Читать книгу Sophienlust - Die nächste Generation Staffel 3 – Familienroman - Diverse Autoren - Страница 6

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Elise, die braune Mischlingshündin, hatte die letzte Stunde damit verbracht, im Schatten des kleinen Fliederstrauchs auf der Wiese zu liegen und die laue Luft zu genießen. Jetzt stand sie auf, streckte sich, gähnte dabei herzhaft und trabte schließlich über die Terrassentür in die Wohnung. Drinnen war Lotte Landberg gerade damit beschäftigt, die frisch gebügelte Wäsche zu sortieren, und schaute der mittelgroßen Hündin mit dem flauschigen Fell entgegen. Elise strebte zur Eingangstür der Erdgeschosswohnung und ließ sich dort auf den Fliesen nieder.

Lotte schüttelte verständnislos den Kopf. »So langsam wirst du mir unheimlich, Elise. Dass du genau weißt, wann Ronja aus der Schule kommt und fünf Minuten vor ihrer Ankunft zur Tür gehst, hat Frau Hansen mir ja schon erzählt. Aber dass dir klar ist, dass Ronja in ein paar Minuten von der Geburtstagsfeier ihrer Freundin heimkehren wird, ist doch eigentlich unmöglich.«

Obwohl sie es als unmöglich bezeichnet hatte, war Lotte Landberg sicher, dass ihre Tochter innerhalb der nächsten Minuten nach Hause kommen würde. Elise hatte ein unerklärliches Gespür dafür, wann Ronja aus der Schule kam. Egal, wo die Hündin sich gerade aufhielt, einige Minuten vor Ronjas Ankunft ging sie zur Eingangstür, legte sich dort hin und wartete auf das Mädchen. Das hatte ihr Frau Hansen berichtet, die rüstige Rentnerin, die unter der Woche auf Elise aufpasste, wenn Ronja in der Schule und sie, Lotte, bei der Arbeit war. Nun war die Schule ja meistens um dieselbe Zeit zu Ende, und man hätte annehmen können, dass Elise einer Art inneren Uhr folgte. Aber wann Ronja von der Geburtstagsfeier heimkehren würde, konnte die Hündin nicht wissen, und trotzdem ahnte sie es genau.

Und tatsächlich: Nur wenige Minuten nachdem Elise ihren Platz an der Eingangstür bezogen hatte, wurde die Tür von außen aufgeschlossen. Die zehnjährige Ronja trat in die Diele und umarmte Elise, von der sie stürmisch begrüßt wurde.

»Ich habe dir etwas mitgebracht«, sagte Ronja, griff in ihre Jackentasche und zog eine Serviette hervor, in die sie ein Cocktailwürstchen eingewickelt hatte. Elise nahm den Leckerbissen freudig entgegen und folgte anschließend dem Mädchen, das zu seiner Mutter eilte.

»Das war eine ganz tolle Geburtstagsfeier«, berichtete Ronja. »Es gab Kartoffelsalat mit Würstchen, und Sophies Mutter hatte jede Menge Spiele vorbereitet. Eine Tombola gab es auch. Ich habe ein Radiergummi gewonnen, das aussieht wie ein Schaf.«

Stolz zeigte Ronja ihrer Mutter den Gewinn und erzählte eifrig, was sie auf der Geburtstagsfeier erlebt hatte und welche Kinder dagewesen waren. Erst als sie auf die Uhr schaute, fiel ihr etwas ein:

»Kommt Christian eigentlich heute zum Abendessen?«, wollte sie wissen.

Lotte nickte. »Ja, in ungefähr einer Stunde wird er hier sein. Es gibt Nudelauflauf mit Hackfleisch. Den magst du doch ganz besonders gern.«

»Stimmt, aber ich mag nicht nur Nudelauflauf. Christian mag ich auch. Er ist richtig nett, viel netter als Papa. Vor dem hatte ich eigentlich immer Angst. Und ich mag es gar nicht, dass er sich manchmal meldet und wir dann mit ihm Eis essen gehen oder sonst etwas unternehmen müssen«, stieß sie hervor.

»Ich mag das auch nicht«, gestand Lotte. »Aber das müssen wir tun. Es ist nun einmal dein Vater. Zum Glück meldet er sich ja nur selten.«

Lotte dachte nicht gern an ihren Exmann, von dem sie seit vier Jahren geschieden war. Sie hatte ihn relativ jung geheiratet, war damals erst einundzwanzig Jahre alt gewesen, weil sich ein Baby angemeldet hatte. Zunächst war die Ehe recht glücklich gewesen. Bodos Autohandel, den er sich aufgebaut hatte, lief erstaunlich gut, und Lotte konnte ihr Studium trotz der Schwangerschaft fortführen. Aber dann – Ronja war noch nicht lange auf der Welt – veränderte sich Bodo deutlich. Offensichtlich fühlte er sich als Familienvater überfordert, wurde ungeduldig, schnell aufbrausend und Lotte gegenüber gelegentlich sogar gewalttätig. Lange Zeit hatte die junge Frau gehofft, dass Bodo sich ändern und friedfertiger werden würde. Aber diese Hoffnungen erfüllten sich nicht. Es wurde sogar immer schlimmer. Schließlich hatte Lotte keine andere Möglichkeit mehr gesehen, als die Konsequenzen zu ziehen und sich von Bodo scheiden zu lassen. Er hatte darauf zornig reagiert, Lotte eine Szene nach er anderen gemacht, am Ende aber doch nichts gegen die Scheidung unternehmen können.

Ein Jahr danach hatte Lotte eine Anstellung als Grundschullehrerin bekommen und schon nach kurzer Zeit Christian Behrend kennen gelernt, der im Realschulzweig des Schulzentrums unterrichtete. Die beiden waren sich schnell näher gekommen und hatten sich ineinander verliebt.

Ronja war vom Freund ihrer Mutter begeistert und verstand sich ausgezeichnet mit ihm. Sie erfuhr auch, dass Christian eine ähnliche Enttäuschung erlebt hatte wie ihre Mutter. Er war von seiner Freundin nach über einem Jahr urplötzlich von einem Tag auf den anderen verlassen worden, weil sie auf einer Party einen anderen Mann kennengelernt hatte, der ihr besser gefiel als Christian. Er hatte lange unter der Trennung gelitten, sie inzwischen aber gut verarbeitet und war bereit, sich sein Leben neu einzurichten.

Bei Lotte war das anders. Nach dem Schiffbruch, den sie in ihrer Ehe erlebt hatte, wollte sie sich vorläufig nicht neu binden. Dazu fehlte ihr einfach der Mut. Christian hatte Verständnis für Lottes Ängste, hoffte aber, dass sie irgendwann erkennen würde, dass sie beide miteinander glücklich werden konnten – als Ehepaar. Schließlich waren nicht alle Männer so wie Bodo.

Am liebsten hätte Christian Lotte vom Fleck weg geheiratet, um ihr das zu beweisen, doch er wusste, dass er sich gedulden musste. Immerhin waren sie derzeit alle drei ziemlich glücklich und genossen es, sooft wie möglich beisammen zu sein und viel miteinander zu unternehmen.

*

Als am nächsten Tag das Telefon läutete, dachte Lotte an nichts Böses. Als sie allerdings Bodos Stimme erkannte, runzelte sie unwillig die Stirn. Es kam höchst selten vor, dass ihr geschiedener Mann sich telefonisch bei ihr meldete, und sie verzichtete auch gerne auf Gespräche mit ihm. Meistens beklagte er sich darüber, dass er Ronja zu selten sah. Dabei war bei der Scheidung verfügt worden, dass es für ihn kein regelmäßiges Besuchsrecht gäbe, weil seine Tochter bei ihrem Vater, der als gewalttätig galt, gefährdet sei. Lotte hatte Bodo von sich aus dann das Recht eingeräumt, Ronja hin und wieder sehen zu können. Allein durfte er dabei mit dem Mädchen jedoch nicht sein und Ronja auch nicht zu sich nach Hause einladen. Lotte wollte immer anwesend sein, wenn ihre Tochter mit dem Vater zusammen war.

Die Treffen fanden auch stets in der Öffentlichkeit statt, in einem Eiscafé, einem Restaurant oder einem Freizeitpark. Durch leidvolle Erfahrung klug geworden, wollte Lotte nicht allein mit ihrem Exmann sein, und Ronja schon gar nicht.

»Ich werde dich in den nächsten Tagen besuchen«, teilte Bodo Lotte mit. »Wann passt es dir am besten? Vielleicht Donnerstag so gegen sechzehn Uhr?«

»Es passt mir weder am Donnerstag noch an irgendeinem anderen Tag«, erwiderte Lotte. »Ich kann gern auf deinen Besuch verzichten und möchte dich nicht sehen.«

»Nun sei doch nicht gleich so kratzbürstig. Es handelt sich immerhin um ein sehr wichtiges Gespräch, das auch Ronjas Zukunft betrifft.«

Lotte wurde immer ungehaltener. »Um Ronjas Zukunft brauchst du dir keine Gedanken zu machen. Darum werde ich mich ganz allein kümmern und dafür sorgen, dass es dem Mädchen an nichts fehlen wird. Es ist absolut unnötig, dass wir jetzt ein Gespräch darüber führen. Ich möchte nicht von dir besucht werden und hoffe, dass du meinen Wunsch akzeptierst.«

»Nein, das werde ich nicht tun.« Bodos Stimme klang jetzt unangenehm scharf. »Ronja ist auch meine Tochter. Also habe ich ebenso wie du über ihre Zukunft zu bestimmen, und ich lasse mich von dir nicht einfach abwimmeln. Es gibt etwas mit dir zu besprechen, und das werde ich auch tun, ob nun mit oder ohne deine gütige Zustimmung.«

»Du wirst mich nicht besuchen«, entgegnete Lotte. »Wen ich in meine Wohnung lasse, entscheide ich allein, und über Ronja hast du nicht zu bestimmen. Das weißt du auch ganz genau. Also lass mich bitte in Ruhe.«

Lotte legte auf und schüttelte unwillig den Kopf. Bis jetzt war Bodo noch nie auf die Idee gekommen, sie zu Hause zu besuchen, und das würde sie auch niemals zulassen. Eine Weile lang ärgerte sie sich noch über die unverschämte Forderung ihres Exmannes. Aber schon bald hatte sie das Telefongespräch verdrängt.

Deshalb erwähnte sie es auch Ronja und Christian gegenüber nicht, mit denen sie ein paar Stunden später zusammen am Tisch saß und die selbst zubereitete Pizza genoss. Es herrschte eine entspannte und heitere Stimmung, und an Bodo verschwendete Lotte keinen Gedanken mehr.

*

Christian, Lotte und Ronja hatten am Wochenende die Gelegenheit genutzt, um einen Freizeitpark zu besuchen. Es handelte sich zwar nicht um eine riesige Einrichtung dieser Art, dafür durften aber Hunde mitgebracht werden, wenn sie an der Leine geführt wurden. Auch wenn es keine große Anzahl an Attraktionen gab, hatten die drei ihren Spaß, und für Elise gab es an den Wegrändern viele interessante Gerüche. Mitten im Freizeitpark befand sich ein Grillrestaurant, das von einer großzügigen Terrasse umgeben war.

Nachdem sie sich einen Imbiss besorgt hatten, nahmen Lotte, Christian und Ronja an einem der Tische Platz. Gleich nebenan saßen mehrere Kinder und einige Erwachsene, die die Kindergruppe offensichtlich begleiteten.

»Du hast einen sehr hübschen Hund«, bemerkte eines der Kinder und wies auf Elise. »Wie heißt er denn, und wie heißt du? Mein Name ist Fabian Schöller.«

»Und ich heiße Ronja Landberg«, gab die Zehnjährige gern Auskunft. »Mein Hund ist übrigens eine Hündin. Sie heißt Elise und ist drei Jahre alt. Hast du zu Hause auch einen Hund?«

»Ja, ich habe eine Dogge, die Anglos heißt. Wir haben sie heute aber nicht mitgebracht, sondern in Sophienlust gelassen. Da fühlt sie sich wohl, und da sind auch genügend Menschen, die sich um sie kümmern.«

»Sophienlust?« Ronja runzelte nachdenklich die Stirn. »Ist das eine Hundepension?«

»Nein, Sophienlust ist ein Kinderheim, das schönste und beste Kinderheim dieser Welt. Wir alle wohnen dort, weil die meisten von uns keine Eltern mehr haben. Hier neben mir sitzt Martin. Er ist zwölf Jahre alt, genau wie ich. Das Mädchen mit den vielen Sommersprossen ist Pünktchen. Sie ist schon fünfzehn Jahre alt und heißt eigentlich Angelina. Aber wir nennen sie wegen ihrer Sommersprossen Pünktchen. Die beiden kleinen Kinder heißen Kim und Heidi und sind sechs und sieben Jahre alt. Kim kommt aus Vietnam, aber er spricht schon sehr gut Deutsch.«

»Fabian, du verwirrst die arme Ronja ja völlig mit der Vorstellung all der fremden Kinder«, bemerkte die Frau lachend, die mit am Tisch saß.

»Ach ja«, sprach der Junge sofort weiter. »Das ist übrigens Schwester Regine, die Kinderschwester von Sophienlust. Neben ihr sitzt Nick. Eigentlich ist sein Name Dominik von Wellentin-Schoenecker. Aber wir alle sagen einfach Nick zu ihm. Ihm gehört Sophienlust. Er hat das Kinderheim geerbt, als er noch ganz klein war. Seine Mutter, unsere Tante Isi, hat Sophienlust für ihn verwaltet. Aber dann ist Nick achtzehn Jahre alt geworden und kann jetzt selbst bestimmen, was in Sophienlust gemacht wird und was nicht. Er studiert Kinderpsychologie und später…«

»Halt!«, rief Nick amüsiert. »Jetzt wird es wirklich etwas zu viel. Du redest ja wie ein Wasserfall. So viele Informationen auf einmal kann die arme Ronja unmöglich behalten.«

»Ach, ich habe schon eine ganze Menge verstanden«, bemerkte Ronja. »Und wenn ich etwas vergessen habe, kann ich ja nachfragen. Fabian, Pünktchen, Martin oder auch Heidi und Kim erklären dann bestimmt alles noch einmal.«

»Ja, das wir machen«, bestätigte Kim. »Aber wahrscheinlich wir gar nicht müssen tun das. Du hast schon gelernt alle Namen von uns. Dann du auch hast behalten die andere Sachen, die Fabian hat erklärt.«

»Wir haben natürlich zugehört und auch das meiste begriffen«, ließ Christian Behrend sich amüsiert vernehmen. »Aber eines erstaunt uns dann doch sehr: Fabian hat vorhin gesagt, dass Sie gerade erst volljährig geworden sind. Ich möchte Sie wirklich nicht beleidigen, Herr von Wellentin-Schoenecker, aber kann man in so jungen Jahren tatsächlich schon ein Kinderheim leiten, in dem täglich schwerwiegende Entscheidungen getroffen werden müssen?«

Nick lächelte verständnisvoll. »Erst einmal bitte ich Sie, mich nicht Herr von Wellentin-Schoenecker zu nennen. Sagen Sie einfach Nick zu mir. Diese Anrede ist mir vertraut und gefällt mir auch besser. Nun, als ich Sophienlust erbte, war ich gerade sechs Jahre alt. Damals war das ehrwürdige alte Herrenhaus noch kein Kinderheim. Meine Urgroßmutter Sophie hatte in ihrem Testament verfügt, dass ihr Anwesen zu einem Heim für in Not geratene Kinder umgestaltet werden sollte. Diesen letzten Wunsch hat meine Mutter stellvertretend für mich gern erfüllt. Ich bin also praktisch selbst in diesem Kinderheim aufgewachsen und von Anfang an mit allem konfrontiert worden, was dort so vor sich geht. Deshalb sind die alltäglichen Dinge für mich Routine. Wenn schwierige Entscheidungen zu fällen sind, frage ich meine Mutter um Rat. Sie hat ja weitaus mehr Erfahrung als ich. Ganz ohne sie würde Sophienlust vermutlich nicht funktionieren. Außerdem ist das Kinderheim ihr Lebenswerk, aus dem ich sie keinesfalls verdrängen möchte.«

»Das hört sich alles sehr interessant an«, stellte Lotte fest. »Ich glaube, Sophienlust ist in der Tat ein besonderes Kinderheim. Wenn ich Fabian vorhin richtig verstanden habe, dürfen Kinder sogar ein Haustier mitbringen. Fabian sprach von einer Dogge, die ihm gehört.«

»Ja, das stimmt«, bestätigte Martin Felder an Nicks Stelle. »Tiere sind bei uns immer willkommen. In Sophienlust gibt es auch einen Bernhardiner, der Barri heißt, und im Wintergarten wohnt der Papagei Habakuk. Dann sind da noch mehrere Pferde und Ponys. Die leben natürlich nicht im Wintergarten, sondern in einem Stall, der genauso zum Gelände gehört wie die große Weide.«

Ronja, Christian und Lotte waren stark beeindruckt. Alle drei hatten sich noch nie wirklich ernsthaft gefragt, wie es in einem Kinderheim eigentlich zuging. Aber eine gewisse Vorstellung hatten sie trotzdem gehabt, und in dieser Vorstellung waren Kinderheime stets etwas trist gewesen. Sophienlust hingegen schien ein kleines Paradies zu sein.

Nachdem sie mehr als eine halbe Stunde anregend geplaudert hatten, mahnte Schwester Regine allerdings zum Aufbruch.

»In gut einer Stunde schließt der Freizeitpark, und wir wollen hier doch noch eine Menge unternehmen. Wenn Ronja mag, kann sie mit ihren Eltern ja einmal nach Wildmoos kommen und uns in Sophienlust besuchen.«

Ronja verzichtete darauf zu erwähnen, dass Christian nicht ihr Vater, sondern nur der Freund ihrer Mutter war. Auch Lotte und Christian selbst verloren kein Wort darüber. Sie nahmen den Vorschlag der Kinderschwester dankend an und verabschiedeten sich freundlich, dann trennten sich ihre Wege.

*

Als es an der Tür läutete, lief Elise schwanzwedelnd in die Diele. Doch kaum hatte sie die Tür erreicht, als sie die Lefzen hochzog und ein tiefes Knurren ertönen ließ. Das Fell in ihrem Nacken stellte sich zu einer Bürste auf.

Lotte hatte keine Ahnung, wer draußen geklingelt hatte. Aber Elises Verhalten ließ sie vorsichtig werden. Die Hündin hatte schon oft bewiesen, dass sie ein besonderes Gespür für heikle Situationen hatte, und hier schien jemand draußen vor der Tür zu stehen, den Elise für gefährlich hielt. Deshalb legte Lotte die Sperrkette vor, bevor sie die Tür einen Spalt öffnete. Ihr Blick fiel auf Bodo, der draußen stand und einen ungeduldigen Eindruck machte.

»Wie lange willst du mich denn noch warten lassen? Ich habe dir doch gesagt, dass ich dich heute besuchen werde. Also mach schon die Tür auf. Wir beide haben wichtige Dinge miteinander zu besprechen.«

»Aber nicht hier in meiner Wohnung«, entgegnete Lotte. »Ich möchte nicht mit dir allein sein, und du weißt auch genau, warum ich das nicht will. Außerdem wüsste ich nicht, worüber wir reden müssten. Du solltest also jetzt wieder gehen.«

Obwohl die Sperrkette vorgelegt war, gelang es Bodo, einen Fuß in den Türspalt zu setzen. ­Damit verhinderte er, dass Lotte die Tür einfach wieder schließen konnte.

»Du wirst mit mir reden müssen und zwar jetzt. Es geht schließlich um Ronja, und die sollte dir doch nicht gleichgültig sein.«

Lotte wollte Bodo nicht in ihre Wohnung lassen. Sie fürchtete sich davor, mit diesem Mann allein zu sein. Dass er leicht aufbrausend und dann auch gewalttätig werden konnte, hatte er bereits mehrfach bewiesen, als sie beide noch miteinander verheiratet gewesen waren.

»Du kennst das kleine Café am Ende der Straße«, sagte Lotte. »Da kannst du hingehen und auf mich warten. Ich bin in ungefähr fünfzehn Minuten dort.«

Mit diesem Vorschlag war Bodo einverstanden. Er nickte, zog seinen Fuß aus dem Türspalt und verschwand. Lotte atmete auf und zog sich rasch um. Sie konnte sich nicht erklären, was Bodo von ihr wollte, und eigentlich interessierte sie das auch gar nicht. Aber mit ihrem Vorschlag war sie ihn erst einmal losgeworden, und in dem Café konnte sie ihm nochmals mitteilen, dass sie keine Gespräche mit ihm führen wollte. In Anwesenheit von Gästen und den Angestellten würde er es mit Sicherheit nicht wagen, ausfallend zu werden oder sie sogar anzugreifen.

Als Lotte das Café erreichte, saß Bodo schon mit einer Tasse Kaffee und einem Stück Kuchen an einem der Tische. Lotte nahm ihm gegenüber Platz und schaute sich kurz um. An drei anderen Tischen saßen mehrere Gäste, und zwei Angestellte waren hinter der Theke beschäftigt. Es waren also ausreichend Leute anwesend, die ihr im Notfall zu Hilfe kommen konnten.

