. »Und die Frau Fabricius ist da auch besser drüber weggekommen, daß sie wegen ihrer Hand nicht mehr spielen konnte. Da mußte sie sowieso zu Hause bleiben für das Baby«, schloß er altklug.

Beate nickte nachdenklich. Sie überlegte, ob eine Frau, die jahrelang herumgereist, gefeiert und umjubel worden ist, nicht etwas vermißte, wenn ihr Leben sich nur noch auf den Kreis der Familie beschränkte.

Aber die Zeit der Triumphe war ja nun auch für sie schon lange vorüber, und sie würde sich daran gewöhnt haben, mit der Liebe zu Mann und Kindern zufrieden zu sein. Und überhaupt – was gingen sie die ehemaligen Nachbarn an! Wenn die Kinder nicht noch losen Kontakt hielten, wüßte man nichts mehr voneinander.

Sie räumte zusammen und begab sich in die Küche. Fisch kam heute auf den Tisch, frisch vom Markt.

»Nimmst du mich nachher mit zum Hafen, Papa?« fragte Felix, als sie um den Tisch saßen und es sich schmecken ließen.

Er strich doch gar zu gern dort herum, wo die großen Schiffe lagen und unweit sein Vater in einem großen Haus seine Arbeit tat. Manchmal holte er ihn dort auch ab, und sie besichtigten so einen Pott, wobei er sich vom Papa alles genau erklären ließ. Denn der war schließlich jahrelang zur See gefahren und kannte sich aus.

»Mal sehen«, antwortete Nils. »Die Mutti sieht es ja nicht so gern, wenn du dich dort stundenlang allein herumtreibst.«

»Ich treib mich nicht rum«, widersprach sein Sohn. »Ich guck mir nur an, was da so vor sich geht, und ich studiere die Schiffe, den Aufbau, die Takelage und so.«

»Und siehst dich schon als zukünftigen Schiffsbauingenieur«, warf sein Vater mit gutmütigem Spott ein.

»Klaro«, sagte Felix und rutschte vergnügt auf seinem Stuhl hin und her.

»Dann mußt du aber erst mal bessere Noten schreiben, mein Sohn. Dein letztes Zeugnis war nicht gerade eine Erbauung.«

Felix machte eine pfiffige Miene. »Schätze, daß du auch nicht nur Einser nach Hause gebracht hast, wo dich doch immer nur die Seefahrt interessiert hat. Hast du mir doch erzählt.«

Nils sah seine Frau an. »Was soll ich dem Lauser nur darauf antworten, Beate?«

»Vielleicht besser schweigen«, lachte sie, denn sie wußte, daß er die Schule gehaßt hatte.

»Hahaha«, machte Felix und schob sich ein Salatblatt in den Mund.

»Von Respekt keine Spur«, behauptete Nils grimmig.

Freilich nahm er ihn dann doch mit, als er wieder zum Dienst mußte. Sie machten sogar noch einen Umweg, um Felix’ Freund Holger abzuholen, der schon dreizehn war und in dieselbe Schule ging. Aber jetzt waren Schulferien, und die Freiheit mußten sie genießen.

Die daheimgebliebene Beate nahm sich den Novellenband vor, den sie aus dem Englischen übersetzte. Sie hatte die ihr liebgewordene Tätigkeit nie ganz aufgegeben, es war schließlich auch ihr Beruf. Nur hatte sie es seit ihrer Heirat nicht mehr nötig, jeden Auftrag anzunehmen, auch gar nicht die Zeit, mit ihrem Haushalt und ihren beiden Lieben. Nils hatte überhaupt nicht viel Verständnis für diese Art von geistiger Arbeit, aber: Du hast eben Köpfchen, pflegte er zu sagen, und seine blauen Augen lachten dabei.

Sie hatte zwei, drei beschriebene Manuskriptblätter neben der Schreibmaschine liegen, als das Telefon läutete.

Ihre langjährige Freundin Ingeborg Basler war am Apparat. Obwohl sie nun schon seit langer Zeit einige hundert Kilometer trennten, waren sie doch immer herzlich verbunden geblieben, so wie damals, als sie noch in einer Stadt wohnten und Freud und Kümmernisse miteinander teilten.

»Wir wollen euch auch in diesem Jahr wieder heimsuchen«, sagte Ingeborg in scherzhaftem Ton. »Ich bin schon beim Kofferpacken!«

»Macht ihr doch wieder Ferien auf der Insel Amrum?« fragte Beate erfreut. »Ihr wolltet doch eigentlich nach Süden?«

»Ja, aber du weißt ja, Berthold ist ein Gewohnheitstier. Dort kennt er jeden Weg und Steg und braucht sich nicht auf etwas Neues einzustellen. Wir gehen wieder in dieselbe Pension.«

»Das hat den Vorteil, daß wir uns wiedersehen, Ingeborg. Wir werden uns ein paar schöne Stunden zusammen machen, und sicher werden wir euch an einem Wochenende wieder besuchen. Felix wird sich auch auf Uli freuen.«

»Ja, der Uli ist dieses Jahr in die Höhe geschossen«, erzählte Ingeborg von ihrem Sohn, »lang und dünn ist er geworden. Die Seeluft wird ihm guttun.«

Sie plauderten noch ein wenig hin und her, bevor sie sich mit einem froh betonten »Auf Wiedersehen!« verabschiedeten.

Felix warf die Arme in die Luft, als er erfuhr, daß die Baslers auf der Durchreise wieder bei ihnen Station machen würden.

»Au, dann darf ich vielleicht wieder ein paar Tage bei denen sein, ja? Das war doch voriges Jahr super. Auf ihrer Rückreise können sie mich dann wieder hier abliefern.«

»Du meinst, daß wir dich mal ein paar Tage los sind«, bemerkte sein Vater augenzwinkernd. »Aber dann haben die dich am Hals.«

Felix nahm Boxerhaltung an, als wollte er auf ihn losgehen. Aber Nils schnappte ihn sich, hob ihn empor, als wäre er ein Federgewicht, und schwenkte ihn herum, daß eine Lampe ins Wackeln geriet.

»Oh, ihr zwei«, sagte Beate. »Jetzt wollen wir erst mal abwarten, was unsere Freunde dazu sagen.«

»Die haben mich gern am Hals«, behauptete Felix und gab seinem Vater doch noch einen kleinen Knuff.

Sie kamen zwei Tage später, Ingeborg und ihr Mann Berthold und Sohn Ulrich, Uli genannt. In der Wohnung herrschte auf einmal Leben, Lachen, Reden.

»Mönsch«, staunte Felix, der tatsächlich zu seinem »alten« Freund Uli aufsehen mußte, »willst vielleicht auch ’n Leuchtturm werden?«

»Werd du erst mal dreizehn, dann bist du auch nicht mehr so ein Knirps«, sagte Uli gönnerhaft, aber er lachte dabei.

Den Knirps überhörte Felix großzügig. Er wußte, daß er zwar noch kleiner, aber bestimmt kräftiger war als der magere Uli. Sowieso konnte er es mit jedem aufnehmen.

Zu einem vertraulichen Gespräch kamen die beiden Freundinnen nicht, dafür war die Zeit zu kurz. Die Baslers wollten weiter, um am Abend ihr Ferienquartier beziehen zu können.

Das hatten sie erst bei ihrem Wiedersehen auf der Insel, wo Felix nun eine ganze Woche bleiben durfte. Ingeborg war es sehr recht, daß ihr Uli, der sich nicht so leicht anschloß, Gesellschaft bekam. Die Jungs würden in einem Zimmer schlafen und sich tagsüber zusammen am Strand vergnügen.

Erholsam war es hier, wo der Himmel unendlich zu sein schien und Ebbe und Flut ein tägliches Naturerlebnis für die Großstädter war. Der Alltag war fern, wo Bertold Basler in einem Fachhandel für Elektrogeräte sein Brot verdiente und Ingeborg noch halbtags als Zahnarzthelferin tätig war. In der schönsten Zeit des Jahres, wie es so hieß, konnte man das mal vergessen, was es da gelegentlich auch an Streß gab.

»Und verwöhnt werden wir hier von der Wirtin, die selber das Regiment in der Küche führt«, schwärmte Ingeborg. »Es schmeckt so gut, daß ich schon wieder ein paar Pfund zugenommen habe.« Dabei klopfte sie auf ihre Hüften.

Etwas kritisch betrachtete Beate ihre Freundin. Ingeborg war immer eine aparte, schlanke Frau gewesen, inzwischen ging sie wirklich aus der Form. Schade eigentlich.

»Was sagt Berthold denn dazu, daß du immer molliger wirst?« fragte sie.

»Ach der«, Ingeborg machte eine wegwerfende Handbewegung, »dem ist es egal, wie ich aussehe.«

Beate wiegte den Kopf. »Ich glaube, so etwas sollte eine Frau nie sagen«, meinte sie bedenklich. »Egal ist das bestimmt keinem Mann.«

»Sei du erst mal fünfzehn Jahre verheiratet. Da wird man so nach und nach ein bequemes älteres Ehepaar. Berthold füllt seine Lottoscheine aus, und ich sitze vor dem Fernseher und knabbere Erdnüsse.«

»Und futterst dir Pfunde an«, vollendete Beate vielsagend. »Ich habe dich schon mal anders gekannt, meine Liebe.«

»Man paßt sich an«, sagte Ingeborg achselzuckend.

Aber für einen Moment dachten sie wohl beide daran, daß sie einmal ein leidenschaftliches Erlebnis mit einem jungen Chef gehabt hatte, dem Zahnarzt Dr. Fendrich. Sogar an den Namen erinnerte sich Beate noch. Ihre Ehe hatte eine Zeitlang vor dem Bruch gestanden. Doch war sie schließlich wieder ins Lot gekommen, nicht zuletzt des gemeinsamen Sohnes wegen.

»Seit wann trinkst du keinen Kaffee mehr?« lenkte Ingeborg ab, während sie sich selbst nochmals aus ihrem Kännchen einschenkte.

Sie saßen auf der Terrasse der Pension, die Männer waren mit den Jungen zum Strand gegangen.

»Er bekommt mir nicht«, antwortete Beate. »Ich bleibe lieber beim Tee.«

»Und bei der Überfahrt wäre dir beinahe schlecht geworden, hat Felix erzählt«, bemerkte Ingeborg. »Geziemt sich das für die Frau eines Seemannes?« Mit einem neckenden Lächeln sah sie die Freundin an.

»Eines einstigen Seemannes«, verbesserte Beate. »Und Felix hat da ein bißchen übertrieben.«

»Du wirst ja wohl nicht schwanger sein«, scherzte Ingeborg. »Bei mir fing das damals so an.«

Beate stieg ein leises Rot in die Wangen. Sie griff nach dem Teelöffel und rührte in ihrem Glas. »Daran wage ich nicht zu denken«, murmelte sie.

Ingeborg stutzte, ihr Blick wurde aufmerksam.

»Meinst du, es könnte sein?« fragte sie stockend.

»Ich hoffe nicht. Es wird wohl nur eine vorübergehende Unpäßlichkeit sein. Laß uns von etwas anderem reden.«

Aber Ingeborg blieb beim Thema.

»Wäre denn etwas dabei, wenn du noch ein Baby bekämst?« warf sie hin. Als Beate darauf keine Antwort gab, fuhr sie fort: »Du hättest bestimmt eine glücklichere Schwangerschaft als damals mit Felix, wo du dich noch nach Nils verzehrtest und erst allmählich begreifen mußtest, daß du wohl allein damit fertig werden müßtest. Jetzt hast du ihn an deiner Seite!«

Ein leicht gequälter Zug glitt um Beates Mundwinkel.

»Nils will keine Kinder mehr. Er meint, wir hätten an Felix genug. Und der Junge ist nun auch schon so groß. Was würde er sagen, wenn noch was Kleines käme.«

»Oh, dein Felix würde bestimmt keine Schwierigkeiten machen«, äußerte Ingeborg unbekümmert. »So unkompliziert, wie er ist, findet er sich mit jeder Lebenslage ab. – Und du, würdest du dich nicht letzten Endes doch darüber freuen?«

Beates Blick schweifte in die Ferne.

»Ich weiß es nicht, Ingeborg. Wie gesagt, ich weise diesen Gedanken noch von mir. Es würde unser ganzes Leben, so wie es jetzt ist, auf den Kopf stellen. Mit vierunddreißig wäre ich auch keine junge Mutter mehr.«

»Heutzutage bekommen Frauen mit über Vierzig noch Kinder«, behauptete Ingeborg. »Wo liegt da das Problem?«

»Bei Nils«, sagte Beate. »Und jetzt hören wir damit auf, bitte. Wahrscheinlich ist unser Reden ganz grundlos.«

»Gut, gut«, lenkte Ingeborg ein und nahm das letzte Stückchen ihres Sahnekuchens auf die Gabel. »Was ich dir noch sagen wollte… Die Fabricius hat wieder ein Konzert gegeben, wenn auch nur in einem größeren privaten Kreis. Es stand etwas in der Tageszeitung darüber. Sie soll noch immer große Klasse sein. Das waren doch eure Nachbarn damals, nicht?«

»Ja.« Beate nickte. »Felix steht ja immer noch mit der kleinen Sandra in Verbindung, mit der er damals gespielt hat. Erst kürzlich hat sie ihm eine Karte aus Südfrankreich geschickt. Bianca Fabricius hatte sich seinerzeit von ihren Riesengagen dort ein Traumhaus gekauft.«

»Die Leute haben Geld«, seufzte Ingeborg.

Als Beate und Nils sich nach diesem hübschen Wochenende von den Freunden verabschiedeten, einen strahlenden, unternehmungslustigen Felix zurücklassend, umarmte Ingeborg die Freundin.

»Ich wünsche für dich, daß deine Sorge unbegründet sein wird«, raunte sie ihr ins Ohr.

»Ja, drück mir die Daumen«, sprach Beate leise. »Wenn ihr Felix am Samstag wiederbringt, werde ich vielleicht schon mehr wissen.«

So war es in der Tat. Beate, von Tag zu Tag mehr beunruhigt, hatte einen Schwangerschaftstest machen lassen.

Er war positiv.

Die Freundin erfuhr es als erste, als sie ein paar Minuten für sich hatten. Uli half Felix, seine Sachen heraufzubringen. Der Vater war noch rasch zur Tankstelle gefahren. Nils hörte sich die Erlebnisse der Buben an, von denen sie übermütig berichteten.

»Ach du lieber Himmel«, erschrak nun auch Ingeborg. »Hast du es ihm schon gesagt?«

»Nein«, brachte Beate bedrückt über die Lippen, »er wird es noch früh genug erfahren.«

Ingeborg neigte sich zu ihr. »Mach dir nur nicht zuviel Sorgen darum«, versuchte sie mit unterdrückter Stimme zu trösten. »Vielleicht nimmt er es anders auf, als du jetzt denkst.«

»Was habt ihr Frauen euch denn schon wieder so Wichtiges zu erzählen, daß ihr die Köpfe zusammensteckt?« mischte sich Nils in heiterem Ton ein.

»Männer müssen nicht alles wissen«, gab Ingeborg ebenso zurück, und da rief Felix auch schon: »Wir haben einen kranken Vogel gesundgepflegt, ne, Tante Inge? Also, Mama, das war so, der konnte nicht mehr fliegen…«

Dann brausten die Baslers wieder davon. Es sollte nun wieder nach Hause gehen nach langen Ferien.

*

Beate ließ eine Woche, zwei Wochen vergehen, bevor sie sich ein Herz faßte und ihrem Mann sagte, was doch einmal gesagt werden mußte.

Er reagierte, wie nicht anders erwartet, mit Abwehr.

»Wie konnte das passieren?« fragte er schroff. »Wir waren uns darin einig, daß wir keine Kinder mehr haben wollten. Ein Sohn reicht doch.«

»Du wolltest kein Kind mehr haben«, hielt sie ihm entgegen. »Ich hätte am Anfang unserer Ehe gern noch eins gehabt. Aber ich habe mich dann damit abgefunden, daß du dagegen warst.«

»Das klingt, als hättest du etwas vermißt«, warf er ihr vor.

»Nein, bestimmt nicht, Nils«, versicherte Beate. »Es war alles gut und recht. Und du kannst mir glauben, daß ich auch nicht besonders glücklich darüber bin, daß es ›passiert‹ ist, wie du es ausdrückst.«

Finster sah Nils vor sich nieder. »Wenn ich mir vorstelle, was da noch auf uns zukommen wird«, sagte er mit schmalen Lippen.

Beate versuchte ein zages Lächeln. »Bis es soweit sein wird, hast du dich vielleicht an den Gedanken gewöhnt.« Sie trat auf ihn zu, legte ihm mit einer bittenden Gebärde die Hand leicht auf den Arm. »Nils, du hast Felix erst kennengelernt, als er schon fünf war. Es ist dir viel entgangen… Seine ersten Schritte, diese ganze Entwicklung vom Baby zu einem verständigen Menschenkind. Das alles könntest du nun noch erleben mit unserem zweiten Kind. Es ist auch viel Freude dabei, glaube mir.«

Aber auch bei diesen sanft geäußerten Worten hellte sich sein Gesicht nicht auf. Er wandte sich ab, so daß ihre Hand herabsank.

»Ich habe die Seefahrt nicht aufgegeben und sitze die meiste Zeit in einem Büro, damit ich zu Hause Kindergeschrei und Windelwechsel erlebe«, murrte er.

Beate war zusammengezuckt. Es war das erste Mal in all diesen Jahren, daß sie einen Unwillen über seine jetzige Tätigkeit herauszuhören glaubte.

»Bist du denn nicht mehr gern dort?« fragte sie bang. »Du wolltest doch an Land bleiben und ein geregeltes Familienleben führen.«

»Ja, deinetwegen«, sagte Nils kurz.

»Ich dachte: unseretwegen«, erwiderte sie mit enger Stimme.

»Das sind Wortklaubereien«, fuhr er sie an. »Natürlich unseretwegen. Aber wenn nun nächstes Jahr unser ganzes Leben wieder auf den Kopf gestellt wird, kannst du nicht verlangen, daß ich vor Entzücken an die Decke springe. Und Felix, hm«, er stieß die Luft durch die Nase aus, »der wird sich auch umgucken.«

Beate blieb still.

Sie blieb die ganze nächste Zeit stiller als sonst. Sie lenkte sich von grübelnden Gedanken mit dem Fortführen ihrer Übersetzungsarbeiten ab. Felix, der nun wieder in die Schule mußte, fiel es schließlich doch auf.

»Hast du was, Mama?« fragte er. »Du bist manchmal so ernst, auch mit Papa. Wir tun dich doch nicht ärgern?« Dabei blinzelte er verschmitzt.

»Nein, durchaus nicht, mein lieber Junge. Ich muß nur soviel nachdenken, weißt du.«

»Mit deinem Buch? Ist das diesmal so ein schwerer Text?«

»Ach, es geht. Eigentlich wie immer…«

»Du machst das schon, Mami. Da laß dir man keine grauen Haare darüber wachsen«, sagte Felix tröstend.

»Das ist es ja auch gar nicht.« Beate gab sich innerlich einen Ruck. »Ich muß dir etwas sagen, Felix!«

Der Junge horchte auf. Das klang, fand er, so bedeutungsvoll. »Ja, was denn, Mama?«

»Wir bekommen noch ein Baby, Felix. In gut einem halben Jahr wirst du noch einen kleinen Bruder oder ein Schwesterchen haben.«

Ihr Sohn machte runde Augen. »Jetzt, wo ich schon so groß bin?« wunderte er sich.

»Ja, der Altersunterschied wird groß sein«, gab seine Mutter zu. »Es war auch nicht geplant, Felix.«

»Will Papa das denn?« fragte Felix. »Der macht nämlich jetzt auch manchmal so’n Gesicht.«

Beate hob die Schultern. »Der Papa muß sich erst an den Gedanken gewöhnen, daß sich dann einiges bei uns ändern wird«, sagte sie etwas gepreßt.

Felix schob die Augenbrauen zusammen. »Hm, Mama, und das geht mir jetzt genauso, ehrlich gesagt.«

»Laß dir Zeit.« Sie strich ihm über das dichte blonde Haar. »Paß mal auf, wenn es erst da sein wird, werden wir uns noch fragen, wieso wir uns nicht gleich darauf freuen konnten.«

»Hm«, machte Felix wieder, und das klang doch recht zweifelnd.

*

Bianca Fabrizius nahm den Strauß zartgelber Teerosen entgegen, den ein Bote für sie abgegeben hatte. Als sie die Karte las, die darangeheftet war, flog ein Lächeln über ihr Gesicht.

Sehr verehrte gnädige Frau,

erst jetzt habe ich durch einen Zufall vernommen, daß Sie nach längerer Pause wieder Konzerte geben. Ich erinnere mich an die vielen Abende, an denen Sie mich mit Ihrer Musik verzaubert haben, und ich wünsche mir nichts mehr, als Sie wieder einmal bewundern zu dürfen, wo immer es auch sei.

Ihr sehr ergebener

Rudolf v. Berlingen

Bianca gab den wundervollen Strauß in eine passende Kristallvase, die sie auf den Flügel in ihrem Musikzimmer stellte. Dort sah ihn ihr Mann durch die offenstehende Tür, als er aus der Klinik kam.

»Oh, woher kommt denn diese Pracht?« äußerte er bewundernd.

»Von einem alten Verehrer, dem Baron Berlingen«, antwortete Bianca.

»Ist das nicht jener, der dir immer von Stadt zu Stadt gefolgt war, um keines deiner Konzerte zu versäumen?«

»Genau dieser.« Bianca machte eine leichte, anmutige Bewegung. »Er nimmt wohl an, daß ich wieder in der Öffentlichkeit auftrete. Dann würde er sich auf der Stelle wieder auf Reisen begeben.« Sie lachte ein wenig.

»Er muß viel Zeit haben, der Herr Baron«, bemerkte Clemens Fabricius.

»Ja, allerdings. Er ist ein etwas skuriler Typ, sitzt auf seinem ererbten Gut irgendwo im Holsteinischen, reitet seine Pferde und malt nebenbei ein bißchen.«

»Und hat die große Bianca Fabricius doch nicht vergessen«, vollendete ihr Mann lächelnd.

Bianca lächelte nicht mehr. Ihr Blick verlor sich.

»Es haben mich viele nicht vergessen«, sagte sie. »Nur daß sie mich jetzt nur noch zu Hause vom Platten- oder CD-Spieler hören können.«

»Schmerzt dich das immer noch?« Auch Clemens war ernst geworden.

