Читать книгу Sophienlust - Die nächste Generation Staffel 3 – Familienroman - Diverse Autoren - Страница 9
Оглавление»Nick, willst du in diesem Jahr mit unseren Kindern auch wieder ein kleines Theaterstück an einem der Adventssonntage aufführen, zu dem wir Gäste einladen können?«, erkundigte sich Denise von Schoenecker bei ihrem Sohn.
»Natürlich, Mama!«
»Wenn ich mir dein Gesicht mit dem verschmitzten Lächeln ansehe, dann hast du sicher schon ein Stück ausgesucht und steckst bereits in den Vorbereitungen.«
Nick lachte. »Wie gut du mich doch kennst«, erwiderte er, stützte seine Ellbogen auf die Schreibtischplatte und sah die Frau, die ihm gegenübersaß, liebevoll an. Dann schob er das Manuskript, das ihm als Grundlage für seine Inszenierung dienen sollte, ein wenig zur Seite, damit sie den Titel nicht lesen konnte.
»Du machst mich neugierig, Nick. Welches von den klassischen Märchen hast du denn ausgewählt?«
»Keines, eher ein modernes. Bestehst du darauf, dass ich es dir erzähle, oder möchtest du dich in diesem Jahr vielleicht einmal von mir überraschen lassen?«
Nick beobachtete seine Mutter aus den Augenwinkeln. Sie war bis heute immer noch seine wichtigste Stütze, ohne sie hätte er sein Erbe, das Kinderheim Sophienlust, gar nicht annehmen können.
Jetzt seufzte sie, als stünde sie vor einer wichtigen Entscheidung, zu der sie sich nur schwer durchringen konnte.
»Letzteres!«, erwiderte sie endlich zögernd.
»Okay, Mama.«
»Gut, dann wäre das ja geklärt.« Denise stand auf, küsste ihren Sohn auf die Wange und sagte im Hinausgehen: »Du kannst bestimmt heute Nachmittag auf meine Anwesenheit verzichten. Dein Vater und ich möchten nämlich gern nach Stuttgart fahren, um für ihn einen neuen Wintermantel zu kaufen. Das heißt, er möchte nicht, aber ich bestehe darauf. Du kennst ihn ja, jedes Jahr wieder meint er, der alte würde ihm noch ein paar Jahre reichen. Nun bin ich seine Ausreden leid, und ich garantiere dir, wir kommen nicht ohne einen Mantel für ihn zurück. Ach ja, anschließend wollten wir noch kurz bei einem Geschäftsfreund vorbeischauen.«
»Dann schlage ich dir vor, übernachtet in Stuttgart und kommt erst morgen zurück, sonst ist doch alles nur eine große Hetze«, schlug Nick vor.
»Das habe ich mir auch schon gedacht und bereits ein Hotelzimmer gebucht«, erwiderte seine Mutter.
»Prima! Ich freue mich für euch. Ihr kommt so selten zusammen einmal raus«, meinte Nick.
»Danke. Ach ja, was ich dir noch sagen wollte: Auf meinem Schreibtisch liegen noch die Unterlagen einer Studentin, die sich bei uns für ein Praktikum beworben hat. Die solltest du dir unbedingt einmal näher ansehen. Wir reden dann übermorgen darüber, was du davon hältst.«
»In Ordnung.«
Denise stand noch immer im Türrahmen, als überlegte sie, ob ihr noch etwas Wichtiges einfallen würde. Sie hatte sich von einer leichten Erkältung inzwischen gut erholt. Wieder einmal musste Nick denken, was für ein Segen es war, so eine tolle Mutter zu haben, die es einfach verstand, alle Menschen um sich herum glücklich zu machen. Er hatte es in all den vergangen Jahren nie für selbstverständlich gehalten, dass sie sein urgroßmütterliches Erbe Sophienlust für ihn bis zu seinem achtzehnten Lebensjahr verwaltete. Nein, nicht nur verwaltete – sie hatte das Kinderheim erst zu dem gemacht, was es heute war. Ein Gefühl tiefer Dankbarkeit erfüllte ihn auch heute bei diesem Gedanken.
»Soll ich dir etwas aus Stuttgart mitbringen?«, fragte sie gerade.
»Nein, danke, Mama. Für ein Leckerli bin ich eigentlich schon zu alt, obwohl du genau weißt, dass ich bei Marzipan und Dominosteinen schlecht Nein sagen kann«, erwiderte Nick grinsend.« Doch im gleichen Augenblick, als er dies sagte, fiel ihm ein, was er für die geplante Adventsaufführung eigentlich noch dringend brauchte.
»O doch, Mama. Ich brauche unbedingt ein weißes Kleid für ein schlankes, zwölfjähriges Mädchen, und viele goldene Sterne, die man darauf befestigen kann.«
»Du machst mich neugierig, mein Sohn. Wer soll denn das Kleid tragen, Emily vielleicht?«
»Wie kommst du auf Emily?«, wunderte sich Nick.
»Weil sie sich für eine Prinzessin in einem Märchenspiel hervorragend eignen würde.«
»Prinzessin? Habe ich etwas von einer Prinzessin gesagt?«, wunderte sich Nick.
»Nein, das war einfach nur Instinkt«, erwiderte seine Mutter mit einem kleinen Lächeln.«
»Ich gebe es auf, etwas vor dir geheim halten zu wollen, Mama. Du kommst einem ja doch irgendwie auf die Schliche. Manchmal ist das schon fast ein wenig unheimlich.«
»Ach wo, ich kenne dich eben nur sehr gut, mein Sohn. Aber was du genau vorhast, weiß ich natürlich nicht.«
»Und du wirst mich auch nicht danach fragen, Mama. Schließlich habe ich deine Zusage, dass du dich nicht einmischen, sondern dich überraschen lassen möchtest.«
»Stimmt! Obwohl ich fast vor Neugierde platze«, erwiderte seine Mutter lächelnd.
»Das habe ich mir schon gedacht.« Nick war inzwischen aufgestanden und schob seine Mutter sanft aus der Tür.
»Dann will ich mich mal auf den Weg in den Speisesaal machen. Es gibt heute Hähnchenschnitzel, paniert mit Mandeln, dazu Endiviensalat und zum Nachtisch einen Bratapfel mit Vanilleeis. Und du, du wirst doch bestimmt schon auf Schoeneich drüben erwartet, oder nicht?«
»Allerdings. Obwohl ich mich gerade entschlossen habe, dich zu begleiten. Sieh mich nicht so erstaunt an, mein Sohn. Die Speisekarte hier in Sophienlust ist so hervorragend, dass ich meinen lieben Mann heute einfach versetzen werde. Unsere Köchin hat nämlich heute eines seiner Lieblingsgerichte, Graupensuppe mit Rindfleisch, gekocht. Und du weißt, dass ich sie nur ihm zuliebe manchmal esse. Aber heute garantiert nicht!«
Denise von Schoenecker sah in diesem Augenblick sehr entschlossen aus, griff zum Handy und teilte ihrem Mann Alexander mit, dass sie im Moment noch in Sophienlust gebraucht würde. Das war zwar nicht die volle Wahrheit, aber manchmal gab es eben Situationen, die eine kleine Notlüge rechtfertigten. Schmunzelnd legte sie ihre Hand auf Nicks linke Schulter.
»Das Märchen Sterntaler wirst du sicher nicht aufführen wollen, das hatten wir nämlich schon mal im Programm«, forschte sie, während sie sich dem Speiseraum näherten. Ein nicht überhörbarer Geräuschpegel erinnerte beide daran, dass gleich die Augen aller anwesenden Kinder auf sie gerichtet sein würden.
»Wer hat das neue Stück eigentlich geschrieben, kenne ich es und besitzt du auch die Aufführungsrechte dafür?«
»Mama, das war gerade ein netter Versuch von dir, mich auszufragen. Natürlich besitze ich die Rechte, schließlich habe ich das Märchen selbst geschrieben, das Theaterstück übrigens auch. Bist du nun zufrieden?«, fragte Nick.
»Du?«, wunderte sich seine Mutter. »Ich dachte, seitdem du dein Fernstudium begonnen hast, erlaubt dir dein Zeitplan kaum noch ein wenig Muße. Und nun höre ich, du bist auch noch nebenbei kreativ.«
»Ja, das hast du mir wohl nicht zugetraut, dass ich mich so langsam zum Multitalent entwickle?« Nick lachte fast übermütig. Sie setzten sich zu den anderen Kindern an den großen Esstisch. Die Köchin Magda trug das Essen auf, und alle griffen herzhaft zu.
»Wie soll das Stück denn heißen?«, fragte Denise und schob sich einen Bissen in den Mund.
»Welches Stück?«, fragte Nick verwundert.
»Das Theaterstück, was sonst!«, erwiderte seine Mutter lächelnd.
»Die Sternenprinzessin. Mama, deiner Nasenspitze sehe ich schon eine Weile an, wie gespannt du bist. Du möchtest das Märchen am liebsten sofort lesen, habe ich recht?«
»Natürlich, schließlich habe ich von deiner literarischen Tätigkeit bis heute nichts gewusst. Aber versprochen ist versprochen, ich mische mich nicht ein, sonst denkst du nachher noch, ich traue dir keine eigenverantwortliche Durchführung unserer Adventsfeier zu.« Sie lachten beide.
Danach war es eine Weile still am Tisch, weil das Menü der langjährigen Köchin in Sophienlust allen wirklich ausgezeichnet mundete.
»So, jetzt erlöse ich dich von meiner Gegenwart, mein Sohn. Ich muss hinüber zum Gutshaus, sonst fällt meinem Alexander noch etwas Wichtiges ein, warum wir unseren heutigen Ausflug unbedingt verschieben müssen«, erwiderte Denise lächelnd, erhob sich und verschwand, den Kindern zuwinkend.
»Nick, du hast doch Tante Isi nichts verraten?«, fragte gleich darauf das zarte blonde Mädchen mit den Vergissmeinnichtaugen, das ihm gegenüber saß, und fügte erläuternd hinzu: »Ich meine, weil die Aufführung des Theaterstücks doch eine Überraschung für Tante Isi sein soll.«
»Nein, Emily. Den Titel des Stücks habe ich meiner Mutter zwar verraten, aber nicht die Handlung. Jetzt weiß sie aber wenigstens, dass wir etwas ganz Neues aufführen werden.«
»Das du für uns geschrieben haben, Nick«, erwiderte das Mädchen und strahlte ihn voller Bewunderung an. Der junge Mann musste lächeln.
»Emily, wir treffen uns in einer Stunde im Aufenthaltsraum, und dann gebe ich euch den ersten Text, damit ihr ihn auswendig lernen könnt. Schließlich bleibt ja nicht mehr allzu viel Zeit dafür.
»Nick, hast du schon einen Darsteller ausgesucht, der den Mond in deinem Märchen spielen soll?«
»Ja, ich habe da an Paul gedacht«, antwortete der junge Leiter von Sophienlust.
»O ja, das ist sehr gut, der Paul ist nämlich beinahe genauso rund wie der Vollmond«, erwiderte Emily und kicherte hinter der vorgehaltenen Hand.
»Na, na, lass ihn das lieber nicht hören! Sonst gibt Paul uns noch einen Korb und wir stehen ohne den wichtigen Mond da«, warnte Nick das Mädchen. Emily wusste von ihm schon, dass sie die Sternenprinzessin spielen sollte, die sich in einen Prinzen verliebt, den sie eines Abends vom Himmel aus auf der Erde erspäht. Daraufhin erstrahlt die Sternenprinzessin nur so vor Begeisterung. Der Mond bemerkt dies und ist nicht gerade erfreut darüber, denn er ahnt, dass sein schönstes Sternlein einen Ausflug auf die Erde machen will. Doch das würde er niemals erlauben. Denn wenn ein Stern vom Himmel fällt, kann er nicht wieder hinaufgelangen. – Bis dahin kannten alle Kinder die Geschichte, heute würde Nick ihnen den weiteren Hergang verraten.
»Und wer wird meinen Prinzen spielen, Nick?«, hörte er Emily gerade fragen.
»Nicht so neugierig sein, Emily. Das wirst du gleich erfahren«, vertröstete er seine Hauptdarstellerin, stand auf und blickte über den großen Tisch.
»Alle mal herhören!«, sagte er mit lauter Stimme, und nach ein paar Momenten war es wirklich still im Raum.
»Wir versammeln uns in einer Stunde alle im großen Aufenthaltsraum. Jeder von euch erhält eine Rolle in meinem Stück.«
»So viele gibt es doch gar nicht!«, riefen die Kinder durcheinander.