»Viel Zeit habe ich nicht«, verkündete Lotte. »Ronja ist noch in der Schule und wird bald zurückkommen. Ich möchte zu Hause sein, wenn sie eintrifft. Also sage mir, was du zu sagen hast, und dann gehe ich wieder.«

»Na gut, dann eben die Kurzfassung.« Bodo grinste, und in diesem Grinsen war die Überheblichkeit deutlich erkennbar. »Ich habe eine große Erbschaft gemacht. Mein reicher alleinstehender Onkel ist gestorben. Jetzt kann ich meinen Autohandel großzügig erweitern und vielleicht sogar ein zweites Geschäft im Ausland aufziehen. Ich bin ein gemachter Mann und kann meiner Tochter alles bieten, was sie sich nur wünschen kann. Du hast die Kleine jetzt lange genug gehabt. Nun bin ich mal dran. Auch wenn du das Sorgerecht zugesprochen bekommen hast, ist Ronja auch meine Tochter. Deshalb werde ich sie jetzt zu mir nehmen.«

Lotte tippte sich an die Stirn. »Was sollen denn solche Hirngespinste? Ich gratuliere dir zu der Erbschaft. Aber die hat überhaupt nichts mit Ronja zu tun. Selbst wenn du Millionen geerbt hättest, gäbe es dir nicht das Recht, das Mädchen zu dir zu holen. Ronja bleibt selbstverständlich bei mir. Es wird sich nichts ändern. Kein Gericht der Welt würde dir das Sorgerecht für unsere Tochter erteilen.«

Wieder grinste Bodo. »Wir müssen kein Gericht bemühen. Was wir privat miteinander vereinbaren, geht keinen Richter was an. Ich mach dir einen Vorschlag: Du überlässt mir Ronja, damit sie bei mir ein Leben in Luxus führen kann. Als Gegenleistung kannst du Ronja hin und wieder sehen und auch etwas mit ihr unternehmen.«

»Du bist nicht ganz gescheit«, entfuhr es Lotte. »Dein Vorschlag ist eine Unverschämtheit. Ronja mag dich nicht. Sie hat nicht vergessen, dass du ein gewalttätiger Mensch bist. Deshalb hat sie Angst vor dir und würde nie bei dir leben wollen. Vergiss deinen Vorschlag. Aus deinem Plan wird nichts.«

»Doch«, widersprach Bodo. »Diesen Plan ziehe ich in jedem Fall durch, denn er gefällt mir. Ronja wird sich schon an mich gewöhnen und sehr bald einsehen, dass ich ein ziemlich netter Papa bin. Überlege dir gut, ob du meinen Vorschlag nicht doch annehmen willst. Wenn du ihn nämlich ablehnst, nützt dir das gar nichts und du wirst es bereuen.«

»Du bist wirklich völlig verrückt«, stellte Lotte fest und schüttelte fassungslos den Kopf. »Ich lasse mich nicht von dir erpressen. Du bekommst Ronja auf keinen Fall. Dafür werde ich schon sorgen.«

Entschlossen stand sie auf und verließ das Café, ohne sich von Bodo zu verabschieden oder ihn auch nur eines weiteren Blickes zu würdigen. Sie war wütend, gleichzeitig aber auch von Angst erfüllt. Das wollte sie aber auf keinen Fall zeigen. Trotzdem war ihr klar, dass die Angelegenheit nicht beendet sein würde. Ihre Weigerung, ihm Ronja zu überlassen, würde Bodo niemals akzeptieren. Lotte hatte die Erfahrung gemacht, dass er seinen Willen immer durchzusetzen versuchte, was ihm aufgrund seiner Hartnäckigkeit und seines aggressiven Wesens meistens auch gelang.

Auf dem Heimweg fragte sich Lotte, wie sie ihre Tochter schützen könnte. Bodo würde nicht zögern, sie irgendwo abzupassen und mitzunehmen. Vielleicht sogar ins Ausland zu bringen, wo er ein neues Geschäft aufziehen wollte, wie er gesagt hatte. Aber es war für sie einfach nicht möglich, ein zehn Jahre altes Mädchen vierundzwanzig Stunden am Tag im Auge zu behalten! Ronja selbst war nicht stark genug, um sich gegen Bodo zur Wehr zu setzen.

Lotte musste sich eingestehen, dass sie ein ernsthaftes Problem hatte. Aber als Ronja kurz nach ihr mit Elise zu Hause eintraf, sprach sie mit dem Mädchen nicht über dieses Thema. In ihrem Kopf schwirrten die Gedanken noch wild durcheinander, und die wollte Lotte erst einmal sortieren.

Es hatte keinen Sinn, Ronja jetzt gleich von Bodos Plänen zu berichten und sie damit womöglich in Panik zu versetzen. Davon würde ihre Tochter noch früh genug erfahren. Heute oder morgen würde Bodo ganz bestimmt noch nichts unternehmen. Schließlich musste er zunächst einmal Vorbereitungen für seinen Plan treffen…

*

Nachdem der Unterricht beendet war, packte Christian Behrend im Lehrerzimmer seine persönlichen Sachen zusammen und machte sich auf den Heimweg. Sehr lange blieb er dort allerdings nicht. Es zog ihn zu Lotte und Ronja. In den letzten Wochen war es ohnehin zur Gewohnheit geworden, dass das Abendessen gemeinsam stattfand. Manchmal bereitete Lotte es zu, und dann wieder versuchte Christian sich als Koch. Das gelang nicht immer und ging mitunter so gewaltig schief, dass er Lotte und Ronja in ein Restaurant einlud. Diese vollständig missglückten Kochkünste liebte Ronja ganz besonders. In einigen dieser Fälle fand sie sich mit Christian und ihrer Mutter dann nämlich in der Pizzeria wieder, die sie ganz besonders liebte. Dass Christians Fähigkeiten als Koch begrenzt waren, gefiel Ronja sehr.

Als Christian an diesem Abend bei Lotte und Ronja eintraf, fiel ihm sofort auf, dass Lotte nicht so heiter wirkte wie sonst. Es war deutlich zu erkennen, dass es da etwas gab, das sie bedrückte und ihr Sorgen bereitete. Trotzdem erkundigte er sich nicht sofort danach. Erst das Abendessen beendet, der Tisch abgeräumt und Ronja in den Garten gegangen war, sprach er Lotte darauf an.

»Ich habe gemerkt, dass dir schon die ganze Zeit etwas durch den Kopf geht«, begann er. »Ganz offensichtlich hast du Sorgen. Willst du mir nicht davon berichten? Vielleicht kann ich dir helfen oder dir wenigstens einen guten Rat geben.«

»Du hast recht«, bestätigte Lotte. »Ich mache mir wirklich Sorgen, sehr große Sorgen sogar. Es geht um Ronja. Sie ist in Gefahr, und ich weiß nicht, wie ich sie schützen könnte.«

Ausführlich erzählte Lotte nun von Bodos Besuch, seiner Forderung und auch seiner Drohung. Christian hörte ihr aufmerksam zu, und während Lotte berichtete, nahm auch sein Gesicht mehr und mehr sorgenvolle Züge an.

»Ich kenne deinen Exmann nicht persönlich, aber er meint seine Drohung wahrscheinlich ernst, nach allem, was du mir so von ihm erzählt hast.«

»Und ob Bodo es ernst meint«, erwiderte Lotte. »Er wird alles versuchen und nicht eher Ruhe geben, bis er Ronja bei sich hat. Dass er sich strafbar macht, wenn er das Mädchen praktisch entführt, interessiert ihn nicht. Ich habe Angst, dass er sich mit Ronja ins Ausland absetzen könnte. Seine hiesige Adresse kenne ich und kann ihm Ronja von der Polizei wieder abnehmen lassen. Aber wenn er ins Ausland flüchtet, werde ich ihn möglicherweise nicht ausfindig machen können. Dann sehe ich meine Tochter nie wieder, und sie muss ihr Leben bei einem Mann verbringen, vor dem sie sich fürchtet. Ich darf gar nicht daran denken, dass so etwas passieren könnte. Aber ich weiß auch nicht, wie ich Ronja schützen könnte. Bodo weiß, in welche Schule sie geht und wo sie mit Elise ihre Spaziergänge unternimmt. Es wäre einfach für ihn, dort aufzutauchen und das Kind mitzunehmen.«

»Die Situation ist wirklich beängstigend«, gab Christian zu. »Wir müssen unbedingt verhindern, dass dein Exmann an Ronja herankommt. Das ist erst einmal der wichtigste Schritt.«

Lotte nickte zustimmend. »Aber wie sollen wir das bewerkstelligen? Darüber habe ich mir schon den Kopf zerbrochen, doch mir ist nichts eingefallen.«

»Ich habe da gerade eine Idee.« Christian lächelte Lotte aufmunternd zu. »Ob sie sich verwirklichen lässt, weiß ich noch nicht, aber wir sollten es versuchen. Du erinnerst dich doch an unseren Besuch im Freizeitpark und die Kinder aus dem Kinderheim Sophienlust in Wildmoos? Sie haben alle so sehr von ihrem Heim geschwärmt. Es scheint dort tatsächlich paradiesisch zu sein. Vielleicht können wir Ronja für eine Weile dort unterbringen. Wenn wir von unserer Notlage erzählen, wird man uns bestimmt helfen. In Sophienlust findet Bodo das Mädchen nicht. Er wird Ronja vergeblich suchen. Wenn er keinen Erfolg hat, gibt er seinen Plan vielleicht sogar sehr schnell auf. Natürlich muss Ronja mit unserem Vorschlag einverstanden sein. Aber wenn sie erfährt, dass alles nur zu ihrem eigenen Schutz geschieht und dass sie ihre Elise vermutlich sogar mit nach Sophienlust nehmen darf, wird sie wahrscheinlich ganz gern für eine Weile dort wohnen wollen.«

Lotte dachte einen Moment lang nach. »Das ist gar keine schlechte Idee. Wildmoos ist so weit von hier entfernt, dass Bodo das Kind nicht finden kann. Es ist auch unmöglich, dass Ronja ihm rein zufällig über den Weg läuft. Trotzdem können wir sie mehrmals in der Woche besuchen. Wenn wir mit dem Auto fahren, erreichen wir Sophienlust in einer halben Stunde. Nach unserem Besuch im Freizeitpark habe ich aus reiner Neugier nämlich einmal nachgesehen, wo genau dieses Kinderheim liegt.«

Sie seufzte. »Bevor wir mit Ronja reden, möchte ich aber gerne in Sophienlust anrufen und mich erkundigen, ob man uns helfen und sie aufnehmen kann.«

Christian schaute auf seine Armbanduhr. »Jetzt ist es für einen solchen Anruf vielleicht schon ein bisschen zu spät. Aber du kannst gleich morgen früh telefonieren. Wenn du deutlich machen kannst, in welcher Gefahr Ronja sich befindet, werden sie uns vielleicht recht schnell einen Platz anbieten können. Bis dahin sollten wir Ronja ständig im Auge behalten. Notfalls nehme ich mir ein paar Tage Sonderurlaub und passe auf sie auf. Die Kleine soll nicht eine Minute lang unbeaufsichtigt sein.«

»Das ist ein sehr schönes Angebot von dir«, bemerkte Lotte und lächelte Christian dankbar an. »Aber Sonderurlaub kann ich mir auch nehmen. Mit ganz viel Glück ist das aber gar nicht nötig. Ich werde morgen direkt nach dem Frühstück in dem Kinderheim anrufen, wenn Ronja Elise zu unserer Nachbarin bringt. Dort ist sie immer ein Weilchen beschäftigt und bekommt von dem Telefongespräch nichts mit.«

Christian und Lotte wechselten das Thema. Ronja kam gerade mit Elise aus dem Garten zurück und sollte von dem Vorhaben im Augenblick ja noch nichts erfahren.

*

Vor dem prachtvollen Anwesen stiegen die älteren Kinder gerade in den roten Kleinbus, der sie zum Gymnasium nach Maibach fahren sollte. Schwester Regine schloss die Türen und winkte den Kindern nach, als sich der Bus in Bewegung setzte. Das tat sie jeden Tag, und dieses Ritual war inzwischen zur Tradition geworden.

Nick hatte sich heute etwas mehr Zeit für sein Frühstück genommen. Da er am vergangenen Tag bis tief in die Nacht hinein für eine Prüfung gelernt hatte, war er jetzt nicht ganz ausgeschlafen. Mit seiner Gabel angelte er nach den spärlichen Überresten der Rühreier, die noch auf dem großen Servierteller zu finden waren.

»Nick, du brauchst doch nicht nach Krümeln zu suchen«, erklärte die Köchin Magda, die gerade den Tisch abräumen wollte. »Wenn du nicht satt geworden bist, mache ich schnell noch neue Rühreier für dich.«

»Nein danke, das ist nicht nötig«, erwiderte Nick. »Ich bin nicht mehr hungrig, nur ein bisschen unausgeschlafen. Ich hatte keine Lust, vom Tisch aufzustehen, und da dann gerade die Reste auf dem Teller lagen, habe ich danach geangelt, einfach so.«

»Wahrscheinlich hast du wieder die halbe Nacht lang gelernt«, mutmaßte Magda mitleidig. »Das solltest du nicht tun, Junge. Du brauchst doch deinen Schlaf.«

»Das schon, aber ich möchte auch die Prüfung bestehen, die nächste Woche auf dem Plan steht. Außerdem will ich auch so gut wie möglich abschneiden.«

Nicks Argument leuchtete der Köchin ein. Trotzdem hätte sie ihm beinahe tröstend über den dunklen Schopf gestreichelt, so wie sie es getan hatte, als er noch ein kleiner Junge war. Wie schnell die Zeit verging! Nachdenklich räumte sie das Geschirr vom Tisch auf den Servierwagen.

Als das Telefon läutete, nahm Nick das Gespräch an. Zunächst sagte ihm der Name der Anruferin nichts. Erst als sie den Freizeitpark erwähnte, erinnerte Nick sich wieder. Er hörte sich die Geschichte an, die Lotte Landberg ihm erzählte. Und er erkannte den Ernst der Lage sofort. Hier musste umgehend gehandelt werden. Die Situation duldete keine Verzögerungen.

»Wir sind jederzeit bereit, Ronja und auch ihren Hund bei uns in Sophienlust aufzunehmen«, erklärte Nick, nachdem Lotte ihm etwas atemlos alles berichtet hatte. »Können Sie Ihre Tochter noch heute zu uns bringen? Sie brauchen nicht viele Sachen einzupacken. Was Ronja benötigt oder unbedingt haben möchte, kann später nachgeliefert werden. Wichtig ist erst einmal, dass sie selbst in Sicherheit gebracht wird.«

Lotte war über Nicks verständnisvolle Art und seine spontane Hilfsbereitschaft überwältigt. So einfach hatte sie sich die Aktion gar nicht vorgestellt. Sie versprach, mit Ronja am späten Nachmittag nach Sophienlust zu kommen. Bis dahin hatte sie reichlich Gelegenheit, mit ihrer Tochter zu sprechen. Dass diese sich gegen den Aufenthalt in Sophienlust wehren würde, konnte Lotte sich nicht vorstellen. Dazu hatte das Mädchen zu viel Angst vor seinem Vater.

Später, während der großen Pause, setzte Lotte sich mit Christian in Verbindung, der in dem direkt benachbarten Gebäude arbeitete, in dem die Realschule untergebracht war. Sie berichtete ihm von ihrem Gespräch mit Nick und brauchte ihn gar nicht erst zu bitten. Er bot sofort von sich aus an, sie und Ronja nach Sophienlust zu begleiten.

Als Lotte am späten Mittag nach Hause kam, war Ronja schon dort. Oft gingen Mutter und Tochter gemeinsam nach Hause. Aber wenn Lotte noch länger Unterricht oder eine Besprechung mit Kollegen hatte, machte Ronja sich allein auf den relativ kurzen Heimweg, den man in knapp zehn Minuten zurücklegen konnte.

Das bereits vorgekochte Mittagessen war schnell aufgewärmt, und als Lotte und Ronja zusammen am Tisch saßen, berichtete Lotte vorsichtig von dem Problem mit Bodo und der Lösung, die Christian vorgeschlagen hatte.

Ronjas erste Reaktion war Wut auf den Vater. »So ein gemeiner Mensch!«, ereiferte sie sich. »Ich will mich aber nicht zwingen lassen, bei diesem Kerl leben zu müssen. Es ist mir auch ganz egal, dass er mein Vater ist. Ich habe Angst vor ihm. Christians Idee ist wirklich gut. Ich glaube, in Sophienlust wird es mir ganz gut gefallen, und ich muss ja sowieso nicht für immer dort leben, so wie die anderen Kinder, die keine Mutter und keinen Vater mehr haben. Ich habe dich, und wenn mein Vater eingesehen hat, dass seine Idee nur blöd ist, dann kann ich wieder zu dir zurückkommen.«

»Ich hoffe, dass das bald der Fall sein wird«, sagte Lotte. »Ohne dich wird es in der Wohnung ganz ungewohnt leer sein. Du wirst mir fehlen. Aber ich werde dich ganz oft besuchen.«

»Du hast ja auch noch Christian«, versuchte Ronja ihre Mutter zu trösten. »So ganz allein bist du nicht. Aber ich werde auch froh sein, wenn der ganze Spuk ein Ende hat und ich wieder nach Hause kommen kann, obwohl es in Sophienlust sicher richtig schön sein wird.«

Lotte nahm ihre Tochter in die Arme, und für einen Moment drohten die Gefühle sie zu überwältigen. Dann riss sie sich zusammen. In der Abstellkammer stand die große grüne Reisetasche, die sie jetzt gleich zusammen mit Ronja packen wollte. Auch für Elise musste gepackt werden. Für sie reichte es allerdings, wenn ihr Korb, Futternäpfe, Bürste, Halsband und Leine ins Auto geladen wurden. Einen kurzen Augenblick lang dachte Lotte daran, dass sich in Sophienlust bereits zwei Hunde befanden. Die würden sich hoffentlich gut mit Elise vertragen. Da die Hündin einen sanftmütigen Charakter besaß, würde das wohl aber funktionieren.

*

Nach dem Telefongespräch mit Lotte Landberg hatte Nick sofort seine Mutter darüber informiert, dass noch heute ein neues Kind in Sophienlust Einzug halten würde. Denise von Schoenecker war seit vielen Jahren an solch unerwartete Ankünfte von Kindern gewöhnt. Außerdem war sie stolz auf ihren Sohn, der spontan zugesagt hatte, Ronja Landberg umgehend aufzunehmen, und sich nicht erst eine Bedenkzeit erbeten hatte. Nick war zwar mit seiner Familie auf Gut Schoeneich zu Hause, das nur wenige hundert Meter von dem Kinderheim entfernt lag, hatte sein Leben aber mehr oder weniger in Sophienlust verbracht. Dort war er zwangsläufig mit dem Alltag im Heim vertraut gemacht worden. Das hatte dazu geführt, dass Nick ein feines Gespür dafür entwickelt hatte, wann es sich um einen echten Notfall handelte, der keinen Aufschub duldete. Dieses Gespür, so hoffte Denise, würde ihr Sohn sich sein Leben lang erhalten.

Als Lotte mit Ronja, Christian und Elise in Sophienlust eintraf, wurden sie bereits von Nick und Denise erwartet. Auch alle Kinder hatten sich ausnahmslos in der Eingangshalle eingefunden. Inzwischen waren sie über den Neuzugang informiert und freuten sich darauf, Ronja begrüßen zu können.

Lotte und Christian waren von dem Herrenhaus, das wie ein kleines Schloss wirkte und mitten in einem Park lag, ebenso beeindruckt wie von der Freundlichkeit, mit der sie empfangen wurden. Nick und Denise behandelten alle drei wie gute alte Freunde, und es schien eine Selbstverständlichkeit zu sein, dass sie von einem Hund begleitet wurden.

Schon draußen vor dem Eingangsportal hatte Lotte festgestellt, dass Elise sich bestens mit Barri und Anglos vertrug. Die beiden hatten die Hündin freundlich begrüßt, und sie war sofort deren Aufforderung zum Spielen gefolgt.

»Für uns wäre es schön, wenn du für eine Weile bei uns bleiben würdest«, sagte Nick in der Eingangshalle zu Ronja. »Aber um eine Entscheidung zu treffen, willst du dir unser Haus bestimmt erst einmal ansehen. Ich denke, die Kinder werden dir gerne alles zeigen, und danach kannst du uns sagen, ob es dir gut genug gefällt, um bei uns wohnen zu wollen.«

»Eigentlich gefällt es mir jetzt schon«, erwiderte Ronja. »Aber natürlich bin ich auf alle Sachen neugierig, die es hier gibt, und schaue mir gerne alles an.«

Die Kinder ließen sich nicht zweimal bitten. Sie umringten die Zehnjährige und wetteiferten darum, wer von ihnen was zeigen durfte. Ronja zog fröhlich mit ihren neuen Freunden von dannen, ohne irgendeine Scheu zu zeigen.

Lotte und Christian folgten Nick und Denise in das Biedermeierzimmer. In diesem stilvollen Raum wurden stets alle Dinge besprochen, die als besonders wichtig galten. Am Telefon hatte Lotte bereits in Kurzform von ihren Problemen erzählt. Jetzt berichtete sie in allen Einzelheiten davon.

»Glauben Sie, dass Ihr geschiedener Mann von seinen Plänen Abstand nimmt, wenn er eine Weile vergeblich nach Ronja Ausschau gehalten hat?«, wollte Nick wissen.

»Ich hoffe es zumindest«, antwortete Lotte seufzend. »Bodo war immer äußerst hartnäckig, wenn es darum ging, seinen Willen durchzusetzen. Er ging stets mit dem Kopf durch die Wand, ohne vorher nachzudenken. Aber oft fehlte ihm die Geduld, ein Ziel über längere Zeit zu verfolgen. Wenn er nicht schnell erfolgreich war, gab er auf.«

»Dann arbeitet die Zeit für uns«, stellte Nick fest. »Ronja kann selbstverständlich auch für längere Zeit bei uns bleiben. Aber sie hat eine Familie, und dort ist sie noch besser aufgehoben als in Sophienlust. Selbst das beste Kinderheim kann eine Familie nicht ersetzen.«

»Mir wird Ronja sehr fehlen«, gab Lotte zu. »Aber ich bin Ihnen trotzdem unendlich dankbar für Ihre spontane Hilfe. Bei Ihnen ist meine Tochter in Sicherheit, und das beruhigt mich sehr.«

»Mich auch«, fügte Christian hinzu. »Ronja ist zwar nicht meine leibliche Tochter, aber ich mag sie sehr. Die Kleine bedeutet mir wirklich viel. Ich glaube, ein eigenes Kind könnte ich nicht mehr lieben.«

Nick und Denise nickten verstehend und lächelten Christian zu. Lotte Landbergs Lebensgefährte war ihnen äußerst sympathisch. Mit ihm hatte sie mit Sicherheit mehr Glück als mit Ronjas leiblichem Vater.

Die Formalitäten, die für die Aufnahme des Mädchens notwendig waren, waren schnell erledigt. Anschließend berichtete Denise auf Christinas Nachfrage hin, wie es damals mit Sophienlust angefangen hatte. Auch von einigen ganz besonderen Ereignissen der vergangenen Jahre erzählte Denise.

Während die Erwachsenen im Biedermeierzimmer saßen, wurde Ronja überall herumgeführt und lernte jeden Winkel des Kinderheims kennen. Von den Pferden und Ponys, die zu Sophienlust gehörten, war sie ebenso begeistert wie von dem Fahrradschuppen, in dem für die Kinder Fahrräder der unterschiedlichsten Größen standen. Durch die Berichte der Kinder im Freizeitpark wusste Ronja ja schon, dass es in Sophienlust schön sein musste. Aber so schön hatte sie es sich doch nicht vorgestellt. Jetzt war sie ganz sicher, dass sie gerne auch für längere Zeit hier wohnen würde, ohne Heimweh zu bekommen.

Entsprechend fiel später auch der Abschied von ihrer Mutter und Christian aus. Ronja umarmte die beiden herzlich, aber ohne besondere Wehmut. Die Trennung fiel ihr nicht allzu schwer. Außerdem war Elise ja bei ihr!