»Das wäre zuviel gesagt«, wich seine Frau aus. »Was nicht geht, geht eben nicht. Ich habe ja gespürt, daß meine Hand nicht mehr dieselbe Kraft wie früher hat. Viel länger hätte ich nicht durchgehalten, das Publikum hätte etwas gemerkt, oder zumindest der Musikkritiker unserer Zeitung.«

»Aber so war er des Lobes voll«, warf Clemens ein.

»Es waren ja auch nur zwei Stücke, die ich zu Gehör gebracht habe, und wie viele Wochen ist das schon wieder her«, sagte Bianca. Es klang resigniert. Ihr Blick hing an den Rosen. Sie dachte an die Fülle der Blumen, mit denen sie nach ihren großen Konzerten überhäuft worden war. Ihre jeweilige Garderobe hatte sie oftmals kaum fassen können.

Ach, es ging ja nicht darum…

Sie strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn, als müsse sie etwas fortwischen. Ihr Mann wandte sich ab. So war es immer. Man durfte nicht daran rühren. Es gab Zeiten, da dachte er, sie hätte es verwunden. Aber irgendwo drängte ihr Künstlertum doch immer wieder hervor. Nicht immer war es eine Gnade, mit einer großen, ja, genialen Begabung bedacht worden zu sein.

Frau Scholl trug die Abendmahlzeit auf.

»Hast du gesehen, Papa, was die Mama für tolle Blumen gekriegt hat?« fragte Sandra, während sie ihre Serviette auseinanderfaltete.

Er nickte, und ihr Brüderchen Daniel sagte: »Warum kriegst du die geschickt, wo wir doch so viele schöne Blumen im Garten haben?«

»Die sind doch von einem Verehrer von Mama«, kicherte Sandra. Sie warf ihrem Vater einen verschmitzten Blick zu. »Bist du da nicht eifersüchtig?«

»Bestimmt nicht, Mäuschen«, lachte er. »Dazu hätte mir die Mutti auch nie Anlaß gegeben.«

Sie waren noch beim Essen, als Frau Scholl ins Speisezimmer kam und vermeldete, daß das Fräulein Sandra am Telefon gewünscht würde. Sie sagte es halb scherzhaft, denn ein »Fräulein« war das Kind noch lange nicht für sie, das sie schon von kleinauf betreute.

»Hast du auch einen Verehrer?« sagte Daniel, der mit seinen knappen fünf Jahren schon recht pfiffig war.

Erst nach einer ganzen Weile kam Sandra wieder. Ihr bildhübsches Gesicht, das noch einen leichten Goldton von südlicher Sonne hatte, zeigte gerötete Wangen. »Mit wem hast du denn so lange geredet?« beklagte sich ihr Brüderchen und rückte beiseite.

»Das war der Felix aus Hamburg«, berichtete Sandra eifrig. »Dem hatte ich doch eine Karte geschrieben, von Frankreich, und dafür wollte er sich endlich bedanken.«

»Den kenn ich nicht«, stellte Daniel fest.

»Nein«, lachte Sandra, »da warst du erst unterwegs, wie der noch hier war.« Sie setzte sich wieder hin, und nachdenklich redete sie weiter: »Ich würd’ ihn vielleicht auch nicht mehr kennen, wenn ich ihn plötzlich sehen würde… Und er mich nicht, weil wir doch noch klein waren, damals.«

»Er wird wohl noch dasselbe blonde Haar haben wie ein Igel und ein paar Sommersprossen auf seiner Nase«, scherzte ihr Vater.

»Dann war er aber nicht hübsch, wenn er Haare wie ein Igel hatte und Sommersprossen«, befand Daniel kritisch.

»Als ob es darauf ankäme«, verwies ihn seine große Schwester. »Felix war einfach super. Er war wild, so ein richtiger Junge – wie der immer über den Gartenzaun sprang, als wär’ das nichts! Und doch«, ihr Blick ging nach innen, »war er auch ganz lieb.«

»Kannst ja zu ihm gehen«, sagte Daniel, dem es nicht gefiel, daß Sandra von irgendeinem fremden Jungen so redete.

»Wer ist denn hier eifersüchtig«, schmunzelte sein Vater. Das Söhnchen war verwöhnt, es wollte seine Schwester ganz für sich haben. Sandra war daran nicht ganz unschuldig, denn sie hatte den kleinen Bruder stets mit überschwenglicher Liebe umgeben.

»Ist wahr«, murmelte Daniel, wischte sich den Mund mit der Serviette ab, denn er war jetzt fertig.

Sandra aß schnell den Rest von ihrem Teller. Dann holte sie Atem.

»Aber das Wichtigste habe ich euch noch gar nicht erzählt: Die Mutti von Felix kriegt noch ein Baby!« platzte sie heraus.

Das Interesse der Umsitzenden war nur mäßig. Das enttäuschte Sandra. Aber, na ja, ihre Mama hatte die Nachbarn kaum gekannt, und der Papa dachte auch nicht mehr daran. Aber er hatte doch aufgeblickt.

»Da wird Felix sich ja freuen«, meinte er.

»Nein, eigentlich gar nicht so besonders«, sagte Sandra. »Jedenfalls lang nicht so, wie ich mich auf Daniel gefreut habe.«

»Haste das?« warf ihr kleiner Bruder ein.

Sandra nickte, sie gab ihm einen zärtlichen Blick.

»Und ob!« versicherte sie, »das bedeutete doch, daß unsere Mama zu Hause blieb, und nicht nur wegen ihrer Hand. Darüber war ich ganz wahnsinnig glücklich. Und du doch auch, nicht, Mama? Du wolltest es auf einmal gar nicht mehr anders haben.«

»Ja, so war es«, stimmte die Mutter ihr zu. Aber Bianca Fabricius lächelte nicht dabei.

*

Die Schule war aus. Felix traf seinen Freund Holger auf dem Hof, ihr Heimweg führte in dieselbe Richtung.

»Wie war’s mit Mathe?« fragte Felix, denn er wußte, daß sie in der anderen Klasse heute eine Arbeit geschrieben hatten, vor der Holger ziemlichen »Bammel« hatte. Ihm, Felix, machte dieses Fach weniger Schwierigkeiten. In manchem konnte er dem älteren sogar schon helfen.

»Ging so«, antwortete Holger lahm. »Ich denke, daß ich’s nicht ganz versiebt hab’. – Kommst du heute nachmittag zu mir? Dann können wir uns was im Computer reinziehen.« Dieser Gedanke belebte ihn.

Felix zögerte. »Ich habe meiner Mutter versprochen, mit ihr Einkäufe zu machen für das Baby. Lust hab’ ich nicht dazu.«

»Kann ich mir vorstellen. Warum sollst du denn da mit? Das kann sie doch besser allein tun.«

Felix kickte ein Steinchen vor sich her. »Sie möchte immer, daß ich mich auch dafür interessiere, was es so alles brauchen wird.«

Sein Freund zuckte die Schultern. »Ihr zuliebe tu ich manchmal so, aber manchmal nervt’s mich auch, wenn sie davon anfängt«, bekannte er. »Vorher war bei uns alles einfacher und lustiger, irgendwie.«

»Weiß schon«, nickte Holger und machte eine erfahrene Miene dabei. »Das ist schon so eine Sache mit dem Kinderkriegen. Vorher und nachher immer ein ziemliches Theater. Da machen wir Männer schon was mit.«

»Ja.« Lebhaft hob Felix den Kopf. »Du hast doch zwei kleinere Schwestern. Bei mir wird es auch eine Schwester. Wie war das denn so, als die noch Babys waren?«

»Zuerst war gar nix«, antwortete Holger trocken. »Wenn sie nicht schlafen, dann schreien sie, weil sie Hunger haben oder Bauchweh oder Zähne kriegen. Da steht man dann dabei rum und fragt sich, warum Vater und Mutter die unbedingt noch haben wollten.«

»Hast du schon gesagt«, nickte Holger. »Aber meine Eltern kommen beide aus einer großen Familie und finden das schön. Und nachher ist es ja auch ganz schön, wenn sie erst größer sind. Doch, das ist es schon, Felix. Wirst du sehen. Zuerst muß man eben durch.«

Hier trennten sich ihre Wege.

»Vielleicht komm ich doch!« rief Felix Holger nach und wedelte schwach mit der Hand.

Er druckste herum, als seine Mutter nach dem Mittagessen die Küche aufgeräumt hatte und sich zum Ausgehen ankleidete. Sie zog das neue Wollkostüm an mit der lose fallenden Jacke, die die leichte Wölbung ihres Leibes verhüllte.

»Du bist ja noch nicht fertig, Felix«, sagte sie, als sie in sein Zimmer kam, wo er am Fenster stand und in den grauen Herbsttag blickte. »Du solltest doch den dickeren Pullover anziehen. Es ist ein kalter Wind draußen.«

»Muß ich denn unbedingt mit in die Stadt, Mama?«

Beate stutzte. Das hatte verdrossen geklungen.

»Du mußt nicht«, betonte sie. »Aber wir hatten uns das doch für heute vorgenommen. Wenn wir unsere Einkäufe erledigt haben, gehe ich mit dir auch noch ins Café König. Da bekommst du deinen Bienenstich, den du so gern ißt.«

Aber nicht einmal das schien ihn heute zu verlocken. Beate trat näher. »Warum willst du nicht mit, Schatz? Hast du noch Schularbeiten auf?«

»Ja«, sagte er schnell, erleichtert, daß sie ihm eine Brücke baute. »Und damit wollte ich eigentlich noch zu Holger gehen.« Er war rot geworden, weil das gelogen war mit den Schularbeiten. Es lag nämlich ausnahmsweise nichts vor. Der Lehrer hatte die Grippe.

»Ja, dann…« Beate war enttäuscht. »Schade. Du solltest die hübschen Dinge mit aussuchen, die ich für dein Schwesterchen kaufen wollte.«

»Als ob das nicht Zeit hätte!« entschlüpfte es dem Jungen. »Papa sagt das auch«, fügte er hinzu.

»Sicher hat das noch Zeit«, sagte Beate ruhig. »Ich sorge nur gern schon ein wenig vor. Wenn du keine Lust hast oder lieber gleich deine Aufgaben machst, dann fahre ich eben allein.«

»Okay, Mama.« Felix schlüpfte in seinen Anorak, den er über den Stuhl geworfen hatte. »Du mußt ja in die andere Richtung zur U-Bahn, also geh ich schon vor.«

»Und deine Schulsachen?« rief seine Mutter ihm nach.

»Ach so, ja, so was Dummes.« Er schnappte sich seinen Tornister. »Da hätt ich glatt noch mal zurückkommen müssen. Also, tschüs.«

Beate blieb zurück. Auf einmal hatte sie auch keine Lust mehr, in die Innenstadt zu fahren. Es war wirklich nicht so wichtig und schon gar kein Grund, traurig zu sein.

Aber sie war es doch.

Sie fühlte sich allein gelassen. Sie kannte ihren Sohn gut genug, um zu ahnen, daß er nur nach einem Vorwand gesucht hatte. Er wollte nicht daran denken, daß sie bald zu viert sein sollten. Darin war er wie sein Vater. Beide vermochten ihre Vorfreude nicht zu teilen, die sich bei ihr nun doch eingestellt hatte, wie es nur natürlich war. Davon wollten ihre beiden am liebsten nichts hören und sehen. Also würde sie noch warten, winzige rosa Sächelchen zu kaufen.

Sie ging ins Schlafzimmer und zog das kuschelige weiche Wollkleid wieder an, das sie jetzt am liebsten trug.

Mein Kleines, sagte sie zu dem Kindlein, das in ihr wuchs. Sie legte beide Hände darüber, ich habe dich schon sehr lieb, und dein Vater und dein großer Bruder werden dich auch liebhaben, das verspreche ich dir. Wir müssen ihnen nur Zeit lassen, wir zwei. Wir haben ja uns, und wir sind glücklich zusammen.

*

Sie saßen wie vom Donner gerührt, Ingeborg und Bertold Basler, und sie sahen sich mit verstörten Mienen an. Zwischen ihnen lag das Schreiben von einem Notar, fremd und unbegreiflich vom Inhalt her, so oft sie es auch lasen und darauf starrten.

»Du hast nie etwas von dieser Verwandten gewußt«, brachte Ingeborg nach einem kurzen Schweigen tonlos hervor.

»Sag ich doch.« Berthold mußte sich schon wieder schneuzen. Seine Nase war gerötet, sein Augen blickten trüb. Er hatte eine fiebrige Erkältung, deshalb war er heute nicht ins Geschäft gegangen. Ein Virus hatte in diesem unfreundlichen Spätherbst viele Menschen befallen.

»Meinen Großvater habe ich kaum gekannt«, fuhr er fort, nachdem er sich noch heftig geräuspert hatte, »und von einer Schwester von ihm ist nie die Rede gewesen. Woher denn auch. Unsere Familie war nur klein, und außer mir ist niemand mehr da.«

»Nur sie ist über hundert geworden«, sagte Ingeborg, und sie sah wieder auf das weiße beschriebene Blatt. »Lucie Steven«, langsam sprach sie den fremden Namen aus, der nun plötzlich eine so ungeheure Bedeutung für sie erlangt hatte. »Geborene Basler… Wie sie wohl nach Amerika gekommen sein mag?«

Bertold schwieg darauf. Wie sollte er das wissen. Seine Frau erwartete auch gar keine Antwort.

»Erbenermittler«, murmelte sie vor sich hin, denn so stand es da. »Hast du gewußt, daß es so etwas gibt?«

Bertold machte eine ungewisse Handbewegung. »Das ist jemand, der in Standesämtern und Kirchenbüchern nach Angehörigen forscht, wenn keine Nachkommen da sind und kein Testament existiert.«

»Und da ist man auf dich gestoßen.« Ingeborg schüttelte den Kopf. »Ich kann es nicht fassen, Bertold.«

»Ich auch nicht«, sagte er dumpf. Ihm dröhnte der Kopf, und das kam nicht von dem Infekt.

»Sie haben lange gebraucht, dich aufzuspüren«, redete Ingeborg weiter, »wenn sie doch schon vor einem dreiviertel Jahr in einem Altersheim in Heidelberg gestorben ist. Seltsam auch das. Es muß sie zuletzt doch wieder in die alte Heimat zurückgezogen haben.«

Berthold hatte einen Hustenanfall. Da stand sie auf, um ihm einen Hustentee zu bereiten, in den sie ihm seine Medizin gab.

»Willst du dich nicht lieber wieder hinlegen, Bettwärme ist jetzt das Beste für dich«, riet sie ihm.

Da klingelte es Sturm. War das Uli schon? Die Schule konnte doch eigentlich noch nicht aus sein.

»Die letzte Stunde ist ausgefallen«, berichtete der Sohn. »Hätte ich das gewußt, hätt ich gestern abend nicht mehr dafür gebüffelt.« Er sah von einem zum anderen, und er stutzte. »Ist es schlimmer mit dir geworden, Papa? Warum bist du dann nicht im Bett geblieben? Ihr seht beide so – so mitgenommen aus.«

»Dein Vater hat geerbt, Uli«, sagte Ingeborg.

Verständnislos sah der Junge seine Mutter an. »Wie – geerbt?«

»Von einer Großtante, die in Florida ein Riesenvermögen hinterlassen hat.«

»Pff«, machte Uli, »ihr wollt mich wohl auf den Arm nehmen.«

»Du kannst es lesen.« Mit dem Kinn deutete Ingeborg auf das notarielle Schreiben auf dem Tisch.

Uli griff danach. Seine Augen wurden immer größer, während er las.

»Das gibt’s doch nicht«, stammelte er. »Eins komma fünf Millionen Dollar, und eine Villa in Florida – so was gibt’s doch nicht wirklich.«

»Anscheinend doch. Aber so richtig begreifen können wir es auch noch nicht. – Trink deinen Tee, bevor er kalt wird, Bertold.«

Uli las nochmals, seine Lippen bewegten sich sogar dabei.

»Aber wie es da steht«, er schien jedes Wort von tief innen her zu holen, »muß das doch stimmen. Da steht doch BERTOLD BASLER. Und da oben der Briefkopf, Rechtsanwalt und Notar. Dann kann das ja nicht nur ein irrer Witz sein. O Mann! Wir sind reiche Leute. Milli – o – näre!« Er ließ das auf der Zunge zerschmelzen. Plötzlich warf er die Arme in die Luft, sein Gesicht verklärte sich.

»Jetzt können wir auf einen Lottogewinn pfeifen! Da haben wir doch immer drauf gehofft, und uns geärgert, wenn wir wieder keine Zahl richtig hatten. Mama, Papa, wieso freut ihr euch eigentlich nicht? Ihr seht aus, als hätte man euch mit ’nem Hammer über den Kopf gehauen –«

»Bitte, Uli, ja«, sagte sein Vater.

»Ist doch wahr.« Der Junge ließ sich nicht beirren. Er fuchtelte mit den Armen herum. »Stell dir nur vor, du brauchst nie mehr in das dusselige Geschäft zu gehen, und du, Mama, brauchst keinen Zahnstein mehr zu entfernen. Du wirst nur noch teure Klamotten tragen, und wir werden in einer Luxusvilla in Florida leben. O Mann!« wiederholte er und schnaufte auf.

»Soweit sind wir noch nicht«, sagte seine Mutter. Sie stand auf. »Jetzt will ich erst mal sehen, daß ich was zum Mittagessen auf den Tisch bringe, sonst kommt uns der Papa noch ganz von Kräften.«

*

Als Berthold wieder gesund war, fuhr er zu dem Notar Vandenbrinck, mit dem er schon eine telefonische Unterredung gehabt hatte. Dort wurde er über alle Formalitäten informiert, und er unterschrieb, daß er die Erbschaft annahm. Seine Hand war nicht ganz ruhig dabei.

Zurückgekehrt, kündigte er seine Stellung. Der Geschäftsinhaber hatte sowieso vorgehabt, Personal zu reduzieren, denn der Umsatz war, wie vielerorts in der Wirtschaftswelt, zurückgegangen. Seinen langjährigen Mitarbeiter jedoch hätte es nicht getroffen. Deshalb konnte er es nicht unterlassen nach dem Warum zu fragen.

Wohl oder übel gab Bertold Basler ihm den Grund für seinen Entschluß an, den ganzen Umfang der Erbschaft verschwieg er allerdings.

Der Chef lächelte etwas säuerlich. »Da haben Sie ja Schwein gehabt. Eine reiche Erbschaft könnte jeder gut brauchen.« Und es blieb die Floskel nicht aus, daß er ihm das Beste für die Zukunft wünschte.

Es war Mitte Dezember, als Ingeborg endlich zum Telefon griff, um ihre Freundin Beate anzurufen.

»Hallo«, sagte Beate, »fein, daß du dich mal wieder meldest. Wir haben lange nichts voneinander gehört. Du bist sicher auch sehr beschäftigt, und jetzt kommen die Weihnachtsvorbereitungen noch dazu.«

»Ach, bei uns hat sich soviel getan, Beate, daß es mir vorkommt, als sei unser Leben von einem Wirbelsturm erfaßt worden!«

»Nanu, wie soll ich das denn verstehen«, wunderte sich Beate. »Was ist denn passiert?«

Ingeborg erzählte es ihr in einigen Sätzen. Danach trat ein kurzes Schweigen ein.

»Ich mußte erst einmal tief Luft holen«, sagte Beate dann. »Das ist ja nicht zu fassen.«

»Bei uns hat das auch eine Weile gedauert«, versicherte Ingeborg. »Wir waren tagelang wie betäubt. Nur unser Uli hat sich schnell mit der neuen Situation abgefunden. Er sieht sich schon auf einem teuren College in Amerika, schleppt Bücher an, um alles darüber zu wissen.«

»Sag nur, daß ihr dorthin ziehen wollt«, stieß Beate hervor.

»Nein, soweit denken wir gar nicht. Im Januar will Bertold erst mal hinfliegen und sich das Haus ansehen.«

»Wenn man sich das vorstellt«, sagte Beate langsam, »dein ruhiger Bertold und plötzlich vor solche Aufgaben gestellt… Willst du nicht mitfliegen? Du wirst doch auch deine Arbeitsstelle aufgeben.«

»Nicht sogleich. Ich warte erst mal ab. Ich mag Dr. Harmsen nicht so plötzlich im Stich lassen. Er ist ein guter Chef, und daß er mich damals, als ich von Fendrich wegging, vor anderen Bewerberinnen genommen hat, danke ich ihm noch heute. Außerdem hat Uli Schule. Wir könnten gar nicht so ohne weiteres weg und fort nach Florida.«

»Florida«, wiederholte Beate. »Es soll ja traumhaft schön dort sein. Sonst wohnten nicht so viele reiche Leute dort. Und ihr gehört nun dazu. Weißt du«, jetzt war ein Lächeln in ihrer Stimme, »man liest mal von so etwas, oder sieht es im Film. Dann denkt man, na ja, das ist eben ein Märchen, wer erlebt das schon. Daß es einem selber, oder, wie in diesem Fall, den besten Freunden geschieht, daran denkt man nicht im Traum. Ich habe dich noch gar nicht beglückwünscht, Ingeborg, zu dem Füllhorn, das sich über euch ergossen hat. Wie kommst du dir denn nur vor?«

»Ich weiß nicht… Ich bleibe dieselbe wie vorher, Beate.«

»Das möchte ich sehen«, scherzte die Freundin. »Vielleicht wirst du auch eine mondäne, superelegante Frau, die das Geld mit vollen Händen ausgibt.«

»Das müßte ich erst lernen, meine Liebe.«

»Oh, ich glaube, das lernt sich schnell«, lachte Beate.

»Meinst du? Aber nun zu dir. Wie geht es dir und dem zukünftigen Baby?«

»Bestens, Ingeborg. Wir haben auch schon einen Namen dafür. Es wird Silvie heißen. Meine beiden haben sich den Namen mit ausgesucht.«

»Haben sie sich inzwischen auch auf den Zuwachs eingestellt?«

»Doch, ja. Nils ist sehr lieb zu mir und fürsorglich. Zur Zeit haben wir alle Geheimnisse voreinander, weil das Christkind bald kommt.«

Sie würden an den Feiertagen noch telefonieren, bis dahin… »Haltet den Nacken steif, daß euch der plötzliche Reichtum nicht erdrückt«, schloß Beate in heiterem Ton.

»Müssen wir die jetzt beneiden?« fragte Felix naiv, als die Mama ihnen davon berichtete.

Beate zuckte die Achseln. »So viel Geld macht nicht unbedingt glücklich«, behauptete sie.

»Aber es beruhigt ungemein«, hielt ihr Mann dagegen. »Es läßt einem alle Freiheit, zu tun und zu lassen, was man will.«

Aufmerksam sah Felix seinen Vater an. »Was würdest du denn damit tun, Papa, wenn du auf einmal riesig viel hättest?«

»Ich würde mir ein großes Schiff kaufen und damit über die Meere fahren«, antwortete Nils.