»O doch. Ich brauche nämlich einige geschickte Hände, die mir helfen, das Bühnenbild zu basteln, und einer von euch muss die Aufgabe des Souffleurs übernehmen. Sollte nämlich einer der Darsteller im Text stecken bleiben, muss ihm jemand vorsagen. Und dann brauche ich viele Sterne, die am Nachthimmel glänzen wollen. Und einen Prinzen brauche ich natürlich auch und Minister, die ihn im Palastgarten begleiten. Vielleicht wollen sich ja nachher einige von euch für diese Rolle melden. So, und nun sage ich euch einstweilen Dankeschön für eure Aufmerksamkeit.«
Die Kinder klatschten Beifall, und während Nick zufrieden registrierte, dass all seine Schutzbefohlenen begeistert untereinander diskutierten, machte er sich auf den Weg zurück in sein Büro. Ihm war nämlich plötzlich eingefallen, dass er sich dringend Gedanken über die Kostüme seiner Akteure machen musste. Die Hofbeamten und der Mond, ja sogar der Prinz konnten aus dem Fundus, der sich bei ihnen angesammelt hatte, ausgestattet werden. Doch bei den Sternenkindern musste er schon passen. Sie würden alle ein weißes Kleid oder ein langes Hemdchen benötigen, unter dem sie ein weißes T-Shirt anziehen konnten. Und jede Menge goldener Sterne brauchten sie auch noch, die man aufnähen oder ankleben konnte. Seine Sternenprinzessin benötigte natürlich ein prächtiges Gewand, das einer Prinzessin würdig war, und es durfte natürlich nicht farbig sein, sondern goldig. Dass er nicht vorhin im Gespräch mit seiner Mutter schon daran gedacht hatte! Sie musste ihm unbedingt einen Rat geben, wie das am besten zu bewerkstelligen war. Nick griff zum Handy und wählte ihre Rufnummer.
»Nick was gibt es denn noch?«, fragte Denise überrascht, als er sich meldete. Sie stand nämlich bereits neben dem Auto ihres Mannes und wollte gerade einsteigen. Ihr Sohn entschuldigte sich für die Störung und teilte ihr mit, dass es bei der Garderobenbeschaffung Schwierigkeiten gäbe. Die Sternenkinder, die in seinem Adventsstück alle eine Anwesenheitsrolle spielten, brauchten unbedingt etwas anzuziehen. Die Prinzessin natürlich auch, aber das hatte er ja schon erwähnt.
»Wäre es da nicht am besten, ich besorge uns ein paar Meter weißen Stoff, und wir lassen deinen Sternchen lange weiße Hemdchen nähen?«, schlug seine Mutter vor.
»Guter Gedanke, Mama, aber wo soll denn genäht werden?«
»Das lass mal meine Sorge sein, mein Sohn. Ich bekomme das schon hin. In Wildmoos gibt es eine Hobby-Schneiderin, die kann ich bestimmt für die gute Sache engagieren. Und von einem Stoff aus sattem Goldgelb bekommt deine Prinzessin eine Sonderanfertigung genäht.«
»Du bist die allerbeste Mutter der Welt!«, jubelte Nick erleichtert.
»Ja, ja, es reicht an Lobeshymnen, sonst glaube ich deinen Übertreibungen am Ende noch selbst. So, jetzt muss ich aber einsteigen. Dein Vater sitzt bereits ungeduldig am Steuer.«
»Viel Spaß euch beiden.«
»Danke.«
Nick hörte eine Tür zuschlagen und einen Motor starten, dann war die Verbindung unterbrochen. Erleichtert, dass ihm das alles gerade rechtzeitig noch eingefallen war, erreichte er nun sein Büro. Die Leitung von Sophienlust und das gleichzeitig aufgenommene Studium der Kinderpsychologie erforderten doch mehr Zeit, als er anfangs angenommen hatte. Vielleicht sollte er sich doch in Zukunft mehr Notizen machen, um sich leichter zu erinnern. Also nahm er einen Block zur Hand und notierte.
Plötzlich fiel ihm die junge Studentin ein, von der seine Mutter gesprochen hatte und deren Bewerbung für ein Praktikum auf seinem Schreibtisch lag. Er suchte danach und fand sie in einer blauen Mappe, die unter einem Stapel Rechnungen versteckt lag, die er noch abzeichnen musste.
Nick nahm sie zur Hand und blätterte die Bewerbungsunterlagen einmal durch. Vielleicht kannte sich die junge Frau auch im Bereich Musik und Tanz aus? Sie studierte Sport und Musik, das passte doch hervorragend. Nick hielt plötzlich im Lesen inne und sah sich ihre Fotografie einmal genauer an.
Nein so etwas! Die junge Frau auf dem Passfoto hatte eine unwahrscheinliche Ähnlichkeit mit der kleinen Emily, die vor ein paar Wochen aus einem Internat zu ihnen gekommen war. So ein Zufall – oder war es vielleicht keiner?
Im Nu fühlte sich Nick wie ein Detektiv, der unbedingt einer Spur nachgehen musste. Der junge Mann las weiter. Emily und diese junge Studentin, die Anne Blum hieß, waren tatsächlich in derselben Stadt geboren! Nick blätterte weiter, konnte aber keine weiteren Übereinstimmungen entdecken. Eines stand allerdings fest: Emilys Mutter konnte sie auf keinen Fall sein, das war anhand der Geburtsdaten schon mal völlig unmöglich, und ihre Schwester auch nicht. Blond und blauäugig sind schließlich viele Menschen, warum will ich hier unbedingt einen Zusammenhang konstruieren, dachte Nick schließlich bei sich. Wie er wusste, hatte Emilys Mutter ihr Baby gleich nach der Geburt zur Adoption freigegeben. Den Grund dafür kannte niemand. Nur, dass sie im Geburtsregister ‚Vater unbekannt’ hatte eintragen lassen. Unwillkürlich sann Nick weiter über Emilys Schicksal. Es hatte da eine Familie gegeben, die schon lange auf ein Adoptivkind wartete und das Baby auch vom Jugendamt zugesprochen bekam. Emilys Adoptivvater war Professor an einer bayerischen Uni, dem jedoch seine Forschung im Bereich der Chemie über alles ging und der nur selten zu Hause war. Er starb fünf Jahre nach der Adoption an einem Schlaganfall. Die Witwe hatte bald darauf noch einmal geheiratet. Ihr neuer Mann und Emily mochten sich jedoch von Anfang an nicht. Ihn störte ihr ungestümes Temperament und ihre Eifersucht auf ihn, weil sie die Liebe ihrer Adoptivmutter nun mit ihm teilen musste. Die Frau stand zwischen den Fronten, aber den Mut, sich von ihrem Mann wieder zu trennen, besaß sie nicht. Emily wurde in ein Internat abgeschoben. Doch sie kümmerte dort dermaßen vor sich hin, dass die Internatsleitung empfohlen hatte, das Mädchen besser wieder von der Schule zu nehmen. Die Adoptivmutter hatte darauf in Sophienlust angerufen und darum gebeten, dass Emily dorthin kommen dürfte.
Nick und seine Mutter hatten die Herausforderung angenommen und das ausgesprochen hübsche, auffallend magere und anfangs sehr abweisend wirkende Mädchen aufgenommen.
Es hatte einige Zeit gedauert, bis Emily sich in die Gemeinschaft von Sophienlust eingefügt hatte. Vorangegangen waren viele liebevolle, aber auch ernste Gespräche, die er und Denise mit dem Kind geführt hatten. Langsam wuchs das Selbstwertgefühl des Kindes wieder. Um diesen Prozess positiv zu unterstützen hatte Nick ihr auch die Rolle der Sternenprinzessin gegeben. Sie würde alles tun, um sein Vertrauen nicht zu enttäuschen, das wusste er. Emily schwärmte inzwischen sogar für ihn, das merkte Nick, hoffte aber, dass sich daraus keine weiteren Probleme ergeben würden.
Nick riss sich aus seinen Gedanken los und griff zum Telefonhörer. Er wollte diese Anne Blum anrufen und sie zu einem Vorstellungsgespräch nach Sophienlust bitten.
»Blum«, meldete sich eine sanfte Frauenstimme, die Nick sofort sympathisch war.
»Dominik von Wellentin-Schoenecker.«
»Oh, hallo! Rufen Sie wegen meiner Praktikumsbewerbung an?«, kam die junge Studentin sofort zur Sache und ersparte Nick eine Erklärung.
»Richtig.«
»Ich würde mich sehr freuen, wenn ich den Praktikumsplatz in Sophienlust bekommen würde! Ihr Haus hat einen sehr guten Ruf, wie ich weiß, und ich könnte sicher viel dort lernen. Ich möchte nämlich das Studienfach wechseln und mich in Zukunft verstärkt mit Kindern beschäftigen«, sagte die junge Frau ganz offen.
Nick räusperte sich. »Frau Blum, ich habe Ihrer Bewerbung entnommen, dass Sie sich im Bereich Musik und rhythmischer Tanz auskennen.«
»Ja, das ist richtig.«
»Können Sie vielleicht auch Klavierspielen?«
»Von Kindesbeinen an«, versicherte ihm Anne Blum.
»Wunderbar«, seufzte Nick, »dann müssen Sie mir nur noch sagen, wann Sie bei uns anfangen können. Ich inszeniere nämlich gerade mit den Kindern ein Märchen für unsere jährliche Adventsaufführung und brauche dringend ein wenig Unterstützung dabei.«
»Das hört sich interessant an. Anfangen kann ich schon morgen, wenn Sie wollen, Herr von Wellentin-Schoenecker«, lautete die begeisterte Antwort der Bewerberin.
»Hervorragend. Haben Sie auch schon mal mit Kindern gearbeitet?«
»In den Semesterferien und zwar in unserem örtlichen Kindergarten.«
»Das ist ja ganz ausgezeichnet!«, erwiderte Nick und bot Anne Blum an, während des vierwöchigen Praktikums in Sophienlust zu wohnen, falls ihr die tägliche Fahrerei von ihrem Wohnort bis dorthin zu anstrengend sei. »Oder möchten Sie die Strecke doch lieber täglich mit Ihrem Auto fahren?«, fügte er nach kurzer Überlegung hinzu.
»Leider besitze ich noch kein eigenes Auto, darum würde ich Ihr Angebot sehr gern annehmen. Ich würde sonst täglich einfach zu lange in Bus und Bahn sitzen, wie ich schon herausgefunden habe.«
»Gut, dann hätten wir auch das geklärt. Wir sehen uns also morgen im Laufe des Vormittags. Von Maibach, der Bahnstation, bis hierher fährt zwar ein Bus, aber sollte der Anschluss nicht gut klappen, dann werde ich Sie natürlich vom Bahnhof abholen lassen«, schlug Nick der jungen Frau vor.
»Danke, das ist sehr freundlich von Ihnen, ich hoffe aber, es wird nicht notwendig sein. Der Bus fährt ja sehr regelmäßig. Ich würde Sie aber in jedem Fall nach Ankunft meines Zuges gern anrufen. Ja, und herzlichen Dank für Ihre positive Mitteilung! Bis morgen dann, Herr von Wellentin-Schoenecker.«
»Bis morgen« erwiderte Nick und dachte noch, wenn diese junge Frau genauso sympathisch war wie ihre Stimme, dann haben Mutter und ich einen guten Griff gemacht. Mit einem sehr guten Gefühl legte er den Hörer zurück.
Als er auf seine Armbanduhr blickte, erschrak er. Schon so spät! Es war allerhöchste Zeit, zum Aufenthaltsraum zu gehen, denn dort warteten die Kinder sicher schon ungeduldig auf ihn. Als er schnellen Schrittes den langen Flur entlangging, hörte er schon von Weitem laute Stimmen, die sich vor Aufregung fast überschlugen.
Ob Emily dichtgehalten und Paul noch nichts von seiner Mond-Rolle erzählt hatte? Gleich würde er es wissen. Und wenn der Junge sich das nun nicht zutraute? Abwarten, dachte Nick und drückte die Klinke herunter. Die Tür zum Aufenthaltsraum sprang auf.
»Bitte seid einen Augenblick ruhig!«, bat er. Augenblicklich verstummte das Stimmengewirr.
»Wie ihr ja bereits alle wisst, habe ich euch heute die Textfortsetzung für unser Theaterstück mitgebracht. Eine der Hauptrollen habe ich schon besetzt. Nun fällt mir die schwierige Aufgabe noch zu, den Mond und den Prinzen auszusuchen. Paul traust du dir zu, den Mond zu spielen? Einen Mond, der zuerst traurig, aber auch ein wenig wütend auf seine schöne Sternenprinzessin reagiert, die zur Erde reisen möchte, dann aber Milde zeigt und dem Glück des Sternleins nicht länger im Wege stehen will. Denn wenn ein Stern traurig ist, verblasst sein Glanz mit jedem Tag ein wenig mehr, bis er eines Tages ganz erlischt.«
Zunächst erhielt Nick keine Antwort auf seine Frage, obwohl er Paul direkt angesehen hatte.