*

Bodo Landberg hatte sich maßlos darüber geärgert, dass Lotte ihm die Stirn geboten hatte und nicht auf seine Forderung eingegangen war. Für ihn war es ganz klar gewesen, dass sie ihm Ronja allein schon aus lauter Angst überlassen würde. Statt Angst hatte sie aber Entrüstung und Entschlossenheit gezeigt. Das wollte er seiner Exfrau nicht durchgehen lassen. Früher hatte sie sich immer nach seinen Wünschen gerichtet und sich seinem Willen widerstandslos unterworfen. Dass sich das jetzt geändert hatte, machte ihn regelrecht zornig. Er nahm sich fest vor, sich an Lotte zu rächen. Und das würde ihm am besten gelingen, wenn er ihr Ronja für immer wegnahm. Eigentlich hatte er das Mädchen nur für ein paar Jahre bei sich haben wollen. Mit ihren zehn Jahren war Ronja aus dem Gröbsten heraus, und man hatte nicht mehr sehr viel Arbeit mit ihr. Bodo versprach sich mehr Ansehen, auch im geschäftlichen Bereich, wenn er als liebevoller Vater auftrat und eine Tochter vorweisen konnte. Echte Vaterliebe empfand Bodo nicht für seine Tochter, aber der Gedanke, sie für einen längeren Zeitraum bei sich zu haben, reizte ihn durchaus. Lotte sollte es zutiefst bereuen, dass sie seinen Wunsch abgeschlagen hatte. Jetzt würde er nämlich mit Ronja ins Ausland verschwinden! Dank der Erbschaft würde er überall einen großen Autohandel eröffnen und zusätzlich für Ronja und sich ein Wohnhaus kaufen können. Lotte würde ihn und das Kind nie ausfindig machen. Wo sollte sie auch suchen? In welches Land er gegangen war, konnte sie nicht wissen. Das wusste er selbst im Moment ja nicht einmal so genau.

Nun galt es zunächst einmal, das Mädchen in seine Gewalt zu bringen. Darin sah Bodo allerdings kein besonderes Problem. Er wusste ja, in welche Schule seine Tochter ging, und musste sie nur beobachten. Auf dem Heimweg konnte er sie dann leicht überwältigen und in sein Auto befördern.

Der Schulweg schien Bodo die beste und einfachste Möglichkeit zu sein, Ronja an sich zu bringen. Diesen Weg musste sie regelmäßig jeden Tag gehen. Wo sie sich tagsüber sonst noch aufhielt, hätte er nicht sagen können. Es hatte also keinen Sinn, sich woanders auf die Lauer zu legen.

Bodo sah nicht ein, warum er mit der Durchführung seines Plans noch lange warten sollte. So fuhr er schon am nächsten Tag in die Nähe der Schule, die Ronja besuchte, und hielt am Fahrbahnrand einer Seitenstraße an. An dieser Stelle musste die Zehnjährige auf ihrem Heimweg vorbeikommen.

Zunächst war Bodo sehr zuversichtlich, noch an diesem Tag erfolgreich zu sein. Eine Stunde später war diese Zuversicht jedoch verflogen. Zahlreiche Kinder waren ihm auf ihrem Heimweg aufgefallen, aber Ronja hatte er nicht entdecken können. Vielleicht war sie an diesem Tag gar nicht in der Schule gewesen? Möglicherweise war sie krank und konnte deshalb nicht zur Schule gehen? Aber das wäre schon ein unwahrscheinlicher Zufall gewesen. Bodo nahm sich vor, am nächsten Tag einen erneuten Versuch zu unternehmen.

*

In Sophienlust hatte Ronja sich im Eiltempo eingelebt. Bereits nach zwei Tagen hatte sie den Eindruck, als wäre sie schon seit Jahren eng mit dem Kinderheim verbunden. Den Dauerkindern von Sophienlust gefiel das. So unkomplizierte Kinder wie Ronja, mit denen man keine Probleme hatte und die sich von Anfang an umgänglich und freundlich zeigten, hatten alle gern.

An diesem Tag saßen mehrere Kinder auf dem Begrenzungszaun des Reitplatzes und schauten Pünktchen zu, die auf dem großen Warmblutwallach Pedro saß und für ein kleines Turnier übte, das am kommenden Wochenende ganz in der Nähe stattfinden sollte. Gleichzeitig beobachteten die Kinder aber auch Elise, die neben dem Reitplatz mit Barri und Anglos spielte.

»Warum habt ihr euren Hund eigentlich Elise genannt?«, wollte Martin wissen. »Ich finde, das ist ein ziemlich ungewöhnlicher Name für eine Hündin.«

»Meine Mutter ist auf diesen Namen gekommen«, gab Ronja Auskunft. »Als wir uns einen Hund anschaffen wollten, hat meine Mutter gesagt, dass wir keinen vom Züchter holen wollen, sondern einen Hund aus dem Tierheim. Also sind wir ins Tierheim gefahren. Da gab es ganz viele Hunde, und wir hätten am liebsten die meisten davon sofort mitgenommen. Aber das ging ja nicht. Dann haben wir einen niedlichen Hund gesehen, der noch ziemlich jung und lange nicht ausgewachsen war. Dieser Hund saß auf einer Decke und hatte einen Schluckauf. Das hörte sich ganz seltsam an, und es sah auch ulkig aus, wenn der kleine Hund dauernd die Augen zukniff. Meine Mutter hat gelacht und gesagt, dass dieser Hund sie an ihre Oma Elise erinnere, die bei einem Schluckauf auch ständig die Augen zugekniffen hatte. Außerdem hätte sich ihr Schluckauf auch sehr ähnlich angehört. Nun ja, und dann meinte meine Mutter, dass wir diesen Hund mit nach Hause nehmen und ihn Elise nennen sollten. Die Idee fand ich gut, und seitdem hat Elise ihren Namen und ein neues Zuhause. Aber Schluckauf hat sie nie wieder gehabt.«

»Hast du deine Uroma Elise noch kennengelernt und einen Schluckauf miterlebt?«, fragte Fabian.

Ronja schüttelte den Kopf. »Nein, als ich auf die Welt kam, war meine Uroma schon lange tot. Ich kann mich nicht einmal an alle meine Großeltern erinnern. Die Eltern meines Vaters sind gestorben, als ich noch ganz klein war. Genauso war es bei Muttis Vater. Nur eine Oma lebt noch. Die wohnt aber sehr weit weg, irgendwo in Österreich, und kommt uns nur ganz selten besuchen. Eigentlich habe ich nur noch meine Mutter, ihren Freund Christian und Elise.«

»Das stimmt nicht«, widersprach Heidi. »Jetzt hast du auch noch uns, also eine ganze Menge Freunde. Freunde zu haben ist immer gut.«

Ronja nickte lächelnd. »Ja, du hast recht. Ihr alle seid richtig gute Freunde, und ich bin wirklich froh, dass ich euch habe.«

Die Kinder waren sich einig darüber, dass sie alle zusammen eine wundervolle Gruppe guter Freunde waren, in der sich jeder auf den anderen verlassen konnte und in der es niemals wirklich ernsthaften Streit gab.

*

Drei Tage lang hatte Bodo Landberg vergeblich versucht, Ronja aufzulauern und sie zu entführen. Aber das Mädchen schien wie vom Erdboden verschluckt zu sein. Vielleicht wählte sie doch einen anderen Weg, um nach Hause zu kommen? Offensichtlich war es keine gute Idee gewesen, sie auf dem Schulweg abzupassen. Bodo entschloss sich, seine Taktik zu ändern. Irgendwann musste seine Tochter ja einmal das Haus verlassen, um etwas zu erledigen oder Freundinnen zu besuchen.

Am nächsten Tag bezog Bodo deshalb Posten in der Nähe von Lottes Wohnung. Dabei entdeckte er nach einer Weile zwar nicht Ronja, aber Lotte selbst in Begleitung eines sportlich wirkenden jungen Mannes. Mit einer seltsamen Art von Eifersucht stellte Bodo fest, dass seine Exfrau wohl einen Nachfolger für ihn gefunden hatte.

»Hätte ich mir ja denken können, dass du dich ganz schnell trösten würdest«, murmelte er, ohne dabei zu bedenken, dass die Scheidung schon mehrere Jahre zurücklag.

Aufmerksam und gespannt blickte Bodo auf den Hauseingang. Er hoffte, dass auch Ronja noch herauskommen und ihrer Mutter und deren Begleiter folgen würde. Aber diese Hoffnung erfüllte sich nicht. Der Mann, den Bodo nicht kannte, der aber ganz offensichtlich mit Lotte liiert war, öffnete eine Autotür und setzte sich auf den Fahrersitz. Lotte nahm neben ihm Platz, und beide fuhren ohne Ronja los.

Einem Impuls folgend, startete Bodo den Motor und verfolgte die beiden in sicherem Abstand. Sie sollten nicht merken, dass er sich an ihre Fersen geheftet hatte. Bodo hatte das unbestimmte Gefühl, dass Lotte und ihr Begleiter ihn zu Ronja führen würden. irgendwas stimmte hier nicht!

Die Fahrt dauerte eine ganze Weile und führte in den kleinen Ort Wildmoos. Als Bodo die geschnitzten bunten Hinweisschilder auf das Kinderheim Sophienlust sah, ging ihm ein Licht auf. Lotte hatte Ronja also in ein Kinderheim gebracht! Es sah so aus, als hätte sie seine Drohung ernst genommen und das Kind in Sicherheit gebracht. Bodo grinste schadenfroh vor sich hin. Das hätte Lotte sich sparen können. Sie hätte damit rechnen müssen, dass er seine Tochter trotzdem ausfindig machen würde. Genau das war schließlich jetzt passiert, und es war überhaupt nicht schwierig gewesen.

Als der Wagen vor ihm durch das große geöffnete Tor auf das Gelände des Kinderheims fuhr, hielt Bodo am Straßenrand an. Er stieg aus und näherte sich im Schutz der großen Hecke, die den Park von Sophienlust begrenzte, vorsichtig dem Gelände. Durch eine kleine Lücke in der Hecke konnte er beobachten, wie Lotte und ihr Begleiter von einigen Kindern begrüßt wurden. Dann kam auch Ronja angelaufen und fiel ihrer Mutter um den Hals.

»Keine schlechte Idee, liebe Lotte«, flüsterte Bodo mit einer gewissen Anerkennung. »Wo versteckt man ein Kind besser als unter vielen anderen Kindern in einem Kinderheim? Aber das wird dir trotzdem nichts nützen. Oft wird Ronja dir nicht mehr um den Hals fallen können. Dann ist sie nämlich bei mir.«

Was sich jetzt noch weiter zwischen Ronja und Lotte auf dem Gelände von Sophienlust tat, interessierte Bodo nicht mehr. Er ging so unauffällig zu seinem Auto zurück, wie er gekommen war, und stieg ein. Dort saß er eine ganze Weile hinter dem Steuer und überlegte, wie er Ronja hier herausholen könnte. Die unterschiedlichsten Möglichkeiten gingen ihm durch den Kopf. In den nächsten Tagen würde er in Ruhe darüber nachdenken, welche dieser Möglichkeiten die günstigste war. Die Tatsache, dass er nun wusste, wo sich seine Tochter befand, stimmte Bodo höchst zufrieden. Er startet den Motor und fuhr davon.

*

»Ich muss euch unbedingt etwas zeigen«, verkündete Ronja, nachdem sie ihre Mutter und Christian gleichermaßen stürmisch begrüßt hatte. »Kommt mal mit zur Weide.«

Christian und Lotte folgten dem Mädchen und nahmen an, dass es auf der Weide etwas Außergewöhnliches zu sehen gab. Aber sie entdeckten dort nur einige Pferde und Ponys, die friedlich grasten.

»Seht ihr da vorne das dunkelbraune Pferd mit den drei weißen Beinen?«, fragte Ronja. »Das ist Valesko. Er ist zwölf Jahre alt und ganz lieb. Auf ihm darf ich reiten lernen. Pünktchen hat versprochen, es mir beizubringen. Eine richtig gute Turnierreiterin werde ich natürlich nicht. Dazu würde ich ein paar Jahre brauchen, und so lange bin ich ja nicht hier. Aber so einigermaßen sattelfest kann ich bestimmt werden. Morgen habe ich meine erste Reitstunde. Na, was sagt ihr jetzt?«

»Das finde ich prima«, antwortete Lotte. »Außerdem ist es sehr nett von Pünktchen, dass sie sich die Zeit nimmt, dir Reitunterricht zu geben.«

»Dieser Meinung bin ich auch«, erklärte Christian. »Mein Vater hatte übrigens früher einen Wallach, der fast so aussah wie Valesko. Sultan hieß dieses Pferd, und ich durfte es viele Jahre lang reiten. Der Wallach war genauso alt wie ich. Wir sind im Abstand von nur zwei Tagen auf die Welt gekommen. Sultan hat uns wirklich sehr viel Freude gemacht und ist beinahe zweiundzwanzig Jahre alt geworden.«

»Du kannst reiten?«, fragte Ronja erstaunt. »Das habe ich noch gar nicht gewusst. Wenn ich genug gelernt habe, können wir vielleicht einmal zusammen ausreiten, so wie meine Schulfreundin Anna es mit ihrem Vater macht. Wenn sie im Urlaub sind, suchen sie immer nach einem Reitstall, der Pferde verleiht. Dann reiten sie zusammen in den Wald oder an den Strand. Wir drei können in den Schulferien ja auch mal zusammen in den Urlaub fahren und nach einem Pferdeverleih suchen. Das wäre schön. Nur Mutti kann leider nicht mit uns ausreiten. Sie kann ja nicht reiten. Aber sie könnte es lernen. Bestimmt bringt Pünktchen es ihr auch bei, wenn wir sie darum bitten.«

Lotte hob abwehrend die Hände. »Nein, das lassen wir lieber bleiben. Ich mag Pferde sehr und habe keine Angst vor ihnen. Aber ich möchte nicht auf einem Pferderücken sitzen. Da würde ich mich nie sicher fühlen. Das ist mir einfach zu hoch und zu glatt.«

»Na gut, dann reite ich eben nur mit Christian aus, wenn wir zusammen in die Ferien fahren. Aber zuerst muss ich natürlich eine Menge lernen. Reiten ist sicher nicht ganz einfach, aber das bekomme ich schon hin.«

Die Pferde und Ponys hatten die Menschen am Weidezaun entdeckt und kamen neugierig näher. Sie wussten genau, dass sie fast immer einen Leckerbissen zugesteckt bekamen, der noch viel interessanter war als das saftige Gras auf der Weide. Tatsächlich hofften die Tiere auch diesmal nicht umsonst. In dem Beutel, den Ronja vorsorglich mitgenommen hatte, befanden sich ein paar Möhren. Es waren nicht so viele Möhren wie Pferde, aber das war kein Problem. Ronja brach sie einfach mehrfach durch und verteilte die Stücke. Ob es sich um einen kleinen oder großen Leckerbissen handelte, interessierte die Tiere nicht, Hauptsache jeder hatte irgendetwas zu knabbern.

Lotte und Christian verbrachten ein paar fröhliche Stunden mit Ronja und einigen anderen Kindern, die sich ihnen angeschlossen hatten, bevor sie sich für diesen Tag verabschiedeten. Da es relativ spät geworden war, hielten sie auf dem Heimweg an einem Gasthof an und kehrten dort ein. Sowohl Lotte als auch Christian gefiel die rustikale Einrichtung. Auf den massiven Holztischen standen Kerzenleuchter, die an Einweckgläser erinnerten, und die Sprossenfenster waren mit karierten Gardinen dekoriert. Die wuchtig wirkenden Holzbänke waren aber gepolstert und sehr bequem. Die Speisekarte konnte man durchaus als umfangreich bezeichnen, und sie hatte für jeden Geschmack etwas zu bieten.

»Ronjas Pläne haben mir übrigens gut gefallen«, bemerkte Christian, nachdem die Bestellungen aufgegeben waren.

»Welche Pläne?«, fragte Lotte. »Sprichst du von ihrem Vorhaben, reiten zu lernen? Ja, das finde ich auch gut, und ich hoffe, dass ihre Begeisterung nicht schon nach der ersten Unterrichtsstunde verraucht.«

Christian schüttelte den Kopf. »Das glaube ich nicht, aber das meinte ich auch nicht, als ich von Ronjas Plänen gesprochen habe. Sie möchte gern, dass wir gemeinsam unseren Urlaub verbringen. Ich glaube, sie sieht uns drei schon irgendwie als Familie, und vielleicht ist das gar nicht falsch. Lotte, wir sind nun schon so lange zusammen. Dass wir uns lieben ist doch überhaupt keine Frage mehr. Schließlich haben wir uns unsere gegenseitige tiefe Zuneigung schon oft gestanden. Ich wünsche mir so sehr, dass wir drei tatsächlich ganz offiziell eine richtige Familie werden. Lotte, ich…«

»Sprich nicht weiter«, bat Lotte und griff über den Tisch hinweg nach Christians Händen. »Ich habe schon lange damit gerechnet, dass du mir einen Heiratsantrag machen willst, und das jetzt gerade sollte doch sicher einer werden. Christian, ich empfinde genauso wie du. Ein Leben ohne dich kann ich mir gar nicht mehr vorstellen. Du bedeutest mir unendlich viel. Dich zu verlieren wäre eine Katastrophe. Aber ich kann dich nicht heiraten, jedenfalls jetzt noch nicht. Was ich mit Bodo erlebt habe, hat mich geprägt. Diesen Schiffbruch habe ich noch nicht überwunden. Ich fühle mich noch nicht frei. Dieser Mann hatte so viel Macht über mich. Noch heute bekomme ich eine Gänsehaut, wenn ich an meine Ehe mit Bodo denke. Es ist fast so, als würde er mich jetzt noch beherrschen. Ich weiß nicht so recht, wie ich es ausdrücken soll. Es gibt Gefühle, die kann man nicht wirklich beschreiben. Sei mir bitte nicht böse, aber ich kann mich noch nicht neu binden. Selbstverständlich können wir Ronjas Idee verwirklichen und zusammen in die Ferien fahren. Vielleicht habt ihr beide ja sogar Glück, findet tatsächlich einen Pferdeverleih und könnt gemeinsam ausreiten. Aber deinen Heiratsantrag könnte ich noch nicht annehmen. Es tut mir leid, aber ich bringe das einfach nicht fertig.«

»Ich bin dir überhaupt nicht böse«, versicherte Christian. »Ich hatte nur gehofft, dass sich mein sehnlicher Wunsch erfüllen würde, und bin jetzt etwas enttäuscht. Aber böse kann ich dir gar nicht sein. Nach allem, was du in deiner Ehe erleben musstest, kann ich mir gut vorstellen, wie es in dir aussieht und dass du viel Zeit brauchst. Aber ich gebe meine Hoffnung nicht auf, und irgendwann frage ich dich erneut. Aber wenn du dich schon früher frei genug fühlst und dir gut vorstellen könntest, an meiner Seite glücklich zu werden, dann sage es mir bitte sofort.«

»Das werde ich ganz bestimmt tun«, versprach Lotte. »Ich hoffe sehr, dass ich dir irgendwann aus vollem Herzen mein Jawort geben kann. Aber ich weiß nicht, wann das sein wird.«

Lotte lächelte Christian an. Etwas in ihr jubelte bei der Vorstellung, Christian zu heiraten und mit ihm und Ronja eine glückliche Familie zu sein. Ein anderer Teil in ihr aber fürchtete sich maßlos vor einer Bindung, die ein Leben lang halten sollte. Anfangs war sie mit Bodo ja auch glücklich gewesen, aber dann war alles so schlimm geworden, dass es in einer Katastrophe endete. Nun war Christian ganz anders als Bodo. Ihm vertraute sie blind. Trotzdem fand sie nicht den Mut, sich erneut fest zu binden. Warum das so war, konnte Lotte sich selbst nicht so genau erklären. Sie war doch nun bereits seit mehreren Jahren geschieden und musste schon lange nicht mehr unter Bodo leiden. Wie lange diese Ängste vor einer neuen Bindung noch anhalten würden, konnte sie auch nicht sagen. So gern sie auch Christians Frau werden wollte, so sehr fürchtete sie sich auch davor, diesen Schritt zu wagen.

Es entging Christian nicht, dass Lotte sehr nachdenklich wirkte und offensichtlich mit sich selbst kämpfte. Um sie aufzumuntern, wechselte er das Thema und berichtete von einer amüsanten Episode, die er am Vortag mit einem seiner Schüler erlebt hatte. Bald waren sie in ein heiteres Gespräch vertieft, und es wurde doch noch ein schöner Abend. Beide waren gelöster Stimmung, als sie den Gasthof später verließen.

*

Bei ihrer ersten Reitstunde hatte Ronja den Eindruck, dass so ein Sattel auf einem Pferderücken unglaublich glatt war. Obwohl Pünktchen ihr nicht sehr viel abverlangte und Valesko sich von seiner bravsten Seite zeigte, wurde dem Mädchen schnell klar, dass Reiten gar nicht so einfach war. Trotzdem machte es ihr Spaß, erste Erfahrungen zu sammeln. Nach Beendigung der Reitstunde war Ronja stolz darauf, dass sie nicht vom Pferd gefallen war.

»Danke, dass du mich nicht abgeworfen hast«, murmelte sie, als sie Valeskos Hals klopfte. »Du bist wirklich ein ganz braves Pferd. – Darf ich morgen wieder reiten?«, wollte Ronja wissen und schaute Pünktchen erwartungsvoll an.