Beate gab ihm einen raschen Blick. »Wolltest du das wirklich?«

Da rief ihr Felix schnell dazwischen: »Aber uns würdest du doch mitnehmen?!« Und er faßte den Papa bei der Hand.

»Aber sicher«, sagte Nils mit einem halben Lächeln. »Was sollte ich denn ohne euch?«

*

Wie angenehm es doch war, wenn man nicht nach den Kosten fragen mußte.

Als Bertold Basler an diesem Tag Ende Januar auf dem Flughafen von Palm Beach landete, nahm ihn der Verwalter von Steven-House in Empfang und fuhr mit ihm zum Hilton-Hotel, wo ein Apartment für den ankommenden Gast reserviert war.

Der Mann hieß Mike Jones, Bertold schätzte ihn auf Mitte Fünfzig. Er sprach deutsch mit starkem amerikanischem Akzent.

»Ich habe dafür gesorgt, daß Ihnen ein Wagen zur Verfügung steht, damit Sie hier unabhängig sind«, sagte er unterwegs. »Aber ich stehe Ihnen selbstverständlich jederzeit zur Verfügung.«

Zu einer ersten Unterredung verabredeten sich die beiden Herren in der Halle. Bertold wollte sich nach dem langen Flug erst frischmachen. Die Besichtigung der Villa sollte am nächsten Tag stattfinden.

Ungewohnt fühlte er sich in der luxuriösen Umgebung, aber nicht unwohl. Er hatte sich neu eingekleidet, die Anzüge trugen das Etikett eines Nobelschneiders, ebenso wie alles Zubehör vom Feinsten war. Er kam sich darin vor, als sei er in eine neue Haut geschlüpft.

Ingeborg daheim hatte bewundernd die Hände zusammengeschlagen. »Jetzt erkenne ich erst die Wahrheit des Wortes, daß Kleider Leute machen!« hatte sie ausgerufen. »Nein, was habe ich doch für einen gutaussehenden Mann.« Sie hatte gelacht und ihm einen herzhaften Kuß auf die Wange gegeben, eine spontane Geste, wie es sie schon lange nicht mehr zwischen ihnen gab.

»Echt super, total verändert, Papa«, hatte Ulli ihr beigepflichtet. »Und da hast du noch gemeckert, daß der neue Haarschnitt bei dem ›Starfriseur‹ sauteuer war«, kicherte er. »Als ob’s bei uns noch drauf ankäme.«

»Bertold mußte daran denken, als er zufrieden sein Spiegelbild betrachtete, bevor er mit dem Lift hinunterfuhr. Wahrhaftig, er brauchte sich vor den anderen Gästen, dessen Luxuskarossen vor dem Hotel standen, nicht zu verstecken. Würde er etwa noch eitel werden auf seine alten Tage?

Mike Jones hatte einige Papiere bei sich, unter anderem den Grundriß von Steven-House, die er dem neuen Besitzer unterbreiten wollte.

»Es war ursprünglich ein prachtvoller Besitz«, erklärte er, »aber ich muß Sie darauf aufmerksam machen, daß der Zahn der Zeit daran genagt hat. Wir sind zwar hier im sonnigen Florida, aber wir werden auch von tropischen Regengüssen und Wirbelstürmen heimgesucht, die Schäden anrichten und behoben werden müssen. An diesem Haus ist seit zwanzig Jahren nichts mehr gemacht worden, seit Mrs. Steven das Land verlassen hat.«

»Aber es waren doch die Mittel dazu vorhanden«, wunderte sich Berthold.

»Daran ich keinen Zugang hatte«, sagte Jones. »Ich bekam mein Gehalt, und damit fertig.«

»Haben Sie die Besitzerin denn nicht davon unterrichtet, wenn Reparaturen fällig waren«, warf Bertold ein.

»Doch, das habe ich«, betonte der andere. »Aber ich erhielt nie eine Antwort darauf.« Er hob die Schultern. »Man darf wohl nicht vergessen, daß Mrs. Steven schon hochbetagt war. Es mag ihr ferngerückt und gleichgültig geworden sein, was hiermit geschah. Nachkommen hatte sie ja nicht.«

Nachdenklich, wohl auch enttäuscht, sah Bertold vor sich nieder. Es war also nichts damit, sich sozusagen in ein gemachtes Nest zu setzen. Das wäre ja auch zu schön gewesen, um wahr zu sein.

Dann blickte er auf. »Was war Mrs. Steven für eine Frau? Ihr Mädchenname war Basler, aber ich weiß absolut nichts über diese Verwandte.«

Jones machte eine bedauernde Handbewegung. »Mit persönlichen Angaben kann ich Ihnen auch nicht dienen, Herr Basler. Sie muß wohl schon sehr jung nach Amerika gekommen sein, und hier hatte sie reich geheiratet. Ihr Mann Antony hatte mit Bankgeschäften sein Vermögen gemacht. Nach seinem Tod muß sie sich sehr einsam gefühlt haben. Sie wollte heim. Sie sagte tatsächlich ›home‹, heim, daran erinnere ich mich. Vielleicht will man zu den Wurzeln zurückkehren, wenn es dem Ende zugeht.«

»Aber sie hat noch zwanzig Jahre lang gelebt«, bemerkte Bertold wie nebenher. »Ob da wirklich kein Gedanke zurückgegangen ist?«

»Anscheinend nicht. Sie setzte mich als Verwalter ein, als sei ihr dies alles hier nicht mehr wichtig und kümmerte sich nicht mehr darum, wie gesagt. Ich ließ auf eigene Kosten das Notwendigste machen, aber das reichte bei weitem nicht. Mehr konnte ich nicht tun. Es war schade darum.«

»Sieht es so schlimm aus?« fragte Bertold.

Mike Jones wiegte den Kopf. »Sie werden schon einiges hineinstecken müssen, wenn Sie Steven-House im alten Glanz wiedererstehen lassen wollen.« Er machte eine kurze Pause. »Haben Sie die Absicht, Herr Basler?«

»Dazu kann ich noch nichts sagen«, antwortete Bertold zögernd. »Ich muß mir das erst ansehen.«

»Okay.« Jones schob die Papiere zusammen. »Morgen vormittag dann. Um zehn, paßt Ihnen das? Ich werde Sie abholen.«

Bertold rief noch zu Hause an, um zu berichten, daß er gut angekommen war und der erste Kontakt mit dem Verwalter bereits stattgefunden hatte.

»Und«, fragte Ingeborg aufgeregt, »was hat er gesagt?«

»Tja… Seiner Schilderung nach brauchen wir uns wohl keine Illusionen zu machen. An dem Haus ist seit zwanzig Jahren nichts mehr getan worden.« Bertold erzählte, was der Grund hierfür war.

»Ach je«, machte Ingeborg, »da bin ich ja gespannt, was du morgen vorfinden wirst.«

»Ich auch. Mach’s gut, ihr beiden in weiter Ferne!«

»Mach du es auch gut, Bertold. Wir sind in Gedanken mit dir. Unser Sohn sitzt schon dauernd über seinen Florida-Bildbänden.«

Als Sohn Ulrich erfuhr, wie es um die angebliche Luxusvilla stehen sollte, machte er freilich ein langes Gesicht.

»Also nee, wenn das aber ’ne halbverfallene Klitsche ist, dann nehmen wir die aber nicht. Dann stoßen wir die ab«, entschied er.

*

So war es nun nicht, wie der naseweise Dreizehnjährige daheim die Sache abgeurteilt hatte.

Steven-House lag nahe am Wasser etwas abseits von den anderen Villen der Superreichen, die hier, wie in einer Enklave, abgeschirmt von der restlichen Bevölkerung ein Luxusdasein führten.

Im weichen, warmen Wintersonnenschein präsentierte es sich Bertold Basler, von Palmen und exotischen Gewächsen umgeben. Sein erster Blick fiel auf einen großen, gekachelten Springbrunnen vor dem Portal. Die Kacheln waren zum Teil abgefallen, Rost hatte sich angesetzt.

»Das Dach am Westteil des Hauses«, Mike Jones deutete nach oben, »habe ich notdürftig flicken lassen, damit es nicht hineinregnete.«

Bertold nickte beklommen. Ja, obwohl gewisse Schäden unübersehbar waren, war der Eindruck, den die Anlage auf ihn machte, doch überwältigend. Und das alles sollte ihm gehören?

In das Haus gelangten sie durch einen ganz in Marmor gehaltenen Eingang. Die etwa fünfhundert Quadratmeter umfassende ebenerdige Wohnfläche teilte sich in luxuriöse Schlafzimmer, Badezimmer, ein geräumiges Wohnzimmer und eine vollausgestattete Küche auf. Im Wohnzimmer dominierte ein Marmorkamin. Ein Häuflein Asche lag noch darin…

Verschiedene Säulen sowie die hohen Decken gaben den Räumen großzügige Atmosphäre. Breit hingelagerte Möbelstücke standen verhüllt wie stumme Zeugen lang vergangener Zeiten. Teppiche waren zusammengerollt und verschnürt.

»So hat sie alles zurückgelassen«, murmelte Bertold vor sich hin. Unwillkürlich fröstelte es ihn ein wenig. Es war kühl hier drinnen, und es roch muffig, wie es nicht anders sein konnte. War es nicht wie in einem Totenhaus?

»Nur die Gemälde, die hier hingen, hat Mrs. Steven an ein Museum weggegeben«, erklärte Jones auf seine Worte hin. »Sie sehen ja, wie die Wände aussehen.« Ränder wiesen die Seidentapeten auf, schimmlige Flecken auch von Feuchtigkeit. »Aber gehen wir weiter…«

Durch deckenhohe Terrassentüren gelangten sie in einen überdachten Innenhof, und weiter zu einem großen, beheizbaren Schwimmbad, neben dem eine Strohdachbar lag, die freilich verwittert und eingefallen war.

»Das Schwimmbad wird so nicht mehr brauchbar sein«, bedauerte der Verwalter. »An mehreren technischen Anlagen hapert es inzwischen, auch im Haus ist die Installation nicht in Ordnung, Heizung, Wasserzulauf, nichts funktioniert mehr richtig. Ja, es ist traurig, daß dieser herrliche Besitz so heruntergekommen ist.«

Bertold schwieg darauf. Er blinzelte in die Sonne, die warm und golden war, ein leiser Wind fächerte die Palmen. Er konnte es nicht so sehen. Was galt ihm dieses und jenes, es würde zu beheben sein. Hier stand er auf eigenem Grund und Boden, und das war ein berauschendes Gefühl.

»Ich zeige Ihnen jetzt noch die private Anlegestelle für Boote«, hörte er seinen Führer sagen. »Sie bietet schnellen Zugang zum Atlantischen Ozean. Falls Sie ein Freund des Wassersports sind, Herr Basler.«

Das war es dann. Mehr als genug für Bertold, der sich in eine andere Welt geschleudert fühlte.

»Möchten Sie, daß ich Sie gleich zurück zum Hotel bringe, oder wollen Sie sich allein noch etwas umsehen? Sie sind nun der Herr hier.«

»Ich denke, wir sollten zuerst eine Stärkung zu uns nehmen«, sagte Bertold. »Ich jedenfalls könnte eine brauchen.«

»Verstehe.« Zum ersten Mal umspielte ein Lächeln den Mund des Älteren. »Ich schlage vor, daß wir zu Joe fahren, wo es einen kühlen Wein, den fangfrischesten Fisch und die beste Muschelsuppe gibt. Es ist aber mehr eine Kneipe, nichts Elegantes.«

»Gibt es so etwas auch hier?« fragte Bertold, der im Hilton von Schwärmen befrackter Kellner bedient wurde.

Tatsächlich gab es das. Gemütlich war das Lokal, völlig unamerikanisch, und Joe begrüßte Mike wie einen alten Freund. »Bringst mir heute einen Gast mit«, sagte er.

»Das ist Mister Basler, der neue Besitzer von Steven-House.«

»Hat sich doch noch jemand für den alten Kasten gefunden«, grinste Joe.

»Du redest mal wieder, wie du es verstehst«, verwies ihn Mike

Jones. »Würdest dir alle zehn Finger danach ablecken, wenn du ihn haben könntest.«

»Müßt ich verrückt sein. Aber nun zur Sache: Was wünschen die Herren zu trinken, zu speisen?« Joe rückte die Stühle zurecht und ließ die Gäste Platz nehmen.

»Haben Sie verstanden, was er gesagt hat?« fragte Jones, als sie bestellt hatten, der Wirt in der Küche verschwunden war.

»O ja«, nickte Bertold. »So weit reichen meine Schulkenntnisse gerade noch. Als alten Kasten kann man Steven-House wohl nicht gerade bezeichnen.« Er lachte ein wenig. Den Ausdruck fand er einfach absurd.

»Natürlich nicht. Es kann wieder ein Juwel werden. Wenn Sie wollen, helfe ich Ihnen dabei.« Er machte eine kurze Pause. »Als Verwalter werden Sie mich wohl nicht mehr brauchen?«

»Aber ja doch«, widersprach Bertold etwas überrascht. »Noch lebe ich in Deutschland, und vorläufig bleibt alles beim alten. – Was meinen Sie damit, daß Sie mir Ihre Hilfe anbieten wollen?«

»Nun, ich lebe hier seit dreißig Jahren und kenne mich aus. Ich wüßte da zum Beispiel eine Architektin, mit der ich Sie zusammenbringen und die Sie in allen Fragen beraten könnte. Wenn man die Handwerker auf Trab bringt, wäre die Villa in wenigen Monaten bewohnbar.«

Joe servierte ihnen die Speisen. Sie tranken Wasser und ein Glas von dem leichten, herben Wein dazu. Bertold gingen viele Gedanken durch den Kopf.

Wäre es nicht wirklich am besten, die Sache gleich in Angriff zu nehmen. Es erschien ihm doch märchenhaft, hier zu leben. Man könnte ja ein Standbein in Deutschland behalten…

»Was gibt es denn für Schulen hier?« fragte er aus seinen Gedanken heraus. »Ich habe einen dreizehnjährigen Sohn.«

Jones lächelte flüchtig. »Hat Sie unsere sonnige Halbinsel doch schon gefangengenommen? Ja, Sie können es nirgendwo auf der Welt schöner haben. Und was die Schulen betrifft – es gibt unweit eine Elite-Schule mit erstklassigen Lehrkräften. Wer die besucht, hat schon den besten Start in sein späteres Leben.«

Nach diesen erlebnisreichen Stunden konnte Bertold es kaum erwarten, daheim anzurufen. Ingeborg würde seinem Anruf auch schon entgegenfiebern.

»Es lohnt sich hundertfach, da noch einen Batzen Geld hineinzustecken«, versicherte er. »Wenn dieses Haus erst wieder zum Leben erwacht ist, werden wir uns darin wie die Könige fühlen.«

»Du bist ja direkt überschwenglich, Bertold«, freute sich Ingeborg. »So kenne ich dich gar nicht.«

»Ich kenne mich selbst nicht mehr«, scherzte ihr Mann. »Aber so ist das wohl, wenn einem plötzlich das ganze Leben auf den Kopf gestellt wird.«

»Es scheint dir aber nicht schlecht zu bekommen«, äußerte Ingeborg im gleichen Ton. »Und wie geht es nun weiter?«

»Morgen bringt mich Jones zu einer Architektin, mit der ich mich beraten werde«, erzählte Bertold aufgeregt. »Wenn wir uns einig werden, soll sie die Sache in die Hand nehmen. Das Übrige überlasse ich dann Jones. Er kriegt sein Gehalt weiter.«

»Und du kommst zurück?« fragte Ingeborg schnell.

»Ja, auf alle Fälle. Dann überlegen wir gemeinsam, wie wir unsere Zukunft gestalten werden, Ingeborg.« Es klang bedeutungsvoll.

»Oh, Bertold«, sprach Ingeborg leise, »manchmal denke ich immer noch, ich träume das nur…«

*

Wenn Bertold einmal die Worte über die Lippen gekommen waren, ihm sei das Leben auf den Kopf gestellt worden, so hatte er damit den plötzlichen Reichtum gemeint, was sonst.

Daß es darüber hinaus noch etwas anderes geben könnte, was die Grundfesten erschütterte, hätte er doch nicht geahnt.

Es geschah, als er zum ersten Mal Gwendolyn Roberts gegenüberstand. Und es wurde ihm beim zweiten, beim dritten Mal, als sie sich sahen, immer mehr zur Gewißheit, daß er sich in sie verliebt hatte.

Was war es nur, was ihn an dieser Architektin so faszinierte?

Sie war schlank, blond, ungeschminkt. Keine Plastikschönheit, kein Glamourgirl, wie es einem hier manchmal über den Weg lief, sondern eine gescheite, berufstätige Frau um die Dreißig.

Doch ihr Gang, ihre Bewegungen, ihr Lächeln bezauberten ihn. Sogar der Akzent, mit dem sie deutsch sprach. Wer vermochte das schon zu erklären, diese Hingezogenheit zu einem anderen Menschen, der nun eine große Bedeutung für ihn gewann. Das gab es, seit die Welt besteht.

Wenn sie durch das Haus gingen, sie ihn dieses und jenes erklärte und Verbesserungsvorschläge machte – auch die Fenster riet sie ihm auszuwechseln, weil die Rahmen morsch geworden waren –, dann hörte er nur auf ihre Stimme und nickte zu allem. Es würde schon recht sein.

Es schien sie zu freuen, daß er ihr freie Hand ließ. Sie wollte wieder ein Schmuckstück daraus machen.

»Mike und mir hat es schon leid getan, daß es mehr und mehr bergab damit ging«, sagte sie einmal. »Aber ihm waren die Hände gebunden. Es ist gut, daß Steven-House jetzt wieder einen Besitzer gefunden hat.«

Heute hatte Bertold Gwendolyn Roberts zum Essen eingeladen. Sie hatte erst später kommen können, es war darüber Abend geworden.

»Ich habe mich mit einigen Firmen beraten und Kostenvoranschläge mitgebracht, die ich Ihnen vorlegen möchte«, sagte sie und griff nach ihrer Aktenmappe, als sie sich in einem Strandhotel gegen-übersaßen.

»Muß das jetzt gleich sein?« fragte Bertold. »Könnten wir das nicht mal beiseiteschieben und nur den Abend genießen?«

Gwendolyn ließ von der Tasche ab, sie legte die Hände vor sich auf dem Tisch zusammen und sah ihr Gegenüber mit einem leichten Lächeln an. »Wie Sie wollen. Ich dachte, Sie hätten es eilig damit. Es könnte doch sein, daß Sie Ihren Aufenthalt hier baldmöglichst beenden wollen, da Ihr Haus noch nicht bewohnbar ist.«

Bertold schüttelte den Kopf. »Ich fühle mich ganz wohl im Hotel.« Er hielt ihren Blick fest. »Und in Ihrer Gesellschaft, Miß Roberts. Es wäre schön, wenn Sie auch mal privat ein wenig Zeit für mich hätten. Oder erlauben Ihnen das häusliche Verpflichtungen neben Ihrem Beruf nicht?«

»Deren gibt es für mich als Single kaum«, gab sie zurück. »Seit mir eine mehrjährige Beziehung zerbrochen ist, lebt es sich ganz gut allein.«

»Nun, dann brauchen wir unsere Zusammenkünfte vielleicht nicht nur bei sachlichen Unterredungen wie bisher zu belassen. Ich würde sehr gern das Land näher kennenlernen, die Sehenswürdigkeiten, die angepriesen werden. Aber allein herumzufahren macht auch keinen Spaß.«

»Sie meinen, Sie wollten mich gewissermaßen als Führerin anheuern«, sagte sie mit einer leisen Verschmitztheit, die Bertold entzückte.

»Nein, nicht so. Die könnte ich ja über das Hotel bekommen. Das wäre dann sehr unpersönlich. Es geht mir darum, mit Ihnen zusammen zu sein.«

Sie sah ihn an, in ihren klaren graublauen Augen stand ein eigenartiger Ausdruck. Aber sie schwieg.

Sie speisten dann und plauderten mehr obenhin. Bertold bewunderte das Schauspiel, das sich ihnen hinter den breiten Fenstern bot, das wechselnde Farbenspiel des Himmels und des Wassers, von Goldrot wurde es zu einem satten Purpurrot. »Das ist traumhaft«, sagte er.

»Ja, wir haben prächtige Sonnenuntergänge hier«, stimmte Gwendolyn ihm zu. »Man gewöhnt sich daran, wenn man immer hier lebt. Aber ich sehe es jetzt mit Ihren Augen an, da ist es auch wie neu für mich.«

Ein Hauch von den glühenden Farben lag noch in der rasch einfallenden Dunkelheit, als sie das Restaurant verließen. Sie fuhren in Gwendolyns Auto. Der Bertold zur Verfügung stehende große amerikanische Wagen war in der Hotelgarage geblieben.

»Dann also bis morgen vormittag zur weiteren Beratung hier, damit ich die Aufträge für die Instandsetzung an die Firmen weitergeben kann«, sagte Gwendolyn, nun wieder ganz sachlich.

»Gut. Und über meine Bitte – werden Sie nachdenken? Es war nur eine Bitte, Miß Roberts, aber eine ganz herzliche.«

»Ich werde mir für das Wochenende etwas ausdenken. Zufrieden?«

*

Sie kannten sich schon seit einigen Jahren, Mike Jones und Gwendolyn Roberts. Als Hausverwalter hatte er der jungen Architektin schon gelegentlich Aufträge verschafft. Ihr Verhältnis zueinander war im Laufe der Zeit ein nahezu freundschaftliches geworden.

Mike saß beim Mittagessen bei Joe, als Gwendolyn hereinkam. Grüßend hob er die Hand und deutete auf den freien Stuhl an seinem Tisch. »Auch keine Lust, dir selber was zu kochen«, bemerkte er lässig.

Sie streifte die leichte Jacke von den Schultern und schoppte die Ärmel ihres Pullis hoch. »Ich habe in einer halben Stunde einen Termin in der Nähe, will nur rasch eine Suppe essen.« Sie setzte sich und bestellte sie bei der Bedienung. Der Wirt hatte in der Küche zu tun.

»Läuft das Geschäft?« erkundigte sich Mike.

»Ja, ganz gut.« Gwendolyn schenkte sich einen Schluck Wasser aus der Karaffe ein. »In Steven-House geht es auch vorwärts, da ist eine ganze Kolonne bei der Arbeit.«

»Ich habe es schon gesehen. Der Besitzer ist ja immer noch da. Das wundert mich. Er wollte doch heimfliegen und erst wiederkommen, wenn alles in Ordnung wäre.«

Gwendolyn zuckte die Achseln. »Das ist seine Sache«, sagte sie mit gespielter Gleichgültigkeit.