»Paul, überlegst du noch, oder willst du mir etwas sagen?«, fragte Nick verwundert.
»Ich soll den Mond spielen?«, fragte er Junge verblüfft. »Etwa, weil ich genauso rund wie ein Vollmond bin?«
»Quatsch, Paul, weil ich es dir zutraue«, entgegnete Nick ganz entschieden.
Wieder war für eine Weile Schweigen angesagt. Und Nick überlegte schon, was er noch anführen konnte, um den Jungen zu einem Ja zu bewegen. Bisher hatte er nämlich nicht bemerkt, dass Paul sein leichtes Übergewicht zu schaffen machen könnte, sondern eher angenommen, seine Körperstatur sei ihm egal. Da hatte er sich wohl doch getäuscht. Der Junge wohnte für ein paar Wochen in Sophienlust, solange seine Eltern im Ausland waren. Ob er wohl schon einmal von den anderen Kindern gehänselt worden war? Nick bereute seine Entscheidung bereits.
»Weil du mir zutraust, dass ich den Mond spielen kann?«, fragte der Junge plötzlich keck.
»Ja, Paul. Du antwortest immer so bedächtig auf Fragen und überlegst genau, was du sagst. Und genau das wünsche ich mir von meinem Mond, der sich seine Entscheidung nämlich nicht leicht macht.«
In diesem Moment sah Nick ein ungewohntes Strahlen in Pauls Augen, und da wusste er, dass er gewonnen hatte. Und auch, dass es ihm gelungen war, wieder einmal ein verkümmertes Selbstvertrauen zu stärken.
»Wenn du mir die Rolle zutraust, dann kann ich wohl schlecht Nein sagen«, antwortete Paul. »Auch wenn ich wahrscheinlich ein Kostüm tragen muss, das mich noch dicker macht. Na ja, kann man nichts machen«, meinte er mit trockenem Humor
»Ich hatte an einen etwas ausgepolsterten silberfarbenen Anzug gedacht. Schließlich wirst du ein Vollmond sein.«
»Ja, dick, aber gut«, antwortete Paul mit wachsender Begeisterung.
Nick grinste ihm anerkennend zu. Nun ging es noch darum, auszuwählen, wer den Prinzen spielen sollte, der sich in die Sternenprinzessin verliebte, und er stellte in die Runde die entsprechende Frage.
Angelina Dommin, die wegen ihrer Sommersprossen seit Kinderzeit nur Pünktchen genannt wurde, meldete sich spontan. Nick ging sofort auf dieses Angebot der Fünfzehnjährigen ein, da keine weitere Bewerbung mehr kam. Anschließend suchte er sich noch zwei Jungen aus, die die Begleiter und Berater des Prinzen spielen sollten, die die Schwärmerei ihres Herrn für den wunderschönen Stern von Anfang an verfolgten.
Zum Glück bekomme ich morgen Verstärkung bei den Vorbereitungen für die Aufführung, dachte Nick erleichtert.
»Und wir, wie sollen wir denn in dem Stück mitspielen? Einfach nur da herumstehen und von oben her auf die Erde blicken?«, fragten ein paar der Kinder enttäuscht.
»Ihr? Ihr bekommt ab morgen eine Lehrerin, die mit euch einen Sternentanz einstudieren wird. Denn schließlich gibt es am Abendhimmel außer dem Mond noch diese vielen kleinen Sternlein, die ihren ganz bestimmten Platz dort haben. Und manchmal, wenn sie sich über etwas sehr freuen, dann tanzen sie sogar. Man muss nur sehr genau hinsehen.«
»Wir sollen tanzen? Und was ziehen wir dabei an? Wir können doch unmöglich in einem ganz normalen Kleid auf der Bühne stehen und tanzen?«, fragte Heidi besorgt.
Nick musste lächeln. Gut, dass er dieses Problem schon mithilfe seiner Mutter gelöst hatte.
»Natürlich könnt ihr das nicht. Ihr seid schließlich genauso wichtig wie die anderen Rollen. Die Kinder, die ein Sternlein verkörpern, bekommen ein weißes Kleid, auf dem viele goldene Sterne aufgenäht sind. Und da die Sternlein keinen Text lernen müssen, außer dass sie die Sternenprinzessin bei ihrem Anliegen an den Mond mit Bitten unterstützen, werden sie eben tanzen lernen. Dieser Sternentanz soll alle Zuschauer verzaubern.«
»Oh«, staunten die Kinder nun, und ein leises zufriedenes Raunen lief durch die Reihen, denn spätestens ab jetzt fühlte sich keiner mehr benachteiligt. Nick begann nun seine mitgebrachten Texte auszuteilen, und als er sich eine Viertelstunde später von den Kindern verabschiedete, schienen alle äußerst zufrieden mit ihren Rollen zu sein.
»Nick, ich freue mich schon sehr auf die Proben«, meldete sich Emily noch einmal bei ihm und lächelte so engelhaft, als könnte sie es gar nicht erwarten, in ihre neue Rolle zu schlüpfen.
»Das freut mich«, erwiderte der junge Mann, und wieder fiel ihm die Ähnlichkeit mit der Fotografie der jungen Studentin auf. Vielleicht gab sich ja im Laufe der Zeit eine Möglichkeit, mit Frau Blum darüber zu reden. Es könnte doch immerhin sein, dass sie etwas von verwandtschaftlichen Beziehungen wusste. Am Ende aber war es aber auch gut möglich, dass die Ähnlichkeit zwischen dem Kind und der Praktikantin nur eine Laune der Natur war. Jeder Mensch sollte ja bekanntlich irgendwo auf der Welt einen Doppelgänger haben.
*
»Mama, ich kann schon morgen in Sophienlust anfangen und bekomme gleich eine sehr interessante Aufgabe zugewiesen. Ich soll mithelfen, ein Theaterstück mit Tanzeinlagen einzustudieren«, sagte Anne Blum begeistert zu ihrer Mutter, die Teile des Telefonats mitbekommen hatte.
»Das ist ja großartig.«
»Ach ja, und noch etwas, ich kann sogar in den vier Wochen, die ich in Sophienlust arbeite, auch dort wohnen.«
»Besser hättest du es gar nicht treffen können«, erwiderte ihre Mutter ebenfalls begeistert.
»Stimmt!« Anne umarmte sie und versuchte zum Spaß sogar, sie hochzuheben, doch das misslang gründlich, denn im Gegensatz zu ihrem gut 50 Kilo Leichtgewicht war ihre Mutter eher vollschlank.
»Und du, hast du dich jetzt entschieden? Willst du immer noch zusammen mit Tante Lu nach Borkum fahren?, wollte Anne von ihrer Mutter wissen.
»Versprochen ist versprochen. Luise würde es mir nie verzeihen, wenn ich mein Wort nicht halte«, beantwortete Kathrina Blum die Frage, sah dabei aber nicht gerade begeistert in den Garten, wo sich die Bäume im Herbststurm schüttelten und den letzten Rest Laub abwarfen. Herbststürme auf Borkum erleben, auf welche Gedanken ihre Zwillingsschwester doch manchmal kam!
»Auf Inseln ändert sich das Wetter fast täglich. Vielleicht habt ihr ja auch ein paar sonnige Tage und nicht nur Regen, Wind und Sturm«, versuchte Anne ihre Mutter zu trösten. Sie persönlich hätte einen Kurztrip in südliche Gefilde auch vorgezogen.
»Willst du eigentlich zu Tante Lu nach Hamburg mit dem Zug fahren, oder nimmst du das Auto?", erkundigte sie sich.
»Kind, wo denkst du hin!«
Anne war bei dem Wort ‚Kind’ unwillkürlich zusammengezuckt, obwohl sie eigentlich wusste, dass ihre Mutter das immer sehr liebevoll meinte.
»Natürlich nicht! Mit dem Auto ist das ja fast eine kleine Weltreise, und beim Zugfahren hasse ich die Umsteigerei, also fliege ich schon lieber mit meinem Gepäck, das vor allem aus warmer Garderobe besteht, wie du wohl ahnst.«
»Dazu würde ich dir um diese Jahreszeit auch raten. Ich kann dich aber leider nicht zum Flughafen bringen, und Papa ist noch zur Kur. Was sagt er eigentlich dazu, dass du mit Lu verreisen willst?«
»Er wünscht mir gute Erholung, was sonst?«
»Ich wundere mich, dass er euch nicht eher zu Mallorca geraten hat.«
»Hat er auch, aber Lu wollte nicht. Also lasse ich mich mit einem Taxi zum Flughafen bringen. Schließlich kostet mich der Urlaub ja sonst keinen Cent. Selbst das Flugticket übernimmt meine Schwester, darauf besteht sie sogar. Georg und Lu besitzen ja auf Borkum ein Haus, das sie viel zu selten nutzen, wie sie sagt. Ein altes, nicht zu großes Haus, mit einem Reetdach und einer gemütlichen Inneneinrichtung, gleich hinter dem Deich. Sie hat dir doch auch schon angeboten, dort einmal Ferien zu machen, soviel ich weiß.«
»Hat sie. Doch dafür suche ich mir dann lieber den Sommer aus. Warum Tante Lu unbedingt um diese Jahreszeit dort Urlaub machen will, ist mir ein Rätsel. Im vergangenen Jahr wart ihr doch auch im Süden. Und das Jahr davor wart ihr, lass mich nachdenken, ich glaube in London, oder war es New York?«
»Richtig, New York, und das war ein echt tolles Erlebnis. Deine Tante ist ein liebenswerter Mensch, aber schon manchmal auch sprunghaft und sehr empfindsam und steckt nur allzu oft voller Überraschungen. Momentan hat sie wohl keine gute Phase und scheint selbst mir ein wenig rätselhaft. Stell dir vor, mich hat sie ausdrücklich dazu verdonnert, mit ihr zusammen auf Borkum in ihrer Küche Weihnachtsplätzchen zu backen, so wie wir es früher in unserem Elternhaus immer zusammen gemacht haben. Sie hat versichert, dass es in ihrer Küche jede Menge Förmchen gibt. Sternchen, Herzen, Halbmonde.« Kathrina Blum lachte und seufzte gleichzeitig.
»Vielleicht hat sie das schon immer einmal tun wollen, sich all diese Dinge besorgt, aber nie Lust gehabt, allein zu backen«, versuchte Anne, den Wunsch ihrer Tante zu erklären.
»Kann sein.«
»Mach unbedingt ein Handyfoto von euch beiden Backfrauen«, schlug Anne ihrer Mutter vor. Die lachte herzhaft über den Vorschlag ihrer Tochter.
»Uns bleibt bestimmt auch noch genügend Zeit für lange Spaziergänge und zum Lesen. Vielleicht gibt es sogar um diese Zeit auf Borkum noch attraktive männliche Feriengäste, die einem Flirt nicht abgeneigt sind«, ulkte Annes Mutter.
»Nee, bloß das nicht. So etwas gibt nur Ärger. Obwohl Tante Lu ein kleiner Flirt wohl zuzutrauen wäre. Hast du nicht erzählt, dass ihr früher die Männer scharenweise nachgelaufen sind?«
»Ja, sie war immer die Hübschere von uns beiden«, gestand Kathrina freimütig zu. »Und auch heute noch ist ihr das Äußere sehr wichtig, viel wichtiger als mir, mir wäre die Zeit viel zu schade, die ich vor dem Spiegel verbringen müsste.«
»Ich denke manchmal, das ist alles nur Schau bei Tante Lu. Vielleicht will sie ja etwas verdrängen, das sie belastet oder vergessen möchte, über das sie aus irgendeinem Grund nicht hinwegkommen kann?«, überlegte Anne.
»Wie kommst du denn darauf, Kind?«, fragte ihre Mutter bestürzt. Sie selbst kannte ja die Wahrheit, der Anne in diesem Moment sehr nahe gekommen war. Und wieder einmal stellte sie fest, welch gute Menschenkennerin ihre Tochter doch war.
»Onkel Georg kann mir schon manchmal leidtun«, hörte Kathrina ihre Tochter noch sagen.
»Das braucht er nicht, mein lieber Schwager liebt seine Lu, so wie sie ist, und er hat sie immer bei ihren ehrgeizigen Plänen unterstützt, so gut er konnte. Im nächsten Jahr will Lu einen weiteren Kosmetiksalon eröffnen. Dann sind es bereits sieben. Ein richtiges kleines Imperium, was sich Lu da aufgebaut hat, und ich als ihre Schwester bin sehr stolz auf sie.«
»Du siehst immer noch zu Lu auf. War das schon immer so?«, wollte Anne wissen.