Das ältere Mädchen nickte lächelnd. »Du scheinst ja richtig ehrgeizig zu sein. Ja, du darfst morgen wieder reiten. Ich habe Zeit. Zwar muss ich selbst noch für das Reitturnier trainieren, das übermorgen stattfindet, aber es bleibt noch genügend Zeit für deine zweite Reitstunde.«

»Danke, das finde ich toll. Darf ich übermorgen mitkommen? Ich möchte so gerne bei dem Reitturnier zuschauen und sehen, ob du es vielleicht sogar gewinnst.«

»Natürlich kannst du mitkommen. Es wollen mehrere Kinder zuschauen. Die fahren alle mit unserem roten Schulbus hin. Da passen viele Kinder rein. Für dich ist ganz bestimmt auch noch genug Platz.«

»Ich war noch nie auf einem Reitturnier«, gestand Ronja. »Das wird bestimmt spannend, und ich drücke dir auch ganz fest die Daumen, dass du gewinnst.«

»Das ist lieb von dir, wird aber wahrscheinlich nichts nützen. Es gibt immerhin achtundzwanzig Teilnehmer. Die wollen alle gewinnen, und es sind ein paar ausgezeichnete Reiter dabei. So gut wie die bin ich noch lange nicht. Aber ich wünsche mir, dass ich einen der ersten zehn Plätze bekomme. Das wäre schon sehr schön für mich, und dafür kannst du mir die Daumen drücken.«

»Gut, dann mache ich das« versprach Ronja. »Aber vielleicht hast du ganz großes Glück und landest tatsächlich auf dem ersten Platz.«

»Nie im Leben. Daraus wird leider nichts. Aber mir reicht ein guter Platz wirklich. Jetzt sollten wir aber nicht von unerreichbaren Siegen träumen, sondern Valesko absatteln und versorgen. Ein guter Reiter denkt nämlich immer zuerst an sein Pferd.«

»Das weiß ich, und das ist auch richtig so«, entgegnete Ronja. »Genauso ist es ja auch bei Hundebesitzern. Die sollten immer zuerst an ihre Hunde denken. So mache ich das bei Elise auch. Für mich ist es wichtig, dass sie immer gut versorgt und zufrieden ist.«

Die beiden Mädchen führten Valesko zum Stall und nahmen ihm Sattel und Trense ab. Nachdem er ein paar kleine Leckerbissen bekommen hatte, ließen Pünktchen und Ronja ihn zu den anderen Pferden auf die Weide. Der Wallach begrüßte seine Kollegen mit einem dumpfen Wiehern und gesellte sich sofort zu ihnen. Als Ronja ihm nachschaute, seufzte sie glücklich auf. Es war so schön in Sophienlust, und dass sie hier jetzt auch noch reiten lernen durfte, war ein ganz besonderes Geschenk für sie.

Die Zehnjährige legte sich in diesem Moment keine Rechenschaft darüber ab, warum sie in Sophienlust war, und verschwendete auch keinen Gedanken an ihren Vater. Dass sich dunkle Wolken über ihr zusammenbrauten, ahnte sie nicht…

*

Bodo Landberg hatte eingehend darüber nachgedacht, auf welche Art und Weise er Ronja an sich bringen könnte. Dabei waren ihm mehrere Möglichkeiten eingefallen. Bodo glaubte nicht, dass seine Exfrau offen mit den Mitarbeitern des Kinderheims gesprochen und ihnen mitgeteilt hatte, aus welchem Grund sie das Mädchen dort unterbringen wollte. Lotte war immer sehr auf ihren guten Ruf bedacht gewesen und hatte es stets vermieden, Schwäche zu zeigen. Deshalb würde sie sicher nicht erwähnt haben, dass sie ihre Tochter aus Angst vor ihrem geschiedenen Mann in Sicherheit bringen wollte. Diesen Stolz, so glaubte er, konnte er nun für seine Zwecke ausnutzen.

Niemand dachte sich etwas dabei, als ein unbekanntes Auto auf das Gelände gefahren kam und in der Nähe der Freitreppe anhielt. Ronja hätte ihren Vater vielleicht schnell erkannt, aber sie befand sich im Augenblick mit Schwester Regine und einigen Kindern auf einer Waldwanderung. Auf einer nicht sehr weit entfernten Lichtung wollte die kleine Gruppe ein Picknick veranstalten.

Bodo stieg aus seinem Wagen aus, schaute sich kurz um und stieg dann entschlossen die Freitreppe hinauf. Kaum war er auf der obersten Stufe angekommen, als das Eingangsportal geöffnet wurde. Pünktchen, die wusste, dass Schwester Regine und die Kinder bald wieder in Sophienlust eintreffen würden, wollte gerade zu den Pferden gehen und schon einmal alles für den Reitunterricht und ihr eigenes Training vorbereiten. Freundlich blickte sie den Mann an, der vor ihr stand.

»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte sie. »Zu wem wollen Sie denn?«

»Ich möchte mit dem Mann sprechen, der für dieses Kinderheim verantwortlich ist«, gab Bodo selbstbewusst Auskunft. »Es geht um meine Tochter.«

»Dann müssen Sie zu Dominik von Wellentin-Schoenecker. Er ist gerade im Büro. Ich führe Sie hin.«

Pünktchen begleitete Bodo zum Büro, nickte ihm zu und ging dann ihrer Wege. Sie konnte nicht sagen, warum, aber sie empfand den Besucher als absolut unsympathisch. Obwohl er sich höflich verhalten hatte, ging von ihm etwas aus, das Pünktchen nicht gefiel.

Bodo klopfte an die Tür und stand Sekunden später Nick gegenüber, der sich von seinem Platz am Schreibtisch erhob, ihm die Hand reichte und sich vorstellte.

»Mein Name ist Bodo Landberg«, erklärte der Besucher. »Ich bin gekommen, um meine Tochter Ronja abzuholen. Meine Frau hat die Kleine für eine Weile nach Sophienlust gebracht.«

»Das ist richtig«, bestätigte Nick. »Sie besucht Ronja auch fast täglich und wird dabei oft von einem Mann begleitet. Das waren aber nicht Sie. Sie haben…«

»Meine Frau ist von meinem Schwager begleitet worden«, fiel Bodo Nick mit einer Lüge ins Wort. »Ich konnte unsere Tochter nicht besuchen, weil ich aus beruflichen Gründen verreist war. Deswegen ist Ronja zu Ihnen gebracht worden. Ich war unterwegs, und meine Frau ist vormittags berufstätig. Unsere Tochter sollte nicht allein zu Hause bleiben. Dafür ist sie noch zu jung. In Sophienlust war sie ja gut aufgehoben. Jetzt bin ich aber zurück, und Ronja kann wieder nach Hause kommen. Meine Frau ist heute leider verhindert. Darum hat sie mich gebeten, das Kind abzuholen. Leider habe ich es ein bisschen eilig. Können Sie mir sagen, wo ich Ronja finden kann? Dann nehme ich sie sofort mit nach Hause.«

»Es tut mir leid, aber Ronja ist im Augenblick nicht hier«, erwiderte Nick und zwang sich zur Ruhe. Er zweifelte keinen Augenblick daran, dass er Ronjas leiblichen Vater vor sich hatte. Und entgegen Bodos Vermutung kannte er die Hintergründe, die zu Ronjas Unterbringung in Sophienlust geführt hatten, sehr wohl. Deshalb war er von der Unverfrorenheit schockiert, mit der Bodo Landberg versuchte, seine Tochter in seine Gewalt zu bringen. Aber er war nicht nur schockiert, sondern auch wütend. Doch das ließ er sich nicht anmerken.

»Herr Landberg, selbst wenn Ihre Tochter jetzt hier in diesem Raum wäre, würde ich sie Ihnen nicht übergeben«, begann er ruhig. »Es ist doch nicht nötig, ein Versteckspiel zu betreiben. Wir beide wissen ganz genau, warum Ronja sich hier bei uns befindet. Sie wollen das Kind zu sich nehmen, obwohl Sie das Sorgerecht nicht besitzen. Weil Ihre Frau, ich meine damit Ihre geschiedene Frau, befürchten musste, dass Sie Ronja entführen, hat sie sie in unsere Obhut gegeben. Ich könnte jetzt rechtliche Schritte gegen Sie unternehmen, werde das aber nicht tun. Aber ich fordere Sie unmissverständlich auf, dieses Kinderheim zu verlassen und nicht noch einmal einen Versuch zu unternehmen, Ihre Tochter zu entführen.«

»Was glauben Sie eigentlich, wen Sie vor sich haben?«, fragte Bodo, bebend vor Wut. »Ich bin Ronjas Vater und kein Entführer. Wenn Sie wollen, zeige ich Ihnen gern meinen Ausweis. Aber ich habe nicht die geringste Ahnung, wer Sie sind. Ich wollte mit dem Verantwortlichen dieser Einrichtung reden, wurde aber zu Ihnen geschickt.« Bodo maß Nick mit einem abschätzigen Blick. »Es tut mir leid, aber Sie machen auf mich den Eindruck eines unreifen Oberstufenschülers.«

»Danke für das Kompliment.« Nick wollte nicht zeigen, wie ungehalten er war. »Aber jeder in diesem Haus kann Ihnen bestätigen, dass ich der Besitzer von Sophienlust und damit berechtigt bin, alle Entscheidungen zu treffen. Eine dieser Entscheidungen ist, dass Ronja Ihnen auf gar keinen Fall übergeben wird. Das Mädchen bleibt selbstverständlich bei uns, so wie die Mutter, die übrigens das alleinige Sorgerecht besitzt, es bestimmt hat.«

Bodo hatte eine scharfe Erwiderung auf der Zunge. Nicks gelassene Sicherheit machte ihn noch wütender, und er hätte dem jungen Mann nur zu gerne seine Meinung gesagt. Aber er sah ein, dass er sich auf verlorenem Posten befand und dass es im Moment besser war, das Feld zu räumen. Also drehte er sich wortlos um und verließ das Büro, allerdings nicht ohne die Tür lautstark hinter sich zuzuschlagen.

Nick ging zum Fenster und blickte hinaus. Er wollte sich davon überzeugen, dass Bodo Landberg Sophienlust tatsächlich verließ. Es hätte ja sein können, dass er versuchte, seine Tochter irgendwo abzufangen, um sie dann mit Gewalt mitzunehmen. Diese Gefahr war durchaus gegeben, weil Schwester Regine mit den Kindern bald zurückkehren würde.

Aber Bodo Landberg schaute sich nicht um. Wahrscheinlich hatte er eingesehen, dass er keine Chance mehr hatte, seinen Plan in die Tat umzusetzen. Er setzte sich in sein Auto und fuhr mit durchdrehenden Reifen davon.

Nick war zufrieden, als er sah, wie der Wagen des ungebetenen Besuchers das Zufahrtstor passierte und auf die Straße abbog. Er nahm wieder am Schreibtisch Platz, um ein paar Unterlagen zu sortieren, als seine Mutter das Büro betrat.

»Wer war das denn?«, fragte Denise, die auf dem Weg zu ihrem Sohn die quietschenden Reifen gehört und rasch einen Blick aus einem der Fenster des Flurs geworfen hatte.

»Das war Ronjas Vater, der seine Tochter 'abholen' wollte. Ich finde sein Verhalten unverschämt und habe mich über seinen Versuch, Ronja auf diese Weise an sich zu bringen, sehr geärgert. Es ist mir aber gelungen, diesem Herrn zu verdeutlichen, dass er keine Chance hat. Darüber ist er natürlich wütend gewesen, was er in seinem Fahrstil demonstrativ ausgedrückt hat.«

»Das hast du gut gemacht«, lobte Denise ihren Sohn. »Was für ein Glück, dass Ronja im Moment nicht hier war. Für sie wäre es beängstigend gewesen, ihren Vater hier zu sehen. Sie hat Angst vor diesem Mann und fühlt sich in Sophienlust sicher. Dieses Gefühl von Sicherheit hätte sehr gelitten, wenn sie erfahren hätte, wie leicht es ihm möglich war, in Sophienlust aufzutauchen. Wie mag er überhaupt herausgefunden haben, wo sie sich aufhält?«

»Hm, keine Ahnung«, entgegnete Nick. »Vielleicht ist er dem Wagen ihrer Mutter einfach nachgefahren. Du hast recht. Wir sollten Ronja gegenüber mit keinem Wort erwähnen, dass ihr Vater hier war. Auch die anderen Kinder dürfen nichts erfahren. Sie könnten sich ganz leicht und völlig unbeabsichtigt verplappern.«

»Stimmt, und wir beide sollten den Vorfall auch einfach vergessen«, schlug Denise vor. »Ronjas Vater wird sicher nicht noch einmal versuchen, seine Tochter hier abzuholen. Ich denke, er hat verstanden, dass das nicht möglich ist.«

Nick war derselben Ansicht und nickte zustimmend. Nein, einen zweiten Versuch würde Bodo Landberg wohl nicht unternehmen.

*

Nur zu gern wäre Nick mit zu dem Reitturnier gefahren. Aber sein Studium und die Dinge, die er in Sophienlust erledigen musste, nahmen einfach zu viel Zeit in Anspruch. Er gestand Pünktchen allerdings, dass es ihm leid täte, nicht am Rand des Parcours stehen und ihr die Daumen drücken zu können.

»Das ist doch nicht so schlimm«, meinte Pünktchen tröstend. »Natürlich wäre es schön gewesen, wenn du mitgekommen wärst. Aber es ist wirklich nur ein kleines und kein sehr wichtiges Turnier. Außerdem sind viele Kinder von uns dabei, die mir die Daumen drücken werden. Vielleicht gelingt es mir dadurch, einen der ersten zehn Plätze zu erringen.«

»Ich wünsche dir, dass du nicht den zehnten Platz einnehmen wirst«, erwiderte Nick. »Es sollte für dich ein Platz mit nur einer Ziffer herauskommen. Du bist nämlich gut.«

Pünktchen freute sich über das Lob und errötete leicht. »Danke für die Blumen. Ich werde mein Bestes tun«, versprach sie. »Jetzt muss ich aber los. Sonst wird mein Pferd in den Transportwagen gebracht und fährt womöglich ohne mich zum Turnier.«

Eilig verschwand Pünktchen. Draußen sah sie nicht nur den Pferdetransporter stehen, sondern auch den roten Schulbus, in den gerade mehrere Kinder einstiegen. Auch Denise von Schoenecker bestieg den Bus. Sie wollte es sich nicht nehmen lassen, als Zuschauerin an dem Turnier teilzunehmen.

Auf dem ländlichen Turnierplatz herrschte bereits reges Treiben, als Pünktchen mit ihrem Wallach ankam. Der Fahrer half ihr beim Ausladen des Pferdes und wünschte ihr viel Glück. Auch die Kinder und Denise, die wenig später eintrafen, überschütteten Pünktchen mit guten Wünschen, bevor sie auf der rustikal hergerichteten Tribüne Platz nahmen.

Bereits die erste Starterin zeigte eine sehr gute Leistung und erlaubte sich keinen Fehler. Es folgten einige Teilnehmer, die keine ernste Konkurrenz waren. Sie wurden wieder von ausgezeichneten Reitern abgewechselt, die den Parcours fehlerlos bewältigten. Als Pünktchen startete, hielten die Kinder den Atem an und drückten ihre Daumen so fest, dass es schon schmerzte. Selbst Denise hatte ihre Hände ineinander verkrampft und verfolgte Pünktchens Ritt. Am letzten Hindernis berührte Pedro mit den Hinterhufen die oberste Stange, die bedrohlich in den Halterungen zu wackeln begann. Für den Bruchteil einer Sekunde sah es so aus, als würde sie fallen. Aber sie blieb liegen, und so handelte Pünktchen sich keine Fehlerpunkte ein.

Am Ende gab es fünf Teilnehmer, die fehlerlos geblieben waren. Deshalb gab es ein Stechen. Aber mindestens der fünfte Platz war Pünktchen jetzt schon sicher, und damit war sie bereits mehr als zufrieden. Trotzdem ging sie noch einmal an den Start. Es wurde ein spannendes Stechen. Besonders nervös war Ronja. In ihren Augen war Pünktchen die beste Reiterin, die sie sich vorstellen konnte. Deshalb hoffte sie mit allen Fasern ihres Herzens auf den Sieg.

Das Stechen verlief nicht ganz so erfolgreich wie der erste Durchgang. In ihrer Nervosität, die natürlich stark zugenommen hatte, machten einige Reiter und Reiterinnen gleich mehrere Fehler hintereinander. Auch Pünktchen unterlief ein Fehler. Nur ein Teilnehmer blieb fehlerfrei.

»Schade, dass Pedro am vorletzten Hindernis die Stange runtergeworfen hat«, bemerkte Ronja seufzend, lächelte dann aber sofort wieder. »Aber der zweite Platz ist auch prima. Viel besser ging es ja sowieso nicht. Ich weiß, dass Pünktchen gehofft hat, unter die zehn Besten zu kommen. Jetzt freut sie sich bestimmt über den zweiten Platz.«

Denise und die anderen Kinder stimmten Ronja zu und stellten wenig später fest, dass Pünktchen tatsächlich glücklich und hocherfreut war. Immer wieder klopfte sie Pedro lobend den Hals, während sie ihn in der Nähe des Transportwagens ein wenig grasen ließ. Mit strahlenden Augen schaute sie Denise und die Kinder an, die zu ihr gekommen waren.

»Der Sieg ist es zwar nicht ganz geworden«, stellte Pünktchen fest. »Aber ich hätte vorher nicht einmal gewagt, auf den zweiten Platz zu hoffen. Das ist für mich ein ganz großer Erfolg, über den ich richtig glücklich bin.«

Ein paar Stunden später, nachdem alle wieder in Sophienlust angekommen waren, freute sich auch Nick über Pünktchens gute Leistung. Er gab zu, dass er an diesem Tag besonders häufig an sie gedacht und ihr von Sophienlust aus beide Daumen gedrückt hatte.

»Vielleicht wird aus dir eines Tages eine international bekannte Turnierreiterin, die eine Goldmedaille nach der anderen gewinnt«, orakelte er.

Pünktchen schüttelte lachend den Kopf. »Nein, ganz bestimmt nicht. Das will ich auch gar nicht. Reiten ist mein Hobby, und das soll es auch bleiben. Ja, vielleicht werde ich noch an vielen Turnieren teilnehmen. Aber die Reiterei mache ich ganz sicher nicht zu meinem Beruf.«

Angelika Langenbach, die gerade anwesend war, grinste. »Das geht ja auch gar nicht. Schließlich wirst du eines Tages Nick heiraten und mit ihm zusammen Sophienlust leiten.«

Pünktchens Gesicht wurde von einer auffallenden Röte überzogen. Es war ein offenes Geheimnis, dass zwischen ihr und Nick ein ganz besonderes Verhältnis existierte, das auf zarte Bande schließen ließ. Aber Pünktchen mochte es überhaupt nicht, wenn darauf angespielt wurde. Das war ihr peinlich.

»Hör auf damit«, forderte sie, griff nach einem kleinen Sofakissen, das in einem Sessel gelegen hatte, und warf es nach Angelika. Die fing das Kissen auf und zog die Schultern hoch.

»Sei doch nicht so empfindlich! Es ist ja nicht böse gemeint. Wir wissen schließlich alle, dass du dich gut mit Nick verstehst, und wenn ihr beide tatsächlich eines Tages heiratet, ist das für Sophienlust ideal. Eine bessere Lösung könnte es gar nicht geben.«

»Angelika, ich bin gerade erst fünfzehn Jahre alt«, gab Pünktchen entnervt zu bedenken. »Da denkt man doch noch lange nicht ans Heiraten.«

»Nun ja, ihr habt wirklich noch sehr viel Zeit«, gab Angelika zu. »Aber nachdenken kann man über seine vielleicht gemeinsame Zukunft doch jetzt schon ein bisschen.« Sie warf das Kissen zurück zu Pünktchen und verließ eilig den Raum, bevor das blonde Mädchen möglicherweise noch weitaus härtere Gegenstände nach ihr werfen konnte.

*

Drei Tage hintereinander war Bodo Landberg nach Wildmoos gefahren und hatte, hinter der Hecke verborgen, den Park beobachtet. Dass man ihm Ronja nicht freiwillig überlassen würde, war ihm klar. Deshalb hatte er beschlossen, sie sich gewaltsam zu holen.

Ronja würde gar nicht begreifen, wie ihr geschah, wenn sie sich im Park befand, plötzlich von ihrem Vater gegriffen und zum Auto getragen wurde, das er wie immer in der Nähe der Zufahrt geparkt hatte. Allerdings musste sich eine für Bodo günstige Gelegenheit ergeben. Ronja durfte sich nicht weit von dem schmiedeeisernen Tor entfernt befinden.

Bis jetzt hatte Bodo allerdings kein Glück gehabt. Zwar hatte er seine Tochter mehrfach gesehen, aber immer mitten im Park und zusammen mit mehreren anderen Kindern. Natürlich hätte er hinlaufen und nach Ronja greifen können. Doch der Weg zu seinem Auto wäre zu weit gewesen. Bis er es erreicht hätte, wären die Kinder ins Haus gelaufen und hätten Hilfe geholt.

Heute schien er jedoch Glück zu haben. Bodo sah Ronja aus dem Haus kommen. Sie war nur von einem kleinen schwarzhaarigen Jungen und einem kleinen blonden Mädchen begleitet. Diese beiden Kinder würden nichts gegen ihn unternehmen können. Bodo hoffte, dass die drei sich nicht tief in den Park zurückziehen, sondern sich der Stelle nähern würden, an der er sich im Schutz der Hecke auf die Lauer gelegt hatte.

Ronja, Heidi und Kim hatten sich vorgenommen, nach vierblättrigem Klee zu suchen. In drei Wochen hatte die Köchin Magda Geburtstag. Kim und Heidi wollten jeweils ein Bild für sie malen und ein vierblättriges Kleeblatt an den Rand kleben, damit die Bilder ihr auch Glück brachten.

»Am Rand der Zufahrt stehen viele Kleeblumen«, sagte Ronja. »Da sollten wir nachschauen.«

Kim und Heidi liefen sofort los und machten sich auf die Suche nach den seltenen Kleeblättern. Ronja folgte ihnen. Elise, die die Kinder begleitete, konnte sich nicht erklären, was sie dort auf dem Wiesenstreifen suchten. Deshalb lief sie, die Nase tief im Gras haltend, herum und versuchte herauszufinden, was für die Kinder so interessant sein könnte.

»Ich habe eins!«, rief Kim. »Hier ich habe Klee mit vier Blätter!«

Stolz hielt der kleine Junge seinen Fund in der Hand. Ronja und Heidi kamen sofort angelaufen, um sich das Kleeblatt anzuschauen. Ronja seufzte enttäuscht auf.

»Das ist leider nicht vierblättrig«, stellte sie fest. »Es sind nur drei Blätter. Eines davon ist in der Mitte geteilt. Deshalb sieht es fast so aus, als wären es vier Blätter. Aber das stimmt nicht. Dieses Kleeblatt bringt kein Glück. Aber wir finden bestimmt noch, was wir suchen.«

Die Kinder konzentrierten sich voll auf den Klee, und jeder für sich versuchte, ein schönes vierblättriges Blatt zu finden. Ronja hatte keine Ahnung, in welcher Gefahr sie sich befand, als sie sich immer mehr dem Zufahrtstor näherte. Sie nahm auch die Gestalt nicht wahr, die plötzlich auf das Gelände lief. Erst als zwei starke Hände nach ihr griffen, wurde sie aufmerksam. Aber da war es bereits zu spät. Sie konnte dem festen Griff nicht entrinnen und war entsetzt, als sie ihren Vater erkannte.