»Wenn du dich ihm so nett widmest«, Mike entfernte vorsichtig eine Gräte von seinem Fisch, »braucht er ja auch keine Langeweile zu haben.«

Ihre Haut färbte sich um einen Schein dunkler. »Wie meinst du das?«

»Nun, ihr macht doch Ausflüge zusammen, du zeigst ihm die Gegend…«

»Woher weißt du das denn schon wieder?« fragte sie leicht gereizt.

»Es spricht sich herum.« Er legte sein Fischbesteck hin und sah sie an. »Gwen, es geht mich ja eigentlich nichts an, und ich will mich auch nicht in deine Angelegenheiten einmischen, aber ich bin viel älter als du, da wirst du mir vielleicht ein offenes Wort erlauben…«

»Danke.« Gwendolyn nickte dem Kellner zu, der die Muschelsuppe vor sie hin stellte. »Worauf willst du hinaus, Mike?«

»Ich möchte nicht, daß du Dummheiten machst und dich am Ende noch in Basler verliebst. Oder ist das schon geschehen?«

Gwendolyn griff zum Löffel und rührte damit in der großen Suppentasse. »Wir mögen uns, Mike«, bekannte sie. »Bert ist kein alltäglicher Mensch.«

»Einen reichen Mann umgibt immer ein gewisser Nimbus«, warf der Ältere sarkastisch ein.

»Du weißt, daß das für mich nicht ausschlaggebend ist«, wies sie ihn zurück. »Wir verstehen uns sehr gut, wir sind froh zusammen und freuen uns über jede gemeinsame Stunde. Das mag man nennen, wie man will.« Sie lächelte in sich hinein, und das war ein beinahe glückliches, verträumtes Lächeln, wie Mike es kaum an ihr kannte.

Er ließ sie ihre Suppe löffeln, vollendete geistesabwesend auch seine Mahlzeit. Sie war kein junges, dummes Mädchen mehr, aber wenn Verliebtheit oder gar Liebe ins Spiel kam, war niemand vor einer Torheit gefeit.

»Er hat doch mit Sicherheit eine Frau zu Hause«, sagte er.

»Nein, das glaube ich nicht«, erwiderte Gwendolyn überzeugt. »Er würde sonst einen Ring tragen, oder es mal erwähnen.«

»Aber er hat einen dreizehnjährigen Sohn. Er fragte mich einmal nach einer Schule für ihn.«

»Das kann schon sein. Ich werde ihn gelegentlich danach fragen.« Sie winkte den Kellner herbei und bezahlte.

»So eilig heute, Miß Roberts?« fragte Joe von hintenher.

»Die Arbeit ruft«, antwortete sie. »Good by, Mike.« Sie lächelte ihm flüchtig zu, er gab ihr ein Kopfnicken zurück. Sein Blick folgte ihr, wie sie mit raschen Schritten davonging.

Es wäre schade um sie, wenn sie tiefer in diese Sache mit Basler hineingeriet. Er war nüchtern genug, um keine Chance für sie zu sehen.

*

»Verstehst du das, warum der Papa so lange wegbleibt?« fragte Uli seine Mutter. Mit gerunzelter Stirn sah er sie an.

Aber sie nahm den Blick nicht vom Bildschirm. Immer lief abends der Fernseher, ganz gleich, was da kam.

»Er überwacht die Arbeiten am Haus«, sagte sie.

»Aber dafür ist doch der Verwalter da«, begehrte der Junge auf. »Außerdem müßte es jetzt bald fertig sein, findest du nicht?«

»So schnell wird es nicht gehen, wenn viel zu machen war«, meinte Ingeborg. Es klang vage wie vorher. Uli fand das merkwürdig. Machte ihr das denn nichts aus, daß sein

Vater sie hier so einfach warten ließ?

»Anrufen tut er auch immer seltener«, fuhr Uli verdrossen fort, »und wenn du ihn im Hotel anrufst, ist er meistens nicht da. Wo ist er denn bloß immer? Er kann doch nicht immer in der Gegend herumfahren.«

»Wahrscheinlich ist er im Haus, und da ist noch kein Telefon…«

»Versteh’ ich nicht«, beharrte Uli. »Sieht grad so aus, als hätte er uns vergessen.«

»Unsinn. Hör jetzt auf damit, Uli. Der Papa wird schon wiederkommen.«

»Na hoffentlich! Sonst fliegen wir hin«, sagte Uli in seinem Sessel und schwang die Beine über die Lehne.

Ingeborg suchte ihren Mann in Gedanken, wie es häufig der Fall war. Um ihnen zu entgehen, ließ sie sich Abend für Abend von belanglosen Spielfilmen »berieseln«. Das Fernsehen war ja immer vorrangig in ihrer Freizeit gewesen. Nun hatte ihren Berthold ein neues Leben gefangengenommen. Das Leben in einem Luxushotel, wie sie es sich kaum vorzustellen vermochte. In einem Sonnenland, mit weißen Traumstränden und subtropischer Natur. Sie versuchte ihm nachzufühlen, daß er sich davon kaum zu lösen vermochte, ihn nichts in die kalte, unwirtliche Heimat zurückzog.

Auch seine Familie nicht?

Ach, sie würden ja bald wieder zusammensein. Aber sie waren noch nie wochenlang getrennt gewesen, und er fehlte ihr doch. Wenigstens schreiben oder anrufen könnte er öfter, um sie teilhaben zu lassen an allem, was dort war. So fühlte sie sich irgendwie beiseitegeschoben, und Uli machte es ihr auch nicht leichter mit seinen ewigen Fragen.

Auch reiche Leute, zu denen sie jetzt gehörten, hatten eben ihre Sorgen. Doch die waren nur selbstgemacht von ihr, denn um ihren braven Mann brauchte sie sich bestimmt nicht zu sorgen. Dem ging es jetzt doch gut wie nie.

Mit letzterem hatte Ingeborg allerdings recht. Nur mit der »Bravheit« ihres Ehemannes war es nicht so weit her.

Wenn Bertold morgens in seiner Suite aufwachte, war sein erster Gedanke Gwendolyn. Würde sie heute Zeit für ihn haben? Sie wollte nicht soviel arbeiten. Sie sollte mehr für ihn dasein. Er liebte sie. Diese neue Liebe gehörte zu seinem neuen Leben und verlieh ihm Flügel.

Und sie liebte ihn auch! Ja, das war ihm fast schon zur Gewißheit geworden. Leuchteten ihre Augen nicht auf, wenn sie ihn sah, überließ sie ihm nicht ihre Hand, wenn er danach griff? Einmal hatte er sie geküßt, überwältigt von dem heißen Gefühl, das zu ihr drängte. Ihr Mund war weich und hingebungsvoll geworden unter seinem Kuß. Wann hätte er je so ein brausendes Glücksgefühl verspürt!

Er wollte, er mußte sie festhalten. Seine Gwendolyn. Der Name allein erschien ihm wie Musik.

An diesem Abend waren sie zu einem See gefahren, auf dem Teichrosen mit ihren dichtgedrängten Blättern üppige schwimmende Gärten bildeten. Hochbeinige Silberreiher stolzierten auf Nahrungssuche durch das flache Wasser an seinem Rand.

Gwendolyn erzählte, daß sie in Lake-City eine Wohnung einrichten sollte und auf der Suche nach passender Wandbekleidung gewesen war.

»Und was hast du heute den ganzen Tag getan?« fragte sie ihn neckend.

»Ich habe stundenlang davon geträumt, wie es sein würde, mit dir in Steven-House zu leben«, gab Bertold zur Antwort.

»Ein phantastischer Traum«, sie hielt das Lächeln um ihren Mund fest, es wurde nur etwas starr, »nur nicht realisierbar.«

»Warum nicht, Gwendolyn?«

»Weil ich glaube«, sagte sie, »daß dem einiges im Wege steht.«

»Man kann den Weg freimachen«, sagte Bertold. »Alles kann man, wenn es um die Liebe und um das Glück geht. Beides bist du für mich, Gwendolyn.«

Sie blieb stehen. Ihre Augen waren tief und dunkel.

»Du hast nie darüber gesprochen, und ich habe dich nicht gefragt. Du hast einen Sohn, habe ich gehört.«

»Ja«, sagte Bertold knapp. »Er kann bei der Mutter bleiben, und ich werde ihn manchmal sehen.«

»Und diese seine Mutter«, Gwendolyn war jetzt sehr ernst, »ist sie nicht deine Frau? Bist du nicht verheiratet, Bert?«

»Nur auf dem Papier«, log er. »Von Liebe ist schon lange keine Rede mehr zwischen uns. Du solltest dir darüber keine Gedanken machen.«

Sie ging weiter, den Kopf gesenkt, so daß das weiche blonde Haar ihr halb über das Gesicht fiel. Sie strich es zurück. »Ich mache mir aber Gedanken«, sagte sie. »Bist du sicher, daß sie nicht unglücklich sein wird, wenn wir zusammenleben? Vielleicht wollte sie auch gern hier leben.«

»Sie wird sich überall auf der Welt ein Haus kaufen und ein sehr großzügiges Leben mit dem Jungen führen können«, gab Bertold zurück. Es klang, als gäbe es für jene Frau im fernen Deutschland nichts Wichtigeres.

»Ist sie so?« fragte Gwendolyn denn auch.

Bertold nickte. Er verriet damit seine langjährige Gefährtin und die Mutter seines Sohnes. Den Anflug schlechten Gewissens schob er rasch beiseite. Hatte nicht jeder Mensch ein Recht darauf, glücklich zu sein?

Er legte den Arm um Gwendolyns Schulter.

»Du siehst, es muß kein Traum bleiben«, sagte er eifrig. »Das schönste Zimmer in Steven-House soll dir gehören. Wir werden die alten Möbel hinauswerfen und neue nach deinem Geschmack kaufen, ganz wie du es haben willst.«

»Und meine Wohnung, und mein Beruf?« gab sie zu bedenken.

»Deine Wohnung kannst du ja behalten, vorläufig, wenn du das möchtest. Ich will dich nicht bedrängen, Gwendolyn. Und dein Beruf? Vielleicht könntest du ihn aufgeben, für mich.«

»Das – weiß ich noch nicht, Bert«, sagte Gwendolyn stockend. »Ich bin immer selbständig gewesen. Ich möchte nicht gern nur eine ausgehaltene Frau sein.«

»Das ist ein Begriff, den man nicht anwenden kann auf zwei Menschen, die sich lieben«, wehrte Bertold heftig ab. Seine Hand griff nach ihrem Kopf, er drehte ihn zu sich und sah ihr tief in die Augen. »Und du liebst mich doch, wie ich dich. Sag es mir.«

»Ja, ich liebe dich«, sprach sie leise.

Bertold nahm ihr Bild in sich auf, wie sie da vor ihm stand, vom goldenen Licht der Abendsonne umflossen, und das Herz wollte ihm bersten vor Glück. Ungestüm nahm er sie in seine Arme, und ihre Lippen fanden sich in einem langen, leidenschaftlichen Kuß.

*

Beate erhob sich schwerfällig, als das Telefon läutete. Sie war nun hochschwanger und nicht mehr gerade sehr beweglich. Ingeborg war am Apparat.

»Wie geht es dir, Beate?« war ihre erste Frage.

»Wie es einem so geht kurz vor der Niederkunft. Ich trag eine liebe Last mit mir herum.« Ein Lächeln lag in ihrer Stimme.

»Habt ihr schon alles vorbereitet für eure Silvie?«

»Ja, und wie für ein Prinzeßchen!«

»Das gehört sich auch so«, sagte Ingeborg heiter. Sie räusperte sich. »Du, Beate, ich fliege am Montag mit Uli nach Florida.«

»Oh! Ist es jetzt soweit. – Aber wieso du und Uli. Hat Bertold noch hier zu tun?«

»Bertold ist doch noch gar nicht zurückgekommen…«

»Nicht«, wunderte sich Beate. »Ich dachte, er wäre schon längst wieder bei euch. Siehst du, ich bin gar nicht mehr auf dem laufenden.«

»Bertold hat es vorgezogen, gleich dortzubleiben«, hörte sie die Freundin sagen. Es war ein Unterton in ihrer Stimme, der Beate aufhorchen ließ.

»Ach so.« Sie zögerte einen Moment. »Dann hat er sicher alles schön zu eurem Empfang gemacht. Die Arbeiten in der Villa müßten doch jetzt abgeschlossen sein. Da wird er sich auf euer Kommen freuen.«

»Dessen bin ich nicht so sicher«, meinte Ingeborg bedeutungsvoll.

Wieder schwieg Beate sekundenlang. Dann fragte sie vorsichtig: »Ist etwas, Inge?«

»Ich weiß nicht mehr, woran ich bin, Beate«, brach es endlich aus Ingeborg heraus. »Bertold ist seit einiger Zeit so merkwürdig zurückhaltend am Telefon, er erzählt mir kaum noch etwas. Und im Anfang lief ihm doch das Herz über, da war er so lebhaft und begeistert, wie ich ihn überhaupt nicht kannte. Kein liebes Wort hat er mehr für mich, oder es klingt gezwungen. Anscheinend vermißt er uns überhaupt nicht.«

Beate war ganz bestürzt über diesen Ausbruch. Sollte dort eine andere Frau im Spiel sein, durchzuckte es sie. Aber nein, bei Bertold doch nicht! Er war überhaupt nicht der Typ dafür.

»Du siehst das sicher übertrieben, Ingeborg«, versuchte sie die Freundin zu trösten. »Wenn man immer nur miteinander telefoniert, können sich Mißverständnisse einschleichen. Paß auf, wenn ihr erst wieder zusammen seid, wird alles gut.«

»Meinst du?« Es klang verzagt.

»Ja, das glaube ich bestimmt.« Beate legte alle Überzeugungskraft in ihre Stimme. »Deshalb ist es richtig, daß du hinfliegen willst.«

»Das denke ich eben auch. Uli hat jetzt Osterferien. Er kann es auch kaum erwarten, seinen Papa wiederzusehen. Und überhaupt ist er natürlich ungeheuer gespannt auf unser Haus.«

»Das wird dir doch kaum anders ergehen, Ingeborg. Weiß Bertold schon, daß ihr kommt?«

»Ich habe es ihm gesagt. Er wird uns am Flughafen abholen. Gejubelt hat er aber nicht. Seine Stimme klang sonderbar eng dabei.«

»Das bildest du dir vielleicht alles nur ein«, hielt Beate ihr wiederum entgegen. »Weißt du«, fuhr sie möglichst leichthin fort, »Bertold ist jetzt ein Mann, der einen großen Besitz und ein Vermögen zu verwalten hat. Das mag ihm jetzt erst richtig klargeworden sein und auf den Schultern liegen.«

»Ja, ja«, Ingeborg lachte unfroh auf, »am Ende lebt sich’s leichter, wenn man nichts hat. Na, ich werde schon sehen, was da los ist.«

»Nichts wird los sein, und ihr werdet es schön zusammen haben«, behauptete Beate zuversichtlich. »Das wünsche ich euch. Und vorerst, habt einen guten Flug, und freut euch auf das Sonnenland Florida.«

*

Da waren sie nun!

»Du bist ein bißchen blaß um die Nase«, sagte Bertold, als er sie in Empfang nahm. Er küßte seine Frau flüchtig auf die Wange, nahm den Sohn um die Schulter.

»Ich bin froh, daß ich wieder festen Boden unter den Füßen habe«, bekannte Ingeborg. Sie suchte in der Miene ihres Mannes zu lesen. Er lächelte, er sah gut aus, verjüngt, seine Haut war straff und leicht gebräunt.

»Ich fand’s super, Papa!« rief Uli strahlend aus. Der große Junge zeigte, im Gegensatz zu seiner Mutter, keine Spur von Erschöpfung.

Sie verließen das Flughafengebäude. Bertold führte sie zu einem langgestreckten, chromblitzenden Wagen amerikanischer Bauart.

»Uij, ist das ein toller Schlitten«, staunte Uli hingerissen. »Gehört der uns?« Er hielt nichts mehr für unwahrscheinlich.

»Ja, ich habe ihn gekauft«, antwortete sein Vater auch nur lässig, während er das Gepäck verstaute.

Lässig fuhr er auch an, geradeso, als hätte er nie etwas anderes gefahren als einen Wagen der Luxusklasse.

Uli wußte nicht, wohin er zuerst schauen sollte, sein Kopf ging hin und her. Was für eine Landschaft, Palmen, weiße Häuser und endlose Strände am blauen Meer, die Straßen gesäumt von blühenden Bäumen.

»Ist das eine Schule?« erkundigte er sich eifrig, als aus einem langgestreckten Gebäude eine Schar Jugendlicher kam.

»Ein Internat«, sagte Bertold, der sich inzwischen hier recht gut auskannte. »Die Eltern, die es bezahlen können, schicken ihre Söhne und Töchter von weither dorthin.«

»Mal sehen«, Uli runzelte die Stirn, »eigentlich hatte ich mir ja was vorgestellt, wo ich zu Hause wohnen könnte. Geht das da auch?«

»Das weiß ich nicht«, gab sein Vater einsilbig zurück.

Schweigend verlief der Rest der Fahrt, nur unterbrochen von Ulis sich wiederholender Frage: »Sind wir bald da?« Ingeborg lehnte im weichen cremefarbenen Polster. Es kam ihr alles etwas unwirklich vor.

Noch unwirklicher wurde es, als sie vor Steven-House anhielten. Der Springbrunnen sprühte silberne Fontänen empor, die Villa lag da wie von Künstlerhand gemalt.

»Das ist – beinahe noch schöner, als ich es mir vorgestellt habe«, stammelte Uli. »Was sagst du, Mutti?«

Ingeborg sagte zunächst einmal gar nichts. Der Hausherr schloß die Tür auf, sie gingen hinein. Sie hätte sich gewünscht, daß Bertold ein besonderes, ein herzliches Wort gefunden hätte, da sie nun zum ersten Mal über die Schwelle des Hauses trat. Aber er erklärte nur, führte durch die Räume mit glänzendneuen Seidentapeten an den Wänden, und er tat das mit der Miene eines Mannes, der stolz ist auf das Geschaffene.

Alles war perfekt. Elegante Möbel moderner Stilrichtung fügten sich harmonisch zu einigen wertvollen alten Stücken, die Bertold nicht hergegeben hatte. »Und wo ist nun der Swimmingpool?« wollte Uli wissen, der bis dahin gewissermaßen mit angehaltenem Atem umhergegangen war. Was sich ihm da bot, sah man sonst höchstens nur im Film.

»Durch den Innenhof«, sagte sein Vater.

Aber Ingeborg sah aus, als könnte sie nun keinen Schritt mehr weitergehen. Sie ließ sich in einen der breiten blumengemusterten Polstersessel sinken. »Möchtest du etwas trinken?« fragte Bertold. »Warte, ich hole uns ein Glas Champagner.«

Sie stießen an. Ingeborg suchte seinen Blick. Er lächelte gezwungen. Auch jetzt kamen ihm die Worte, die sie wohl erwartete – Schön, daß ihr da seid – nicht über die Lippen. Sie wären eine Lüge gewesen.

Tatsache war, daß er sich ziemlich mies fühlte.

»Ich stürze mich gleich mal ins Wasser, ja?« Ulis Stimme kippte fast über vor Begeisterung. Er kramte seine Badehose aus dem Koffer, ließ die anderen Sachen umherliegen. Und schon war er wieder fort.

Der Junge war der einzige, der unbefangen blieb, auch, als sie später zum Essen in ein Restaurant fuhren. Ingeborg sollte sich nicht in die Küche stellen, obwohl der Kühlschrank gefüllt war. Gwendolyn hatte ihm eine Haushaltshilfe besorgt, die stundenweise kam.

Gwendolyn…

Er hatte ihr gesagt, daß seine Frau und der Sohn kommen würden. Lange und dunkel hatte sie ihn stumm angesehen, bevor sie sagte: »Übereile nichts. Ich kann warten.«

Aber er wollte nicht warten. Er wollte klare Verhältnisse schaffen, so schnell wie möglich. Freilich würde es nicht leicht sein, den Anfang zu finden. Wie würde er den Jungen enttäuschen müssen, der mit glänzenden Augen alles Neue in sich aufsog.

Und Ingeborg?

Ihr schien alles eher unheimlich vorzukommen, als paßte es nicht zu ihr.

Sie war es dann, die das erste offene Wort sprach, abends, als Uli schon müde und glücklich in sein Bett gesunken war.

»Wäre es besser gewesen, wir wären nicht gekommen?« fragte sie unvermittelt und sehr direkt.

Da es nun soweit war, wich er feige aus: »Sicher solltet ihr kommen…«

Nein, ein Held war er nicht.

»Aber du freust dich nicht darüber, Bertold«, hielt sie ihm entgegen, »Du bist einsilbig und irgendwie abwesend. Du bist mir entgegengetreten wie irgendeinem Gast, den du wohl oder übel empfangen mußtest.«

»Jetzt übertreibst du aber«, murmelte ihr Mann mit abgewandtem Gesicht. »Frag Uli, ob das stimmt.«

»Uli ist viel zu überwältigt, um das bemerkt zu haben. Aber ich spüre schon seit längerem, daß du verändert bist.« Ingeborg machte eine Pause, sie sah, wie sein Mund sich zusammenpreßte.

»Ist da eine andere Frau?«

Sie fragte es eher beiläufig, weil es ihr absurd vorkommen wollte. Bertold war immer ein braver, ein bißchen langweiliger Ehemann gewesen, mit dem wenig Glanz und Farbe ins Alltagsleben zu bringen gewesen war. Gewiß, die Umstände hatten sich grundlegend geändert, aber änderte sich damit auch das Naturell eines Menschen?

Warum schwieg er jetzt? Warum sagte er nicht: Was für ein Unsinn, oder: Wie kannst du nur so etwas denken, oder irgend etwas dergleichen. In diesen Sekunden, die sie eine Ewigkeit dünkten, kam es Ingeborg vor, als lege sich langsam ein Ring um ihre Brust.

»Wenn es so ist«, brachte sie endlich mit leiser Stimme hervor, »brauchst du es mir nur zu sagen. Dann gehe ich wieder.«

Bertold senkte den Kopf. »Ja, Ingeborg«, schwerfällig kamen ihm die Worte über die Lippen, »ich möchte dir nicht weh tun… Aber es gibt da jetzt jemand…« Er stockte. Hilfloses, törichtes Gestammel, mehr war es nicht. Und er wagte es nicht, seine Frau dabei anzusehen.