»Jetzt, wo du es sagst, ich denke schon, mein Schatz. Wie gesagt, meine Schwester war immer die Klügere, die Schönere, die Erfolgreichere, die …«
»Hör auf, das stimmt doch alles gar nicht!«, unterbrach Anne die Aufzählung ihre Mutter. »Für mich bist du jedenfalls die beste Mutter der Welt, aber das habe ich dir schon oft genug gesagt, und du kannst es mir ruhig abnehmen. Zweitens, bist du, obwohl du mit Papa nicht immer gerade auf Rosen gebettet warst, viel ausgeglichener, ruhiger, verständnisvoller. Dabei ist dein Beruf als Krankenschwester nicht gerade stressfrei. Lu könnte ich mir gar nicht als Krankenschwester vorstellen. Und auch nicht als Mutter, weil sie viel zu selbstverliebt ist. Meiner Meinung nach würden Kinder sie nur stören.«
Eine Weile schwieg ihre Mutter, als müsste sie nachdenken, was sie dazu sagen sollte.
»Das siehst du nicht ganz richtig«, brach sie endlich ihr Schweigen. »Lu hat in ihrem Leben auch schon sehr schlechte Zeiten durchgemacht. Du weißt ja, unsere Eltern haben uns sehr streng erzogen. Wir mussten immer sparen, seitdem ich denken konnte. Dein Opa hat sein Geld bei der Bundesbahn als Zugbegleiter verdient, war also nur ein kleiner Beamter. Unsere Mutter arbeitete neben dem Haushalt und uns drei Kindern noch halbtags in einer Bäckerei. Das hat auch nicht gerade erheblich zum Unterhalt der Familie beigetragen. Aber dafür gab es manchmal Zimtschnecken, Zuckerkuchen und süßen Stuten vom Vortag zum halben Preis und oft sogar geschenkt.« Kathrina Blum lächelte in der Erinnerung, als spürte sie noch heute den Geschmack von Zimt, Mandeln und Butter auf ihrer Zunge. »Ach, wir hatten trotz allem eine schöne Kindheit, auch wenn wir eher arm waren«, fügte sie noch hinzu.
»Na ja, ihr hattet immerhin euer eigenes Haus und musstet nicht zur Miete wohnen. Deshalb würde ich euch nicht gerade als arm bezeichnen«, schwächte Anne die Schilderung ihrer Mutter mit einer lässigen Handbewegung ab.
»Ein Haus zu bauen ist unseren Eltern damals nicht leicht gefallen. Sie konnten daher auch nur unseren Bruder studieren lassen, damit er Lehrer wurde. Ich wäre so gern Ärztin geworden, anstatt Krankenschwester, aber das habe ich dir ja alles bestimmt schon oft genug erzählt.«
»Ach, Mama, das schadet überhaupt nichts. Ich kann dich ja so gut verstehen, dass du deinem Berufstraum immer noch ein wenig nachtrauerst. Deshalb bin ich dir ja auch so dankbar, dass du mir ganz allein die Entscheidung überlässt, ob ich das angefangene Studium fortsetze oder noch einmal das Studienfach wechsle, um Kinderpsychologin zu werden«, sagte Anne nachdenklich.
»Du sollst doch glücklich werden, mein Kind«, erwiderte die Mutter liebevoll.
Und Tante Lu, hegte sie auch andere Berufswünsche?, wollte Anne gerade ihre Mutter fragen, doch nach einem Blick auf die Armbanduhr verschob sie die Frage auf später, denn sie war mit ihrem Freund zum Kinobesuch verabredet. Im gleichen Moment, als sie das dachte, klingelte es auch schon an der Haustür.
»Mama, das ist sicher Dirk, der mich abholen kommt. Wo ist die Zeit nur geblieben?« Anne sah an sich herunter. Sie trug immer noch ihre alte Jeanshose, in der sie Blätter im Garten zusammengeharkt hatte.
»Machst du ihm bitte die Tür auf und sagst, er soll ein Momentchen warten?« Anne umarmte ihre Mutter. Gleich darauf rannte sie nach oben in ihr Schlafzimmer, um sich ausgehfertig zu machen.
Kathrina Blum aber eilte mit schnellen Schritten zur Haustür, um sie zu öffnen. Dirk und ihre Tochter kannten sich nun schon fast zwei Jahre lang, und sie hatte Annes Freund auf Anhieb gemocht. Bei Walter, ihrem Mann, hatte es etwas länger gedauert. Er war in diesen Dingen nicht so spontan wie sie, eher besonnener und abwartend. Aber inzwischen waren sie alle per Du.
»Komm herein, Dirk, und nimm noch ein Weilchen Platz«, bat sie nun den Besucher und führte ihn in die Wohnung.
»Ist Anne noch nicht fertig?«, wunderte sich der junge Mann.
»Spätestens in ein paar Minuten.«
»Ein paar Minuten mit Gummiband?«, scherzte Dirk.
»Nein, bestimmt nicht. Du musst entschuldigen, Anne und ich haben uns leider ein wenig verquatscht und über alte Zeiten geredet. Das lag aber nur daran, weil ich morgen mit meiner Schwester Lu für ein paar Tage verreise. Außerdem hat Anne vorhin ein Telefonat vom Kinderheim Sophienlust bekommen, bei dem sie sich um einen Praktikumsplatz beworben hatte, wie du bestimmt weißt.«
Dirk nickte. »Und?«, fragte er erwartungsvoll.
»Sie kann schon morgen dort anfangen.«
»Oh, schon morgen?« Dirk schien nicht übermäßig begeistert von dem frühen Termin zu sein, und das konnte Kathrina sogar verstehen.
»Ja, das kam für Anne auch überraschend. Aber du weißt ja, wie gern sie später einmal mit Kindern arbeiten möchte. Ihr bisheriges Studium mit Sport und Musik hat ihr zwar auch Spaß gemacht, aber sie möchte nun doch lieber Kinderpsychologie studieren. Ein Erlebnis im Kindergarten, wo sie manchmal jobbt, hat sie auf diesen Gedanken gebracht.«
»Ich finde Annes Entscheidung richtig, und es ist großartig, wie du deine Tochter in ihrem Vorhaben bestärkst«, erwiderte der junge Mann anerkennend, trotz seiner Enttäuschung über die baldige Abreise seiner Freundin.
»Das ist doch selbstverständlich. Sag mal, Dirk, möchtest du, während du wartest, eine Tasse Tee oder lieber einen Saft?«
»Nein danke, Kathrina, beides nicht.«
»Es macht mir aber keine Mühe.«
»Das weiß ich doch. Aber ich hoffe, die Tür geht jeden Augenblick auf und Anne kommt herein.«
»Was macht dein Studium, Dirk?«
»Läuft alles bestens. Einmal Mediziner zu werden, war schon als Kind mein Traum, und ich denke, ich werde bestimmt mal ein guter Arzt werden. Also sitze ich schon im richtigen Boot«, sagte der junge Mann nicht ohne Stolz in der Stimme.
»Das glaube ich auch, Dirk.« Kathrina lächelte und freute sich mit ihrer Tochter, die einen so sympathischen Freund gefunden hatte.
*
»Da bin ich schon!«, verkündete Anne, die gerade ins Wohnzimmer gestürmt kam. Sie gab Dirk einen schnellen Kuss auf die Wange, der erhob sich, und mit einem: »Einen schönen Abend noch« verließ das Paar das Wohnzimmer und kurz danach auch das Haus.
Komm nicht zu spät heim, du musst doch morgen deinen Job in Sophienlust antreten!, hätte Kathrina ihrer Tochter gern noch nachgerufen, doch sie wusste, dass das gar nicht nötig war. Anne besaß genügend Verantwortungsgefühl, um dies von sich aus zu beherzigen. Außerdem hatten die beiden für heute ja sowieso nur einen Kinobesuch geplant.
Dass Anne ab morgen in Sophienlust auch ein Zimmer für die Dauer ihres Aufenthalts beziehen würde, hatte sie Dirk nicht erzählt. Das sollte ihre Tochter selbst tun. Außerdem wohnte Dirk nur manchmal an den Wochenenden bei seinen Eltern, die hier lebten. Genau wie Anne bisher studierte er in München. Kathrina schüttelte den Kopf über ihre Gedanken. Können Mütter denn nicht einmal damit aufhören, sich über ihre schon erwachsenen Kinder den Kopf zu zerbrechen?, fragte sie sich. Die mussten als Erwachsene doch sowieso ihren eigenen Weg gehen, das war schon immer so gewesen.
Ja, die alten Zeiten… Wie war sie nur mit Anne auf die alten Zeiten zu sprechen gekommen? Richtig, durch ihre Reise zu Lu, ihrer Zwillingsschwester, die eine halbe Stunde nach ihr das Licht der Welt erblickt hatte. Ja, trotz ihrer unterschiedlichen Charaktere hatten sie sich immer gut verstanden. Aber seit einiger Zeit, besonders wenn der Winter nahte, war Lu von einer inneren Unruhe erfüllt, dass sie es nicht mehr zu Hause hielt und meist irgendwohin floh. Sie, Kathrina, ahnte den Grund dafür und hatte erst im letzten gemeinsamen Urlaub ihre Schwester gebeten, das Familiengeheimnis doch endlich aufzudecken, damit Lu zur Ruhe kommen könnte. Doch leider hatte sich ihre Schwester wieder einmal geweigert.
Was würden ihre Eltern wohl dazu sagen, wenn sie erfuhren, dass nicht nur sie, Kathrina, sondern auch Lu eine Tochter hatte? Und dann erst Georg… Wie würde Lus Mann dies aufnehmen? Er war ein feinsinniger und großzügiger Mensch, der ihre damalige Entscheidung sicher nachvollziehen könnte, wenn sie es ihm erklärte. Was vor dreizehn Jahren passiert war, konnte sowieso keiner von ihnen mehr ändern. Dieses Thema hatte Kathrina mit Lu schon oft genug diskutiert.
Die Freigabe ihres Kindes zur Adoption hatte einen endgültigen Status, sosehr Lu ihren damaligen Fehler auch inzwischen bereute. Und so hatte sie vor zwei Jahren heimlich begonnen, Nachforschungen nach den Adoptiveltern ihrer Tochter anzustellen, die allerdings erfolglos blieben. Auch alle Nachforschungen in der Klinik, wo das Kind seinerzeit geboren wurde, brachten nichts. Und die Jugendämter hielten sich sowieso strikt an ihre Vorschriften.
Jedes Jahr um die Weihnachtszeit bis zum Geburtstermin ihrer kleinen Tochter im März, war Lu seit einigen Jahren nicht wiederzuerkennen. Kathrina glaubte sogar, dass er immer schlimmer wurde, dieser Schmerz über den selbst verschuldeten Verlust ihrer Tochter. Doch auch eine Psychologin, die Lu im vergangenen Jahr aufgesucht hatte, konnte ihr nicht weiterhelfen, sondern ihr nur raten, sich ihrem Mann anzuvertrauen.
Georg war ein sehr erfolgreicher Rechtsanwalt, den Lu vier Jahre nach ihrer folgenschweren Entscheidung kennen gelernt und in den sie sich verliebt hatte. Er stammte aus einer reichen hanseatischen Reederfamilie. Wahrscheinlich war das auch ein Grund, warum Lu eisern über ihre Vergangenheit schwieg. Sie fürchtete sich davor, geächtet zu werden.
Sie, Kathrina, lebte dagegen in ganz normalen bürgerlichen Verhältnissen, ihr Mann Walter, den sie recht früh geheiratet hatte, war mittlerer Finanzbeamter. Und niemals hätte sie mit ihrer erfolgreichen Zwillingsschwester tauschen mögen.
Diesen Urlaub wollte sie noch einmal dazu nutzen, Lu doch zu einer späten Beichte zu überreden. Es war nämlich nicht länger mit anzusehen, wie sehr sich ihre Schwester quälte und womöglich wegen dieser ewigen Schuldgefühle noch ernstlich erkrankte. Der Vater ihres Kindes, eine Urlaubsliebe, hatte sich sofort von ihr getrennt, nachdem er von ihrer Schwangerschaft erfahren hatte. Das hatte Lu ihr jedenfalls so erzählt. Es fiel Kathrina allerdings ein bisschen schwer, dies zu glauben.
Wenn Lu nicht endlich mit Georg spricht, dann werde ich es tun, nahm sie sich vor. Obwohl sie der Schwester hoch und heilig versprochen hatte, dass es ganz allein ihr beider Geheimnis blieb.