»Lass mich los!«, schrie Ronja verzweifelt. »Du darfst mich nicht mitnehmen! Ich will nicht zu dir! Lass mich sofort los!«

Kim und Heidi wurden sofort auf die Szene aufmerksam. Sie erkannten Ronjas verzweifelte Lage und gingen wütend auf Bodo los. Heidi schlug und Kim trat nach dem Mann, der Ronja offensichtlich entführen wollte. Bodo ließ sich davon nicht beeindrucken. Er empfand die kleinen Kinder lediglich als lästig und zerrte seine Tochter mit sich fort. Aber er hatte das Tor noch nicht erreicht, als Elise in raschen Sätzen angesprungen kam. Der sonst lammfromme und stets freundliche Hund spürte sofort, dass es sich um eine ernste Situation handelte, aus der Ronja sich nicht allein befreien konnte. Sie sprang Bodo an, und ihre kräftigen Zähne bohrten sich in seinen rechten Oberschenkel.

»Verfluchtes Biest! Hau ab«, wütete Bodo und trat nach der Hündin. Elise wich geschickt aus und ging erneut zum Angriff über. Diesmal war es Bodos rechter Unterarm, in den sie sich verbiss. Der Mann sah ein, dass er keine Chance hatte. Dieser Hund war bereit, erbittert zu kämpfen, um seine Besitzerin zu beschützen. Fluchend ließ Bodo seine Beute los und flüchtete zu seinem Auto. Elise ließ es sich nicht nehmen, ihn noch ein Stück zu verfolgen und ihm kräftig ins Hinterteil zu beißen.

Anschließend kam sie zu den Kindern zurück und trug stolz einen dunkelblauen Stofffetzen im Maul, der von Landbergs Hose stammte. Dieses Stück Stoff legte sie in Ronjas Hand.

»Danke, Elise, du hast mich gerettet!«, sagte Ronja, immer noch zitternd. »Ohne dich wäre die Sache schlimm ausgegangen. Mein Vater ist nämlich ein ganz böser Mensch.«

Die Zehnjährige streichelte Elises Fell und schaute dem Wagen ihres Vaters nach, der sich draußen auf der Straße in hohem Tempo entfernte. Sie konnte noch gar nicht richtig begreifen, was gerade passiert war. Heidi und Kim streichelten und lobten die Hündin ebenfalls.

»Das war böser Mann«, stellte Kim fest. »War richtiger Verbrecher. Gut, dass Elise hat geholfen dir.«

»Das war dein Vater, nicht wahr?«, fragte Heidi. »Deine Mutter hat dich doch zu uns gebracht, damit du vor ihm sicher bist. Es ist gemein von ihm, dass er jetzt kommt und dich einfach mitnehmen will. Am besten gehen wir gleich zu Nick und erzählen ihm alles. Tante Isi, Schwester Regine und Tante Ma sagen wir auch, was dein Vater tun wollte. Das sollen überhaupt alle erfahren, die in Sophienlust wohnen.«

Es dauerte nicht lange, bis alle, aber auch wirklich alle wussten, dass Bodo Landberg versucht hatte, seine Tochter zu entführen. Es herrschte allgemeine Empörung über diese Tat, aber auch Begeisterung für Elises mutigen und erfolgreichen Einsatz. Magda schnitt in der Küche sogar ein großes Stück Fleischwurst von einem Ring ab, das sie der Hündin als Belohnung überreichte.

Elise ließ sich nicht lange bitten. Sie wusste zwar nicht, aus welchem Grund sie zu diesem besonderen Leckerbissen kam, nahm die Wurst allerdings sofort dankbar an.

Nick unterhielt sich umgehend mit seiner Mutter darüber, wie man das Mädchen noch besser schützen konnte, und sie entschieden, dass Ronja sich nur noch in einer großen Gruppe von Kindern draußen aufhalten sollte. Es sollten immer ausreichend Helfer anwesend sein. Ohne jeden Zweifel würde Elise sich in einem Wiederholungsfall erneut für Ronja einsetzen. Es war jedoch nicht sicher, ob ihr das immer so gut gelingen würde wie an diesem Tag. Wenn Bodo schon im Vorfeld mit dem Angriff des Hundes rechnete, würde er sich vermutlich etwas einfallen lassen, um ihn wirkungsvoll außer Gefecht zu setzen.

Lotte und Christian waren zutiefst erschrocken, als sie nach Sophienlust kamen und dort erfuhren, was sich zugetragen hatte. Auch sie waren Elise dankbar für die Hilfe, die sie Ronja geleistet hatte, und lobten die Hündin. Sie hofften, dass Bodo es nach den Bisswunden, die er erlitten hatte, nicht mehr wagen würde, noch einmal in böser Absicht in Sophienlust aufzutauchen.

*

Das schockierende Erlebnis hatte in Ronja Ängste ausgelöst. Selbst wenn sie in Begleitung anderer Kinder war, blickte sie sich oft aufmerksam um, um festzustellen, dass kein Fremder in der Nähe war. Wenn ein Auto auf das Gelände fuhr, beobachtete sie das Fahrzeug sehr aufmerksam. Es war schließlich durchaus möglich, dass ihr Vater sich einen neuen Wagen zugelegt hatte und damit nach Sophienlust kam. Immer handelte es sich jedoch um diverse Lieferanten oder harmlose Besucher, die meistens sogar angemeldet waren und absolut nichts Böses im Schilde führten. Selbst auf dem Reitplatz konnte Ronja sich nur schlecht auf den Unterricht konzentrieren. Das blieb Pünktchen nicht verborgen.

»Du brauchst dich wirklich nicht dauernd umzusehen«, erklärte die Fünfzehnjährige. »Dein Vater kommt ganz bestimmt nie wieder her. Selbst wenn er das täte, könnte er nicht unbemerkt zum Reitplatz kommen und dich vom Pferd zerren. Außerdem bin ich auch noch da, um dir zu helfen. Vor allen Dingen aber passt Elise gut auf dich auf. Sie liegt da zwar jetzt ganz friedlich neben dem Reitplatz im Gras. Aber damit wäre es garantiert sofort vorbei, wenn dein Vater auftauchen würde. Ich würde ihm das jedenfalls nicht raten.«

»Ich weiß ja, dass ich hier eigentlich sicher bin«, gestand Ronja. »Ich hatte nur so fürchterliche Angst, als mein Vater mich packte. Diese Angst ist einfach geblieben.«

»Du darfst dir keine Gedanken machen«, riet Pünktchen. »Ich verspreche dir, dass dir nichts passieren wird, und deine Angst wird hoffentlich schon bald verschwinden.«

Ronja wollte sich nicht fürchten. Furcht war ein unangenehmes Gefühl, aber sie konnte sich nicht davon befreien, obwohl sie sich sehr bemühte. Ihre Unsicherheit übertrug sich auf Valesko. Er verstand ein Signal ihrer Beine falsch und galoppierte plötzlich aus dem Schritt heraus an. Das brachte seine Reiterin aus dem Gleichgewicht. Ronja rutschte aus dem Sattel und landete auf dem Boden des Reitplatzes. Valesko blieb verunsichert ein paar Meter weit entfernt stehen, und Pünktchen war Sekunden später bei Ronja.

»Ist alles in Ordnung, oder hast du dich verletzt?«, wollte sie wissen und schaute die gestürzte Reiterin besorgt an.

Ronja bewegte Arme und Beine. »Ich glaube, das ist alles noch in Ordnung«, antwortete sie und grinste ein bisschen verlegen. »Jetzt habe ich also meinen ersten Sturz vom Pferd hinter mir. Das ist gut so. Nun weiß ich, dass es gar nicht so schlimm ist, vom Pferd zu fallen.«

»Na gut, dann darfst du gleich wieder aufsitzen. Es gibt da unter Reitern nämlich eine gute alte Regel: Wenn man vom Pferd gefallen ist, muss man sofort wieder aufsitzen. Sonst könnte es passieren, dass man über den Sturz lange nachdenkt und so viel Angst vor einer Wiederholung bekommt, dass man sich nie wieder traut, in den Sattel zu steigen.«

Gegen diese Regel wollte Ronja auf keinen Fall verstoßen und saß schon zwei Minuten später wieder auf Valeskos Rücken. Diesmal gab sie sich große Mühe, sich nur auf den Reitunterricht und ihr Pferd zu konzentrieren, was ihr nun auch relativ gut gelang.

*

Die Bisswunden, die der Hund ihm zugefügt hatte, beschäftigten Bodo eine ganze Weile. Es blieb ihm keine andere Wahl, als die Verletzungen von einem Arzt behandeln zu lassen.

Dieser Arzt wollte natürlich wissen, was genau passiert war und welcher Hund ihn angegriffen hatte. Bodo hätte sich aber lieber die Zunge abgebissen, als die wahre Geschichte zu erzählen. Deshalb zog er nur die Schultern hoch.

»Ich habe keine Ahnung, wem dieser Hund gehört. Ich war gerade von einem Spaziergang zurückgekehrt und stand auf einem Parkplatz am Waldrand neben meinem Auto, um es aufzuschließen. Da war plötzlich dieser große schwarze Hund hinter mir. Ich hatte ihn vorher überhaupt nicht bemerkt. Völlig grundlos hat er mich angesprungen und mehrfach zugebissen. Schließlich ist es mir dann aber doch gelungen, mich in mein Auto zu flüchten. Kaum hatte ich das geschafft, lief der Hund davon. Ich kann mir nicht erklären, was in dieses Tier gefahren war. Hoffentlich hatte es keine Tollwut?«

»Das glaube ich nicht«, bemerkte der Arzt. »In dieser Gegend hat es seit vielen Jahren keinen Fall von Tollwut mehr gegeben. Aber gegen Tetanus werde ich Sie auf jeden Fall impfen. Außerdem wüsste ich schon gern, wem dieser beißwütige Hund gehört. Aber das wird sehr schwer in Erfahrung zu bringen sein.«

Bodo war froh, dass der Arzt ihm seine Geschichte abgenommen hatte. Immer noch gärte die Wut in ihm. Sein Plan war nach seiner Meinung nahezu genial gewesen. Alles hätte wunderbar funktioniert, wenn da nicht dieser verdammte Hund gewesen wäre. Es gefiel Bodo überhaupt nicht, dass sein Vorhaben allein an einem blöden Köter gescheitert war. Er sagte sich, dass er jetzt weitaus härtere Geschütze auffahren musste. Nur – welche Art von Geschützen das sein sollten, war ihm noch nicht ganz klar. Er musste einen Plan ausarbeiten, der mit Sicherheit zum Erfolg führte und von niemandem vereitelt werden konnte, nicht von einem Menschen und schon gar nicht von einem Hund.

Abends verfolgte Bodo im Fernsehen die Nachrichten. Dort wurde von einem Bankraub mit Geiselnahme berichtet. Für die Bankräuber war die Sache nicht gut ausgegangen. Sie waren überwältigt und verhaftet worden und keine der Geiseln war zu Schaden gekommen. Bodo schnaufte verächtlich, als er hörte, wie die Bankräuber vorgegangen waren.

»Solche Stümper«, murmelte er vor sich hin. »Das sind ja richtige Dummköpfe gewesen. Geschieht ihnen recht, dass sie verhaftet worden sind.«

Kaum war der Bericht beendet, schoss Bodo ein Gedanke durch den Kopf. Er hatte keineswegs vor, eine Bank zu überfallen. Seine Ziele waren von ganz anderer Art. Aber die Bankräuber hatten ihn auf eine Idee gebracht, die ihm geradezu genial erschien: Eine Geiselnahme wäre genau das richtige Druckmittel!

Bodo wusste auch schon, wer sich als Geisel am besten eignen würde. Dass er sich mit seinem Plan auf ein absolut kriminelles Gebiet begab, das ihm, falls er Pech hatte, eine mehrjährige Haftstrafe einbringen würde, interessierte ihn wenig. Er war besessen von der Idee, Ronja an sich zu bringen.

Bodo griff nach einem Blatt Papier und schrieb sorgfältig auf, wie er vorgehen wollte und was er beachten musste, damit alles gut gelang. Es dauerte fast eine ganze Stunde, bis er seine Aufzeichnungen beendet hatte. Der Plan stand. Aufmerksam ging er ihn noch einmal Punkt für Punkt durch und nickte zufrieden. Jetzt würde es nicht mehr lange dauern, bis er Ronja endlich in seiner Gewalt und damit Rache an seiner Exfrau geübt hatte. Wo und wie genau er mit Ronja leben wollte, konnte Bodo im Augenblick noch nicht sagen. Und auch die Tatsache, dass er keinen Pass für sie hatte, wischte er beiseite. Es würde sich schon irgendwie alles zurechtlaufen. Sie würden jedenfalls eine tolle Zeit zusammen haben, da war er sich sicher.

*

Regelmäßig einmal in der Woche, jeweils an einem Mittwoch, fuhr Nick nach Maibach und ging dort in die Stadtbibliothek, um sich neues Material für sein Studium zu besorgen. Es gab eine Menge an Literatur, die er ständig benötigte. Auch an diesem Tag war seine Tasche prall mit Büchern gefüllt. Zum Glück musste er die nicht alle bis zur nächsten Woche komplett durchlesen. Aber in jedem Buch gab es das eine oder andere Kapitel, dessen Inhalt er für sein Studium nutzen konnte.

Wie üblich verließ Nick die Bibliothek durch einen Seiteneingang, der auf eine schmale Straße führte. Auf der anderen Seite befand sich ein kleiner Park, an dessen Ende er sein Auto abgestellt hatte. In dieser Seitenstraße und auch im Park herrschte um diese Tageszeit kein Betrieb. Es war absolut ruhig.

Deshalb fiel Nick auch sofort die Stimme auf, die aus einem abgestellten Wohnmobil drang, das in unmittelbarer Nähe des Seitenausgangs am Straßenrand stand. Eine auffallend heisere Männerstimme rief um Hilfe.

Sofort näherte Nick sich dem Wohnmobil. »Was ist denn passiert?«, wollte er wissen. »Kann ich etwas für Sie tun? Befinden Sie sich in einer Notlage?«

»Ja!«, bestätigte die heisere Stimme. »Die Tür klemmt. Das macht sie häufig. Dann kann ich sie nicht mehr von innen öffnen und bin in dem Wagen gefangen. Könnten Sie die Tür bitte von außen öffnen? Sie müssen aber dabei auf das kleine Trittbrett neben der Tür steigen. Dann löst sich das verzogene Schloss durch Ihr Körpergewicht.«

Nick, der von Kindesbeinen an zur Hilfsbereitschaft erzogen worden war, dachte sich nichts Böses bei der Bitte des ihm unbekannten Mannes. Selbstverständlich wollte er ihn so schnell wie möglich aus seiner misslichen Situation befreien. Also kletterte er auf das Trittbrett, fasste den Türgriff an und wollte die Tür öffnen. Die aber sprang urplötzlich von ganz allein auf. Zwei Arme griffen nach dem total verblüfften jungen Mann und zogen ihn in das Innere des Wohnmobils. Nick wurde regelrecht auf eine gepolsterte Bank geschleudert. Ungläubig starrte er auf den vierschrötigen Mann vor ihm. Das Gesicht kannte er doch! Es war Bodo Landberg – Ronjas Vater! Sein Gegenüber grinste ihn kurz an, forderte dann barsch das Mobiltelefon, das Nick stets bei sich trug.

Was sollte er tun? Der Mann vor ihm schien zu allem entschlossen zu sein und war ihm sicher körperlich überlegen. Zögernd fasste Nick in seine Hosentasche und händigte es ihm aus. Dann verschwand Landberg mit seiner Beute. Die Tür schloss er sorgfältig von außen ab. Nick hörte, wie er sich in das Führerhaus schwang und den Motor startete.

»Herr Landberg!«, rief Nick. »Lassen Sie mich sofort raus!«

Während er seine Forderung stellte, war Nick klar, dass die Tür sich natürlich nicht öffnen würde. Bodo Landberg hatte ihn aus welchen Gründen auch immer in eine Falle gelockt. Deshalb hatte er auch seine Stimme verstellt und so getan, als wäre er heiser. Er wollte nicht erkannt werden. Warum hätte er ihn, Nick, also jetzt wieder freilassen sollen? Nick sah ein, dass er im Moment keine Chance hatte, aus dem Wohnmobil zu entkommen. Er fragte sich allerdings fieberhaft, aus welchem Grund Bodo Landberg ihn entführt hatte. Das hatte doch überhaupt keinen Sinn. Was bezweckte der Typ damit? Nick zwang sich zur Ruhe, was angesichts der Tatsache, dass er gerade entführt worden war, nicht ganz einfach war. Die Fenster des Wohnmobils waren mit dunkler Farbe übermalt. Es war deshalb für ihn nicht möglich, nach draußen zu blicken, um verfolgen zu können, wohin die Fahrt ging.

Nick schaute auf seine Uhr. Er wollte wenigstens wissen, wie lange die Fahrt dauerte. Eventuell würde das später wichtig werden.

Nach ungefähr dreißig Minuten hielt das Wohnmobil an. Durch eine schmale Tür, die den Innenraum vom Führerhaus trennte, zwängte sich Bodo Landberg zu Nick. In den Händen trug er einen stabilen Strick.

»Was haben Sie damit vor, und was soll diese ganze Sache eigentlich?«, wollte Nick aufgebracht wissen. »Wollen Sie sich an mir rächen, weil ich Ihnen Ihre Tochter nicht ausgeliefert habe?«

»Nein, es geht mir nicht um Rache, du Bürschchen«, antwortete Bodo selbstgefällig. »Aber es geht durchaus um meine Tochter, und ich werde dir tatsächlich die Hände auf dem Rücken fesseln, damit du gar nicht erst auf die Idee kommst, wegzulaufen. Mit gefesselten Händen hole ich dich schon nach wenigen Metern ein, so flink du auch sonst sein magst. Hier – «, er wies auf das schäbig aussehende Gebäude hinter ihnen, »wirst du dich in der nächsten Zeit wohl oder übel aufhalten müssen. Es war mal 'ne Schutzhütte für Waldarbeiter. Irgendwann ist sie in Vergessenheit geraten. Aber du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Ich habe für reichlich Lebensmittel gesorgt, Wasser gibt es auch und sogar eine Campingtoilette. Nur Fluchtmöglichkeiten sind nicht vorhanden«, grinste er. »Die beiden Fenster sind massiv vergittert, und die Eingangstür besteht aus massivem Stahl. Das Schloss, mit dem ich die Tür verriegeln werde, ist auch nicht zu knacken. Es gibt für dich keine Chance zu entkommen. Versuch es also gar nicht erst.«

»Und wie lange soll ich in diesem … diesem Gefängnis ausharren?«, erkundigte Nick sich. »Ich weiß ja nicht mal, was Sie vorhaben und ob Sie mich überhaupt jemals wieder freilassen wollen.« Obwohl Landberg ihn duzte, beschloss er, beim Sie zu bleiben, so behielt er wenigstens eine gewisse Distanz zu dem Verbrecher.

»Wenn deine Leute in Sophienlust vernünftig sind, wirst du schon sehr bald wieder frei sein. Dann hat jeder, was er sich wünscht. Du bist wieder ein freier Mann, und ich habe endlich meine Tochter.«

Jetzt war Nick alles klar. Bodo Landberg hatte ihn als Geisel genommen, um an Ronja heranzukommen! Nach seinem unverschämten Auftritt in Sophienlust hätte Nick diesem Mann eine ganze Menge zugetraut, aber doch nicht ein solches Verbrechen.

Das kleine Steinhaus, in das Bodo Landberg Nick nun stieß, maß etwa sechs mal vier Meter. Ein Feldbett mit Kissen und Decke stand darin, in einem Regal befanden sich Lebensmittel und Getränke, die mindestens für zehn Tage reichten. Ein gefüllter Wassertank stand in einer Ecke, daneben die Campingtoilette, und in der Mitte des Raumes entdeckte Nick einen Tisch, auf dem eine Menge Bücher lagen. Dazu gab es einen Stuhl und eine Lampe, die durch Batterien betrieben wurde. Eine Schachtel mit zahlreichen Ersatzbatterien war auch vorhanden. Bodo Landberg, so schoss es Nick durch den Kopf, hatte wirklich an alles gedacht.

Und während er hier saß und zum Nichtstun verurteilt war, würde der Erpresser Sophienlust mit seinen Drohungen in Angst und Schrecken versetzen. Natürlich würde man versuchen, Ronja zu schützen und dem Schurken das Handwerk zu legen. Aber ob das gelingen konnte? Nick wagte sich auf diese bange Frage keine Antwort zu geben.

»Ich schließe dich jetzt hier ein«, teilte Bodo dem jungen Mann mit. »Wie gesagt, wenn man sich in Sophienlust kooperativ zeigt, wirst du nicht lange in dieser Hütte bleiben müssen. Es kommt also nur darauf an, wie viel du deiner Familie wert bist. Übrigens liegt dieses Häuschen ausgesprochen einsam. Hier kommt nie ein Mensch vorbei, weil es keinen Weg in der Nähe gibt. Es hat also gar keinen Sinn, wenn du versuchst, durch Schreie auf sich aufmerksam zu machen. Abgesehen von Fuchs und Hase hört dich niemand. Verschwende also deine Kräfte nicht.«

Bodo löste die Fesseln von Nicks Armen, achtete dabei aber genau darauf, dass seine Geisel nicht an ihm vorbei zur Tür gelangen und flüchten konnte. Anschließend zog er ein schweres Vorhängeschloss aus der Tasche und ließ Nick einen Blick darauf werfen. Dabei grinste er überheblich und siegessicher.

»Damit werde ich die Stahltür verschließen. Jeder Ausbruchsversuch wäre ein völlig sinnloses Unterfangen. Egal, was du auch versuchst, du wirst nicht flüchten können.«

Nick erwiderte nichts. Er hatte keine Lust, mit Bodo Landberg auch nur ein weiteres Wort zu wechseln. Der verließ das kleine Haus, und Nick hörte, wie er die Tür von außen sorgfältig verschloss.

Nachdem das Wohnmobil davongefahren war, schaute Nick sich etwas genauer in dem Raum um, der für eine Weile sein Gefängnis sein sollte. Er sah sehr schnell ein, dass Landberg nicht gelogen hatte. Die Gitter an den Fenstern waren tatsächlich ausgesprochen massiv, und die Stahltür am Eingang war von ähnlicher Qualität. Nein, ein Ausbruch war unmöglich. Er hatte keine andere Chance, als abzuwarten, was in den nächsten Tagen passieren würde.

Nick ließ sich auf dem Stuhl nieder und sah sich die Bücher an, die sein Entführer ihm auf den Tisch gelegt hatte. Wenigstens ein paar davon schienen relativ interessant zu sein und würden ihm die Langeweile ein bisschen vertreiben.