Ingeborg saß wie erstarrt.

War das nicht alles nur ein schlechter Traum? Daß sie sich in Florida in einer prunktvollen Villa befand, in einem mit kostbarem Seidendamast bezogenen Sessel, einem Mann gegenüber, der ihr Mann war und es offenbar nicht länger sein wollte.

Sie strich sich über die Augen. Ihr Blick wurde wieder klar. Kein Traum, nein. Grausame Wirklichkeit.

Und er wollte ihr nicht weh tun! War das nicht blanker Hohn?

»Wer ist es?« fragte sie. »Eines von diesen blutjungen, ausgeflippten Girls, von denen man hört, daß sie reichen älteren Männern den Kopf verdrehen? Bist du auf so etwas hereingefallen?«

»Nein«, antwortete Bertold schroff, und er merkte, daß er seine Fassung wiedergewann. »Sie ist eine tüchtige, berufstätige Frau. Eine Architektin, auch für Inneneinrichtungen zuständig.«

Seine Lider zuckten. Der Zusatz war überflüssig gewesen.

»Ah so!« Ingeborg erinnerte sich, daß von einer Architektin schon die Rede gewesen war, im Anfang. Später war sie nicht mehr erwähnt worden. Ihr Blick ging umher. »Dann ist das alles wohl ihre Gestaltung hier, draußen wie drinnen?«

»Weitgehend ja«, mußte Bertold zugeben.

»Und wie weit geht eure private Beziehung?« wollte Ingeborg wissen.

»Ich liebe diese Frau, Ingeborg«, bekannte Bertold. »Es ist mein Wunsch, mit ihr zu leben.«

»Hier«, fiel sie ihm ins Wort, und sie hatte auf einmal einen bitteren Geschmack im Mund. »Dieses Luxusnest habt ihr für euch errichtet, nicht für uns. So muß ich das wohl verstehen, oder?«

»So darfst du das nicht sehen«, verteidigte sich der Mann. »Unsere Gefühle füreinander sind erst allmählich gewachsen und haben sich vertieft.«

»So allmählich wohl doch nicht, wenn man die wenigen Monate bedenkt, denen eine langjährige Ehe gegenübersteht«, meinte Ingeborg. »Willst du die jetzt wegwerfen wie ein altes Hemd, das dir nicht mehr paßt?«

Bertold machte eine Kopfbewegung. »Ich bin nicht der erste Mann, der eines Tages seine Freiheit wiederhaben möchte, Ingeborg«, hielt er ihr entgegen. »So etwas geschieht hundert- und tausendfach.«

»Allerdings, ihr Männer macht es euch leicht«, behauptete sie hart. »Man geht, wenn die eigene Frau nicht mehr taufrisch ist und eine Jüngere einem reizvoller erscheint, vor allem, weil sie neu ist.«

»Und du?« Mit einem eigenartigen Blick sah er sie an. Seine Stimme nahm an Schärfe zu. »Daß du mich schon einmal betrogen hast, daran denkst du wohl nicht mehr. Überstunden mußtest du machen, eine Tante am Wochenende besuchen, alles Lüge. Und als ich endlich dahinterkam, erklärtest du mir eiskalt, den anderen zu lieben. Was wäre denn gewesen, wenn er dich wirklich gewollt hätte? Du wärst doch gegangen. Also mache mir keine Vorwürfe. Ich war dir in allen diesen Jahren treu.«

Ingeborg war blutrot geworden. »Das ist schon so lange her«, sprach sie leise, »ich habe es oft bereut.« Unsicher begegnete sie seinem Blick. »Und du würdest es vielleicht auch bereuen, wenn du uns verläßt, Bertold.«

»Ich verlasse euch ja nicht, jedenfalls nicht im Sinne von im Stich lassen«, beteuerte er. »Du sollst die Hälfte des Vermögens haben, damit wirst du immer noch eine reiche Frau sein, und ich werde immer für dich dasein, Ingeborg, wenn du mich brauchst. Und für Uli sowieso. Ich bin und bleibe sein Vater.«

»So einfach ist das«, warf Ingeborg bitter ein.

Sie schliefen getrennt in dieser Nacht. Zimmer gab es ja genug in Steven-House.

*

»Dann ist es wohl das Beste, wenn ich den Koffer gar nicht erst auspacke«, sagte sie am nächsten Morgen, nachdem sie zusammen gefrühstückt hatten. Uli hatte sich schon aufgemacht, die nähere Umgebung zu erkunden.

»Nicht so«, bat Bertold. »Uli wäre zu enttäuscht, er hat doch Ferien.«

»Er wird noch ganz andere Enttäuschungen zu verkraften haben«, sagte Ingeborg herb.

Sie sagten dem Jungen vorläufig nichts, sie ließen ihm noch seine Freude. Er fühlte sich sozusagen als junger Herr hier, er redete mit dem Gärtner, der die Anlage pflegte, stolz, seine Englischkenntnisse anbringen zu können.

Und er war gesprächig, der Mann mit dem runden Strohhut auf dem Kopf.

»Stell dir vor, das war eine Frau, die die Pläne für die Instandsetzung unseres Hauses gemacht hat«, erzählte Uli seiner Mutter. »Sie heißt Gwendolyn Roberts und hat ihr Büro in Lake City. Ich weiß ja nicht, wie es vorher ausgesehen hat. Aber auf alle Fälle kann die was.«

Auf diese Weise kannte Ingeborg nun den Namen.

Sie dachte viel darüber nach, ob sie um ihre Ehe kämpfen sollte. Aber wollte sie sich soweit demütigen, die ANDERE aufzusuchen? Lohnte es sich noch, zu kämpfen?

Bertold schien doch jedes Interesse an ihr als Frau verloren zu haben. Er gab sich freundlich, höflich und gehalten, eben wie zu einem Gast. Wenn Uli nicht geredet hätte, so wäre wohl mehr als einmal nichts als Schweigen zwischen ihnen gewesen.

Wenn diese Tage nur schon vorüber wären…

Aber was würde dann sein? Eine große Leere. Und Qualen der Eifersucht, ja, auch das. Gewisse Vorstellungen, die sie kaum von sich weisen konnte. Bertold war nie ein temperamentvoller Liebhaber gewesen. Würde er es bei der anderen sein?

Was galt ihr das viele Geld, das er ihr zugestehen wollte. Was sollte sie damit. Die teuren Modellkleider konnte sie sich kaufen, die sie früher manchmal in eleganten Geschäften bewundert hatte. Nun würden sie nicht mehr unerschwinglich für sie sein. Eine große Wohnung, oder auch ein Haus, annähernd luxuriös wie dieses. Bertolds Schritte würde sie nicht mehr darin hören. Eine einsame, getrennt lebende Frau, mit einem Sohn, der in einigen Jahren auch seine eigenen Wege gehen würde.

»Heute könnten wir mal in den Nationalpark fahren«, schlug Bertold an diesem Tag vor. »Das ist ein in der Welt einzigartiges Biotop, ein riesiges Naturgebiet mit seltenen Tieren und Pflanzen. Es wird euch begeistern.«

»Ich glaube, ich möchte nicht mit«, sagte Ingeborg.

»Warum denn nicht?« Mit runden Augen sah ihr Sohn sie an. »Ist dir nicht gut? – Die Mama hat sich immer noch nicht aklimatisiert«, wandte er sich an seinen Vater.

Ingeborg blieb zu Hause – wenn es denn ein Zuhause für sie gab. Sie schwamm ein paar Runden im Pool, dann wollte sie sich auf einer der breiten Liegen ausstrecken, die dort standen.

Aber plötzlich hatte sie keine Ruhe mehr.

Es fuhr ein Bus nach Lake-City. Wie, wenn sie die Abwesenheit ihrer beiden nutzte, um selbständig etwas zu unternehmen. Gwendolyn Roberts aufsuchen, zum Beispiel.

Ihr Herz klopfte rascher bei diesem Gedanken. Aber vermutlich war sie gar nicht im Büro anzutreffen am Vormittag. So eine Frau war sicher viel unterwegs… Einfach mal hinfahren, und alles andere dem Zufall überlassen.

Sie fand die Adresse im Telefonbuch. Sie stieg vom Bus in ein Taxi um und gab sie dem Chauffeur an. Er hielt vor einem Haus, in dem sich mehrere Büros befanden, unter anderem das von Gwendolyn Roberts.

Eine Sekretärin empfing sie.

»Ja, Miß Roberts ist da. Haben Sie einen Termin?«

»Nein. Ich möchte sie in einer privaten Angelegenheit sprechen.«

»Wen darf ich melden?«

»Frau Basler«, sagte Ingeborg mit fester Stimme.

Zwei Minuten später stand sie im Türrahmen, Gwendolyn Roberts, schlank, schlicht gekleidet in Rock und Bluse, das Gesicht mit der hohen Stirn und dem großzügig geschwungenen Mund etwas blaß, das blonde Haar kurz und glatt zurückgekämmt.

Nein, das war kein Vamp, keine Person, die es darauf anlegte, einer Frau den Mann wegzunehmen. Ingeborg, deren Sicherheit bisher nur gespielt war, wurde etwas ruhiger.

»Bitte kommen Sie«, sagte Gwendolyn Roberts mit einer einladenden Geste und forderte die Besucherin auf, neben ihrem Schreibtisch Platz zu nehmen. Aber Ingeborg zog es vor, stehenzubleiben.

»Ich nehme an, Sie werden wissen, warum ich Sie aufsuche, Frau Roberts«, begann sie.

»Ja. Ich finde es allerdings erstaunlich, daß Bertold Ihnen meinen Namen und meine Adresse genannt hat«, bemerkte Gwendolyn.

»Das hätte er wohl niemals getan. Ich habe es durch einen Zufall erfahren. Er hat mir nur gesagt,wie Sie zueinander stehen, und daß es für ihn kein Zurück mehr geben soll.« Mit einem langen Blick sah sie die andere an. »Warum haben Sie es dazu kommen lassen? Sie wußten doch, daß er verheiratet war.«

Gwendolyn Roberts schüttelte den Kopf. »Ich wußte es lange nicht. Wie sollte ich die persönlichen Verhältnisse meines Auftraggebers kennen. Er trug auch keinen Ehering.«

»Es gibt mehr Männer, die keinen tragen. Bertold ist er irgendwann abhanden gekommen. Und als Sie es dann wußten? Sie sehen nicht aus, als wären Sie skrupellos genug, sich über moralische Bedenken hinwegzusetzen.«

»Ich würde auch keine Ehe zerstören, Frau Basler. Aber wenn diese Ehe doch nur noch auf dem Papier besteht…«

»Hat er Ihnen das gesagt?« fiel Ingeborg ihr ins Wort, während eine Röte in ihre Wangen stieg.

»Ja. Und dann soll man sich nicht daran klammern, wenn doch keiner mehr glücklich dabei sein kann. Der Sohn soll seinen Vater deshalb nicht verlieren. Er wird in seinen Ferien immer bei uns willkommen sein. Mit dieser Regelung werden Sie als Mutter hoffentlich einverstanden sein.«

Mit welcher Selbstverständlichkeit sie redete. Ingeborgs Atem beschleunigte sich.

»Für Sie ist wohl alles schon recht klar, Frau Roberts. Sie sind doch eine kluge Frau, denke ich. Aber daß mein Mann Sie angelogen haben könnte, kommt Ihnen wohl nicht in den Sinn?«

»Wie meinen Sie das?« fragte die Architektin irritiert.

Ingeborg straffte sich. »Ich liebe meinen Mann, und es ist nicht so, daß unsere Ehe nur noch auf dem Papier bestand. Sie war gut und in Ordnung, wenn auch ein himmelhochjauchzendes Glück erster Verliebtheit einer ruhigen Beständigkeit weicht im Laufe vieler Jahre. An ein Auseinandergehen haben wir nicht gedacht, auch nicht, als sich unsere Lebensverhältnisse vor einigen Monaten grundlegend änderten. Jetzt auf einmal soll alles vorbei sein? Das können Sie nicht wollen.«

Gwendolyn, die ihr gegenüberstand, hatte die Arme über die Brust gekreuzt, als sei ihr kalt geworden.

»Er wollte es«, sagte sie. Sie tat ein paar Schritte in den Raum hinein, der von kühler, moderner Sachlichkeit geprägt war und nach Arbeit aussah. Dann wandte sie sich wieder nach der Besucherin um. »Er soll es mir selber sagen, wo die Wahrheit liegt, Frau Basler. Und jetzt entschuldigen Sie mich bitte, ich habe zu tun.«

*

Sie waren am Abend erst spät zurückgekommen. Uli erzählte viel und ausführlich von dem Geschehenen und Erlebten, dann zog sich jeder in sein Zimmer zurück. Erst am nächsten Tag erzählte Ingeborg ihrem Mann, wie sie die Zeit des Alleinseins genutzt hatte.

Bertold hatte die Farbe gewechselt.

»Was wolltest du bei ihr?« fragte er schroff, mit geröteter Stirn.

»Sie kennenlernen«, sagte Ingeborg, »und einiges richtigstellen. So habe ich ihr gesagt, daß unsere Ehe nicht schlechter war als hunderttausend andere auch. Und daß ich dich immer noch liebe, Bertold, auch wenn ich es lange nicht mehr gesagt habe.«

»Wie hat Gwendolyn darauf reagiert?« fragte er mit angehaltenem Atem, als gäbe es nichts Wichtigeres für ihn.

»Sie will es von dir selber hören.« Ingeborg streckte ihre Hand nach ihm aus. Aber mutlos ließ sie sie wieder sinken angesichts seiner verschlossenen, abweisenden Miene. Dennoch sagte sie flehend: »Bleib bei uns, Bertold. Verkaufe das Haus, oder vermiete es. Es bringt uns kein Glück, auch dir nicht. Komm in die Heimat zurück.«

»Nein«, sagte er hart, und er wiederholte: »Nein, Ingeborg. Ich bleibe hier. Es bleibt dabei, wie wir es besprochen haben. Verzeih mir, aber ich kann nicht anders.«

Sie mußten es nun dem Sohn sagen, daß seine heile Welt in Stücke brach.

»Wieso wollen wir schon heimfliegen?« fragte er bestürzt. »Meine Ferien sind noch nicht zu Ende.«

»Dein Vater kann uns hier nicht brauchen«, sagte seine Mutter herb.

Ungläubig legte er den Kopf zurück. »Warum sagst du so was? Ich versteh’ mich doch prima mit ihm.«

»Aber ich nicht mehr, Uli«, brachte Ingeborg etwas mühsam hervor.

Der Junge, er war schon beinahe so groß wie sie, runzelte die Stirn. »Ich habe schon gemerkt, daß zwischen euch irgend was nicht stimmt. Was habt ihr denn? Du kannst dich hier nicht richtig eingewöhnen, nicht?«

»Ich versuche es erst gar nicht. Weil ich nämlich nie mehr hierher kommen werde.«

»Wieso?« fragte Uli verständnislos. »Das gehört uns doch jetzt. Wollen wir denn nicht eines Tages ganz hierbleiben, wenn Papa das mit der Schule für mich geregelt hat? Ich finde es toll hier.«

»Nein«, sagte Ingeborg tonlos. »Steven-House gehört deinem Vater. Er will mit einer anderen Frau hier leben, die er kennengelernt hat. Dafür will er sich von uns trennen.«

»Das ist nicht wahr!« rief Uli aus. Helle Röte schoß in sein schmales Jungengesicht. »Das glaube ich einfach nicht!«

»Frag ihn selber«, sagte seine Mutter.

Uli richtete sich steil empor und stürmte hinaus. Er fand seinen Vater am Pool, wo er gerade aus dem grünschillernden Wasser stieg.

»Ist es wahr, daß du uns hier nicht mehr haben willst?« stieß er hervor.

»Warte, bis ich mich angezogen habe, Uli. Dann gehen wir ein Stück zusammen, und ich werde dir alles erklären.«

Ein Vierzehnjähriger war kein Kind mehr. Er hörte von Klassenkameraden, daß Eltern auseinandergingen, weil sie sich nicht mehr vertrugen, es nur noch Streit und böse Worte gegeben hatte. Aber bei ihnen war das doch nicht der Fall gewesen! Sie hatten doch in Frieden zusammen gelebt!

Jetzt sagte ihm sein Vater, daß er eine andere Frau liebte und nicht mehr von ihr lassen wollte.

»Aber wieso denn auf einmal?« fragte der Junge. »Wenn die von hier ist, kennst du sie doch noch gar nicht lange. Es ist eine Fremde für dich.«

»Das geschieht im Leben, daß Fremde plötzlich Liebende werden, Uli. Da wird man nicht gefragt. Es ist einfach da, ganz stark und unwiderruflich.«

Uli starrte zu Boden, während sie dahingingen. Er hatte so etwas schon im Fernsehen gesehen. Eine andere Frau, ein anderer Mann, und auf einmal waren da nur noch dramatische Verwicklungen. Aber das waren Filme, und alles war nur gespielt.

Nun sollte das bei ihnen Wirklichkeit werden.

»Und die Mama und ich, wir gelten dir nichts mehr?« fragte er verstört.

»So ist das nicht, mein Junge«, sprach Bertold ernst. »Wir werden immer verbunden bleiben, und ich werde Sorge tragen, daß es euch gutgeht. Das habe ich deiner Mutter auch schon gesagt.«

»Aber du bist doch dann weit weg, und wir sehen uns überhaupt nicht mehr!« rief Uli.

»Sicher werden wir uns wiedersehen. Das ist kein Problem. Schon in den großen Ferien kannst du zu uns kommen und wirst eine herrliche Zeit haben.«

»Zu uns, sagst du.« Uli sah mit großen Augen zu ihm auf. »Damit meinst du dich und die andere Frau. Wie soll das denn gehen?«

»Gut wird das gehen, Uli«, versicherte ihm sein Vater überzeugt. »Sie ist sehr nett. Du wirst sie bestimmt mögen und sie dich auch. Du bist doch schon ein großer verständiger Junge.« Er legte seinem Sohn die Hand auf die Schulter, und zusammen gingen sie schweigend weiter.

*

Silvie Katarina Eckert erblickte an einem Sonntag um fünf Uhr früh die Welt. Erschöpft und glücklich hielt Beate ihr Baby in den Armen. Ein Sonntagskind! Sie war nicht abergläubisch, aber sie wünschte doch, daß es eine Bedeutung für ihr Töchterchen haben möge.

Felix, der große Bruder, kam, und er legte seiner Mama mit einer unbeholfenen, verlegenen Geste einen schönen Blumenstrauß hin, den er von seinem Taschengeld gekauft hatte. Auch sein Vater lächelte etwas unsicher.

»Natürlich freue ich mich«, sagte er und küßte seine Frau auf die Stirn. Aber er wagte es kaum, das winzige Geschöpflein zu berühren.

Von allen Seiten kamen Gratulanten und herzliche Wünsche für Mutter und Kind. Zu Beates Überraschung kam auch eine Glückwunschkarte von Dr. Clemens Fabricius.

»Klar doch habe ich das Sandra mitgeteilt, daß sie jetzt endlich da ist«, erklärte Felix. »Wir müssen doch immer voneinander wissen, was los ist. Wir bleiben uns treu«, fügte er mit drollig-wichtiger Miene hinzu.

Nur von ihrer engsten Freundin Ingeborg hörte Beate nichts. Sie verstand das nicht. Ingeborg wußte doch, daß das Baby jetzt da sein mußte. Warum meldete sie sich nicht einmal aus Florida? Eigentlich müßte sie auch schon wieder zu Hause sein, denn die Schule hatte begonnen. Sie konnten doch nicht gleich dort bleiben. Oder doch?

Endlich, nach mehreren Versuchen, nahm jemand den Hörer ab. Ingeborg.

»Ja, sag einmal, du willst wohl gar nichts mehr von uns wissen?« brachte Beate lebhaft hervor. »Unsere Silvie ist schon vierzehn Tage alt. Möchtest du sie nicht kennenlernen?«

»Doch, schon«, antwortete Ingeborg eher zögernd. »Ist denn alles gutgegangen, Beate?«

»Ja, Mutter und Kind sind wohlauf, wie man so sagt.« Beates Stimme klang heiter. »Seit wann seid ihr denn wieder im Land?«

»Seit acht Tagen.«

»Waas? Und da meldest du dich nicht? Dafür müßte ich dir eigentlich böse sein. Ich habe schon ein paarmal probiert, dich zu erreichen.«

»Ich bin gar nicht mehr ans Telefon gegangen. Entschuldige«, kam es gepreßt zurück.

»Ingeborg!« Beate erschrak. »Was ist mit dir? Bist du krank, ist Bertold nicht bei dir?«

»Nein. Bertold ist in Florida geblieben. Wir gehen fortan getrennte Wege.« Es klang sehr bitter.

»Das darf doch nicht wahr sein«, sagte Beate schockiert. »Was ist denn da passiert, um Himmels willen?«

»Er hat eine andere kennengelernt, mit der er in seinem wunderbaren Haus in Glanz und Freuden leben will«, erklärte sie im gleichen Ton.

Sekundenlang verschlug es Beate die Sprache. »Bertold doch nicht«, stammelte sie dann fassungslos.

»Ja, da staunst du, was. Das hättest du ihm auch nicht zugetraut. Aber anscheinend kennt kein Mensch den anderen wirklich.«

Beate holte Atem. »Er wird wieder zur Besinnung kommen, Ingeborg. Das kann doch nur eine augenblickliche Verwirrung sein.«

»So sieht es nicht aus. Eher nach großer Liebe!«

Beate stieß die Luft durch die Nase aus. »Das mag er sich jetzt einbilden«, sagte sie unwillig. »Wer ist sie denn, hast du eine Ahnung?«

»Es ist die Architektin, von der von Anfang an die Rede war. Ich habe sie sogar aufgesucht…« Sie schwieg bedeutungsvoll.

»Oh –«, machte Beate. »Das mag dich aber einiges gekostet haben.«

»Ganz kampflos wollte ich meine Ehe doch nicht aufgeben. Aber ich werde wohl die Unterlegene bleiben. Sie ist eine starke Persönlichkeit.«

»Das darfst du nicht sagen. Du solltest dich überhaupt nicht so total niederschmettern lassen, Ingeborg. Bertold hängt doch auch viel zu sehr an Uli, um ihn verlieren zu wollen.«

»Darin sieht er kein Problem. Der Junge kann immer zu ihm kommen. Zwölf Stunden Flug, was ist das schon, nicht wahr? Und über mich will er auch seine Hand halten, sein Vermögen mit mir teilen. Ist das nicht sehr edel gedacht von ihm?« Bittere Ironie klang aus ihren Worten.