*
»Hallo Nick, willst du dir den Stoff einmal ansehen, den ich aus Stuttgart mitgebracht habe?«, fragte Denise ihren Sohn, als sie ihn nach ihrer Rückkehr in seinem Büro antraf.
»Gern, Mama.« Nick umarmte seine Mutter zur Begrüßung.
»War es gestern ein schöner Tag in Stuttgart, und hat Papa wenigstens seinen Mantel bekommen?« erkundigte er sich, während er ihr die Tür öffnete.
»Ja, wir sind sogar schneller fündig geworden als gedacht, und zwar sofort im ersten Modehaus, das wir aufsuchten. Er hat sich dort einen schlichten Kamelhaarmantel ausgesucht, der ihm wirklich ausgezeichnet steht. Zwei Pullover haben wir auch noch erstanden. Stell dir vor, als wir bepackt mit unseren Schätzen den Laden verließen, lief uns doch zufällig eine Bekannte über den Weg, Lia, die, wie du weißt, am Theater arbeitet. Während Alexander seine Einkaufstüten ins Parkhaus brachte, sind Lia und ich weiter auf Shoppingtour gegangen und haben den Stoff für die Kleider deiner Sternenkinder ausgesucht. Danach hat sie mich noch in einen Schuhladen geschleppt, weil sie meinte, Sternenkinder könnten doch schließlich nicht gut barfuß tanzen. Und da sie den Besitzer des Geschäfts gut kennt, hat der uns ein Dutzend weißer Ballerina-Schuhe zur Auswahl mitgegeben. Anschließend haben wir noch Sterne und anderes Glitzerzeug gekauft, mit denen die Kleidchen verschönt werden sollen. Zum Glück stand ihr Auto sehr zentral geparkt, und wir konnten alles darin unterbringen, ehe sie mich zu dem Hotel fuhr, wo Alexander inzwischen auf mich wartete.«
Nick war schon sehr gespannt auf die Schätze, die seine Mutter aus Stuttgart mitgebracht hatte.
»An weiße Schuhe habe ich überhaupt nicht gedacht«, gab er zerknirscht zu. Wieder einmal war ihm klar geworden, wie wertvoll die Unterstützung seiner Mutter hier in Sophienlust war – und so würde es auch immer bleiben, wenn es nach ihm ginge!
»Ich muss gestehen, es war Lias Idee. Sie meinte, die Sternlein würden schon ein bisschen seltsam aussehen, wenn jeder von ihnen andere Schuhe trüge. Lia ist schließlich als Schauspielerin ein Profi und kennt sich in Sachen Requisiten bestens aus.« Denise unterbrach sich, denn sie sah, dass Nick den Stoffballen, den sie mitgebracht hatte, interessiert musterte.
»Wird sie zu unserer Märchenaufführung herkommen?«, erkundigte er sich und fügte gleich hinzu: »Für die Sternenprinzessin muss es aber schon ein prächtigeres Kleid sein als für die anderen Sternlein. Sag das bitte unbedingt deiner Schneiderin.«
»Mach ich. Übrigens, in meinem eigenen Kleiderschrank hängt auch noch ein Kleid, das wir für Emily hätten umarbeiten können.«
»Mama, jetzt sag nur noch, du hättest auch nur mit dem Gedanken gespielt, dein altes Ballettkleid aus deiner Zeit als Tänzerin in unseren Theaterfundus zu geben?«, fragte Nick sichtlich entsetzt.
»Warum denn nicht, ehe es die Motten zerfressen!«
Das ist zwar sehr lieb von dir gemeint, aber ich würde es nie zulassen. Notfalls würde ich mir in Vater einen Verbündeten suchen.«
»Ach, Nick. Es ist eine Freude zu sehen, wie gut du dich mit deinem Adoptivvater verstehst und auch mit Henrik und Alexanders Kindern aus erster Ehe. Wenn das doch in anderen Familien auch möglich wäre«, sann Denise und sah gedankenverloren aus dem Fenster hinaus in den Park.
Ihr ältester Sohn lächelte versonnen. »Wie sollte das bei so einer Mutter auch anders sein.« Sie antwortete nicht darauf.
»Ich habe Alexander übrigens erzählt, dass du ein selbst geschriebenes Märchen zu unserem Adventsfest aufführen lassen willst«, sagte Denise nach einer Weile und reichte Nick die Keksdose, die sie vorhin frisch gefüllt aus dem Gutshaus mitgebracht hatte. Ihr Sohn griff lächelnd hinein.
»Weißt du noch?«, fragte sie.
»Du denkst an das Spritzgebäck, das du damals zu Weihnachten gebacken hattest und das ich auf dem Schrank in deinem Schlafzimmer entdeckte?«
»Genau daran. Es war zum Glück erst Heiligabend Morgen, sodass mir noch genügend Zeit blieb, zum Bäcker zu laufen und neue Plätzchen zu besorgen. Und es war ein Glück, dass dieser noch nicht alle verkauft hatte.« Jetzt lachten sie beide.
»Wenn deine Praktikantin kommt, bitte sie doch darum, dass sie bei den Kindern Maß nimmt. Dann kann ich anschließend zu Frau Wolle fahren und die Stoffe mitnehmen«, wechselte seine Mutter das Thema.
»Wohin?«, erkundigte sich Nick verwundert.
»Ach, Nick, ich habe dir doch von meiner Schneiderin erzählt«, sagte Denise. »Wir können den Sternchen doch die Stoffbahnen schließlich nicht einfach nur umhängen.« Nach dieser kurzen Belehrung begann sie, etliche goldene Sterne auszubreiten und den anderen Glitzertand, den sie und Lia in Stuttgart erstanden hatten. Ihr Sohn bestaunte den Schatz gebührend.
»Über das Maßnehmen habe ich schon vorhin mit Frau Blum gesprochen«, berichtete Nick. »Ich habe die Bewerberin um den Praktikantenplatz nämlich gestern noch angerufen, und sie konnte zum Glück gleich heute anfangen. Auf mich machte sie schon am Telefon einen sehr guten Eindruck. Ich bin gespannt, was du sagen wirst, wenn du sie nachher kennenlernst.«
»Das war eine sehr gute Idee von dir, Nick. Dann kann dir Frau Blum ja bei den Vorbereitungen zum Theaterstück helfen.«
»Das Gleiche habe ich auch gedacht«, erwiderte Nick.
»Wo ist sie denn, die Praktikantin?«, erkundigte sich seine Mutter.
»Im Musikzimmer, sie wird nämlich mit den Sternchen einen Tanz einstudieren.«
»Dann lass uns doch sofort dorthin gehen, damit ich sie kennen lernen kann«, schlug Denise vor.
»Das können wir gern tun«, erwiderte Nick. Kurz darauf machten sie sich beide auf den Weg dorthin. Als sie vor der Tür standen, drang von drinnen leise Klaviermusik zu ihnen.
»Klavier spielen kann sie also auch«, sagte Denise anerkennend.
»Ich versichere dir, Mama, du wirst noch mehr besondere Dinge an ihr entdecken«, erwiderte ihr Sohn bedeutungsvoll.
»Nick, du hättest mich vorwarnen müssen«, sagte Denise mit gespielt vorwurfsvollem Ton, als sie eine Viertelstunde später das Musikzimmer wieder verließen.
»Dann wäre es keine Überraschung mehr für dich gewesen, Mama. Ich hätte eben zu gerne mein Handy gezückt, um von deinem verdutzten Gesicht ein Foto zu schießen, als du Anne Blum sahst.«
»Habe ich bei ihrem Anblick wirklich so entgeistert ausgesehen?« fragte Denise selbstkritisch und fuhr fort: »Unsere Emily und deine Frau Blum sehen sich wirklich sehr ähnlich. Es gibt sie also doch, diese Zufälle im Leben oder Launen der Natur, wie man es nennen mag«, murmelte sie, fast mehr zu sich selbst als zu ihrem Sohn.
»Ich glaube, das werden im Laufe der Zeit noch mehr Menschen als wir beide sagen. Eines steht jedoch fest: Anne Blum und unsere Sternenprinzessin sind sich vorher noch nie begegnet und sind ganz offensichtlich auch nicht miteinander verwandt. So verwundert, wie Anne Blum geschaut hat, als sie Emily inmitten der anderen Kinder entdeckte, das kann man einfach nicht spielen. Weißt du Mama, ich würde auch ganz schön dumm aus der Wäsche gucken, wenn ich meinem Fast-Ebenbild plötzlich gegenüberstehen würde. Das muss schon ein verflixt irritierendes Gefühl sein!«
»Das denke ich auch. Emily sieht in der Tat ganz so aus, wie man sich Frau Blum vor etwa sechs oder sieben Jahren vorstellen müsste.«
»Ja, beide haben die gleichen blonden Haare, die gleichen schmalen Gesichtszüge und diese wunderschönen intensiv blauen Augen«, schwärmte Nick.
Denise hob mit gespielt besorgter Miene die Augenbrauen. »Das lass bitte nicht Pünktchen hören. Sie würde bei deiner Schwärmerei bestimmt ganz eifersüchtig. Also, ich fahre nachher zu Frau Wolle, die Maße reichst du mir bitte vorher in mein Büro. Gibt es sonst noch etwas Wichtiges zu besprechen, mein Sohn?«
»Nein, Mama«, erwiderte Nick, und zum ersten Mal an diesem Tage fühlte er sich etwas unwohl in seiner Haut. Auf welche Ideen seine Mutter manchmal kam! Nein, er hatte sich nicht in Anne Blum verliebt, sie war ihm lediglich sehr sympathisch. Mit seiner Verbindung zu Pünktchen – Angelina Dommin – hatte das doch gar nichts zu tun.
»Gut, dann sehen wir uns spätestens heute Abend auf Schoeneich wieder,ja?«
»In Ordnung«, erwiderte Nick zerstreut, und als er endlich nachdenklich aufsah, war seine Mutter bereits verschwunden.
*
Nick kontrollierte die Mails auf seinem Computer, stöhnte über die vielen Werbeangebote, um die er die Firmen nicht gebeten hatte, löschte sie und nahm danach sein Handy zur Hand. Hier gab es heute weder eine neue Nachricht noch einen verpassten Anruf. Er sah auf die Uhr. Bis zu seiner geplanten Besprechung mit Anne Blum, der er gern das weiträumige Gelände von Sophienlust zeigen wollte, war noch etwa eine halbe Stunde Zeit.
Seinem alten Freund Mark von Basten war er immer noch einen Rückruf schuldig. Die Rufnummer hatte er natürlich im Handy gespeichert, doch als er die entsprechende Taste drückte und der Ruf hinausging, meldete Mark sich nicht. Vielleicht hat er ja heute Nachmittag eine Veranstaltung in der Uni und sein Handy im Hörsaal ausgestellt?, überlegte Nick. Wenn Mark nachher verpasste Anrufe checkte, würde ihm bestimmt auffallen, wer ihn in der Zwischenzeit angerufen hatte und ihn danach zurückrufen.
Die Engelchen hatten inzwischen ihre neuen weißen Ballerina-Schuhe schon anprobiert, drei mussten umgetauscht und zwei in Größe 34 nachbestellt werden. Natürlich waren die Kinder alle glücklich darüber, dass die Schuhe keine Leihgabe aus irgendeinem Fundus waren, sondern gesponsert von einer netten Dame, die ihnen diese zum Geschenk gemacht hatte.
Anne Blum ließ die ‚Sternchen’ gerade einen einfachen Reigen tanzen, um zu sehen, wie geschickt sie sich dabei anstellten. Drei der Kinder hatten schon einmal Ballettunterricht bekommen, und mit ihnen würde es ein Leichtes sein, auch einen nicht so ganz einfachen Tanz einzustudieren. Auch die übrigen stellten sich aber keineswegs ungeschickt an, stellte Anne erfreut fest. Nur die zehnjährige Hannah, ein Mädchen mit roten Haaren und rundlicher Taille, würde es schwerer haben, mit den anderen Schritt zu halten. Sie wirkte im Gegensatz zu ihnen ein wenig plump und ungelenk. Vorhin war sie beim Tanzen über ihre eigenen Füße gestolpert, und Anne hatte aufpassen müssen, dass die anderen nicht zu sehr lachten. Sie wusste, wie verletzend das auf den Pechvogel wirken konnte. Hannah hatte auch prompt nicht weitertanzen wollen. Es hatte Anne eine Menge Überredungskunst gekostet und das Versprechen, mit ihr im Einzelunterricht zu proben, was ihr an Fertigkeit noch fehlte. Erst danach hatte Hannah tatsächlich ihre Tränen getrocknet und sich bei den anderen Sternchen wieder eingereiht.