*

Wenn die Kinder aus der Schule kamen und der rote Kleinbus sie vor dem Herrenhaus absetzte, herrschte immer munteres Treiben. Da wurde über Ereignisse gesprochen, die es an diesem Tag in der Schule gegeben hatte, offene Freude über eine Klassenarbeit gezeigt, die eine gute Note eingebracht hatte, oder auch schon mal über einen Lehrer geschimpft, dessen Verhalten als ungerecht empfunden worden war. Erst wenn die Kinder wenig später gemeinsam am Tisch saßen und sich auf ein leckeres Mittagessen freuten, wurde es etwas ruhiger. Pünktchens Blick fiel auf Nicks Platz, und sie schaute prüfend auf die Uhr.

»Nanu, wo bleibt Nick denn?«, fragte sie. »Er müsste doch schon längst aus Maibach zurück sein. Bis jetzt hat er sich noch nie so sehr verspätet, dass er das Mittagessen verpasst hat.«

»Ist auch dumm, wenn man verpasst Mittagessen«, ließ Kim sich vernehmen. »Magda immer kocht ganz leckere Sachen, die schmecken so prima und die man will nicht verpassen. Komisch, dass Nick ist noch nicht hier.«

Angelika und Vicky Langenbach, die beiden Schwestern, die am Tisch immer nebeneinander saßen, machten nachdenkliche Gesichter. »Es ist wirklich ungewöhnlich, dass Nick zum Mittagessen nicht zurück ist. Hoffentlich ist ihm nichts passiert. Er isst doch sonst immer mit uns. Und wenn nicht, sagt er vorher Bescheid. Vielleicht hat ihm jemand eine Beule ins Auto gefahren, und er muss die Sache nun klären.«

»Auch dann hätte er anrufen und uns mitteilen können, dass er nicht zum Mittagessen kommen kann«, bemerkte Fabian mit besorgtem Gesicht.

Nicht nur die Kinder, auch die Erwachsenen machten sich Gedanken. Denise, die mit am Tisch saß, wollte sich nicht anmerken lassen, dass sie in großer Sorge war. Sie kannte ihren Sohn so gut wie kein anderer Mensch. Wenn es Nick möglich gewesen wäre, sich zu melden, hätte er das mit Sicherheit getan und gesagt, dass er das Mittagessen leider versäumen würde. Dass es irgendeinen harmlosen Zwischenfall gegeben hatte und außerdem sein Handy ausgerechnet zur selben Zeit nicht funktionierte, konnte Denise sich nicht vorstellen. Das war einfach zu unwahrscheinlich.

Sie aß mit wenig Appetit, obwohl Magda wirklich ausgezeichnet gekocht hatte. Es fiel ihr auch ungeheuer schwer, locker zu wirken. Nach dem Mittagessen zog sie sich zurück und versuchte, ihren Sohn telefonisch zu erreichen. Der Anruf ging allerdings ins Leere. Nick meldete sich nicht. Diese Tatsache trug absolut nicht zu Denises Beruhigung bei. Jetzt machte sie sich wirklich ganz große Sorgen, wusste aber nicht, was sie unternehmen konnte, um Klarheit zu schaffen und herauszufinden, was Nick zugestoßen war. Dass es für sein Ausbleiben eine harmlose Erklärung geben könnte, glaubte sie nicht mehr.

In ihrer Not rief sie ihren Mann an, der auf Gut Schoeneich mit seiner Arbeit beschäftigt war. Alexander von Schoenecker zögerte nicht lange, als seine Frau ihm von ihren Sorgen berichtete. Auch er fand die Situation bedenklich.

»Ich fahre am besten gleich nach Maibach«, schlug er vor. »Dort sehe ich mich in der Bibliothek um. Da wollte Nick schließlich hin. Wenn ihm in der Bibliothek oder in der Nähe etwas passiert ist, werde ich das wahrscheinlich feststellen können. Dann melde ich mich sofort bei dir. Ich hoffe, dass es keine schlimme Mitteilung sein wird, die ich dir machen muss.«

Immer wieder schaute Denise im Lauf der nächsten Stunde auf die Uhr. Die Zeiger schienen sich an diesem Tag im Schneckentempo zu bewegen, und es kam ihr vor, eine Ewigkeit sei vergangen, als Alexander sich endlich bei ihr meldete. Hastig griff sie nach dem Telefon, als es läutete.

»Es ist tatsächlich seltsam«, erklärte Alexander. »Nicks Auto steht neben dem kleinen Park, der sich direkt bei der Bibliothek befindet. Der Wagen ist abgeschlossen. Ich bin in die Bibliothek gegangen und habe mich nach Nick erkundigt. Man konnte sich daran erinnern, dass er am Vormittag dort gewesen war und mehrere Bücher ausgeliehen hat. Mit diesen Büchern hat er das Haus verlassen. Aber an seinem Auto ist er offensichtlich nicht angekommen. Ich habe mich bei der Polizei erkundigt und nachgefragt, ob es im Bereich der Bibliothek heute zu einem Unfall gekommen ist. Es hätte ja sein können, dass Nick angefahren und verletzt worden ist. Aber es hat keinen Unfall gegeben. Die Geschichte erscheint mir ziemlich mysteriös. Ich habe keine Ahnung, wo unser Sohn stecken könnte. Aber in Luft kann er sich nicht aufgelöst haben.«

»Nein, das ist wirklich nicht möglich«, bestätigte Denise und bedankte sich bei Alexander für die Mühe, die er sich gemacht hatte. Er versprach, gleich zu ihr nach Sophienlust zu kommen. Die Büroarbeit auf Schoeneich interessierte ihn im Augenblick nicht mehr. Darauf hätte er sich ohnehin nicht mehr konzentrieren können. Dazu war auch seine Sorge um Nick nun zu groß.

Nicht nur Denise und Alexander befanden sich in heller Aufregung. Inzwischen gab es in Sophienlust niemanden mehr, der froh gestimmt war. Alle waren fest davon überzeugt, dass Nick etwas Schlimmes zugestoßen sein musste. Aber keiner konnte sich vorstellen, was das gewesen sein könnte.

»Irgendwo zwischen dem Ausgang der Bibliothek und Nicks Auto muss etwas passiert sein«, stellte Martin fest. »Eine andere Möglichkeit gibt es nicht. Schließlich war er in der Bibliothek noch ganz munter, aber an seinem Auto ist er nie angekommen. Auf dem Weg dorthin ist er spurlos verschwunden.«

»Dafür gibt es eigentlich nur zwei Erklärungen«, spann Pünktchen den Faden weiter. »Es gibt Menschen, die ganz bewusst verschwinden, weil sie mit ihrem alten Leben nichts mehr zu tun haben wollen. Diesen Weg wird Nick aber auf keinen Fall gegangen sein. Er ist so fest mit Sophienlust verbunden, dass er nirgendwo sonst auf dieser Welt leben möchte.«

»Das kann ich mir auch nicht vorstellen«, verkündete Martin, und alle anderen Kinder stimmten ihm zu. »Aber du hast von zwei möglichen Erklärungen gesprochen. Was wäre denn die zweite für Nicks Verschwinden?«

Pünktchen holte tief Luft. »Wenn ich daran denke, bekomme ich Angst, ganz fürchterliche Angst sogar. Manche Menschen verschwinden urplötzlich, weil sie entführt worden sind. Meistens lassen die Entführer die Angehörigen eine ganze Weile lang zappeln, bevor sie ihre Forderungen stellen. Das dauert mitunter mehrere Tage. Über Entführungen habe ich gerade neulich etwas gelesen. Dort wurde auch beschrieben, wie Entführer sich meistens verhalten. Ich kann mir zwar beim besten Willen nicht erklären, warum jemand Nick entführt haben sollte, aber unmöglich wäre das nicht. Schließlich ist er nicht mehr auffindbar.«

»Dieser Gedanke klingt logisch«, gab Angelika zu. »Es gefällt keinem von uns und versetzt uns alle in Angst. Aber es könnte sich tatsächlich um eine Entführung handeln. Ich glaube, Tante Isi und Onkel Alexander haben denselben Verdacht.«

Ronja schüttelte verständnislos den Kopf. »Aber warum sollte jemand Nick entführen? Dafür gibt es doch gar keinen Grund. Dass mein Vater mich entführen wollte, konnten wir alle verstehen. Er wollte mich meiner Mutter wegnehmen und hat geglaubt, dass er als Vater das Recht dazu hat. Aber es gibt keinen Menschen, der Tante Isi ihren Sohn wegnehmen will. Ich begreife das alles nicht.«

Ronja hatte nicht die geringste Ahnung, wie nah sie mit ihrer Bemerkung über ihre eigene, zum Glück misslungene Entführung an der Wahrheit war. Darüber dachte sie auch gar nicht weiter nach, sondern sie machte sich einfach nur große Sorgen um Nick.

Allen Kindern erging es wie Ronja. Niemand konnte begreifen, aus welchem Grund jemand Nick entführen sollte. Die Vorstellung war einfach unfassbar. Alle wehrten sich dagegen, eine Entführung tatsächlich ernsthaft in Betracht zu ziehen. Trotzdem schien genau das passiert zu sein. Eine andere Erklärung gab es zumindest im Augenblick nicht.

Kurze Zeit später hatten sich alle gemeinsam in der großen Eingangshalle zusammengefunden und auf den Sesseln und Sofas niedergelassen. Einige Kinder saßen auf dem weichen Teppich am Kamin. Zu diesen Kindern gehörte auch Ronja, die ihre Arme um Elise gelegt hatte, so, als wollte sie bei der Hündin Trost suchen. Niemand wollte mit seinen Nöten und Ängsten allein sein. Der Zusammenhalt der großen Familie von Sophienlust gab in der allgemeinen Hilflosigkeit allen wenigstens ein bisschen Kraft. Aber die Sorge blieb, und es wurde nicht viel gesprochen. Jeder war mit seinen Gedanken beschäftigt, und alle hofften, dass Nick, wie auch immer, recht bald unversehrt wieder in Sophienlust auftauchen möge.

*

Genau wie Pünktchen es über das typische Verhalten von Entführern gelesen hatte, reagierte jetzt auch Bodo Landberg. Zufrieden mit der gelungenen Tat war er heimgefahren. Das alte Wohnmobil, das er schon seit Jahren nicht mehr genutzt hatte und das heute erstmalig wieder zum Einsatz gekommen war, hatte er zuvor wieder in eine alte kleine Halle gebracht, die zu seinem Autohandel gehörte. Zu Hause angekommen, dachte er darüber nach, wie viel Zeit er sich jetzt am besten nehmen sollte, bevor er in Sophienlust anrief und seine Forderung stellte. Die allgemeine Sorge um den jungen Mann musste erst einmal wachsen. Dann würden sie leichter bereit sein, auf den Tauschhandel einzugehen. In Gedanken malte Bodo sich aus, wie dankbar man ihm sein würde, wenn er erklärte, dass Nick kein Haar gekrümmt worden war und dass er schon sehr bald wieder frei sein könnte, wenn…

Die Sonne war längst untergegangen und der Mond stand am sternenklaren Himmel, als Bodo endlich zum Telefon griff und die Nummer des Kinderheims wählte. Er war davon überzeugt, dass er nun lange genug gewartet hatte.

In Sophienlust war das Abendessen längst vorüber. Mit wenig Appetit hatten die Kinder und auch die Erwachsenen nur ein paar Bissen zu sich genommen. Magda hatte dafür volles Verständnis. Sie selbst, die nun wirklich keine Kostverächterin war, hatte vor lauter Sorge um Nick auch kaum etwas essen können. Inzwischen zweifelte niemand mehr daran, dass es sich um eine Entführung handelte.

Als plötzlich im Büro das Telefon klingelte, sprang Denise auf und eilte in den Raum. Um diese Tageszeit rief normalerweise niemand mehr an. Meldete sich jetzt der Entführer? Alexander und alle Bewohner von Sophienlust liefen Denise hinterher und versuchten, wenigstens Teile des Telefongesprächs zu verstehen.

Schon nach wenigen Sekunden war klar, dass in der Tat von einer Entführung die Rede war. Nachdem Denise aufgelegt hatte, ließ sie sich in den Schreibtischsessel fallen, schaute auf und blickte in zahlreiche fragende Gesichter.

»Nick ist wirklich entführt worden. Angeblich geht es ihm aber sehr gut. Der Entführer ist übrigens Bodo Landberg.«

»Was denn? Mein Vater?«, schrie Ronja. »Aber was will der denn? Wieso hat er Nick entführt? Das begreife ich alles nicht.«

»Ich kann mir etwas denken«, bemerkte Pünktchen. »Aber das möchte ich eigentlich nicht aussprechen, weil das wirklich mehr als nur gemein wäre.«

»Wir müssen aber darüber reden«, erwiderte Denise. »Vor allen Dingen müssen wir die Polizei informieren. Davon hat Bodo Landberg mir zwar dringend abgeraten, aber ich kann mich nicht nach seinem Willen richten. Das wäre nicht gut für Nick und auch nicht gut für uns.«

Obwohl Denise nichts Genaues erwähnt hatte, ging Ronja plötzlich ein Licht auf. »Ich glaube, jetzt habe ich begriffen, was hier läuft! Mein Vater will mich haben. Weil es ihm nicht gelungen ist, mich gewaltsam hier wegzuholen, hat er nun Nick entführt und will ihn gegen mich austauschen. So ist es doch, nicht wahr?«

Denise hätte dem Mädchen die Wahrheit gerne erspart, um es nicht zu ängstigen. Das war in dieser Situation allerdings nicht möglich. Sie nickte.

»Ja, das ist genau sein Plan. Er verlangt, dass du morgen um drei Uhr zu einem bestimmten Waldparkplatz gebracht wirst. Dort sollst du in seinen Wagen steigen, und dann will dein Vater uns einen Zettel geben, auf dem er vermerkt hat, wo wir Nick finden können. Aber du brauchst keine Angst zu haben. Dieser Austausch wird nicht stattfinden. Niemand muss sich für Nicks Freilassung opfern. Bei der Polizei arbeiten erfahrene Leute, die genau wissen, was in so einem Fall zu tun ist, um dich zu schützen und Nick trotzdem zu befreien. Ich setze mich sofort mit Polizeimeister Kirsch in Verbindung.«

Ronja vertraute Denise und glaubte fest daran, dass sie selbst nicht in Gefahr war. Es tat ihr jedoch unendlich leid, dass Nick gewissermaßen durch sie in so eine schlimme Situation geraten war. Schließlich handelte es sich bei dem Entführer um ihren Vater, der Nick nur deshalb in diese Lage gebracht hatte, weil er sie, Ronja, haben wollte. Wenn sie nicht in Sophienlust gewesen wäre, hätte Nick diese böse Erfahrung nicht machen müssen!

Als Ronja ihre Gedanken offen aussprach, wurde sie von allen Kindern beruhigt.

»Das ist doch nicht deine Schuld«, versicherte Fabian dem Mädchen. »Du hast dir deinen Vater nicht ausgesucht und kannst auch nichts dafür, dass er ein Verbrecher ist.«

»Das stimmt«, ließ der kleine Kim sich vernehmen. »Ist wirklich nicht Schuld von dir. Dein Vater ist ganz böser Mann. Deshalb du ja auch nicht willst zu ihm. Du bist guter Mensch, so wie deine Mutter, und du bist bei deiner Mutter gerne. Mit Verbrecher wie dein Vater du willst nicht haben zu tun. Du kannst nichts für die schlimmen Sachen, die dein böser Vater macht.«

Alexander von Schoenecker nahm Ronja in seine Arme. »Es gibt überhaupt keinen Grund für dich, ein schlechtes Gewissen zu haben. Weißt du, ich bin Nicks Adoptivvater und habe ihn sehr lieb. Deshalb mache ich mir jetzt auch große Sorgen um ihn. Aber du hast nicht zu verantworten, was dein Vater getan hat.«

»Ist mir wirklich keiner böse?«, erkundigte Ronja sich verunsichert.

»Nein, kein Mensch ist dir böse«, erwiderte der Gutsherr, und das wurde auch sofort von allen anderen bestätigt. Das ließ Ronja aufatmen, und ein zaghaftes Lächeln huschte über ihr Gesicht.

Weniger als halbe Stunde nach Denises Anruf traf Polizeimeister Kirsch in Sophienlust ein. Er war allerdings nicht allein gekommen, sondern hatte noch drei Kollegen von der Kriminalpolizei mitgebracht, die über Erfahrungen in Entführungsfällen verfügten. Deshalb waren sie noch besser geeignet als er.

Denise, Alexander und Schwester Regine zogen sich mit den Beamten zurück, um mit ihnen genau zu besprechen, wie weiter vorgegangen werden sollte. Zwar waren die Kinder beunruhigt, hatten Angst um Nick und wollten wissen, was nun geplant wurde. Aber das konnten sie etwas später durch Schwester Regine erfahren, die ihnen alles erklären und auf ihre Fragen eingehen würde. Es war nicht nötig, gleich alle Kinder in das Gespräch mit den Polizisten einzubeziehen.

Polizeimeister Kirsch und seine Kollegen schlugen vor, am nächsten Tag zu dem von Bodo Landberg genannten Ort zu fahren. Im Auto sollte aber keinesfalls Ronja sitzen, sondern eine Kollegin der Polizisten, die relativ klein war. Sollte Bodo die Möglichkeit haben, den Wagen zu beobachten, würde er keinen Verdacht schöpfen und die kleine Person auf dem Rücksitz für seine Tochter halten. Wenn er dann bei der erwarteten Übergabe bemerkte, dass es nicht Ronja war, die mitgebracht worden war, würde eine Spezialeinheit der Polizei, die sich bis dahin verborgen gehalten hatte, zugreifen und den Entführer überwältigen.

Das hörte sich alles ganz einfach an. Trotzdem wurden Denise und Alexander von Ängsten geplagt. Sie wussten, dass es auch bei der besten Vorbereitung zu unerwarteten Zwischenfällen kommen konnte. Aber eine bessere Idee, um Ronja zu schützen und Nick zu befreien, hatten sie natürlich auch nicht. Deshalb hofften sie einfach, dass alles gelingen würde, und fuhren wenig später bedrückt nach Schoeneich hinüber.

Es gab in dieser Nacht niemanden auf dem Gut, der einen erholsamen Schlaf fand. Auch die Angestellten auf Schoeneich zitterten mit Denise und Alexander und fanden keine Ruhe.

Im Schlafzimmer der Köchin Magda in Sophienlust brannte selbst um drei Uhr in der Nacht noch Licht, obwohl sie für gewöhnlich kein Nachtmensch war und stets weit vor Mitternacht schlafen ging. Aber an Schlaf konnte sie eben in dieser Nacht nicht denken.

Auch viele Kinder lagen noch ungewöhnlich lange wach, dachten an Nick oder sprachen über ihn. Heidi stand irgendwann aus ihrem Bett auf und wanderte barfuß in Schwester Regines Zimmer.

»Ich kann einfach nicht schlafen«, erklärte das kleine Mädchen. »Die ganze Zeit muss ich an Nick denken. Er ist jetzt bestimmt sehr traurig und hat wahrscheinlich auch Angst. Wenn Nick Angst hat, kann ich nicht schlafen.«

Bereitwillig rückte Schwester Regine in ihrem Bett ein Stück zur Seite. »Dann leg dich doch hierher zu mir. Wenn wir zusammen hier liegen, ist es vielleicht ein bisschen einfacher für uns.«

Zehn Minuten später war Heidi in Schwester Regines Armen eingeschlafen. Obwohl sie selbst keinen Schlaf finden konnte, gönnte die Kinderschwester dem kleinen Mädchen die Ruhe und konnte trotz ihrer großen Sorge lächeln, als sie Heidi mit den Fingern vorsichtig und sanft über das blonde Haar strich.

*

Da Nick viel Zeit hatte, untersuchte er mehrfach die Fenster und fragte sich, ob man die massiven Gitter nicht doch irgendwie zerstören könnte. Aber Bodo Landberg war nicht dumm gewesen und hatte nichts zurückgelassen, was er, Nick, als Werkzeug hätte benutzen können. Nicht einmal ein Messer, mit dessen Klinge man die Gitter hätte bearbeiten können, war vorhanden. Nick verfügte nur über eine Gabel, einen Löffel und ein Obstmesser. Damit konnte man allenfalls Butter oder Marmelade auf einer Schnitte Brot verteilen. Nick ärgerte sich über sich selbst. Häufig trug er ein Taschenmesser bei sich, an dem sich auch noch einige andere kleine Werkzeuge befanden. Doch ausgerechnet heute hatte er dieses Taschenmesser nicht mitgenommen.

Hungern oder dürsten musste Nick nicht. Bodo Landberg hatte mehr als ausreichend für sein leibliches Wohl gesorgt. Trotzdem fragte Nick sich, wie lange er wohl in dieser Steinhütte bleiben musste. Er hatte keine Ahnung, wann sein Entführer sich mit Sophienlust in Verbindung setzen würde und wann Ronja ihm übergeben werden sollte. Insgeheim hoffte er, dass seine Mutter sich nicht auf diesen Handel einlassen würde. Wenn Bodo Landberg seine Tochter erst einmal hatte, würde er sie nicht wieder freigeben, sondern mit ihr verschwinden und nicht mehr auffindbar sein. Aber ohne diesen Handel würde er, Nick, wahrscheinlich in ernsthafte Schwierigkeiten geraten. Welche Pläne Landberg in diesem Fall mit ihm hatte, mochte er sich gar nicht vorstellen. Dieser Mann verfügte über ein hohes Maß an krimineller Energie und steckte voller Rachegedanken. Er würde sich mit Sicherheit auch dafür rächen wollen, wenn sein Vorhaben erfolglos blieb und seine Tochter ihm nicht übergeben wurde. Nein, Nick wollte sich nicht weiter ausmalen, was ihm in diesem Fall möglicherweise bevorstand. Es war im Moment besser, positiv zu denken und sich immer wieder zu sagen, dass diese furchtbare Geschichte ein gutes Ende nehmen würde.

Lustlos blätterte Nick in einem der Bücher, konnte sich aber nicht auf den Text konzentrieren. Er musste an die Kinder von Sophienlust denken. Wahrscheinlich wussten sie schon von der Entführung und Landbergs Forderungen und waren ausnahmslos voller Sorge. Das tat Nick leid. Sein Ziel war es immer, dafür zu sorgen, dass die Kinder unbeschwert und fröhlich waren. Sie sollten nicht leiden und verunsichert sein. Aber genau das waren sie jetzt mit Sicherheit, und er konnte ihnen nicht helfen. Das belastete Nick sehr.

Nicht nur die Kinder litten unter der Situation. Auch Ronjas Mutter Lotte und ihr Christian, die selbstverständlich bereits alles erfahren hatten, befanden sich in großer Sorge. Ebenso wie Ronja hatten auch sie ein schlechtes Gewissen.