Sie tat Beate unendlich leid. Daß es doch im Leben immer so viel Irrungen und Wirrungen geben mußte.

»Weißt du was, setz dich am Wochenende in den Zug und komm nach Hamburg«, schlug sie vor. »Mit dem ICE kannst du in fünf, sechs Stunden hier sein. Uli bringst du mit, dann sehen die Jungs sich auch mal wieder. Nils kann mit den beiden etwas unternehmen. Dann haben wir Zeit für uns.«

»Du kannst mir auch nicht helfen, Beate«, sagte Ingeborg müde.

»Manchmal hilft auch schon reden«, meinte Beate energisch. »Jedenfalls mußt du raus aus dem

dunklen Loch, in das du anscheinend gefallen bist. Schon um Ulis wegen. Wie nimmt er denn eigentlich die ganze Geschichte auf?«

»Zuerst war er natürlich ziemlich verstört. Aber sein Vater scheint mit ihm geredet zu haben, sozusagen von Mann zu Mann. Beinahe habe ich den Eindruck, daß er sich irgendwie solidarisch mit ihm fühlt. Mit seiner Mutter ist anscheinend auch nicht mehr viel Staat zu machen.«

»Tz, tz«, machte Beate, »weil dein Mann plötzlich einen zweiten Frühling erlebt, brauchst du keine Minderwertigkeitskomplexe zu bekommen. – Hör mal«, unterbrach sie sich, und sie ging mit dem Telefonhörer näher zur Wiege, darin ihr Baby jetzt sein Hungergefühl kundtat, »Silvie will dich grüßen. Sie ist so süß, du glaubst es nicht. Schon ihretwegen mußt du kommen.«

Sie erzählte es Nils, was bei den Baslers zugange war.

Er lachte.

»Sieh mal an, der spießige Bertold. Wer hätte ihm das zugetraut.«

Es klang beinahe anerkennend.

»Das ist aber nicht zum lachen, Papa«, sagte Felix ganz vorwurfsvoll, der es mitgekriegt hatte. »Ich finde das ziemlich gemein. Du würdest das nie tun, uns einfach fortschicken.«

»Wenn das so weitergeht, daß die Mutti zehnmal in der Nacht aufsteht und nach Silvie sieht, vielleicht doch«, äußerte sein Vater.

Da sprang der Sohn ihn an, trommelte mit den Fäusten auf den breiten Brustkorb des Mannes. »So was darfst du nicht mal im Spaß sagen, sonst mach’ ich einen Ringkampf mit dir, wirste schon sehen!« drohte er.

»Versuch’s doch.« Schmunzelnd nahm Nils den Sohn in einen Griff, aus dem er sich nur noch zappelnd befreien konnte.

Beate erschrak, als sie Ingeborg wiedersah.

Was war aus der einst so gutaussehenden Freundin geworden! Über die Jahre hinaus gealtert erschien sie ihr, und sie hatte, seltsamerweise, eher noch einige Pfunde zugenommen. Wahrscheinlich hatte sie zuwenig Bewegung.

Ihre Tätigkeit bei Dr. Harmsen hatte sie aufgegeben, um einer Stellungssuchenden Platz zu machen, die Geldverdienen nötig hatte.

»Du solltest dein Leben radikal ändern«, riet ihr Nils. »Zieh aus deiner alten Wohnung aus und richte dich vollkommen neu ein, so wie es deinen jetzigen Verhältnissen entspricht. Du bist doch nun eine reiche Frau. Wenn Bertold in

einer Luxusvilla wohnt, brauchst du nicht in einer bürgerlichen

Dreizimmerwohnung zu versauern.«

»Nein, ich bleibe vorläufig da wohnen«, widersprach Ingeborg mit starrer Miene. »Vielleicht –« Sie vollendete den Satz nicht, aber die Freunde wußten, was sie meinte. Ein Funken Hoffnung war doch noch in ihr, daß der Mann zurückkommen könnte.

Nils zuckte nur die Achseln, Beate war voller Mitgefühl. Es war sicher noch zu früh für sie zu handeln. Auch sie, Beate, wollte doch an eine Umkehr glauben. Man mußte die Zeit für sich arbeiten lassen.

Der Meinung waren auch Ingeborgs Schwiegereltern, die sich auf die Seite der Verlassenen gestellt hatten. Sie entrüsteten sich über den Sohn, den sie stets für den solidesten Ehemann gehalten hatten und dem plötzlich die eigene Frau nicht mehr gut genug war.

»Was haben wir nun von der Riesenerbschaft, eigentlich gar nix«, sagte Uli verdrossen zu dem zwei Jahre jüngeren Felix. »Meine Mutter hat unseren Anteil einem Vermögensverwalter übergeben, statt ordentlich was damit anzufangen. Es ist stinklangweilig bei uns.«

»Sie ist traurig, das mußt du verstehen«, meinte Felix altklug. »Und du brauchst dich doch nicht zu beklagen, wo du schon so eine tolle Flugreise gemacht hast. Ich denke, in den Sommerferien fliegst du schon wieder hin? Da wird dir doch nicht langweilig.«

»Ja.« Uli blickte zum Himmel, als sähe er sich dort schon im Flieger. »Nur, genau, wie das dort wird, weiß ich noch nicht«, fügte er zögernd hinzu.

*

Sie ließ ihn fort, den Sohn, als es soweit war. Halten konnte sie ihn doch nicht. Die vier Wochen ohne ihn mußten herumgebracht werden.

Ingeborg blieb ein paar Tage bei den Schwiegereltern, dann fuhr sie gen Norden, nicht ohne bei den Hamburgern Station zu machen.

»Nach Amrum willst du«, äußerte Beate bedenklich. »Wirst du dich da nicht doppelt einsam fühlen, wo ihr schon mehrmals gemeinsam Ferien verbracht habt? Fahr lieber woanders hin.«

»Ich gehe nicht in die Pension, sondern in das beste Hotel auf der Insel. Vorher werde ich mir hier noch ein paar schicke Sachen kaufen, soweit es die für meine Größe überhaupt gibt.«

»Ich besuch dich da mal mit Papa«, sagte Felix schnell. »Wir wollen sowieso ein paar Fahrten machen. Mama kann ja nicht weg, wegen Silvie.«

»Was hörst du denn aus Florida?« erkundigte sich Beate, um von dem Thema abzulenken. Nils erlebte das zum ersten Mal, wie viele Zeit und Zuwendung ein Baby bedurfte. Wohl oder übel nahm er es hin, manchmal mit kaum unterdrückter Ungeduld. Das Glück, das eine junge Mutter dabei empfand, konnte der Mann nicht nachvollziehen.

»Nur, daß Uli gut angekommen ist, hat man mir mitgeteilt«, antwortete Ingeborg auf ihre Frage und wandte sich ab.

Das beste Hotel mit perfekten Service und die neuen Kleider vermochten es auch nicht, Ingeborg die sich endlos dahinziehenden Tage zu versüßen. Es waren nur Ehepaare und Familien hier. Sie suchte und fand keinen Anschluß.

Früher wäre ich nicht allein geblieben, dachte sie manchmal. Da hatte sie sich oft nach Abwechslung und einem bunteren Leben gesehnt. Jetzt schien ihr alles null und nichtig geworden zu sein.

Sie fuhr früher als geplant wieder nach Hause, um sich in ihrer Wohnung zu verkriechen. Dann kam der Tag, an dem sie Uli vom Flughafen abholen konnte. Er sah gut aus, nicht mehr ganz so schmal durch das rasche Wachstum der letzten beiden Jahre. Seine Schultern schienen breiter geworden zu sein. Es fiel ihr jetzt erst auf. Er war auf dem Wege, vom Knaben zum Jüngling zu reifen.

»Das waren die schönsten Ferien meines Lebens«, erzählte er. »Mein Vater hat mir viel gezeigt. Ich kenne jetzt schon viel von dem Land, bis nach Mexiko hin. Nur schade, daß du nicht dabei warst.«

»Ich«, sagte Ingeborg, und die Zunge schien ihr schwer im Munde zu liegen, »wäre dabei wohl völlig überflüssig gewesen.«

Er sah sie an, auch sein Blick war nicht mehr kindlich, sondern eher wissend. »Wir waren die meiste Zeit allein, falls du etwas anderes denkst, Mutti. Ja, Papa lebt allein in Steven-House.«

»Sie – wohnt nicht bei ihm?« fragte Ingeborg stockend.

»Nein. Sie will es wohl nicht. Als ich ihn gefragt habe, was denn nun wäre, hat er gesagt, sie wollte ihre eigene Wohnung behalten. Sie kommt nur manchmal. So ist sie ja ganz nett. Gwendolyn heißt sie. Aber ich glaub’ nicht, daß mein Vater froh ist über das, was er mit uns gemacht hat.« Er faßte nach der Hand seiner Mutter. »Jetzt bin ich erst mal wieder bei dir, Mutti, und ich laß dich auch nicht mehr so lang allein.«

»Hauptsache, du hast es schön gehabt«, sagte Ingeborg gepreßt. Viele Gedanken schwirrten ihr durch den Kopf.

»Ja, schon«, gab Ulli zu. »Aber besser wäre es, wenn wir doch zusammen wären, und nicht er dort und wir hier.«

*

Mit einem ernsten, klaren Blick hatte Gwendolyn ihn angesehen, damals, als seine Familie wieder abgeflogen war.

»Deine Frau war bei mir«, sagte sie. »Ich weiß nicht, ob sie es dir erzählt hat.«

»Ja. Und sie hat die Dinge wohl etwas anders dargestellt, als ich es getan habe«, antwortete Bertold.

»Allerdings. Und wo liegt nun die Wahrheit?«

»Die Wahrheit ist, daß ich dich liebe, Gwen«, sprach Bertold eindringlich. »Ingeborg kann mich nicht mehr halten, auch wenn sie das möchte. Es macht doch keinen Sinn, mit dir über meine Ehe zu diskutieren. Sie ist – wie ein ausgeleiertes Band, das nicht mehr faßt.«

»Für deine Frau aber anscheinend nicht«, warf Gwendolyn ein.

»Ich habe mich von ihr getrennt, Gwendolyn, Liebe. Du bist die Frau, mit der ich leben und glücklich sein möchte.«

So hatte er um sie geworben, die er schon für sich gewonnen zu haben glaubte. Aber sie wollte ihre Eigenständigkeit nicht aufgeben. Sie blieb immer nur Gast in Steven-House, auch wenn es dort glückliche Stunden für sie gab. Sie tummelten sich am Pool, sie kochte etwas für sie beide und tranken Wein dazu, sie küßten und umarmten sich.

Doch sie zog sich immer wieder zurück, behielt gewissermaßen ihre eigene Welt. Damit würde er sich abfinden müssen.

*

»Ich werde das Angebot annehmen«, sagte Dr. Clemens Fabricius zu seiner Frau. Er hatte einen entschlossenen Zug um den Mund. »Bitte, habe Verständnis dafür, Bianca.«

»Warum muß es denn ausgerechnet Hamburg sein?« begehrte sie auf und warf mit einer nervösen Geste das volle rotblonde Haar zurück. »Mich zieht es nicht in diese Stadt. Wenn ich früher ein Konzert dort gab, erschien mir Hamburg immer als eine kalte graue Stadt.«

»Aber das stimmt doch gar nicht. Wenn du erst da lebst, wirst du sie mit anderen Augen betrachten. Es ist eine schöne, weltoffene Stadt, in der man sich durchaus wohl fühlen kann. Bianca!« Er trat einen Schritt auf sie zu und legte die Hand auf ihren Arm. »Jetzt geht es vor allem darum, daß ich wieder in Ruhe arbeiten kann. Du weißt, daß mir die Zustände in der Rosenberg-Klinik allmählich unerträglich geworden sind, seit dieser neue Chef da ist, der weniger Erfahrung hat als ich und dennoch alles besser wissen will. Mit diesem arroganten Typ will ich nichts mehr zu tun haben, außerdem nehmen die Intrigen in der Kollegenschaft überhand. Ich habe das nicht nötig, mich dem zu beugen. Ich weiß, was ich kann.«

»Ja, ja, das verstehe ich schon«, gab Bianca zu, »aber…«

»Kein Aber, bitte«, unterbrach er sie. »Es ist eine glänzende Position, die man mir in Hamburg anbietet. Ich werde dort weitgehend freie Hand haben, das ist mir ganz wichtig.«

»Dann müssen wir unser Haus hier aufgeben«, klagte sie. »Wie sollen wir so etwas wiederfinden?«

»Es wird sich etwas Gleichwertiges finden lassen, Bianca«, beruhigte er sie. »Es werden immer Immobilien angeboten. Ich werde einen Makler beauftragen. Mach dir darum keine Sorgen.«

»Und dann ein Umzug, du lieber Himmel, das steht wie ein Berg vor mir«, seufzte sie. »Dabei will ich doch ein Konzert vorbereiten für die Musikfestspiele in Heidelberg.«

»Das sollst du auch. Ich werde dir den Rücken schon freihalten. Sei gut«, bat er und strich mit dem Handrücken über ihre Wange.

Aber sie war noch nicht fertig mit ihren Einwänden. »Was werden die Kinder dazu sagen, daß sie dann die Schule wechseln müssen?«

»Darin sehe ich kein Problem«, versetzte Clemens. »Kinder vermögen sich schnell auf etwas Neues einzustellen.«

Damit sollte er zumindest bei seinen beiden recht behalten. Die sensible Sandra hatte schon längst gemerkt, daß ihr geliebter Vater nicht mehr gern in die Klinik fuhr und abends unfroh zurückkam.

Und daß sie nun nach Hamburg ziehen sollten, das war doch überhaupt das Größte! Sie lachte, sie klatschte in die Hände.

»Dann sehe ich doch den Felix mal wieder. Uij, bin ich gespannt, was aus dem geworden ist.«

»Ist das der, mit dem du manchmal telefonierst«, sagte ihr kleiner Bruder Daniel, der allerdings auch schon ein Schulbub war.

»Klar. Es gibt doch nur einen Felix.« Aber ihre frohe Miene wurde danach ernst und nachdenklich. »Der hat ziemlichen Kummer«, fügte sie unvermittelt hinzu und schob die feingezeichneten Augenbrauen zusammen.

»Was hat der für Kummer?« fragte Daniel, wenn auch einigermaßen uninteressiert.

»Sein Schwesterchen ist viel krank, hat er mir erzählt. Sie hat schon ein paarmal Angina gehabt, und jetzt soll sie was mit dem Herzen haben. – Papa?« Sie sah zu ihrem Vater hin, der von seiner Zeitung aufblickte. »Vielleicht, wenn du erst in Hamburg bist, könntest du der Silvie helfen.«

»Wer ist Silvie?« fragte Dr. Clemens Fabricius abwesend, denn er hatte nicht hingehört.

»Die Schwester von Felix, Papa. Um die macht sich seine Mutter ganz viel Sorgen. Seine Mama

Beate hast du doch auch gekannt. Die war unheimlich nett. Ich weiß noch genau, wie sie ausgesehen hat.«

»Ja… ja, ich auch«, sagte sein Vater, und das Bild der schlanken Frau mit den warmblickenden braunen Augen stand plötzlich leibhaftig vor ihm. »Und wobei soll ich helfen?«

Sandra wiederholte, was sie von Felix wußte.

»Das tut mir leid«, sagte Clemens mit einer Kopfbewegung. »Wie alt ist die Kleine denn jetzt?«

»Hm, so – zweieinhalb, glaub’ ich«, antwortete Sandra.

»Wahrhaftig, schon«, entfuhr es ihrem Vater. Man konnte sich doch immer nur fragen, wo die Zeit blieb.

»Vielleicht kannst du da was machen«, wiederholte sein Töchterchen hoffnungsvoll.

»Sandra, ich bin kein Kinderarzt, und Frau Eckert wird sicher schon einen guten Arzt haben, der ihrer Silvie hoffentlich helfen kann«, sagte Clemens Fabricius und griff wieder nach seiner Zeitung.

*

»Na komm«, ermunterte Nils das Kind und streckte ihm seine große, kräftige Hand hin, damit es sein winziges Händchen hineinlegen sollte. »Ein paar Schritte wirst du doch gehen können.«

Aber die Kleine schüttelte nur matt den Kopf und ließ sich wieder zurücksinken. »Weh«, klagte sie und deutete auf ihre dünnen Beinchen, die an den Knöcheln und am Handgelenk deutliche Anschwellungen zeigten. Mit einem ungeduldigen Seufzer richtete Nils sich

auf.

Dieses blasse, hinfällige Kind – Gott verzeih ihm, aber er konnte es nicht lieben. Es war eine Last für ihn. Tag um Tag, nur Rücksichtnahme auf die kranke Silvie, eine Frau, die ans Haus gefesselt war und sich in Sorge verzehrte. Wahrhaftig, er hatte sich sein Leben anders vorgestellt. »Sie will einfach nicht«, sagte er unwillig zu seiner Frau, die gerade mit einer Wattepackung eintrat, die sie um die erkrankten Gelenke wickeln wollte, wie der Arzt es empfohlen hatte.

»Sie kann nicht«, betonte Beate mit einiger Heftigkeit. »Wenn du es nur einmal begreifen wolltest, daß sie einfach die Kraft nicht hat. Sie kann doch nichts dafür.«

»Ich kann auch nichts dafür, daß mir diese ganze Geschichte mehr und mehr unerträglich wird. Wie lange geht das nun schon, und wie lange soll es noch so weitergehen?« gab er bissig zurück.

»Diese ganze Geschichte«, wiederholte Beate die Worte, die sich ihr ins Herz bohrten. »Es ist unser Kind, Nils!« Wild schüttelte sie den Kopf. Daß er ihr doch nicht zur Seite stand! Warum konnten sie das Leid nicht gemeinsam tragen, sich gegenseitig ein Halt sein?

Felix, der in der Tür gestanden und Zeuge dieser Szene geworden war, zog sich bedrückt zurück. Es war schlimm, daß er ein krankes Schwesterchen hatte. Aber fast genauso schlimm war es, daß seine Eltern sich nicht mehr gut verstanden, so wie früher.

Tag und Nacht dachte Beate darüber nach, ob sie Silvie operieren lassen sollte. Ihr Mann überließ ihr die Entscheidung.

Durch die verschiedenen Anginen, so hatte der Arzt ihr erklärt, hatte Silvie einen Herzklappenfehler erworben. Es waren Veränderungen daran entstanden, die dazu führten, daß die Klappen das Blut nicht mehr richtig von einem Herzteil zum anderen weiterleiteten. Dadurch mußte das kleine Herz verstärkt arbeiten, Herzwasser über den Knöcheln mit Entzündungshitze und Erschöpfungsanzeichen stellten sich ein.

Immer hatte sie gehofft, daß durch sorgfältigste Pflege, Schonung und die entsprechenden Medikamente der Zustand ihres Kindes sich bessern würde. Die Vorstellung, daß das zarte Geschöpfchen unter das Messer kommen sollte, war ihr schrecklich.

Aber es gab wohl keinen anderen Ausweg mehr.

Mitten in diese quälenden Überlegungen einer Mutter hinein kam ein Anruf, mit dem Beate zu allerletzt gerechnet hätte.

»Fabricius«, sagte eine angenehme Männerstimme. »Spreche ich mit Frau Beate Eckert?« Sie hatte sich nur mit einem müden »Hallo«, gemeldet.

»Ja –« Sie war so überrascht, daß sie im Moment kein weiteres Wort hervorbrachte.

»Wie geht es Ihnen, Frau Eckert? Wir haben lange nichts mehr voneinander gehört, nur über unsere Kinder, die nun schon bald keine Kinder mehr sind.«

»Das ist wahr. Die Jahre fliegen dahin. Aber ist es nicht reizend, daß diese Sandkastenfreundschaft noch besteht?«

»Gewiß. Bald werden meine Sandra und Ihr Felix sich auch einmal wiedersehen. Ich habe nämlich den Standort gewechselt, ich lebe und arbeite jetzt in Hamburg.«

»Ach ja…« Beate fiel von einer Überraschung in die andere.

»Ich dachte, Sie wüßten es schon. Hat Sandra es Ihrem Sohn denn noch nicht erzählt?«

»Nein – oder doch? Es mag sein, daß ich es überhört habe. Bei mir geht jetzt soviel durcheinander. Ich habe ein krankes Kind, Herr Fabricius.«

»Das habe ich schon gehört«, sagte Clemens Fabricius teilnahmsvoll. »Was fehlt Ihrer kleinen Tochter denn?«

Beate erzählte es ihm, und sie sprach auch von ihren Überlegungen, eine eventuelle Operation betreffend. »Sie sind doch Chirurg«, sagte sie. »Würden Sie dazu raten?«

»Das kann ich natürlich nicht so ohne weiteres beurteilen«, antwortete der Arzt bedachtsam. »In vielen Fällen kann ein erworbener Herzfehler mit Erfolg operiert werden. Eine genaue Untersuchung zur Feststellung der Operationsfähigkeit müßte vorher stattfinden.«

»Darf ich Silvie zu Ihnen bringen?« fragte Beate plötzlich. »An welcher Klinik sind Sie denn?«

Clemens nannte ihr den Namen. »Aber bevor ich mich näher dazu äußere, würde ich Sie gern sehen, Frau Eckert. Ich hätte noch einige Fragen zu der Vorgeschichte. Dann müßte ich mir die Unterlagen des behandelnden Arztes erst kommen lassen. Wann hätten Sie Zeit?«

»Heute – sofort«, antwortete

Beate schnell. Ihr war, als sähe sie ein winziges Licht am Ende eines dunklen Tunnels.

Sie erfuhr, daß Dr. Fabricius noch im Hotel wohnte. Seine Familie würde erst nachkommen, wenn das Haus, das er gekauft hatte, einzugsbereit war. Sie verabredeten sich für acht Uhr in der Halle.

Nils hatte etwas vor an diesem Abend, er wollte sich mit Freunden treffen. Aber Felix war zu Hause. »Ich passe schon auf Silvie auf, Mama«, versicherte er.

»Ja, ich weiß, daß ich mich auf dich verlassen kann, mein lieber Bub. Ich bleibe auch nicht lange fort.«

Es war nichts Fremdes zwischen ihnen, als sie sich gegenüberstanden. Jeder war seinen Weg gegangen, hatte sein Maß an Freud und Leid gehabt, es hatte sich in ihren Zügen eingeprägt. Und doch – die Jahre schienen zu versinken, als sie sich in die Augen sahen.

Langsam glitt ein versonnenes Lächeln um Clemens’ Mund.