Emily, die für die Rolle der Sternenprinzessin in dem gleichnamigen Märchen vorgesehen war, hatte Annes Herz gleich im Sturm erobert mit ihrem Charme und ihrer Lebhaftigkeit. Aber auch durch die Ernsthaftigkeit, die sie zeigte und die für ihr Alter erstaunlich war. Anne hätte zu gern gewusst, ob beide Eltern verstorben waren oder ob wenigstens ein Elternteil noch lebte. Dass Emily ein Adoptivkind war, hatte sie inzwischen schon erfahren.
Als Nick Anne den Kindern vorgestellt hatte, war sie beim Anblick von Emily natürlich erst einmal zusammengezuckt. Ihr war in diesem Moment zumute gewesen, als hätte man sie mit einer alten Fotografie aus ihrer Kindheit konfrontiert.
Wie kann es nur angehen, dass dieses Mädchen mir so ähnlich sieht?, fragte sie sich auch jetzt wieder. Wenn sie es nicht ganz genau wüsste, dass es in ihrer Familie weder eine Cousine noch eine Nichte gab, die sie nicht kannte, dann wäre sie jede Wette eingegangen, Emily gehörte zur Familie.
Trotzdem ließ sie der Gedanke einfach nicht los, wie dieser Zufall zu erklären war. Wenn ihre Mutter aus dem Urlaub mit Tante Lu zurückkehrte, wollte sie sie mit einem Handy-Foto von der Sternenprinzessin und sich überraschen. Auf das Gesicht ihrer Mutter war sie schon jetzt gespannt. Und natürlich auch darauf, was sie wohl dazu sagen würde. Familiengeheimnisse gab es ja keine, soviel sie wusste.
Der Tanzunterricht war für heute beendet. Jetzt sah Anne auf die Uhr. Bis zur Verabredung mit dem jungen Besitzer von Sophienlust blieben ihr noch ein paar Minuten Zeit, in denen sie allein einen kleinen Spaziergang machen konnte.
Die Sonne schien an diesem wunderschönen Herbsttag so verlockend warm, als wollte sie eher den Frühling ankündigen als den baldigen Winter. Kein Blättchen bewegte sich an den Bäumen und Sträuchern, die noch etwas Laub trugen, und an einer der südlichen Hauswände des alten Gebäudes entdeckte sie sogar noch drei blutrote Rosen. Da, ein rotbraunes Eichhörnchen sauste direkt vor ihr über den Weg und huschte so geschwind den Baumstamm einer alten Platane hinauf, dass Anne dem Tierchen kaum mit den Augen folgen konnte. Wahrscheinlich war es dabei, einen Nussvorrat für den Winter zu sammeln. Richtig, nur ein paar Schritte weiter stand ein dicker Nussbaum, der dieses Jahr offensichtlich viele leckere Früchte trug, die ein Eichhörnchen sammeln konnte. Im Garten ihrer Eltern gab es auch Eichhörnchen, die regelmäßig die wenigen Haselsträucher plünderten. Oft fand die Mutter noch im Sommer des nächsten Jahres in großen Blumentöpfen oder in einem Beet Nüsse, die von den kleinen Tierchen im Herbst versteckt und vergessen worden waren.
Hinter ihr raschelte es plötzlich im trockenen Laub. Erschrocken drehte sich Anne um.
»Ich sehe, Sie sind schon dabei, den Park von Sophienlust allein zu erkunden«, sagte eine sympathische Stimme, die sie bereits kannte.
»Haben Sie mich erschreckt«, erwiderte die junge Frau, zu Nick gewandt.
»Dazu gibt es überhaupt keinen Grund. In Sophienlust gibt es keine gruseligen Gespenster und auch kein zwielichtiges Gesindel, das kann ich Ihnen versichern. Und Halloween hatten wir bereits am letzten Wochenende. Da ging es hier im Park schon ein wenig gruselig zu.«
Anne stellte sich vor, welchen Spuk die Kinder wohl veranstaltet haben mochten. Sie hatte die großen Kürbisse vorhin in einem der Abstellräume gesehen, mit geschnitzten Augenschlitzen und abgebrannten Kerzenstummeln im Innern.
»Habe ich Sie lange warten lassen?«, fragte Nick nun schuldbewusst. »Ich hatte versucht, meinen alten Freund Mark zu erreichen, aber leider vergebens, obwohl ich den Anruf noch mehrfach wiederholt habe.«
»Wie gut, dass man ab und zu sein Handy ausschalten kann, wenn man nicht gestört werden will«, sagte Anne lächelnd.
»Da haben Sie allerdings recht. Es gibt Zeiten, da möchte man tatsächlich nicht gestört werden, oder man befindet sich in Räumen, wo der Gebrauch eines Handys untersagt ist.«
»Stimmt. Und doch könnte ich ohne diese kleinen Wissenswunder leider nicht mehr auskommen«, gestand Anne.
»Ich nehme an, mein Freund hat Seminar und hält sich zurzeit in einem Hörsaal auf«, berichtete Nick. Und fügte erklärend hinzu: »Mark studiert in München Medizin. Sie zogen erst relativ spät in diese Gegend, aber wir haben uns sehr gut verstanden. In den letzten Jahren des Gymnasiums waren wir fast unzertrennlich.«
»Aha. Ihr Freund Mark studiert Medizin und hat in der Gegend gewohnt?«, fragte Anne und war überrascht stehen geblieben.
»Ja, wieso fragen Sie? Kennen Sie ihn am Ende?«
»Heißt er vielleicht zufällig Mark von Basten?«, erkundigte sich Anne.
Nick sah die junge Frau verblüfft an. »Können Sie hellsehen?«, fragte er überrascht.
»Nein, kein bisschen. Der Herr von Basten, den ich meine, studiert zusammen mit meiner Schulfreundin an der Maximilian-Universität in München Medizin. Wir sind uns dort schon einmal auf einer Fete vorgestellt worden. Das ist alles.«
»Anscheinend hat er großen Eindruck auf Sie gemacht, sonst hätten Sie sich seinen Namen nicht so gut gemerkt«, konnte Nick sich nicht verkneifen anzumerken.
Dieser Satz klang in Annes Ohren ein wenig verwunderlich, und sie wusste nicht so recht, wie sie darauf reagieren sollte.
»Das möchte ich so nicht unbedingt stehen lassen. Emma, das ist meine Freundin, erzählt nur in letzter Zeit viel von diesem Mark von Basten. Ich habe das Gefühl, zwischen den beiden knistert es.« Ich persönlich interessiere mich nicht für andere Männer, denn ich habe einen festen Freund, wollte Anne eigentlich noch hinzufügen, aber sie hatte keine Lust, sich mit dem jungen Mann neben ihr über Dirk zu unterhalten. Ihr neuer junger Chef war zwar ein sehr sympathischer Typ, aber doch noch ein Fremder für sie, den ihr Privatleben nicht unbedingt etwas anging. Auch wenn seine Bemerkung eben wohl eher nach einem Scherz als Neugierde geklungen hatte.
Jetzt setzten sie den Spaziergang gemeinsam fort.
»Die Welt ist manchmal ganz schön klein«, sagte Nick noch, in Anspielung auf Mark von Basten. Dann schien das Thema für ihn erledigt zu sein. Etwas später erkundigte er sich bei Anne, ob sie inzwischen schon sein Märchen und die provisorische Theaterfassung durchgelesen hätte.
Anne zeigte sich sofort begeistert. »Ja, und ich finde es sehr schön. Die Theaterfassung möchte ich übrigens keinesfalls als provisorisch bezeichnen, ich werde sehr gut damit arbeiten können.«
»Das höre ich gern«, erwiderte Nick.
»Es hat mir vorhin schon große Freude bereitet zu sehen, mit welcher Begeisterung die Kinder beim Tanzen dabei sind.«
»Ja, da habe ich auch bemerkt. Und sie machen das ganz toll, Frau Blum«, sagte Nick anerkennend.
»Danke.«
Eine einzelne Kastanie fiel direkt vor Annes Füße. Sie hob die kleine mahagonibraune Frucht auf und rieb sie zwischen ihren Händen, als wollte sie sie zusätzlich polieren, so wie sie es als Kind getan hatte. Dem jungen Mann neben ihr schien das ganz offensichtlich zu amüsieren, denn in seinen Augen blitzte der Schalk auf.
»Haben Sie als Kind auch so gern Kastanien gesammelt?«
»Ja. Meine Oma behauptete immer, wenn man eine stets bei sich trüge, so könnte man dem leidigen Winterrheuma entgehen.«
»Sie glauben nicht daran?«
»Eigentlich nicht, will es aber auch nicht abstreiten. Oft soll solch alter Glaube schon Berge versetzt haben.«
»Der Grundsatz gefällt mir – und Ihnen hoffentlich unser schöner Park auch.«
»Sehr sogar«, erwiderte Anne begeistert und fügte hinzu: »Darf ich Sie um etwas bitten, Herr von Wellentin-Schoenecker?«
»Bitte nennen Sie mich Nick«, sagte er schnell. »‚Herr von Wellentin-Schoenecker’ klingt furchtbar umständlich und viel zu lang. Selbst mein eigentlicher Vorname Dominik ist zu lang. Alle nennen mich hier Nick, so lange ich denken kann.«
»Danke. Dann bin ich Anne für Sie«, erwiderte die junge Frau.
»Sie wollten aber gerade etwas fragen?«, ermunterte Nick sein Gegenüber.
»Ja, ich würde gern etwas über die Entstehungsgeschichte von Sophienlust erfahren, würden Sie mir davon erzählen?«
»Gern.« Nick berichtete von seiner Urgroßmutter Sophie von Wellentin, die in ihrem Testament verfügt hatte, dass ihr schönes Anwesen für in Not geratene Kinder genutzt werden sollte. Als Erben eingesetzt hatte sie in diesem Sinne ihn, Nick, der damals aber noch ganz klein gewesen war. »Meine Mutter Denise hat das Heim dann aufgebaut und zusammen mit tüchtigen Helfern geleitet. Und erst vor Kurzem, am Tag meiner Volljährigkeit, habe ich das Amt offiziell von meiner Mutter übernommen.«
»Das war ein riesiger Vertrauensvorschuss in Ihre Fähigkeiten von Seiten Ihrer Urgroßmutter«, meinte Anne nachdenklich.
»Ja, so sehe ich das auch. Doch hätte meine Mutter sich nicht mit so viel leidenschaftlicher Hingabe jahrelang um mein Erbe gekümmert, dann wäre Sophienlust wohl gar nicht erst in dieser Form entstanden. Ja, sie hat es bis zu meinem achtzehnten Geburtstag für mich geleitet, und auch mein Adoptivvater, ihr zweiter Mann, hat sich sehr für das Anwesen eingesetzt. Schoeneich und Sophienlust grenzen ja aneinander.« Nick lächelte, als er an Alexander von Schoenecker dachte, den geduldigen Gutsherrn, der seine geliebte Frau schon oft hatte mit Sophienlust teilen müssen, wenn Denise plötzlich wieder einmal nicht nach Hause kommen konnte, da wichtige Verpflichtungen sie in Sophienlust festhielten.
»Und für mich«, fuhr Nick fort, »stand von Anfang an fest, dass ich das Erbe antreten werde. Ich wusste immer ganz genau, dass Sophienlust nicht nur Verpflichtung, sondern mein Leben ist. Das klingt vielleicht ein wenig theatralisch in Ihren Ohren, aber jedes Wort davon stimmt.«
»Das nehme ich Ihnen sofort ab«, erwiderte Anne ernst. Sie waren jetzt fast am Ende des Weges angelangt, der in einem Rondell endete. Anne entdeckte ganz in der Nähe einen wunderschönen Pavillon, der von außen dermaßen von Pflanzen umrankt war, dass man ihn eigentlich von Weitem nur an seinem Dach erkennen konnte.
»Gefällt Ihnen unser Pavillon?«, fragte Nick seine Begleiterin, die mit einem begeisterten »Oh« inzwischen stehen geblieben war.
»Ja, sehr sogar. Das ist die ideale Liebeslaube«, stellte Anne lächelnd fest.
»Die Kinder lieben es auch. Wir haben den Pavillon erst vor ein paar Jahren gebaut, im Stil der Umgebung hier. Es lassen sich herrlich Märchen dort drin erzählen, oder man kann Räuber und Prinzessin spielen…«
»Sie sind bestimmt ein wunderbarer Spielgefährte für die Kinder hier gewesen«, meinte Anne.
»Ich bin es noch«, grinste Nick. »Aber jetzt will ich es noch professioneller angehen lassen: Ich habe begonnen, Kinderpsychologie zu studieren«, verriet er.