»Es tut uns unendlich leid«, gestand Lotte, die nach dem Unterricht, der glücklicherweise heute sehr früh für sie endete, sofort hergefahren war, und schaute Denise schuldbewusst an. »Wegen unserer Familienprobleme müssen Sie jetzt um Ihren Sohn bangen.«

»Sie konnten doch nicht vorhersehen, wie Ihr geschiedener Mann sich verhalten würde«, erwiderte Denise. »Ihr Ziel war es, Ronja vor ihrem Vater in Sicherheit zu bringen, und wir haben Ihnen gerne dabei geholfen. Natürlich mache ich mir jetzt Sorgen um meinen Sohn, große Sorgen sogar. Aber Sie tragen keine Schuld an dem, was sich ereignet hat. Das sehen auch unsere Kinder so. Sie sind zornig auf Ihren Exmann, geben Ihnen oder Ronja aber keine Schuld. Ich habe mich übrigens entschlossen, die Kinder heute nicht in die Schule zu schicken. Sie könnten sich sowieso nicht auf den Unterricht konzentrieren. Hier in Sophienlust haben sie die Möglichkeit, sich in ihrer Angst um Nick gegenseitig Halt und Trost zu geben.«

»Das ist ein guter Entschluss gewesen«, sagte Christian, der sich wenig später ebenfalls zu ihnen gesellte. »Und mit Lotte und mir gibt es nun noch zwei weitere Menschen, die sich in die große Gruppe der Betroffenen einreihen. Ich hoffe sehr, dass Bodo Landberg heute bei der geplanten Übergabe das Handwerk gelegt wird. So ein Mann gehört hinter Gitter, und das für eine möglichst lange Zeit. Dann kann er Ronja nicht mehr gefährlich werden.«

»Das sehe ich leider anders«, widersprach Lotte. »Selbst wenn das Gericht ihn zur einer langjährigen Haftstrafe verurteilen sollte, kann er nach zwei oder drei Jahren wieder frei sein, wenn er sich gut führt. Dann ist Ronja noch lange nicht mündig, und Bodo könnte erneut versuchen, sie mir abzunehmen.« Sie straffte sich. »Jetzt muss aber erst einmal Nick befreit werden. Das ist heute das wichtigste Vorhaben. Wir können ja leider nichts tun. Aber ich drücke ganz fest die Daumen und hoffe aus tiefstem Herzen, dass die Polizei Bodo festnehmen kann. Wo er Nick versteckt hat, wird er dann erzählen müssen.«

Alle waren mit Lotte einer Meinung. An diesem Tag gab es tatsächlich nur eines, das wirklich wichtig war, und es gab niemanden, der seine Daumen nicht für einen glücklichen Ausgang drücken wollte.

*

Um ganz sicher sein zu können, dass es Nick am Ende nicht doch gelungen war, sich aus seinem Gefängnis zu befreien, war Bodo Landberg noch einmal zu dem kleinen Steinhaus gefahren. Er betrat das Gebäude nicht. Trotzdem hatte Nick das Motorengeräusch des Autos gehört. Im ersten Moment hoffte er, dass zufällig jemand vorbeigekommen war, den er um Hilfe bitten konnte. Auch wenn es hier keinen Parkplatz und keinen Forstweg gab, konnte sich doch schon einmal jemand in diese einsame Gegend verirren.

Aufgeregt trat Nick an eines der vergitterten Fenster. Von hier aus hätte er sich bemerkbar machen können. Doch dann bemerkte er sehr schnell, dass er keine Hilfe erwarten konnte. Er erkannte Landberg hinter der Windschutzscheibe des Wagens, der für einen kurzen Augenblick anhielt. Nachdem der Mann sich vom Auto aus davon überzeugt hatte, dass das große Vorhängeschloss an der Eingangstür unversehrt war, fuhr er wieder davon.

Ein kurzer Kontrollblick auf seine Uhr zeigte Bodo Landberg, dass es schon später war, als er gedacht hatte. Nachdem er den Wald hinter sich gelassen hatte und wieder auf der Landstraße angekommen war, trat er kräftig auf das Gaspedal. Er wollte schnell nach Hause kommen, um sich in aller Ruhe auf die Übergabe seiner Tochter, die in wenigen Stunden stattfinden sollte, vorzubereiten. Schließlich hing für ihn eine Menge von diesem Unternehmen ab.

Er beschleunigte noch mehr. Den Warnhinweis auf die langgestreckte Kurve übersah er. Das war sein Verhängnis. Als er bemerkte, dass er in viel zu hohem Tempo fuhr, um die Kurve bewältigen zu können, war es schon zu spät. Da half auch ein kurzes, heftiges Bremsmanöver nicht mehr. Sein Wagen ließ sich nicht mehr beherrschen, wurde in der Linkskurve an den rechten Fahrbahnrand gedrückt, schoss darüber hinaus und prallte gegen eine mächtige alte Eiche.

Der Fahrer eines Lastwagens, der in entgegengesetzter Richtung unterwegs war, wurde Zeuge des Unfalls. Er hielt sofort an, sicherte die Unfallstelle und eilte zu dem Unfallfahrzeug. Auf dem Weg dorthin rief er noch rasch die Polizei an. Die versprach, sofort zu kommen und auch einen Rettungswagen zu schicken. Der Fahrer des Lastwagens verfügte nicht über eine medizinische Ausbildung. Trotzdem war ihm klar, dass hier sicher kein Rettungssanitäter und auch kein Arzt mehr helfen konnte. Der Aufprall, bei dem das Fahrzeug in zwei Teile zerrissen worden war, war einfach zu heftig gewesen.

Als die Rettungskräfte eintrafen, konnten sie die Vermutung des Unfallzeugen nur bestätigen: Für Bodo Landberg konnte nichts mehr getan werden. Er war wahrscheinlich auf der Stelle tot gewesen. Jetzt galt es nur noch, die traurige Pflicht zu erfüllen, die Identität des Verunglückten festzustellen. Das war allerdings kein Problem. Eine kleine Tasche mit den Wagenpapieren, Landbergs Führerschein und seinem Ausweis lag unmittelbar neben dem Wagen im Gras.

Die Hilfskräfte waren daran gewöhnt, zu Unfallstellen gerufen zu werden. Aber wenn sie keine Chance mehr hatten, einem Unfallopfer das Leben zu retten, litten sie sehr darunter und handelten nur noch mechanisch. Auch in diesem Fall taten sie, was zu tun war, reichten die Personalien an die Polizei weiter und rückten wieder ab. Bodo Landbergs Leichnam wurde abgeholt und weggebracht.

Ein Abschleppwagen sorgte dafür, dass auch sein Auto abtransportiert wurde. Der Fahrer sammelte auch sorgfältig die abgerissenen Einzelteile ein und nahm sie mit.

Eine gute Stunde später konnte man kaum noch erkennen, dass es an dieser Stelle vor kurzer Zeit einen schrecklichen Unfall gegeben hatte. Das konnte man nur beim genauen Hinsehen entdecken, wenn man auf die beschädigte Rinde des alten Baumes schaute. Er würde den Vorfall überleben. Im Gegensatz zu Bodo Landberg benötigte die Eiche nur ein wenig Hilfe durch einen Landschaftsgärtner. Der würde in den nächsten Tagen kommen, sich die ramponierte Rinde ansehen und sie entsprechend behandeln.

*

Als Polizeimeister Kirsch und seine Kollegen in Sophienlust erschienen, blickte Denise auf die Uhr und runzelte beunruhigt die Stirn. Trotzdem ging sie den Polizisten entgegen und begrüßte sie freundlich.

»Habe ich mich in meiner großen Sorge und Aufregung jetzt geirrt?«, fragte sie. »Ich dachte, wir wären erst in einer Stunde verabredet. Aber das ist auch ganz egal. Ich bin ja froh, dass Sie hier sind, und ich hoffe, dass wir alle in ein paar Stunden aufatmen können.«

»Ja, das ist wirklich unser größter Wunsch«, bestätigte Alexander von Schoenecker, der sich an diesem Tag selbstverständlich auch in Sophienlust aufhielt, zusammen mit Henrik, Nicks elf Jahre altem Halbbruder. »Wenn alles wie geplant abläuft und Bodo Landberg festgenommen werden kann, dann können wir Nick noch heute in die Arme schließen. Landberg muss uns nach seiner Verhaftung sofort sagen, wo wir Nick finden können.«

Die Polizisten wechselten hilflose Blicke miteinander, und schließlich räusperte Polizeimeister Kirsch sich:

»Bodo Landberg kann uns leider nicht mehr mitteilen, wo er seine Geisel versteckt hat. Sie haben sich nicht geirrt. Wir waren tatsächlich erst in einer Stunde verabredet. Aber inzwischen haben sich Dinge ereignet, die die gesamte Situation völlig verändern. Bodo Landberg ist vorhin auf der Landstraße tödlich verunglückt. Wahrscheinlich war er viel zu schnell unterwegs. Sein Wagen wurde aus einer Kurve getragen und ist gegen einen Baum geprallt. Es tut mir sehr leid, Ihnen das mitteilen zu müssen, und dabei denke ich nicht an den Tod des Entführers. Der berührt mich offen gestanden relativ wenig.«

Alexander hob die Hände und schüttelte den Kopf. »Moment, das bedeutet doch, dass uns jetzt niemand mehr sagen kann, wo unser Sohn sich jetzt aufhält. Er ist irgendwo eingesperrt, und kein Mensch kann ihn befreien, weil niemand weiß, wo er sich befindet.«

Nach den Worten ihres Mannes begriff nun auch Denise die Tragweite der dramatischen Mitteilung. Für eine Sekunde suchte sie Halt an Schwester Regines Arm, fing sich aber schnell wieder und atmete tief durch.

»Es muss aber doch eine Möglichkeit geben, Nick trotzdem zu finden. Er ist in Not und hofft auf unsere Hilfe. Ich gebe zu, dass ich nicht weiß, was wir unternehmen können. Aber untätig dürfen wir auf keinen Fall bleiben.«

»Das werden wir auch nicht«, entgegnete einer der Polizisten, die mit Polizeimeister Kirsch gekommen waren. »Erst einmal stellen wir den Autohandel auf den Kopf. Die drei Angestellten, die dort arbeiten, haben wahrscheinlich von der Entführung keine Ahnung. Trotzdem könnte Ihr Sohn sich genau dort befinden. Es existieren einige alte Schuppen und sogar diverse kleine Kellerräume, die sich ideal als Versteck eignen.«

»Das klingt, als würden Sie den Autohandel selbst sehr gut kennen«, stellte Alexander fest. »Kann es sein, dass ich da recht habe?«

»Sie haben recht«, bestätigte der Polizist. »Es hat schon ein paar Razzien gegeben, seit Bodo Landberg die Firma gekauft hat. Er war zum Beispiel dafür bekannt, gestohlene Autos neu zu lackieren und mit gefälschten Nummernschildern zu versehen, damit sie nicht mehr so leicht erkannt werden konnten. Ja, das Gelände ist mir und den Kollegen wohlbekannt. Wenn der entführte junge Mann dort irgendwo eingesperrt ist, dann finden wir ihn garantiert sehr schnell.«

Der Polizist lächelte Denise aufmunternd zu. Das half ihr aber wenig. Ihre Sorge um Nick hatte sich noch weiter gesteigert, und sie musste sich Mühe geben, um klar denken zu können und nicht in Panik zu geraten.

*

Lotte und Christian hatten sich tief in den Park zurückgezogen und saßen dort unter einer Blutbuche auf einer Bank. Christian hatte einen Arm um Lottes Schultern gelegt.

»Was empfindest du eigentlich bei dem Gedanken, dass Bodo ums Leben gekommen ist?«, wollte Christian wissen. »Belastet dich das sehr?«

Lotte schüttelte den Kopf. »Nein, es belastet mich überhaupt nicht. Darüber bin ich selbst eigentlich erstaunt. Ich bin mit diesem Mann verheiratet gewesen, und wir haben ein gemeinsames Kind. Trotzdem habe ich bei der Nachricht von seinem Tod einfach gar nichts empfunden. Bin ich deswegen ein schlechter Mensch?«

»Nein, du bist ganz gewiss kein schlechter Mensch«, erwiderte Christian voller Überzeugung. »Was dein Exmann dir angetan hat, ist kaum vorstellbar. Er hat großes Leid über dich gebracht, du hast von ihm nichts Gutes erfahren. Warum solltest du dann um ihn trauern oder über seinen Tod betroffen sein? Du hast ihm nicht gewünscht, dass er sterben soll. Den Unfall hat er selbst verschuldet.«

Lotte horchte in sich hinein. Nein, da war wirklich keine Spur von Trauer oder Betroffenheit. Sie fühlte sich sogar auf seltsame Weise befreit. Bodo Landberg, der Mann, der ihr das Leben zur Hölle gemacht hatte, war auch nach der Scheidung immer irgendwie präsent gewesen. Allein die Tatsache, dass es ihn gab und dass er ganz in der Nähe wohnte und arbeitete, hatte Lotte belastet. Jetzt fühlte sie sich plötzlich so frei wie seit vielen Jahren nicht mehr. Da waren keine Ängste vor diesem Mann mehr in ihr.

»Es macht mir tatsächlich nichts aus, dass Bodo nicht mehr lebt«, gestand sie. »Aber ich mache mir große Sorgen um Nick. Was ist, wenn er in Bodos Autohandel nicht gefunden wird? Für seine Mutter wäre das ein Albtraum. Ich kann so gut nachempfinden, wie sie sich jetzt fühlt. Um das Leben ihres Kindes bangen zu müssen, ist das Schlimmste, was einer Mutter widerfahren kann.«

Christian nickte. »Das glaube ich auch. Aber Nick ist kein hilfloses Kind mehr.«

»Das macht für eine Mutter keinen Unterschied«, erklärte Lotte. »Selbst ein sechzig Jahre alter Mann bleibt für seine vielleicht über achtzig Jahre alte Mutter noch immer ihr Kind. Das Alter spielt gar keine Rolle. Männer können das möglicherweise nicht so ganz begreifen, aber es ist wirklich so. Mutterliebe nimmt niemals ab.«

Christian glaubte Lottes Worten, zumal er kurz zuvor in Denises besorgtes Gesicht geschaut hatte. Sie war in der Tat verzweifelt gewesen und hatte unfassbar große Angst um ihren Sohn.

Eine Weile saßen Christian und Lotte noch auf der Bank. Sie wollten sich gerade erheben, als einige Kinder, unter ihnen auch Ronja, herbeigelaufen kamen. Es sah so aus, als hätten sie eine Neuigkeit zu verkünden. Ihre Gesichter sahen allerdings nicht fröhlich aus.

»Tante Isi und Onkel Alexander haben uns gerade erzählt, dass die Polizei vorhin angerufen hat«, berichtete Ronja. »Im Autohandel sind alle Räume gründlich durchsucht worden. Die Angestellten haben sogar bei der Suche geholfen. Aber Nick wurde nicht gefunden. Es gab da ein altes Wohnmobil mit verdunkelten Fenstern. Vielleicht hat es etwas mit der Entführung zu tun. Aber von Nick gab's keine Spur. Er muss woanders versteckt worden sein. Wo das sein könnte, weiß aber niemand. Wir haben alle Angst um Nick. Wenn er nicht bald gefunden wird, muss er verhungern oder verdursten. Daran darf ich überhaupt nicht denken. Das wäre so schrecklich.«

»Ganz so schnell verhungert oder verdurstet ein Mensch nicht«, erklärte Christian tröstend. »Vielleicht hat Nick in seinem Versteck ja auch Wasser und ein paar Lebensmittel, mit denen er eine Weile lang auskommen kann, wenn er sich alles vernünftig einteilt. Außerdem ist er nicht dumm und findet vielleicht eine Möglichkeit, sich selbst zu befreien.«

»Das glaube ich nicht«, bemerkte Fabian. »Wenn es eine solche Möglichkeit gäbe, hätte Nick sie längst genutzt und wäre schon wieder hier.«

»Manchmal dauert es sehr lange, bis man sich befreit hat«, gab Christian zu bedenken. »Wahrscheinlich habt ihr alle schon einmal einen Film gesehen, in dem ein Häftling im Gefängnis die Gitterstäbe vor seinem Fenster mit einer Nagelfeile durchtrennt hat. Das geschieht nicht an einem einzigen Tag.«

Heidi schüttelte den Kopf. »Nick nimmt nie eine Nagelfeile mit, wenn er zur Bibliothek fährt. Warum sollte er das auch tun? Er konnte doch nicht wissen, dass er entführt wird und dann hinter Fenstern sitzen muss, die vergittert sind.«

»Vielleicht gibt es dort, wo er jetzt ist, überhaupt kein Fenster«, ließ Martin sich vernehmen. »Kein Mensch hat eine Ahnung, wohin Bodo Landberg ihn gebracht haben könnte, und der kann es uns jetzt nicht mehr sagen. Wir befinden uns in einer ganz schlimmen Situation.«

Damit hatte Martin das ausgesprochen, was alle fühlten. Angst, Verunsicherung und Hilflosigkeit gingen in Sophienlust um. Jeder hätte gern Zuversicht ausgestrahlt und damit Trost gespendet. Aber niemand war dazu in der Lage. So viele bedrückte Gesichter gleichzeitig hatte es in Sophienlust bisher noch nie gegeben.

Lotte hätte jetzt mit Ronja nach Hause fahren können. Nach Bodos Tod drohte dem Mädchen schließlich keine Gefahr mehr. Aber weder sie noch Christian wollten Sophienlust jetzt einfach so verlassen. Auch Ronja stand nicht der Sinn danach, nach Hause zu fahren.

»Sie können in Sophienlust übernachten, wenn Sie möchten«, schlug Pünktchen vor. »Es gibt ja Gästezimmer im Haus. Wenn Sie bleiben, erfahren Sie auch sofort, wenn es Neuigkeiten gibt.«

»Danke für die Einladung«, entgegnete Christian. »Aber müssten wir nicht erst Frau von Schoenecker fragen, ob sie damit einverstanden ist?«

Pünktchen zog die Schultern hoch. »Tante Isi würde Ihnen denselben Vorschlag machen und Sie auch gleich zum Abendessen und zum Frühstück einladen. Morgen nach dem Frühstück können Sie doch gut von Sophienlust aus zu Ihrer Schule fahren. Gar so weit ist der Weg ja nicht.«

Nur wenige Minuten später bestätigte Denise Pünktchens Einladung. Sie selbst und auch ihr Mann wollten die Nacht ebenfalls in Sophienlust verbringen. Wenn die Polizei, die intensiv nach Nick suchte, Neues zu berichten hatte, würde sie sich in Sophienlust melden. Außerdem wollten Denise und Alexander die Kinder, die in höchster Sorge um Nick waren, nicht allein lassen. Auch wenn Denise die schrecklichsten Gedanken darüber, was Nick alles zugestoßen sein könnte, durch den Kopf gingen und sie beinahe um den Verstand brachten, beachtete sie einen Grundsatz: Ihre Aufgabe war es immer gewesen, für die Schützlinge von Sophienlust da zu sein. Eigene Interessen und Wünsche hatte sie stets dafür zurückgestellt. Daran sollte sich nichts ändern, auch nicht jetzt, in dieser für sie so schrecklichen Situation. Nick, dessen war Denise sich sicher, hätte das genauso gesehen. Auch für ihn standen die Kinder immer im Vordergrund, ganz besonders dann, wenn sie Probleme hatten. Dass alle Kinder im Augenblick ein ganz großes Problem hatten, stand ohne jeden Zweifel fest.

Auch an diesem Abend waren selbst die kleinen Kinder sehr lange wach. Dass sie bereits ihre Schlafanzüge angezogen hatten, bedeutete nicht, dass sie auch zu Bett gehen wollten. Kim ging zu Schwester Regine und kletterte auf ihren Schoß.

»Warum gibt es Leute, die sind so böse wie Vater von Ronja?«, fragte er. »Ich nicht kann verstehen. Er doch musste wissen, dass hier alle haben Angst um Nick. Wieso ist ihm egal, dass ganz viele Leute haben Angst und sind traurig?«

»Du hast das gerade schon ganz richtig gesagt«, erklärte Schwester Regine. »Es gibt tatsächlich Menschen, die einfach nur böse sind und gar nicht daran denken, dass sie andere Leute sehr traurig machen. Das ist ihnen auch egal.«

»Mir nicht wäre egal, wenn ich machen würde viele Menschen traurig«, sagte Kim. »Ich lieber mache Leute glücklich. Das ist schön.«

»Du bist ja auch ein lieber Junge«, entgegnete die Kinderschwester. »Den meisten Menschen macht es keinen Spaß, anderen Leuten Schaden zuzufügen oder sie traurig zu machen. Nur ganz wenige sind richtig böse und nehmen keine Rücksicht. Ronjas Vater war leider einer dieser bösen Menschen.«

»Ja, aber jetzt es nicht mehr gibt ihn«, bemerkte Kim zufrieden. Er war sich der Tragweite des Todes noch nicht so recht bewusst. »Aber jetzt alle haben Angst um Nick, und alle nicht wissen, wo ist er. Polizei hat auch nicht gefunden ihn. Ronjas Vater hat eingesperrt Nick irgendwo, und er nicht kann raus. Muss Nick jetzt sterben, weil er nichts hat, was er kann essen und trinken?«

Diese Frage hatte Schwester Regine sich selbst auch schon mehrfach gestellt und spürte, wie auch jetzt wieder eine eiskalte Hand nach ihr zu greifen schien. Doch das durfte sie Kim nicht zeigen.

»Ich glaube, dass Nick ganz bald gefunden wird. Die Polizei sucht nach ihm und kennt eine Menge Verstecke. In ein paar Tagen ist Nick ganz bestimmt wieder gesund und munter hier bei uns. Du brauchst nicht zu befürchten, dass er verhungern könnte.«

»Versprichst du mir, dass Nick wird bald wieder sein in Sophienlust?«, wollte Kim wissen. »Kannst du versprechen mit großes Ehrenwort?«

»Ja, das verspreche ich dir.« Schwester Regine drückte den kleinen Jungen an sich. Er sollte nicht sehen, wie ihr die Tränen in die Augen stiegen. Sie bemühte sich stets, ehrlich zu den Kindern zu sein und sie nie zu belügen. Das war ihr bisher auch so gut wie immer gelungen. Jetzt aber hatte sie Kim ein Versprechen gegeben, das ungeheuer wichtig für ihn war. Der Junge vertraute ihr blind, und sie hatte nicht die geringste Ahnung, ob sie dieses Versprechen halten konnte. Schwester Regine kam sich in diesem Augenblick wie eine Verräterin vor und hoffte, dass das Schicksal es gut mit allen Beteiligten meinte, dass ihr Versprechen eingelöst und Nick unbeschadet befreit werden würde.