»Ich habe immer noch das Buch von Ihnen, das Sie mir einmal geschenkt haben. Erinnern Sie sich?«

Sie nickte. »Es war die Übersetzung eines englischen Romans, ein erster nachbarschaftlicher Gruß für Sie.«

Er ließ ihre Hand los, sie setzten sich. »Sind Sie immer noch auf diesem Gebiet tätig?« erkundigte er sich.

»Nein. In den letzten Jahren konnte ich keine Aufträge mehr annehmen.«

»Ich verstehe.« Sein Gesicht wurde ernst. »Das war eine überflüssige Frage, verzeihen Sie. Sie werden übergenug in Anspruch genommen sein. Und damit wären wir beim Thema…«

»Silvie«, flüsterte Beate und senkte die Lider.

»Ja.« Er betrachtete sie. Das dunkelblonde, von helleren Strähnen durchzogene Haar fiel seitlich in einer leichten Welle in ihr schmales Gesicht. Sie wirkte schutzbedürftig. »Ich wünschte, unser Wiedersehen hätte unter anderen Vorzeichen stattgefunden«, sprach er verhalten. »Aber erzählen Sie mir von Silvie, wann hat das angefangen mit ihr?«

Beate beantwortete ihm seine Fragen. Dann sah sie ihn flehend an. »Der behandelnde Arzt heißt Dr. Schütz, er hat seine Praxis in der Merowingerstraße. Werden Sie sich mit ihm in Verbindung setzen, Herr Dr. Fabricius?«

»Selbstverständlich. Ich werde keine Zeit verlieren«, versprach er.

»Wenn Sie die Operation vornehmen könnten«, sagte sie stockend, ohne den Blick von ihm zu lassen, »Ihnen würde ich vertrauen. Mein Gott, wenn Silvie doch wieder gesund werden könnte! Es ist so schrecklich, ihr Leiden ansehen zu müssen. Man steht so allein und hilflos daneben…«

»Sie haben Ihren Mann, und Sie haben Ihren Sohn, Frau Eckert, allein sind Sie doch nicht«, versuchte Clemens ihr einen schwachen Trost zu geben.

Beate wandte ihr Gesicht beiseite.

»Mein Mann«, kam es zögernd über ihre Lippen, »hat wenig Geduld. Er überläßt alles mir. Er kann nicht viel empfinden für dieses Kind, das er eigentlich gar nicht haben wollte.« Fast schamvoll brachte sie es hervor. »Den Jungen, ja, den liebt er, auf den ist er stolz. Der ist wie er, kräftig, gesund. Aber für Felix ist es auch nicht leicht. Er möchte mir immer helfen und kann doch nicht.« Ein schwacher Seufzer entrang sich ihr.

Clemens beugte sich in seinem Sessel vor und legte leicht die Hand über ihre Hand. »Lassen Sie den Mut nicht sinken«, redete er ihr zu. »Ich hoffe doch, daß Ihrem Töchterchen geholfen werden kann. Sie bekommen von mir Bescheid. Sie sind nicht mehr allein.«

So warm klang es, daß es Beate tatsächlich etwas leichter um das Herz wurde.

*

»Papa will Steven-House verkaufen«, platzte Uli heraus, als er mit seiner Mutter dem Ausgang der riesigen Flughalle zuschritt. Wie in jedem Jahr, hatte er auch diesmal die Sommerferien bei seinem Vater verbracht.

Ingeborg wandte ihrem Sohn mit einem Ruck den Kopf zu. »Warum? Er hat doch eine Menge hineingesteckt. Warum will er es jetzt wieder verkaufen?«

»Er hat einen Interessenten, der ihm eine große Summe dafür bietet«, sagte Uli, und er machte ein nachdenkliches Gesicht.

»So«, brachte Ingeborg trocken hervor. »Nun, es ist sein Haus. Er kann damit machen, was er will.«

Mit Bertold hatte sie nur noch Verbindung über ihren Sohn. Sie brauchte ihn nicht mehr. Sie hatte sich ihr Leben ohne ihn eingerichtet.

»Dir wird es ja leid tun«, bemerkte sie, als sie an ihrem Wagen angelangt waren und zusammen das Gepäck verstauten. »Du warst doch immer so gern dort.«

»Klar, einesteils schon«, gab Uli zu. »Aber wenn ich meinen Vater dann öfter sehe und nicht erst zwölf Stunden zu ihm fliegen muß, ist das auch ganz schön.«

Beate hob den Kopf, denn ihr Junge war größer als sie. Alle Jungen wuchsen ihren Müttern über den Kopf.

»Will er denn nach Deutschland zurück?« fragte sie.

»Ja. Er will das Geld in ein Unternehmen stecken, das in Schwierigkeiten ist, und Teilhaber werden. Mach nicht so ein skeptisches Gesicht, Mutti. Er geht kein Risiko ein, er hat sich genauestens informiert.«

Sie fuhren nach Hause. Beates Gedanken waren noch bei dem Gehörten. Ob er seine Freundin dann mitnehmen würde?

Später, beim Nachtmahl, sollte sie Näheres darüber erfahren.

»Die Gwendolyn ist nicht mehr da«, erzählte ihr der Sohn. »Sie hat mit einem Kollegen irgendwo ein Architekturbüro aufgemacht.«

»Ach, ist das aus«, entfuhr es Beate.

»Scheint so.« Uli zuckte die Achseln. »Jedenfalls sind keine Sachen mehr von ihr da. – Und Vater hat ja jetzt auch ganz andere Pläne«, fügte er hinzu. Wieder sah er mit diesem seltsam nachdenklichen Ausdruck auf seine Mutter. Es sah aus, als wollte er sie etwas fragen. Aber er unterdrückte es.

Es gefiel ihm, wieder zu Hause zu sein. Sie hatten längst eine schöne Eigentumswohnung, und es fehlte ihm eigentlich an nichts. Uli pfiff ein Liedchen vor sich hin, als er in seinem Zimmer alles Vertraute wiederfand, die Poster seiner Lieblingssänger an den Wänden, die Gitarre und die Stereo-Anlage. Nächstes Jahr würde er mit seinen Schulfreunden nach Norwegen zum Zelten fahren. Es mußte nicht immer Florida sein. Man würde schon sehen, wie das alles weiterging.

Das fragte sich auch seine Mutter. Hatte doch nicht gehalten, was Bertold für die »große Liebe« angesehen hatte? Er hatte nie

ein Scheidungsbegehren geäußert, demnach hatten sie an eine Heirat wohl nicht gedacht.

Man lebte getrennt, das war heute nichts Ungewöhnliches mehr. Ingeborg hatte sich schließlich damit abgefunden, und sie verkümmerte nicht dabei. Sie war wieder schlank geworden, sie pflegte und verwöhnte sich selbst. Das Bewußtsein, gut auszusehen, ließ ihren Gang freier werden und sie den Kopf hoch tragen. Sie hatte sich einen Bekanntenkreis aufgebaut, Jens Mertens gehörte dazu, ein geschiedener Mann, der um sie warb. Er war ein erfolgreicher Anlageberater, und er wünschte sich wieder eine Frau an seiner Seite.

»Warum trägst du deinen Trauring immer noch?« hatte er gefragt. »Laß dich endlich scheiden und heirate mich.«

Aber dazu hatte sie keine Neigung, und den Ring behielt sie an, auch wenn er mehr oder weniger ein sinnentleertes Symbol war. Der schmale goldene Reif paßte gut zu dem Saphir, den sie darüber trug. Schmuck, den sie sich gekauft hatte von den Zinsen auf ihrem Konto.

Sie konnte sorgenfrei leben, anders als Beate, an deren Kummer um Silvie sie innigst Anteil nahm.

Am nächsten Tag rief Ingeborg die Freundin an. Sie wußte, daß eine Entscheidung fallen sollte, ob das Kind operiert werden konnte.

»Ja«, sagte Beate auf ihre Frage hin, mit Hoffen und Bangen zugleich in ihrer Stimme, »am Montag wird Dr. Fabricius sie operieren.«

»In drei Tagen also… Oh, Beate, meine Gedanken werden bei dir sein!«

»Ich weiß es, du Gute. Fabricius hat mir Mut gemacht, und ich habe großes Vertrauen zu ihm.« Beate räusperte sich. »Ist Uli wieder zurück aus Florida?« erkundigte sie sich.

»Ja, und wahrscheinlich war er das letzte Mal dort«, antwortete Ingeborg bedeutungsvoll.

»Wieso das?« fragte Beate verdutzt.

»Bertold will die Villa verkaufen!« Und sie erzählte, was sie von ihrem Sohn erfahren hatte.

Sekundenlang schwieg Beate überrascht.

»Ingeborg, dann könnte es doch sein –«, sagte sie dann stockend, »ich meine, ihr seid immer noch verheiratet…«

»Nein«, kam es mit Entschiedenheit zurück, »da liegst du falsch, Beate. Wir haben uns schon zu weit voneinander entfernt. Ob Bertold hier ist oder dort, macht nur für Uli einen Unterschied. Ich werde mein Leben weiterleben wie bisher. Mein ›Noch-Ehemann‹ spielt darin keine Rolle mehr.«

»Schon gut, Ingeborg.« Beate empfand, daß sie besser nicht daran hätte rühren sollen. Noch war Bertold Basler ja nicht in Deutschland.

Sie hatte jetzt auch ganz andere Sorgen.

»Ich werde dir Bescheid geben, wie die Operation verlaufen ist«, lenkte sie ab. »Bete für Silvie, daß sie gerettet werden kann.«

*

Felix hatte es sich nicht nehmen lassen, seine Mutter zu begleiten. Noch hatte die Schule nicht begonnen, wie konnte er da zu Hause bleiben und sie allein lassen in ihrer Not.

Da saß er nun neben ihr auf der Bank, während das Licht über dem Operationssaal leuchtete, und er hielt ihre Hand, die in der seinen zuckte.

»Es wird schon alles gut werden«, flüsterte er von Zeit zu Zeit, und das klang wie eine Beschwörung.

Der schwarze Zeiger an der großen runden Uhr, die da am Ende des Ganges hing, rückte weiter und weiter.

»Daß es so lange dauert«, brachte Beate über die trockenen Lippen. Dann schwieg sie wieder, als wäre jedes Wort zuviel.

Endlich, endlich bewegte sich etwas, öffnete sich die Tür, wurde die Trage herausgeschoben, auf der Silvie unter weißem Leinentuch lag, neben ihr eine Schwester, die den Tropf hielt. Und so weiß wie das Tuch war das Kind, reglos, winzig –

Beate blieb ein Aufschrei in der Kehle stecken, mit einer wilden Bewegung wollte sie hin zu der Trage, die eilig davongeschoben

wurde, aber da fühlte sie plötzlich zwei feste Arme, die sie hielten.

»Ist ja alles gut«, sagte eine ruhige Männerstimme. »Es ist alles gut gegangen. Silvie wird wieder gesund werden. Still jetzt, ganz ruhig…« Und er barg den Kopf der am ganzen Körper zitternden Frau an seiner Schulter.

»Gut, wirklich, sie wird leben«, stammelte Beate, und die Not und Aufregung der letzten Stunden löste sich in einem befreienden Tränenstrom.

Mit runden Augen sah Felix auf die Szene. Das mußte wohl Dr. Fabricius sein, an dessen Brust seine Mutter lag. Der sollte die Operation vorgenommen haben, und wenn er sagte, es war alles gut, dann war es doch gut. Warum weinte sie denn jetzt so sehr?

»Mama«, sagte er behutsam und trat auf die beiden zu.

»Es wird gleich vorbei sein. Es war nur die Anspannung. Du bist der Felix, nicht wahr?«

Der Junge nickte, er sah den Mann im grünen Kittel an, dem der Mundschutz noch unter dem Kinn hing. »Und Sie sind Sandras Vater«, sagte er. »Sie haben meiner kleinen Schwester das Leben wiedergeschenkt.«

»Nicht ich allein. So etwas ist immer Teamarbeit.« Er ließ Beate los, die sich allmählich beruhigte und lächelte Felix zu. »Als ich dich zuletzt gesehen habe, warst du noch ein kleiner Bub, du hast bei uns im Garten mit Sandra gespielt.«

»Ja, und Sandra ist heute immer noch meine Freundin. Ich bin gespannt, wie sie jetzt aussieht.« Seine Augen glänzten, er war nun sehr froh. Silvie war gerettet, und das war Sandras Vater, der kein Fremder für ihn war.

»Verzeihen Sie, Dr. Fabricius.« Beate wischte sich mit dem Handrücken die letzten Tränen von den Wangen, und ein zitterndes Lächeln huschte um ihren Mund. »Statt dem Herrgott und Ihnen zu danken, breche ich in Tränen aus. Wie dumm von mir.«

»Nur verständlich für eine liebende Mutter, Frau Eckert«, erwiderte der Arzt gütig. »Gehen Sie nach Hause. Über Ihre Silvie wird gewacht.«

Mit einem ihm selbst unbewußt weichen Lächeln sah er den beiden nach.

*

Sie hatten sich manchmal vorgestellt, wie es wohl wäre, wenn sie sich wiedersehen würden. Irgendwie würde es ein besonderer Augenblick sein. Nun traf es sie völlig unvorbereitet, mitten im Alltag.

»Du kannst unten auf mich warten, Sandra«, sagte Dr. Clemens Fabricius und entfernte sich. Er sah nicht den Jungen, der ein paar Meter weiter auf der anderen Seite des Ganges den Schritt verhalten hatte und wie festgenagelt stand.

Sie kam auf ihn zu, ein junges Mädchen, so fein und so hübsch, wie Felix noch nie eines gesehen zu haben glaubte. Leichtgelocktes halblanges Haar umrahmte das

zartrosige Gesicht.

Ihr Blick wollte über den großen fremden Jungen hinweggehen, der da stand und sie anstarrte – aber plötzlich stutzte sie. Diese blauen Augen, und ein paar Sommersprossen hatte er auf der geraden Nase.

»Ja, ich bin’s, Sandra«, sagte er und bekam einen roten Kopf.

»Oh – Felix!« Ein helles Lächeln voller Überraschung flog über ihr Gesicht. Und dann war es doch ein besonderer Augenblick, als sie sich die Hand gaben, und sich zunächst einmal nur ansehen mußten.

Sie wußten viel voneinander, eigentlich alles, was in all den Jahren in beider Familien geschehen war. Sie kannten ihre Stimmen, ihr Lachen, sie wußten, wie es klang, wenn der eine und andere fröhlich oder bedrückt war. Aber ihre Züge kannten sie nicht mehr, die sich ausgeprägt hatten, vom Kindlichen her zum Erwachsenwerden.

»Jetzt bin ich bald einen halben Kopf größer als du«, sagte Felix endlich.

»Du warst schon immer größer, schon ganz früher, als du mir noch Geschichten von Burgen und Rittern erzähltest und immer über unseren Gartenzaun sprangst.«

Plötzlich lachten sie beide, in tiefer Freude, daß sie es doch noch waren, Felix und Sandra, und daß sie sich nun leibhaftig gegenüberstanden.

»Wieso habe ich nicht gewußt, daß du schon da bist?« fragte er.

»Wir sind doch gerade erst eingezogen«, antwortete das Mädchen. »Ich hätte mich schon gemeldet. Heute wollte ich mal gucken, wo mein Papa jetzt arbeitet. Und was machst du hier? Willst du dein Schwesterchen besuchen?«

»Ja, meine Mutter kommt auch gleich, sie wollte noch was besorgen.«

»Es geht Silvie schon viel besser, nicht? Mein Vater sagte es mir.«

Felix nickte froh. »Sie kann schon bald nach Hause. Willst du sie mal sehen? Sie ist auf Zimmer 212.«

»Jetzt nicht. Ich geh lieber schon runter. Du, Felix, wir werden uns jetzt öfter sehen, ja? Ich muß mich erst ein bißchen eingewöhnen, in der neuen Schule, und so.«

»Vielleicht kann ich dir dabei was helfen«, sagte Felix eifrig, »und die Stadt mußt du ja auch erst kennenlernen, den Hafen, die Schiffe, und soviel anderes. Das zeig ich dir alles.«

»Prima, da freu ich mich drauf, ich ruf dich an. Tschüs, also!«

Ein heller Schein lag noch auf dem hübschen Mädchengesicht, als Beate unten am Eingang an Sandra vorbeiging.

»Bist du Sandra noch begegnet?« fragte Felix wenig später. »Ich habe sie gerade vorhin hier getroffen. Sie ist ganz süß.«

Beate lächelte überrascht über diesen Ausdruck ihres Sohnes. Er hatte Mädchen bisher noch nicht »süß« gefunden. »Sind sie jetzt da«, sagte sie. »Kann sein, daß ich sie vorhin gesehen habe. Aber erkannt habe ich sie nicht im Vorübergehen. Wie sollte das auch sein.«

»Ich«, sagte Felix und strahlte über das ganze Gesicht, »ich habe sie gleich erkannt.«

»Wer ist Sandra?« wollte Silvie wissen, die in einem rosageblümten Morgenröckchen auf dem Schoß ihrer Mama saß. Dabei blickte sie aufmerksam fragend mit ihren jetzt so wachen Augen von einem zum anderen.

»Mit Sandra habe ich früher gespielt, als ich noch ein kleiner Junge war«, erklärte ihr der große Bruder. »Ihr Vater ist der Doktor, der immer zu dir kommt und dich gesund gemacht hat.«

»Der ist lieb«, sagte die Kleine ernsthaft. »Und mit der Sandra will ich dann auch spielen, und überhaupt mit allen Kindern.«

»Ja, mein Schätzchen«, Beate herzte und küßte ihr Kind, »du wirst mit anderen Kindern spielen und herumspringen können, und wir werden alle sehr glücklich sein.«

*

Seit einem halben Jahr lebte Bertold Basler nun wieder in Deutschland. Steven-House war verkauft. Er dachte ohne Bedauern daran zurück. Zuletzt hatte er sich in allem Wohlleben und Luxus nicht mehr wohl gefühlt. Gwendolyn war immer seltener gekommen, die Flamme war schließlich erloschen. Er hatte keine Kontakte, geschweige denn Freundschaften knüpfen können. Die anderen lebten in ihren Villen und blieben unter sich. Er war ein Fremder geblieben.

Die deutschen Zeitungen, die mit Verspätung kamen, waren seine einzige Lektüre gewesen. Dabei hatte er die Anzeige jener Firma gelesen, die einen Geldgeber suchte, um den drohenden Konkurs abzuwenden. Elektrogeräte und Installationen, das war sein Fachgebiet, auch war ihm die Firma nicht unbekannt, die einst gut fundiert gewesen und durch falsches Management in die Krise geraten war.

Bertold Basler nahm Verbindung damit auf, und die Sache war perfekt. Er war nach Hause geflogen – nein, ein Zuhause hatte er noch nicht wieder, aber eine Wohnung, eine Unterkunft zunächst einmal, und, was ihm wichtiger war, ein Büro, in dem eine Aufgabe auf ihn wartete. Die Aufgabe, das Unternehmen mit engagierten Mitarbeitern aus den roten Zahlen herauszuführen und damit Arbeitsplätze zu retten.

Zwei Stunden über die Autobahn war es bis zu der Stadt, in der er lange mit seiner Familie gelebt hatte und wo sein wirkliches Zuhause gewesen war.

Er hatte seine Frau Ingeborg angerufen und ihr seine neue Adresse mitgeteilt. Falls irgend etwas wäre…

»Was soll sein«, hatte sie sehr kühl reagiert, und sie hatte nur wenig Interesse an dieser neuerlichen Veränderung in seinem Leben gezeigt.

Anders sein Sohn Uli. Er war bald gekommen, freudig, daß keine Tausende von Kilometern sie mehr trennten, und von brennender Neugier erfüllt, wie es seinem Vater nun ging.

Offenbar ging es ihm gut. Es gefiel Uli, daß er wieder etwas angepackt hatte und nicht nur länger auf Ererbtem ausruhte.

»Steven-House war schon riesig, aber eigentlich doch eine Nummer zu groß für uns«, befand der Siebzehnjährige. »Daß du jetzt mit einer Finanzspritze ein Unternehmen wieder auf die Beine stellst, find ich ganz toll. Echt, Papa, dafür bewundere ich dich.«

Sie gingen kameradschaftlich miteinander um, und sie redeten auch von Mann zu Mann.

»Komm doch einfach mal zu uns«, schlug Uli vor. »Ich kann mir nicht vorstellen, daß Mama dir ewig die kalte Schulter zeigen wird. Klar ist sie noch sauer wegen Gwendolyn, und schön war das ja auch nicht, das mußt du zugeben, wie du uns damals so cool abserviert hast. Aber das ist ja alles vorbei, und ihr könntet vielleicht doch wieder zusammenfinden. Also, ich fänd’s gut«, schloß er.

»Ist deine Mutter denn allein?« fragte Bertold unsicher.

»Du meinst, ob sie einen Freund hat? Doch, hat sie. Ist ein netter Typ, muß man schon sagen. Aber wenn du dich anstrengst, könntest du den sicher aus dem Feld schlagen. So hinreißend ist die Beziehung mit dem auch wieder nicht. Das Gefühl hab ich jedenfalls.«

So geschah es, daß Bertold Basler sich nach intensiver Tätigkeit eine Woche Atempause gönnte und tatsächlich zu Ingeborg fuhr. Er klingelte einfach bei ihr. Die Tür würde sie wohl vor ihm nicht zuschlagen. Und doch sah es zuerst so aus, sie schrak förmlich zurück.

»Guten Tag, Ingeborg. Entschuldige, daß ich dich einfach so überfalle.«

»Guten Tag, Bertold«, sagte Ingeborg steif. »Wenn du zu Uli willst, er ist nicht da.«

»Ich wollte zu dir, Ingeborg. Ich habe mich nicht angemeldet, weil ich befürchten mußte, du würdest mich wieder kurz abfertigen. Aber könnten wir nicht wie vernünftige Menschen miteinander reden. – Darf ich hereinkommen?«

»Bitte.« Sie trat beiseite. In ihrem Wohnzimmer bot sie ihm Platz an. Bertold sah sich um. Helle, moderne Möbel, bequem und farblich aufeinander abgestimmt. Ein Raum zum Wohlfühlen.