»Oh, dann gehen Sie schon bald von hier weg?«, fragte Anne verwundert.
»Nein, das kann ich mir nicht leisten. Ich kann meiner Mutter nicht noch ein paar Jahre die Verantwortung aufbürden. Ich absolviere ein Fernstudium.«
Anne begann zu lachen, und Nick sah sie irritiert an. »Entschuldigung, Nick, ich habe mich vor Kurzem auch für dieses Studium eingeschrieben. So ein Zufall!«
»Wirklich? Sie wollen auch …?«, staunte er, und nun musste auch er über diese Übereinstimmung lachen.
»Ja.«
Das Eis zwischen ihnen war nun endgültig gebrochen.
»Und da wir noch eine zweite Gemeinsamkeit haben: wir sind fast gleich alt, schlage ich vor, dass wir uns auch ab jetzt duzen. Oder spricht etwas dagegen, Anne?« Nicks braune Augen strahlten vor Fröhlichkeit.
»Nein, natürlich nicht«, antwortete sie und fügte hinzu: »Ich freue mich.« Tatsächlich hatte sie das Gefühl, soeben einen wertvollen, guten Freund fürs Leben kennengelernt zu haben.
»Was hältst du davon, Anne, wenn wir heute Abend noch ein bisschen zusammensitzen und auf unser gemeinsames Projekt ›die Sternenprinzessin‹ anstoßen, gern auch mit Limonade?«
»Ich bin dabei«, versprach Anne gut gelaunt.
Dann rief ein Telefonanruf Nick ins Herrenhaus zurück. Bevor er einen Spurt dorthin einlegte, riet er Anne, sich unbedingt noch die Spielplätze der kleineren Kinder und den Fußballplatz anzusehen. Auch auf die nostalgischen Schaukeln machte er sie aufmerksam, die trotz moderner Spielgeräte immer noch gern genutzt wurden.
»Ich schau mich um – keine Sorge!« Anne wusste nicht, ob Nick ihre Antwort noch gehört hatte, und ging lächelnd weiter.
Es gefiel ihr ausgesprochen gut in Sophienlust, das konnte sie heute am ersten Tag schon glatt unterstreichen.
Neugierig auf noch mehr Sehenswürdigkeiten, schlenderte Anne weiter durch den Park, um ihn zu erkunden. Von der Spielwiese drang fröhliches Kinderlachen zu ihr herüber. Anne bewunderte die schönen alten Bäume und dachte bei sich, wie viele Kinderschicksale sie wohl schon gesehen hatten. Freudige und traurige Ereignisse, Abschiede und Wiedersehen… Und während sie weiterschritt, beschäftigte sie sich gedanklich mit den Kindern, die sie vorhin kennen gelernt hatte. Und natürlich fiel ihr Emily wieder ein, auf deren Geschichte sie ganz besonders neugierig war. Vielleicht erfuhr sie ja im Laufe ihrer Tätigkeit mehr darüber.
Als Anne an diesem Abend auf einen Anruf ihrer Mutter wartete, überlegte sie, ob sie ihr von der Begegnung mit diesem Mädchen erzählen sollte. Doch dann unterließ sie es, erzählte stattdessen von den liebenswürdigen Besitzern von Sophienlust und ihrer neuen Arbeit mit den Kindern. Mit jedem Satz klang ihre Stimme begeisterter.
»Ich hoffe, ich werde zur Aufführung dieses Weihnachtsmärchens nach Sophienlust eingeladen. Das bedinge ich mir aus, und du besorgst mir eine ganz offizielle Einladung dafür, mein Schatz. Schließlich will ich mit eigenen Augen sehen, was meine Tochter für Talente hat«, forderte Kathrina Blum scherzend.
»Mach ich, versprochen, Mama!«, entgegnete Anne.
»Hier ist der Wind schon recht kalt, aber die Sonne hat um die Mittagszeit noch erstaunlich viel Kraft. Tante Lu und ich haben schon den ersten kleineren Spaziergang am Meer unternommen. Du kennst das Haus ja leider noch nicht. Es steht gleich hinter dem Deich, und vor der Haustür oder bei offenem Fenster hört man das Meer rauschen. Ansonsten sind wir beide doch rechtschaffen müde angekommen nach der Reise. So, und jetzt möchte dir deine Tante auch noch schnell guten Abend sagen, ich gebe den Hörer an Lu weiter. Mach es gut, mein Schatz, und lass von dir hören.« Noch ehe Anne ihrer Mutter darauf antworten konnte, hörte sie bereits die Stimme ihrer Tante:
»Anne, Liebling, wie geht es dir?", erkundigte sich Lu, um sie dann fast schwindelig zu reden mit allem, was ihr gerade durch den Kopf ging und was sie dringend mitteilen wollte.
Als es Anne endlich möglich war, auch einmal zu Wort zu kommen, wurde sie von ihrer Tante jedoch schon wieder unterbrochen:
»In Sophienlust bist du, in einem Kinderheim? Was machst du denn da, ich dachte, du studierst Sport?«
»Ach, Tante Lu, das habe ich dir doch schon kürzlich am Telefon erzählt. Ich wechsele im nächsten Semester das Studienfach und werde Kinderpsychologie studieren«, entgegnete Anne ziemlich ungehalten, weil sie das Gefühl hatte, von ihrer Tante nicht ganz ernst genommen zu werden. Darum sagte sie jetzt auch schnell: »Sorry, ich muss jetzt unser Gespräch leider beenden. Ich habe gleich noch eine Verabredung mit dem Leiter von Sophienlust. Tschüs, Tante Lu, und grüß mir Mama noch mal.«
Anne drückte den kleinen roten Knopf an ihrem Handy und beendete so die ziemlich einseitige Unterhaltung. Wie unterschiedlich ihre Mutter und deren Zwillingsschwester doch waren, dachte sie wieder einmal.
Ein Blick auf die Uhr zeigte ihr, dass es tatsächlich schon Zeit war, zu der Verabredung mit Nick zu gehen. Sie wollte mit ihm auch noch einmal unbedingt über den Jungen Paul und seine Rolle als Mond sprechen. Er hatte sich ganz hervorragend in seinen Part hineingelebt, fand sie. Manchmal bedurfte es tatsächlich nur einer kleinen Anregung, um ein Talent offenbar werden zu lassen. Ihr Sorgenkind blieb das dickliche Mädchen mit den roten Haaren. Wenn es ihr aber gelang, das Vertrauen des Kindes zu gewinnen, würde es sicher bald genauso gut tanzen können wie die anderen Sternenkinder auch.
Zum ersten Mal spürte es Anne ganz praxisnah, wie gut sie daran getan hatte, das Studienfach zu wechseln. Im Moment entschied und handelte sie lediglich intuitiv. Später würde sie über ein professionelles Wissen verfügen und sich viel sicherer sein, keine Fehler zu machen. Doch in einen Menschen hineinsehen konnte man letztendlich nie. Das wusste sie heute schon.
Anne musste in diesem Augenblick unwillkürlich an Emily denken, die die verblüffende Ähnlichkeit zwischen ihnen beiden doch auch registriert haben musste. Was das Kind wohl dachte und fühlte? Anne nahm sich vor, gelegentlich mit Nick darüber zu reden.
*
»Lu, für mich wird es allmählich Zeit, zu Bett zu gehen. Du kannst ja noch gerne aufbleiben, aber ich bin so müde, dass ich mich kaum noch auf den Beinen halten kann«, sagte Kathrina Blum zu ihrer Schwester und gähnte hinter der vorgehaltenen Hand.
»Schon? Ich dachte wir würden noch ein wenig miteinander plaudern. Manchmal, so wie jetzt, stelle ich wirklich fest, dass du die Ältere von uns beiden bist, obgleich ich laut Geburtsschein nur eine halbe Stunde nach dir auf die Welt gekommen bin.« Lu lachte sie jetzt tatsächlich aus, und es machte ihr offensichtlich auch noch Spaß. Das war natürlich nicht böse von ihr gemeint, aber es ärgerte Kathrina schon ein wenig. Woher ihre Schwester nur diese Energie nahm, fragte sie sich auch heute.
»Stell dir vor, Kati, Georg findet neuerdings, dass ich mich mit einer weiteren Expansion meiner Kosmetiksalons übernehmen könnte. Was ich auch dagegenhalte, er lässt sich nicht von seiner Meinung abbringen. Jetzt unterstellt er mir sogar, meine Überaktivität käme nur daher, weil mich etwas belaste, was ich mir selbst nicht eingestehen wollte. Ich glaube, er denkt, es liegt daran, dass wir kein Kind bekommen haben, obwohl wir uns beide eines gewünscht haben. Glaubst du, er könnte etwas ahnen? Sollte er jemals herausfinden, dass ich schon vor Jahren eine Tochter geboren und aus Feigheit nach der Geburt weggegeben habe, dann verlässt er mich bestimmt. Und weißt du was, Schwesterchen, ich könnte ihn sogar verstehen…«
Kathrina ging zu ihrer Schwester und legte die Hand auf ihre Schulter. »Georg wäre bestimmt ein guter Vater gewesen. Aber er liebt dich und würde dich nie verlassen. Vielleicht würde er über dein mangelndes Vertrauen bitter enttäuscht sein, das glaube ich schon. Doch am Ende würde er dir bestimmt verzeihen«, sagte sie.
»Das bezweifle ich. Wenn wir in Hamburg gemeinsam einen Stadtbummel unternehmen, dreht er sich immer öfter nach Kindern um. Weißt du, wie weh das tut? Obwohl er noch vor ein paar Jahren beteuert hat, dass zu einer Ehe nicht unbedingt Kinder gehörten. Vielleicht hat er eine heimliche Freundin, eine jüngere, die gern Kinder von ihm hätte, aber er kann sich aus Bequemlichkeit nicht dazu entschließen, einen Schlussstrich unter unsere Ehe zu setzen…« Lu, die noch vorhin auf ihrem Spaziergang am Meer gescherzt und gelacht hatte, war auf einmal ins Grübeln geraten.
Kathrina glaubte nicht an Georgs angebliche Untreue, doch sie schwieg. Wenn Lu sich einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte, war sie schwer vom Gegenteil zu überzeugen. Sie war mit Sicherheit nicht gerade eine unkomplizierte Frau, aber dafür eine sehr erfolgreiche. Georg liebte sie über alles, wie sie, Kathrina, bei gelegentlichen Besuchen immer wieder hatte feststellen können, und war sehr stolz auf Lu. Ob er sich in Wirklichkeit nach einem Familienleben zu dritt oder auch viert sehnte, vermochte Kathrina allerdings nicht zu sagen.
»Kati, du wirst es kaum glauben, aber ich bin in den letzten Jahren nicht untätig gewesen, herauszufinden, wer meine kleine Tochter damals adoptiert hat.« Lu war aufgestanden, und jetzt standen sich die beiden Schwestern gegenüber. Liebevoll reichte Lu Kathrina die Hände.
»Leider habe ich beim zuständigen Jugendamt auf Granit gebissen. Nicht einmal ein hoher Geldbetrag hat die Sachbearbeiterin locken können, mir auch nur einen kleinen Hinweis zu geben, zu welcher Familie sie mein Kind vor zwölf Jahren gegeben haben. Im Gegenteil, sie hat mich empört abgewiesen.«
»Lu, kennst du denn gar keine Skrupel?«, fragte Kathrina entsetzt und entzog ihr ihre Hände. »Die Frau durfte dir nichts sagen, so sind nun mal unsere Gesetze, und dass sie dein Geld nicht angenommen hat, spricht für ihre Unbestechlichkeit.«
»Warum bist du gegen mich und für eine Frau, die du nicht einmal kennst?«, empörte sich Lu, wandte sich ab und wanderte unruhig im Wohnzimmer auf und ab. Das fast heruntergebrannte Kaminfeuer flackerte unruhig, als wollte es sich gegen das Erlöschen wehren.
»Das bin ich doch gar nicht, ich zähle nur die Fakten auf. Du hast mir gegenüber bis vor Kurzem kaum erwähnt, wie sehr du die damalige Einwilligung zur Adoption heute bereust.«
»Stimmt, weil ich mir keine Schwäche leisten wollte. Im Anfang gab es diese Reue auch nicht, da war ich viel zu sehr damit beschäftigt, meine Karriere aufzubauen und den ersten eigenen Kosmetiksalon zu eröffnen. Und weißt du, warum ich damals so hungrig auf Geld und Erfolg war?«, fragte Lu herausfordernd.