*

Nick hatte bereits die dritte Nacht in seinem Gefängnis verbracht. Hungern oder dürsten musste er wirklich nicht, aber nervlich ging es ihm inzwischen nicht mehr so gut. Er fragte sich, wieso diese Geiselnahme nicht längst beendet und er wieder in Freiheit war. Bodo Landberg hatte ein Ziel, das ihm wichtig war und das er auf dem schnellsten Weg erreichen wollte. Es ging ihm darum, seine Tochter in seine Gewalt zu bringen.

Offensichtlich hatte er sich aber noch gar nicht mit Sophienlust in Verbindung gesetzt, um seine Forderung zu stellen. Hätte er das getan, wäre doch inzwischen mit Sicherheit etwas geschehen. Falls man ihm Ronja übergeben hätte, was Nick sich eigentlich kaum vorstellen konnte, wäre jemand zur Hütte gekommen und hätte ihn freigelassen. Wenn man Bodo die Bereitschaft für einen Austausch vorgetäuscht und ihn dann festgenommen hatte, hätte er das Versteck seiner Geisel bekannt geben müssen. Dazu hätte man ihn ganz bestimmt massiv genötigt. Auch in diesem Fall wären vermutlich Polizisten bei der Hütte aufgetaucht, um die Geisel zu befreien. Aber es hatte sich nichts getan, und das verunsicherte Nick. Was konnte vorgefallen sein, das seine Befreiung unmöglich machte? Er fand keine Erklärung, so lange er auch darüber nachdachte.

Manchmal gab es Augenblicke, in denen Nick davon überzeugt war, dass sein unfreiwilliges Abenteuer schon in ein bis zwei Stunden beendet sein würde. Dann wieder befürchtete er, dass er diese Steinhütte nicht lebend verlassen könnte. Vielleicht war es Bodo gelungen, seine Tochter irgendwie an sich zu bringen und mit ihr spurlos zu verschwinden? Auf einen Hinweis, wo man ihn, Nick, finden konnte, hatte er möglicherweise verzichtet, weil ihn das jetzt nicht mehr interessierte. Was mit seiner Geisel geschah, war Bodo Landberg vielleicht ganz egal.

Bei diesem Gedanken geriet Nick nahezu in Panik. Er hatte inzwischen festgestellt, dass sich wirklich kein Wanderer, der ihm womöglich helfen könnte, in diese einsame Gegend verirrte. Irgendwann würden die Vorräte aufgebraucht sein, und dann wurde die Lage ausgesprochen kritisch. Nick entschloss sich, vor allen Dingen mit dem Wasser vorsichtiger umzugehen und es sparsam zu verwenden. Er wusste genau, dass ein Mensch viel schneller verdurstete als verhungerte. Wenn er das Wasser rationierte, arbeitete die Zeit für ihn. Dann konnte er einige Tage länger durchhalten. Nick gab sich Mühe, trotz seiner schlimmen Situation einen kühlen Kopf zu behalten und logisch zu denken. Es hatte keinen Sinn, sich seinen Ängsten hinzugeben oder vielleicht sogar in Panik zu verfallen. Er hoffte jedoch sehr, dass dieser Albtraum schnell, möglichst noch an diesem Tag, enden würde. Alles in ihm drängte ihn nach Sophienlust, zu seiner Familie und den Kindern, für die er verantwortlich war und die er von Herzen liebte. Diese Kinder würden sich große Sorgen um ihn machen und vielleicht sogar um sein Leben bangen. Wenn er ihnen doch jetzt, in diesem Moment, wenigstens hätte sagen können, dass er nicht in akuter Gefahr war und auch nicht hungern musste. Dafür hätte Nick viel gegeben. Aber er war völlig machtlos und konnte allenfalls auf einen guten Ausgang hoffen. Zur Untätigkeit verdammt zu sein war etwas, das Nick nicht ausstehen konnte. Seufzend ließ er sich wieder auf seinem Stuhl nieder und starrte durch das vergitterte Fenster auf die Landschaft.

*

Nachdem die Polizei Nick bisher nicht hatte finden können, machte sich auch seine Familie auf die Suche. Nicht nur Denise und Alexander von Schoenecker waren unterwegs, auch Hans-Joachim von Lehn und Andrea beteiligten sich an dem Unternehmen und suchten sämtliche Höhlen und sonstigen Unterschlupfe in der näheren und weiteren Umgebung ab. Auch einige alte Burgruinen wurden eingehend unter die Lupe genommen. Selbst ein ehemaliges Bahnwärterhäuschen wurde geprüft. Hans-Joachim von Lehn hatte sogar seine Tierarztpraxis nur noch halbtags geöffnet, um ausreichend Zeit für die Suche nach Nick zu haben. Abends trafen sich dann alle in Sophienlust, um sich gegenseitig Bericht zu erstatten. Aber da gab es nichts zu berichten.

Auch Lotte und Christian, die alle ihnen bekannten Stellen, an denen man einen Menschen verstecken konnte, geprüft hatten, konnten keinen Erfolg vermelden und waren niedergeschlagen. Die Sorge um Nick wurde von Stunde zu Stunde gewaltiger.

Sonntags saßen die Kinder wieder beisammen und zerbrachen sich die Köpfe darüber, wo sie noch nach Nick suchen könnten.

Plötzlich sprang die siebzehnjährige Irmela auf. »Das Bootshaus! Am Waldsee gibt es doch ein kleines Bootshaus. Das können wir immer, wenn wir dort sind, am anderen Ufer sehen. Dort könnte man prima jemanden einsperren.«

Angelika schüttelte den Kopf. »An das Bootshaus habe ich auch schon gedacht. Aber da kann Nick nicht sein. Dieses kleine Bootshaus gehört Herrn Winninger, der zwischen Wildmoos und Maibach die Biogasanlage betreibt. Wir kommen auf unserem Schulweg jeden Tag daran vorbei. Herr Winninger kommt nur selten zum Waldsee und hält das Bootshaus immer gut verschlossen. Da kommt niemand rein.«

»Bodo Landberg war aber ein Verbrecher«, gab Irmela zu bedenken. »Dem hätte es nichts ausgemacht, ein Bootshaus aufzubrechen, Nick dort zu verstecken und die Tür dann selbst mit einem anderen Schloss zu verschließen. Kommt mit, wir dürfen keine Chance ungenutzt lassen, um Nick zu finden und ihn zu befreien.«

Alle Kinder folgten Irmela. Sogar Kim und Heidi hielten tapfer das hohe Tempo mit, das die anderen Kinder vorlegten.

Der Waldsee war nicht sehr weit entfernt und an diesem Tag besonders schnell erreicht. Schon aus einiger Entfernung riefen die Kinder nach Nick, in der Hoffnung, Antwort zu bekommen. Aber alles blieb still. Als die Gruppe den kleinen See halb umrundet hatte und vor der Tür des Bootshauses stand, prüften sie eingehend das Vorhängeschloss.

»Das ist völlig eingestaubt«, stellte Fabian fest. »Hier war schon lange keiner mehr. Außerdem fehlt an der Seitenwand die Scheibe im Fenster. Da wäre Nick doch sofort herausgeklettert, wenn ihn jemand im Bootshaus eingesperrt hätte. Die Idee, hier nach Nick zu suchen war gar nicht so schlecht, aber es war wieder ein Fehlschlag. Hier ist Nick jedenfalls nicht, und hier war er auch nicht.«

Die Kinder waren enttäuscht. Obwohl es von Anfang an unwahrscheinlich erschienen war, hatten sie doch gehofft, Nick zu finden und die schreckliche Situation endlich vergessen zu können. Nun zogen sie unverrichteter Dinge nach Sophienlust zurück, diesmal in wesentlich langsamerem Tempo und mit hängenden Köpfen. Niemand von ihnen konnte begreifen, dass Nick offensichtlich unauffindbar war. Selbst die Polizei hatte inzwischen kaum noch eine Idee, wo sie nach dem jungen Mann suchen sollte, und alle, die unterwegs gewesen waren und jeden nur denkbaren Winkel überprüft hatten, waren erfolglos geblieben. Bodo Landberg musste seinen Plan ausgesprochen gut durchdacht und für Nick ein Versteck gewählt haben, das absolut ausbruchsicher war und das kein Mensch ausfindig machen konnte, zumindest nicht innerhalb von ein paar Tagen.

Aber viel Zeit blieb wahrscheinlich nicht mehr. Mit jedem Tag, ja mit jeder Stunde, die verging, wurde die Lage für Nick schlechter. Selbst wenn er mit Wasser und Lebensmitteln versorgt worden war, würde das alles nicht lange reichen. Bodo Landberg war schließlich davon ausgegangen, dass er sein Vorhaben am nächsten Tag in die Tat umsetzen konnte, und hatte Nick deshalb vermutlich nicht mit großen Vorräten versorgt. Diese Vorstellung ließ die Ängste der Kinder immer größer werden.

*

Während der alte und längst pensionierte Oberförster Bullinger vor dem Haus auf einer Bank saß und schmunzelnd zwei Eichhörnchen beobachtete, die in einer nahen Buche herumkletterten, saß der Förster Klaus Schröder im Büro des Forsthauses und blätterte einige Listen durch. In diesen Listen waren unter anderem Aufträge verzeichnet, die in dieser Woche erledigt werden mussten. Dazu gehörte auch die Kontrolle einer Schonung, die vor zwei Jahren angelegt worden war. Selbst mit seinem Geländewagen konnte er diese Schonung nur schwer erreichen. Deshalb entschloss er sich, den Weg zu Fuß zurückzulegen. Wenn er einem schmalen Pfad folgte, der quer durch den Wald führte, würde er den Platz in etwa einer halben Stunde erreichen.

»Ich werde jetzt zur Schonung am Bärenhain wandern«, teilte Klaus Schröder dem Oberförster mit, als er das Büro verließ und an der Bank vorbeikam. Bullinger liebte den Wald und die Natur. Deshalb hatte er auch nach seiner Pensionierung im Forsthaus bleiben dürfen und bewohnte hier seine eigenen abgeschlossenen Räume. Mit Förster Schröder und dessen Frau Sabine sowie deren kleinem Sohn Andi verstand sich der alte Oberförster ausgezeichnet, und er wurde von der Familie als liebevoller Großvater betrachtet. Auch die Kinder von Sophienlust sahen in ihm so etwas wie einen Großvater, den sie oft besuchten und der ihnen dann stets spannende Geschichten aus seiner Dienstzeit erzählte.

»Zum Bärenhain?«, fragte Bullinger jetzt. »Da war ich schon lange nicht mehr und würde auch gern wissen, wie die Schonung sich entwickelt hat. Hast du etwas dagegen, wenn ich dich begleite?«

»Warum sollte ich? Ich freue mich sogar, wenn ich den Weg nicht allein zurücklegen muss. Wir können uns gern gemeinsam zum Bärenhain aufmachen.«

Klaus Schröder musste einen Moment lang warten. Der alte Bullinger verschwand im Haus, um sich Schuhe anzuziehen, die sich für die Wanderung auf dem etwas unwegsamen Pfad eigneten. Es dauerte allerdings nicht lange, bis er wieder vor dem Haus erschien. Wie er es auch schon während seiner Dienstzeit immer getan hatte, trug er auch jetzt ein Fernglas bei sich, das er sich umgehängt hatte.

Klaus Schröder nickte zustimmend, und die beiden Männer machten sich auf den Weg. Den Weg zum Bärenhain kannten sie beide gut. Deshalb mussten sie sich nicht auf den Pfad konzentrieren, sondern konnten sich unterwegs unterhalten. Trotzdem richteten sich ihre Blicke zwischendurch immer wieder prüfend auf die Bäume und Kleingehölze der näheren Umgebung.

»Am Bärenhain gab es früher einen Wanderweg, der sogar für Forstfahrzeuge befahrbar war«, bemerkte der ehemalige Oberförster unterwegs. »Nach der Renaturierung des Bachlaufs ist dieser Weg mit der Zeit immer mehr zugewachsen. Ich glaube, da muss demnächst etwas getan werden.«

Klaus Schröder nickte. »Ja, ich habe mir das schon auf der Karte angesehen und beschlossen, dass dieser Weg noch in diesem Jahr wieder neu erstellt werden sollte.«

Die beiden Männer wanderten weiter, und schon bald lag die Schonung am Bärenhain in Sichtweite. Oberförster Bullinger schüttelte lächelnd den Kopf.

»Da steht ja noch immer das Schutzhäuschen der Waldarbeiter am Rand der Schonung. Sollte das nicht längst abgerissen sein?«

»Ja«, erwiderte Klaus Schröder. »Ich habe schon mehrfach einen Antrag auf Abriss gestellt. Leider bin ich nicht persönlich für solche Gebäude zuständig. Sonst wäre die Sache schon lange erledigt. Meine Anträge wurden von der Gemeindeverwaltung immer damit beantwortet, dass diese Steinhütte sobald wie möglich abgerissen würde. Einen genauen Zeitpunkt hat man mir allerdings nie mitgeteilt. Ich erkundige mich in ein paar Tagen noch einmal bei der Verwaltung.«

Kaum hatte der Förster ausgesprochen, blieb er plötzlich stehen und warf einen misstrauischen und prüfenden Blick zu der Steinhütte hinüber. Der alte Oberförster folgte dem Blick und erkannte nun auch, was Klaus Schröder irritierte.

»Das Häuschen scheint gar nicht so ungenutzt zu sein, wie wir angenommen haben«, stellte Bullinger fest. »Das Gras vor der Eingangstür ist niedergetreten, und es scheint sogar jemand mit einem Auto hergefahren zu sein. Da sind tiefe Fahrspuren am Rand der Schonung, die vor der Hütte enden. Offensichtlich hat hier jemand mitten im Wald ein neues Zuhause gefunden. Vielleicht finden wir heraus, um wen es sich handelt.«

Die beiden Förster gingen nah an das kleine Haus heran und wollten sich gerade das Vorhängeschloss ansehen, als sie eine Stimme vernahmen, die aus dem Innern des Häuschens kam.

»Hallo! Ist da draußen jemand? Ich bin hier eingesperrt und brauche Hilfe. Bitte versuchen Sie, die Tür zu öffnen.«

Das dicke Vorhängeschloss ließ sich unmöglich schnell und ohne entsprechendes Werkzeug öffnen. Klaus Schröder ging um die Ecke zur Seitenwand und schaute durch eines der beiden Fenster.

»Du liebe Güte, Nick! Wie kommst du denn hierher?! Aber das kannst du uns alles später erzählen. Wir haben leider kein schweres Werkzeug bei uns. Aber ich rufe sofort die Polizei an. Die wird dich ganz schnell befreien. Bis dahin bleiben wir hier bei dir. Ich hoffe, es geht dir gut?«, erkundigte er sich besorgt.

»Mit mir ist alles in Ordnung«, bestätigte Nick. »Aber richtig gut geht es mir erst, wenn ich endlich wieder in Freiheit bin. Könnten Sie bitte auch sofort in Sophienlust anrufen und erzählen, dass ich gefunden wurde? Da machen sich nämlich alle bestimmt große Sorgen um mich.«

Diese Bitte erfüllte der Förster gern, und der alte Bullinger telefonierte währenddessen mit der Polizei. Ihm wurde versprochen, dass in spätestens zwanzig Minuten Beamte vor Ort sein würden, die das schwere Vorhängeschloss leicht aufbrechen konnten.

Klaus Schröder und Oberförster Bullinger standen vor dem Fenster und verließen diesen Platz nicht mehr. Auf diese Weise wollten sie Nick zeigen, dass er nicht allein war und sich darauf verlassen konnte, Hilfe zu bekommen. Nick selbst hätte die beiden Männer da draußen vor dem Fenster am liebsten umarmt. Das war jedoch durch die engen Gitter leider nicht möglich. Aber es würde nicht mehr lange dauern, bis er sich diesen Wunsch erfüllen konnte. Der Gedanke daran, dass dieser Albtraum nun zu Ende ging, beflügelte Nick. Er fühlte sich plötzlich so glücklich wie in seinem Leben nur selten zuvor.

*

Wann immer in Sophienlust ein Telefon läutete, schraken alle, die sich in der Nähe befanden, zusammen und liefen herbei. Auch diesmal bildete sich augenblicklich eine kleine aufgeregte Gruppe um Denise, als sie den Anruf entgegennahm. An ihrem plötzlich strahlenden Gesicht war deutlich zu erkennen, dass es sich um eine besonders gute Nachricht handeln musste. Das Gespräch dauerte nicht lange. Denise atmete tief durch.

»Nick ist frei, und es geht ihm gut!«, rief sie glücklich den anderen zu. »Er war mitten im Wald in einem kleinen Haus eingesperrt, das Bauarbeiter vor Jahren einmal als Schutzhütte genutzt hatten. Herr Schröder und Oberförster Bullinger haben Nick bei einem Rundgang zufällig entdeckt. Die Polizei hat das dicke Vorhängeschloss an der Tür aufgebrochen und Nick befreit. Jetzt sind die Polizisten mit ihm auf dem Weg hierher. Nick wird gleich bei uns sein, und damit geht eine schreckliche Zeit für uns alle zu Ende.«

Die seit Tagen gedrückte Stimmung in Sophienlust wich einem regelrechten Freudentaumel.

Als der Streifenwagen mit Nick auf das Gelände fuhr, eilten ihm sämtliche Bewohner des Kinderheims entgegen. Obwohl Nick schwere Tage hinter sich hatte, die ganz massiv an seinen Nerven gezerrt hatten, genoss er das Wiedersehen mit den Menschen, die ihm so viel bedeuteten, von ganzem Herzen.

Es fiel Denise schwer, den Kindern den Vortritt zu lassen, aber sie war daran gewöhnt, dass das Glück der Schützlinge von Sophienlust stets im Vordergrund stand, und geduldete sich. Dann aber schloss sie ihren Sohn selig in die Arme. Von diesem Augenblick hatte sie mehrere Tage geträumt. Auch Alexander von Schoenecker umarmte seinen Adoptivsohn und wollte ihn gar nicht wieder loslassen.

Erst seit etwa einer halben Stunde war bekannt, dass Nick befreit worden und alles wieder gut war. Für Magda war das keine lange Zeit gewesen, aber als Köchin kannte sie eine Menge Tricks. Deshalb war es ihr gelungen in aller Eile einige Torten zuzubereiten, die nicht gebacken werden mussten und daher relativ schnell auf den Tisch gebracht werden konnten. Nun erschien Magda oben auf der Freitreppe und rief zu Tisch, um Nicks glückliche Heimkehr zu feiern. Diesem Ruf folgten alle gern, und als Nick die Treppe hinaufgestiegen und bei Magda angekommen war, drückte ihn auch die Köchin heftig an ihr Herz.

»Was für ein Segen, dass du wohlbehalten wieder bei uns bist! Du kannst dir gar nicht vorstellen, welche Sorgen wir uns gemacht haben. Es war einfach furchtbar. Aber jetzt setz dich an den Tisch und greif tüchtig zu. Dabei kannst du uns dann ganz genau erzählen, was du erlebt hast.«

Das tat Nick gern. In allen Einzelheiten berichtete er, was ihm widerfahren war, und fand ausnahmslos interessierte Zuhörer. Als er anschließend erfuhr, dass Bodo Landberg nicht mehr lebte, war er einen Augenblick lang betroffen, fand seine Gelassenheit aber sehr schnell wieder. Was dieser Mann ihm angetan hatte, ließ kein tiefes und anhaltendes Mitgefühl zu.

Nick musste die Geschichte seiner Entführung nicht nur einmal erzählen. Die Kinder fanden alles so spannend, dass Nick mehrfach und in allen Einzelheiten berichten musste, was er erlebt hatte und wie es ihm in dieser einsam gelegenen Hütte ergangen war.

Lotte schaute Christian, der neben ihr am Tisch saß, mit strahlenden Augen an. »Du hast mich einmal gebeten, dich sofort davon zu unterrichten, wenn ich mich frei fühle, frei genug, um deinen Heiratsantrag annehmen zu können. Dieser Augenblick ist jetzt gekommen. Es gibt Bodo nicht mehr. Er hat keine Macht mehr über mich, und Nick, der durch ihn in große Gefahr geraten ist, ist auch wohlbehalten wieder hier. Ich bin rundherum glücklich. Wenn du mich also noch immer zur Frau und Ronja zur Tochter haben willst…«

Weiter kam Lotte nicht mehr. Ronja hatte sehr feine Ohren und saß ohnehin ganz in der Nähe. Sie hatte jedes Wort vernommen und sprang aufgeregt von ihrem Stuhl.

»Ihr wollt heiraten?«, rief sie, sodass alle, die sich im Raum befanden, es hörten. »Das finde ich toll! Christian ist ein ganz lieber Mann und bestimmt auch ein prima Vater. Na ja, und Elise hat er auch lieb. Dann sind wir bald eine richtige Familie!«

Ein paar Sekunden lang war es absolut still. Dann stürmten die Kinder los und gratulierten der künftigen Familie. Sobald sich die Gelegenheit ergab, beglückwünschten auch die Erwachsenen Lotte, Christian und Ronja.

»Die Hochzeit könnt ihr ja hier in Sophienlust feiern«, schlug Heidi begeistert vor. »Au ja, bitte! Wir hatten schon ziemlich lange keine Hochzeit mehr.«

»Ganz so lange ist das noch gar nicht her«, widersprach Nick lächelnd und wandte sich an Lotte und Christian. »Aber es würde uns wirklich sehr freuen, wenn Sie damit einverstanden wären, dass die Hochzeitsfeier hier bei uns stattfindet.«

Als diese Bitte auch von Denise, Alexander und ausnahmslos allen Kindern ausgesprochen wurde, hatten Lotte und Christian keine Chance mehr.

»Wir sind einverstanden«, erklärte Lotte. »Sophienlust ist ein so schöner Ort, und hier leben so wundervolle Menschen. Nirgendwo sonst auf der Welt würden wir lieber feiern.«

Fröhlicher Trubel war die Reaktion auf diese Entscheidung. Denise und Alexander standen Arm in Arm da und betrachteten die Szene.

»Was für ein Tag«, raunte Denise ihrem Mann zu. »Die Angst um Nick ist zu Ende. Er ist gesund und munter wieder hier angekommen. Zwei Menschen haben gerade beschlossen, ihr Leben miteinander zu teilen, und Ronja bekommt endlich den besten Vater, den sie sich wünschen kann. Das ist einer der schönsten Tage in meinem Leben.«

»Ja, für mich ist er das auch«, flüsterte Alexander mit einem schalkhaften Funkeln in den Augen. »Und das Schönste an diesem Tag ist, dass ich dich in meinem Arm halten kann.«

»Schmeichler«, erwiderte Denise lächelnd und schmiegte ihren Kopf an die Schulter ihres Mannes.

Sophienlust - Die nächste Generation Staffel 3 – Familienroman

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