»Hübsch hast du es hier«, bemerkte Bertold anerkennend. Sein Blick blieb an ihr hängen. »Du

siehst auch sehr gut aus, Ingeborg.«

»Danke für das Kompliment«, antwortete sie mit einem leicht ironischen Zucken um die Mundwinkel. »Es geht mir auch gut. Dank deiner Großzügigkeit kann ich mir mein Leben nun nach meinem Gutdünken einrichten.«

»Wenn du auf die finanzielle Seite anspielst, so war das nur selbstverständlich, daß ich dich sicherstelle. Den Erlös von Steven-House habe ich nun in die Firma gesteckt, in der ich Teilhaber geworden bin. Ich denke, daß es sich auf längere Sicht rentieren wird. Alle setzen sich voll dafür ein, die schon drohende Arbeitslosigkeit vor Augen hatten.«

»Und wie schmeckt es dir, wieder zu arbeiten? Das muß doch eine große Umstellung für dich gewesen sein.«

»Gewiß, aber sie fiel mir nicht schwer. Ich war es schließlich leid, ziellos in den Tag hineinzuleben. Es macht nun alles wieder mehr Sinn.«

»Der Anlaß dazu war wohl vor allem, daß deine Herzallerliebste anscheinend nichts mehr von dir wissen wollte«, sagte Ingeborg mit einem kühlen, flüchtigen Lächeln und hob die Augenbrauen.

»Sei nicht ironisch«, bat Bertold. »Gwendolyn wollte ihren eigenen Weg gehen, und ich habe sie gelassen. Das Ganze war – wie ein Regenbogen, der am Himmel aufleuchtet und wieder verblaßt.«

»Seit wann drückst du dich so poetisch aus«, sagte Ingeborg spöttisch. Ein kurzes Schweigen trat ein. Dann fragte sie: »Kann ich dir etwas anbieten, Kaffee, Tee, etwas Alkoholisches?« Sie stand auf. »Ich habe eine Hausbar, schau«, und sie rollte sie heran, »zu mir kommen öfter mal Gäste. Es ist alles da.«

Bertold nickte, er betrachtete die Flaschen und halbgefüllten Kristallkaraffen. »Und darunter ein Gast, der dir nahesteht, oder?« sagte er langsam und bedeutungsvoll.

»Ach, hat Uli geplaudert?« warf sie hin. »Magst du einen Cognac?«

»Ja, gern.«

Sie schenkte einen Schluck des edlen goldfarbenen Getränkes in einen großen Schwenker. »Ja, ich habe einen Freund«, fuhr sie fort. »Du wirst wohl nichts dagegen haben.« Immer noch unterschwellig dieser Hauch von Ironie, den Bertold hinnehmen mußte.

»Wie dürfte ich das«, sagte er. »Daß wir noch verheiratet sind, steht nur auf dem Papier.«

»Das hast du schon vor drei Jahren zu Gwendolyn Roberts gesagt, als es noch gar nicht stimmte«, hielt sie ihm entgegen, und nun schwang Bitterkeit in ihrer Stimme mit.

Sie hatte ja recht. Bertold nahm das Glas, und mit dem Cognac schluckte er ihre Bemerkung hinunter.

»Möchtest du, daß ich wieder gehe?« sagte er dann, da Ingeborg sich in steifer Haltung, wie abwartend, wieder hingesetzt hatte.

»Uli wird es sehr bedauern, dich verpaßt zu haben«, gab sie zurück. »Nur um mich zu sehen, hättest du dir die Fahrt sparen können.«

Wie gleichgültig ihr Blick durch ihn hindurchging.

»Ich bleibe noch in der Stadt, ich nehme mir ein Hotelzimmer im CONTI«, erklärte Bertold. »Wann wollte unser Sohn denn wieder zu Hause sein?«

»Zum Abendessen.«

»Wir könnten zusammen essen«, schlug Bertold vor. »Kommst du mit?«

»Nein, ich habe keine Lust. Aber ich werde es Uli sagen.« Sie stand auf, und auch Bertold erhob sich. Er suchte ihren Blick, versuchte ihn festzuhalten.

»Ingeborg«, begann er eindringlich, »ich würde es mir sehr wünschen, daß wir zumindest freundschaftlich miteinander umgehen könnten. Auch ich hatte dir einmal etwas zu verzeihen. Hast du das vergessen?«

»Auf Wiedersehen, Bertold«, sagte sie nur, und sie wandte sich ab und geleitete ihn zur Tür.

Aber als diese sich hinter ihm geschlossen hatte, stand sie doch lange und sah vor sich nieder…

Als Uli kam und erfuhr, daß sein Vater da war und er allein mit ihm im Hotelrestaurant zu Abend essen sollte, wandelte sich seine erste Freude rasch in Enttäuschung.

»Also nee, Mutti, da mußt du mitkommen«, drängte er. »Ohne dich schmeckt es mir nicht.«

»Du bist doch immer mit deinem Vater allein gewesen«, wandte sie ein.

»Das war ja ganz was anderes«, widersprach der Junge. »Wenn er jetzt hier in der Stadt ist, könnten wir doch endlich mal wieder zusammen sein. Och bitte, sei doch nicht so. Bitte!«

Da gab sie nach. Sie zog sich sogar noch um und legte frisches

Make-up auf. »Sieht gerade so aus, als wolltest du Papa gefallen«, neckte sie ihr großer Sohn.

»Unsinn«, wies seine Mutter ihn beinahe heftig zurück. »Das ist ein sehr gutes Hotel, in dem man abends nicht in einem Schlabberpulli kommt.«

»Hallo, Papa«, sagte Uli wenig später, und die beiden schüttelten sich kräftig die Hand. »Superidee von dir, uns mal zu besuchen. Die Mutti hab’ ich gleich mitgebracht.«

»Schön«, sagte Bertold, und er lächelte seiner Frau zu. »Ich habe einen Tisch reservieren lassen.«

Eine lockere Unterhaltung entspann sich bei einer vorzüglichen Mahlzeit. Ingeborg wollte keine Spielverderberin sein, sie plauderte mit über unverfängliche Themen.

Erst als Bertold Pläne für die nächsten Tage machte, zog sie sich wieder zurück. Sie hatte nicht die Absicht, ihm plötzlich wieder zur Verfügung zu stehen, weil es ihm gerade so einfiel.

»Ich habe schon einiges vor«, behauptete sie kühl, »und Uli hat Schule. Unternimm nur für dich etwas, wenn du einen Kurzurlaub machen willst.«

Uli sah betreten vor sich nieder, er fischte die letzte Kirsche aus seiner Eisschale. Warum verdarb sie nun wieder alles? Er hatte doch schon ein bißchen Hoffnung geschöpft. Auch sein Vater schwieg sekundenlang ob der deutlichen Abweisung.

»Na gut«, sagte er schließlich. »Dann könnte ich ja mal nach Hamburg fahren und unsere alten Freunde besuchen.«

»Aber auf dem Rückweg kommst du noch mal zu uns«, bestürmte ihn der Sohn. »Versprochen, Papa!«

»Wenn deine Mutter nichts dagegen hat?« Fragend wandte er sich an Ingeborg, die seinem Blick auswich.

»Ich hab’ nichts dagegen«, sagte sie achselzuckend.

Aber diesmal war ihre Gleichgültigkeit gespielt. Diese zwei Stunden, die sie nun hier am Tisch beisammensaßen, Mutter, Vater und Sohn, hatten sie doch nicht ganz unberührt gelassen. Da war manches Altvertraute aufgeklungen in Bertolds Stimme, seiner Art, sich auszudrücken, seinem leichten Lächeln. Das hatte, ob sie wollte oder nicht, eine Saite in ihr zum Klingen gebracht, noch sehr fern und leise, doch es war geschehen.

»Warum schickst du Papa fort?« fragte Uli, als sie wieder zu Hause waren. »Das war doch richtig schön heute, und wir hätten das die ganze Woche noch haben können.«

»Mein lieber Sohn«, Ingeborg sah ihn mit einem dunklen Blick an, »mach dir bitte keine Illusionen. So einfach, wie du dir das vorstellst, geht das nicht. Dafür ist zuviel geschehen.«

»Ja, ja. Aber irgendwann kann man da vielleicht doch mal einen Strich drunter ziehen«, meinte er.

*

Antonio kannte die beiden schon, die öfter mal auf eine Cola in seine Pizzeria kamen. Es kam auch vor, daß der Junge seine kleine Freundin zu einer Pizza oder Spaghetti Bolognese einlud. Der Italiener hatte seine Freude daran, wie nett die beiden miteinander umgingen und wie sie sich immer viel zu erzählen hatten.

Heute hatte Sandra bis dreiviertel fünf Unterricht gehabt, Felix hatte sie von der Schule abgeholt. Da sie in einem anderen Stadtviertel wohnte, gingen sie leider nicht auf dasselbe Gymnasium.

»Bist du denn klargekommen mit dem Englischaufsatz?« fragte er besorgt.

»Ja, einigermaßen. Aber dir liegt diese Sprache einfach besser als mir«, antwortete Sandra.

»Dafür kannst du sehr gut französisch, weil du in den Ferien immer in Frankreich bist. So gleicht es sich aus.« Und er lächelte ihr zu.

»Ja.« Sandra schwenkte leicht die Zitronenscheibe in ihrem hohen Glas. »Meine Mutter möchte am liebsten jetzt schon wieder dorthin in ihr Haus. Sie meint, sie hat dort mehr Ruhe zum Üben. Sie will schon wieder ein Konzert vorbereiten. Nachdem sie in Heidelberg großen Erfolg hatte, ist sie wieder sehr gefragt.«

»Na, darauf kannst du doch stolz sein«, befand Felix.

»Wie man’s nimmt«, sagte Sandra mit einer Kopfbewegung. »Wir brauchen sie auch, Daniel und ich, und mein Vater.« Sie blickte auf. »Aber so war es ja schon immer, außer in der Zeit, als sie aussetzen mußte wegen ihres gebrochenen Handgelenks. Und da war sie auch nicht glücklich.«

»Sie ist eben eine große Künstlerin. Da ist immer ein Zwiespalt zwischen Familie und ihrer Musik«, äußerte Felix sehr ernsthaft.

Sandra gab ihm ein leichtes Lächeln. »Jetzt machst du ein Gesicht wie jemand, der das Leben schon genau kennt«, behauptete sie. Sie berührte seine Hand, die auf dem Tisch lag. »Du, aber jetzt mal was anderes. Kommst du noch ein bißchen mit zu uns? Daniel hat gesagt, ich sollte dich doch mal wieder mitbringen. Er möchte auch dein Freund sein. So klein wäre er ja nicht mehr.« Sie lachte.

»Sag ihm nur, daß er das schon ist. Aber heute kann ich nicht, wir haben nämlich Besuch zu Hause. Es ist der Mann der besten Freundin meiner Mutter, der lange in Florida war. Bevor wir nach Hamburg gezogen sind, haben wir auch in derselben Stadt gewohnt, und wir waren viel zusammen. Der Sohn Uli war auch mein Freund, er ist ein bißchen älter als ich. Aber wir sind dann einigermaßen auseinandergekommen, wie das eben so ist.«

»Aber wir nicht. Wir sind nicht auseinandergekommen«, lächelte Sandra.

»Nie«, bestätigte Felix. »Und daß wir jetzt beide in Hamburg wohnen, ist überhaupt das Größte.«

Bertold Basler blieb zwei Tage in Hamburg. Nils zeigte ihm, wo er arbeitete, am Hafen, wo die großen Schiffe lagen.

»Da hast du ja immer den Duft der großen weiten Welt vor der Nase«, bemerkte Bertold scherzhaft.

»Ja, nur daß ich die meiste Zeit auf meinem Schreibtischstuhl festgenagelt bin«, gab der breitschultrige blonde Mann zurück, der immer noch den leicht wiegenden Gang des ehemaligen Seemanns hatte.

Bertold warf ihm einen raschen Blick von der Seite zu. War er doch nicht zufrieden damit, würde er lieber Schiffsplanken unter den Füßen spüren?

»Man kann nicht alles haben, Nils«, sagte er. »Dafür bist du bei deiner Familie, das wirst du wohl nicht unterschätzen.«

»Natürlich nicht. Es soll schon alles so sein.«

Bertold fand, daß es etwas resigniert klang. Er sah dazu wirklich keinen Grund. Gewiß, es hatte viele Sorgen gegeben durch die Krankheit des kleinen Mädchens. Aber Silvie entwickelte sich doch jetzt prächtig, man merkte ihr nichts mehr an. Sie ging in den Kindergarten, sie hatte dort Freundschaften geschlossen, und zu Hause hielt sie ihre Mama auf Trab. Beate ließ sich das nur zu gern von ihrem Nesthäkchen gefallen, dankte sie doch jeden Tag dem Herrgott dafür, daß es wieder gesund geworden war.

Und auf Felix konnte Nils doch nur stolz sein. Eine liebe Frau, zwei Kinder, eine glückliche Familie. Was brauchte er dann seinen Seemannsberuf nachzutrauern.

»Ach nein, daran denkt Nils doch längst nicht mehr«, behauptete Beate, als Bertold eine Bemerkung dazu machte. Das war in der letzten Stunde vor seiner Weiterreise. Bertold wollte noch kurz nach Amrum, wo er mit Ingeborg und Uli so manchen Urlaub verbracht hatte, bevor die große Erbschaft gekommen war und sich das Leben für die Baslers grundlegend verändert hatte.

»Weiß Ingeborg, daß du nach Amrum willst?« fragte Beate. »Es wird sie sonderbar berühren, ist es doch gerade so, als wolltest du Erinnerungen wiederaufleben lassen.«

»Nein, ich habe ihr nur gesagt, daß ich zu euch wollte. Alles andere, was ich tue und lasse, interessiert sie auch nicht weiter.«

»Vielleicht gibt sie das nur vor, Bertold. Wenn du Ingeborg wiederhaben möchtest, mußt du viel Geduld haben.«

»Und wenn es sich nicht mehr kitten läßt, was einmal zerbrochen ist?« sagte der Mann düster.

Beate sah ihn aufmerksam an. »Eure Ehe hatte schon einmal einen Riß«, sprach sie langsam, »damals lag es an Ingeborg. Ihr fandet wieder zueinander. Warum sollte es diesmal nicht auch so gehen?«

»Aber sie ist nicht mehr allein, sie hat einen Freund«, murmelte Bertold. Da legte ihm Beate die Hand leicht auf den Arm.

»Ich glaube nicht, trotz allem, daß der ihr soviel gilt wie der Mann, mit dem sie lange verheiratet war – und noch ist. Du wirst sie wiedersehen in wenigen Tagen, sagtest du. Es könnte sein, daß ihr inzwischen auch einiges durch den Kopf gegangen ist…«

So war es in der Tat.

Sie hatte Jens Mertens erzählt, daß ihr Mann sie besucht hatte, und er hatte ihr vorgehalten, daß sie wohl doch an ihrer Ehe festhalten wollte. So sicher sei das keineswegs, hatte sie geantwortet.

Aber sie war wankend geworden, und der andere spürte das.

»Ich habe keine Lust, mich länger hinhalten zu lassen«, erklärte er brüsk. »Du weißt nicht, was du willst, Ingeborg.«

»Ich habe dich nicht hingehalten«, verteidigte sie sich. »Ich habe dich nicht im unklaren darüber gelassen, daß ich nicht daran dachte, aus unserer Beziehung eine Lebensgemeinschaft zu machen.«

Jens Mertens preßte die Lippen zusammen. Dann sagte er: »Irgendwann, so dachte ich, würdest du doch noch anderen Sinnes werden. Jetzt glaube ich nicht mehr daran. Darum ist es wohl besser, wir ziehen einen Schlußstrich.«

»Ja, Jens.« Ingeborg nickte ernst. »Ich weiß, daß du wieder eine Frau in deinem Haus haben möchtest, und ich verstehe das auch sehr gut. Ich will dem nicht länger im Wege stehen. Du sollst dich frei fühlen.«

So waren sie auseinandergegangen, zwei Menschen, die Liebe gesucht hatten, aber nicht füreinander bestimmt gewesen waren.

Und nun war Bertold wieder da, für ein paar Stunden nur, am Sonntag gegen Mittag kam er.

»Du warst auf der Insel?« sagte Ingeborg verwundert. »Hat sich das denn gelohnt für die kurze Zeit?«

Bertold blickte versonnen. »Ich bin die Wege gegangen, die wir so gut gekannt haben. Dort hat sich nichts verändert. Ich habe in unserer Pension übernachtet. Die Wirtsleute haben nach dir gefragt, und nach Uli.«

»So. Hast du gesagt, daß wir seit langem getrennt leben?«

»Nein, das habe ich nicht gesagt. Es geht sie schließlich nichts an. Und es könnte ja sein, daß sich das einmal wieder ändert und wir mal zusammen hinfahren.«

»Das glaubst du?«

Sie sah ihrem Sohn nach, der sich, mit fast behutsamen Schritten, die Schultern etwas hochgezogen, in sein Zimmer verzog.

»Ich möchte es so gern glauben, Ingeborg. Ich habe viel über uns nachgedacht, und ich meine, wir könnten einen Neuanfang finden, wenn wir beide guten Willens sind.« Dabei sah er ihr tief und ernst in die Augen.

»Ich habe auch nachgedacht«, sagte sie langsam, und diesmal wich sie seinem Blick nicht aus. Bertolds Züge spannten sich, er wartete darauf, daß sie fortfahren sollte.

»Und?« fragte er endlich, als nichts weiter kam, »zu welchem Schluß bist du gekommen?«

Um ihren Mund zuckte es, wie von einem seltsamen Lächeln. »Daß wir es ja versuchen könnten«, sagte sie.

Er konnte zum Mittagessen bleiben, es war genug da, sie brauchten nicht auszugehen. Uli saß zwischen ihnen, er beobachtete seine Eltern verstohlen. Etwas hatte sich geändert, eine große Hoffnung zog in sein Herz.

Als sein Vater sich später verabschiedete, sagte die Mutter: »Uli braucht nicht mit dem Zug zu fahren, wenn er das nächste Mal zu dir will. Wir nehmen den Wagen, ich komme mit.«

Da wußte der Junge, daß seine Hoffnung nicht unerfüllt bleiben würde. Seine Eltern gingen den Weg der Versöhnung, und eines Tages würden sie wieder eine Familie sein.

*

Beate begegnete Dr. Clemens Fabricius an einem Samstagnachmittag in der Innenstadt, wo sie ein paar Einkäufe gemacht hatte. Erfreut über diese zufällige Begegnung begrüßten sie sich. Auch er hatte eine Tragetüte mit dem Aufdruck eines Kaufhauses in der Hand.

»Ein Geburtstagsgeschenk für Frau Scholl«, bemerkte er. »Etwas Persönliches soll doch für die treue Seele auch dabei sein.«

»Und das besorgen Sie?« lächelte Beate erstaunt.

»Ja, meine Frau ist nicht da, sie ist wieder in ihrem Haus bei Nizza. Dort ist der Frühling schon eingekehrt, während es hier noch tiefster Winter ist. – Wie geht es Silvie?«

»Sie wächst und gedeiht und ist unser aller Sonnenschein«, antwortete Beate froh.

Sie bewegten sich fort von dem Menschengetümmel in der Einkaufsstraße zu einer ruhigeren Seitenstraße hin. Eine seltsame Verbundenheit war zwischen ihnen, als sie so langsamen Schrittes nebeneinander hergingen.

Beate mußte daran denken, wie ihr Kopf einmal an der Schulter dieses Mannes gelegen hatte, als eine ungeheure Nervenanspannung sich in Tränen der Erleichterung gelöst hatte. Sie würde das nie vergessen. Deshalb war er ihr auch so nahe.

»Unsere beiden Großen«, sagte Clemens Fabricius nach einem kleinen Schweigen, »scheinen sich ja sehr gut zu verstehen. Sandra möchte nie mehr fort von Hamburg. Nicht zuletzt wegen Felix, glaube ich.«

Beate lächelte leise. »Er erzählt mir immer von ihr, wenn er sie getroffen hat. Sandra ist ihm fast wichtiger geworden als seine Freunde.«

Vor einem Café blieb der Mann stehen.

»Hätten Sie noch Zeit, eine Tasse Kaffee mit mir zu trinken, Frau Eckert?« Sie sahen sich an. In beider Augen lag der Wunsch, dieses Zusammensein noch ein wenig zu verlängern.

»Ich habe wieder einen Auftrag für eine Übersetzung angenommen«, erzählte Beate, als sie sich an einem der kleinen runden Tische gegenübersaßen. »Es sind Kurzgeschichten von einem englischen Autor.«

»Finden Sie denn die Zeit dafür, mit Haushalt und Familie?«

»Ich nehme sie mir, wenn Silvie im Kindergarten ist und meine beiden Männer fort sind. Eine geistige Betätigung ab und zu tut den kleinen grauen Zellen gut«, schloß sie scherzhaft.

»Werde ich ein Exemplar davon bekommen?« fragte Clemens.

»Das erste«, versprach Beate heiter. »Aber es wird noch dauern, bis es erscheint.«

So plauderten sie, und eine halbe Stunde war schnell vergangen. »Soll ich Sie nach Hause bringen?« schlug Beates Begleiter vor. »Ich habe den Wagen in der Tiefgarage.«

»Nein, danke, ich nehme die

U-Bahn. Auf Wiedersehen, Herr Dr. Fabricius.«

»Auf Wiedersehen.« Fest umschloß er ihre schmale Hand. »Es war mir eine Freude, Sie getroffen zu haben.«

Das war mehr als eine höfliche Floskel, und Beate dankte es ihm mit einem herzlichen Lächeln.

»Du bist lange ausgeblieben«, empfing sie ihr Mann zu Hause. »Ja, ja, wenn Frauen Einkäufe machen…«

»Ich habe Dr. Fabricius zufällig getroffen und eine Tasse Kaffee mit ihm getrunken«, sagte Beate.

»Hast du mir was mitgebracht, Mami?« Silvie kam angelaufen, und im gleichen Atemzug fuhr sie fort: »Felix ist zu Holger gegangen, sie wollen Fußball gukken.«

»Und ich mußte hier Kindermädchen spielen«, sagte Nils, »Geschichten von Fips und Foxi vorlesen.«

»Aber das hast du doch mal gern getan, oder?« Beate trat auf ihren Mann zu und legte ihm die Arme um den Hals.

»Es blieb mir nichts anderes übrig.« Doch er lächelte dabei.

»Auch liebhaben!« Silvie streckte ihre Ärmchen empor, und ihr Papa hob sie zu sich auf. »Komm her, du kleine Schmusekatze.«

Es klang liebevoll, so, daß Beate das Herz warm wurde.

Nils hatte kein Kind mehr gewollt, und lange hatte er keinen Zugang zu ihm gefunden. Das war nun anders geworden. Gott sei Dank. Die Schatten waren gewichen. Sie gab beiden einen Kuß, dem Mann und dem Töchterchen, dann rief sie fröhlich: »So, und mitgebracht hab’ ich auch für jeden etwas!« Damit griff sie nach den Einkaufstüten und begann sie auszupacken.

Mami Staffel 4 – Familienroman

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