»Nein.«
»Ich wollte nie wieder in eine so hilflose Situation geraten wie während meiner Schwangerschaft, die ich unseren Eltern und allen Freunden verschwiegen hatte – verschweigen musste. Ich wollte endlich frei und unabhängig von allen sein. Zwei Jahre danach lernte ich Georg kennen. Den ersten Mann, an den ich mich anlehnen und auch mal schwach sein konnte. Doch dann überfiel mich eines Tages ganz unvorbereitet die Sehnsucht nach meinem Kind, und ich habe mir so sehr gewünscht, meine Entscheidung von damals rückgängig machen zu können.« Lu liefen ein paar Tränen über die Wangen, und Kathrina wusste nicht, womit sie ihre Schwester aufmuntern konnte.
»Mir an deiner Stelle würde es bestimmt genauso ergangen sein«, sagte sie schließlich.
»Ach wo, du wärst nie in meine Situation gekommen. Du hättest dich nie in einem Mann verliebt, der dich nicht wollte und nur mit dir gespielt hat«, konterte Lu ungewohnt hart.
»Wahrscheinlich hast du sogar recht Schwesterchen. Ich möchte mich jedenfalls nicht mit dir darüber streiten.« Kathrina seufzte. Tröstend umarmte sie Lu.
»Das will ich doch auch nicht, Kati. Ich möchte nur irgendeinem Menschen mal mein Herz ausschütten können. Und wer käme dafür wohl besser infrage als meine Zwillingsschwester.«
»Natürlich. Und nun tu mir bitte einen Gefallen und hör auf zu weinen, Lu. Sag mir lieber, wie ich dir helfen kann.«
»Ich fürchte, mir kann keiner helfen. Wo soll ich denn mein Kind suchen, wenn die Behörden mir nicht den geringsten Anhaltspunkt geben wollen? Was sind das nur für grausame Menschen! Weiß ich, ob es meinem Baby bei den Adoptiveltern gut geht oder nicht?«
»Dein Kind ist längst kein Baby mehr, sondern inzwischen ein zwölfjähriges Mädchen und bestimmt sehr hübsch, genau wie ihre Mutter.«
»Am dritten März feiert sie schon ihren dreizehnten Geburtstag«, sagte Lu und die Stimme versagte ihr fast dabei.
Kathrina stutzte. So lange war es schon her, dass Lu ihr eröffnet hatte, dass sie schwanger sei! Den Namen des Kindsvaters hatte sie nie preisgegeben und stets behauptet, der Mann sei nur ein Urlaubsflirt gewesen, von dem sie nicht einmal den Nachnamen wüsste. Damals war sie, Kathrina, schon lange verheiratet gewesen, und ihre kleine Anne sollte bald die Schule besuchen. Lu arbeitete in einem stadtbekannten Kosmetiksalon, und Kathrina als Krankenschwester in einer Klinik. Und zwar in der gleichen, in der ihre Schwester später auch ihr Kind zur Welt gebracht hatte.
»Ach, Kati, ich bin ja so unglücklich. Heute würde ich all meine Kosmetiksalons ohne mit der Wimper zu zucken hergeben, wenn ich meine kleine Tochter dafür zurückbekommen könnte. In welcher Stadt sie wohl lebt? Vielleicht sogar bei uns in Hamburg, und ich bin ihr schon einmal auf der Straße begegnet, ohne sie erkannt zu haben«, orakelte Lu.
»Das ist wohl eher unwahrscheinlich. Ihre Adoptiveltern kommen bestimmt vom anderen Ende Deutschlands«, sagte Kathrina.
»Woher willst du das wissen?«
»Ach, Lu, es wäre einfach wahrscheinlicher.«
»Das finde ich nicht«, behauptete ihre Schwester, trotzig wie ein Kind.
Ihre Stimmung schien im Moment explosiv zu sein. Wie ein gestresster Tiger im Käfig wanderte Lu auf und ab.
»Wenn ich genau wüsste, dass sie es bei ihren Adoptiveltern gut hat, würde ich schon zufrieden sein«, behauptete sie nun. Doch Kathrina war sich sicher, dass diese Aussage nicht stimmte.
»Ich habe sogar schon in zwei großen deutschen Zeitungen jeweils ein Inserat aufgegeben und nach meiner kleinen Nadine gesucht, habe das Krankenhaus angegeben, in dem ich entbunden habe, und auch das Jahr. Darauf gab es leider keine Resonanz. Trotzdem bin ich felsenfest davon überzeugt, dass ich sie eines Tages finden werde.«
»Setz dich doch bitte wieder hin, Lu, du machst mich noch wahnsinnig mit deiner ewigen Herumlauferei. Außerdem heißt deine Tochter nicht Nadine, das ist der Name, den du für sie vorgesehen hattest, vergiss das bitte nicht. Ich wette, du kannst heute Nacht kein Auge zumachen, wenn du mit dieser Grübelei nicht endlich aufhörst. Das bringt doch alles nichts! Ich bin nach wie vor der Meinung, du solltest Georg in dein Geheimnis einweihen, erst danach findest du deine Ruhe wieder. Vielleicht findet er juristisch irgendwie eine Möglichkeit, die euch weiterhilft«, sagte Kathrina noch, obwohl sie selbst nicht daran glaubte. Aber wenn es ihre Schwester trösten würde, dann war ihr das völlig egal.
»Lass Georg aus dem Spiel. Meine Lebenslüge hält unsere Ehe nicht aus, das weiß ich ganz genau«, ereiferte sich Lu.
Kathrina erkannte, dass jede weitere Diskussion unsinnig war. Lu drehte sich mit ihren Überlegungen im Kreis und war nicht bereit, aus diesem Karussell herauszukommen.
»So, jetzt lass uns an unserem schönen Urlaubstag lieber mal von etwas anderem reden«, meinte Kathrina deshalb ablenkend »Weißt du, dass ich als Teenager immer ein wenig eifersüchtig auf dich war, weil du die Hübschere von uns beiden mit den meisten Verehrern warst?«
Ein Lächeln huschte über Lus Gesicht, und sie setzte sich nun tatsächlich wieder in den Sessel zurück und stützte ihre Ellbogen auf die Lehne.
»Erinnerst du dich noch an den Sohn unserer Nachbarn, der dich schon als Zehnjähriger immer heiraten wollte? Weißt du eigentlich, was aus ihm geworden ist?«
Lus Gesicht verdüsterte sich wieder. »Nee, interessiert mich auch nicht«, entgegnete sie gelangweilt.
»Leiter des Finanzamtes in einer benachbarten Kleinstadt«, verriet Kathrina.
»Ich dachte immer, er wollte Bauer werden wie sein Großvater. Stell dir vor, ich als Bäuerin im Stall unter den Kühen, dieser Gedanke hat mich schon als Kind zum Lachen gereizt«, erinnerte sich Lu.
»Ich wollte als Kind immer Eisverkäuferin werden, um direkt an der Quelle zu sitzen. Für ein Himbeereis hätte ich alles getan, aber Mutter hat mir keine Chance gegeben, das zu beweisen«, amüsierte sich Kathrina.
»Und ich wollte schon mal allen Ernstes Zirkusprinzessin werden, die irgendwo oben am Trapez die Menge mit ihrer atemberaubenden Vorführung begeistert und einen Riesenapplaus dafür bekommt.«
»Wolltest du nicht auch mal Tierärztin werden?«, wunderte sich Kathrina.
»Tierärztin, wie kommst du denn da drauf?«
»Nach einer Dokumentation über den Kölner Zoo, in der gezeigt wurde, wie ein Tiger operiert wurde, nachdem er vorher mit einem Narkosepfeil betäubt worden war, warst du total begeistert.«
»Tatsächlich, daran erinnere ich mich jetzt wieder. Ja, der Film hat mich damals auf diesen Beruf neugierig gemacht. Aber ich habe schnell eingesehen, dass ich doch nicht die Mutigste bin, um ihn ausüben zu können. Unsere Eltern hätten mich sowieso ausgelacht, wenn ich ihnen damit gekommen wäre. Studieren durfte ja keine von uns Mädchen, weil das angeblich zu teuer war. Das durfte nur unser Bruder, der Musterschüler, der Klassenbeste, der Streber, der…«
»Hör auf damit!«, rief Kathrina und erklärte ihrer Schwester zum wiederholten Mal, dass diese heute weit erfolgreicher war als ihr Bruder und auch als sie selbst.
»Ich wäre auch viel lieber Ärztin geworden als Krankenschwester. Obwohl ich meinen Beruf schon sehr liebe. Man kann vielen Menschen helfen und ihnen Trost spenden, wenn sie enttäuscht und verzweifelt sind.«
»Du warst von uns beiden immer schon diejenige mit dem meisten Idealismus«, stellte Lu nüchtern fest. Kathrina wunderte sich darüber, dass ihre Schwester dies während ihrer gemeinsamen Jugend überhaupt registriert hatte. Auf jeden Fall hatte sie diese kleine Reise in ihre gemeinsame Vergangenheit abgelenkt.
»Wie wäre es mit einem kleinen Schlummertrunk, Schwesterchen?«, schlug Lu nun vor. »Ich habe leider keine große Auswahl. Ein Sekt würde uns nur aufputschen und wir könnten nachher nicht einschlafen. Aber ich habe vom letzten Urlaub noch einen Rosinenschnaps im Schrank stehen, den trinkt Georg manchmal zum Aufwärmen, wenn er in der kalten Nordsee gebadet hat.«
»Wunderbar, dann gieß uns doch ein Gläschen ein, wenn er nicht zu hochprozentig ist«, schlug Kathrina vor und holte zwei Gläser aus dem Schrank. Lu füllte die Gläser. Tatsächlich wirkte das Getränk wie ein Schlummertrunk, und rasch machten sich die Schwestern fertig zum Zubettgehen.
*
Als Kathrina am nächsten Morgen als Erste wach wurde, zog sie sich ihren gelben Bademantel über und ging nach draußen. Die Luft war kalt und frisch. Und als sie zum Himmel emporsah, spielte sich dort gerade ein seltsames Schauspiel ab: Die aufgehende Sonne versteckte sich hinter einer Wolkenwand, färbte diese aber glutrot. Es war ein beeindruckendes Farbenspiel.
Im Sommer vor drei Jahren hatten sie und Lu morgens um diese Zeit oft schon ihr morgendliches Bad in der Nordsee genommen. Dafür aber war es jetzt, zu dieser Jahreszeit, natürlich einfach zu kalt. Und dann wanderten ihre Gedanken weiter nach Sophienlust, wo Anne ihr Praktikum angefangen hatte. Sie hatte schon viel Gutes über dieses private Kinderheim gehört. Wäre es nicht damals auch besser gewesen, Lu hätte ihre Tochter in einem solchen Heim untergebracht? Eine Adoption war schließlich so etwas Endgültiges, das man nicht ungeschehen machen konnte. Kathrina konnte den Kummer und die Reue ihrer Schwester direkt nachfühlen.
Bevor sie gestern eingeschlafen war, hatte Kathrina noch lange überlegt, wie man Lu wohl helfen könnte, doch es war ihr nur eine Lösung eingefallen, nämlich Georg mit ins Boot zu holen. Doch selbst, wenn durch einen Zufall die Namen der Adoptiveltern bekannt würden, konnte man daraus kein Recht ableiten, sie zu bitten, das Kind herauszugeben. Das Baby von damals war in einer anderen Familie groß geworden, die es bestimmt liebte. Und vielleicht wusste das Mädchen noch nicht einmal, dass seine Adoptivmutter nicht die leibliche Mutter war, die es sicher aber genauso liebte wie ein eigenes Kind.
»Ich möchte mein Kind nur ein einziges Mal sehen und wissen, ob es ihm gut geht, mehr nicht«, hatte Lu gestern Abend mehrfach beteuert. Aber Kathrina glaubte natürlich nicht daran, dass sie sich damit zufriedengeben würde. Die Sache war wirklich kompliziert. Unter Umständen würde sie ihrem Kind einen nicht wiedergutzumachenden Schaden zufügen, wenn sie ihm die Wahrheit sagte. Oder die Tochter lehnte Lu wegen ihres damaligen Fehlers total ab.
»Aha, du bist hier«, sagte ihre Schwester, die in diesem Moment völlig angekleidet hinter ihr auftauchte. Als sie nun den rot gefärbten Himmel bemerkte, wandte sie sich entzückt an Kathrina:
»Schau mal, das Christkind backt!« Sie deutete begeistert zum Horizont.
»Ja, das hat Vater früher immer zu uns Kindern gesagt, wenn wir das Morgen- oder Abendrot in der Adventszeit bestaunten.« Kathrina zog sich den Bademantel enger um ihren Körper, denn der frische Wind strich um das Haus und ließ sie frösteln.
»Und wenn wir mit Mutter zusammen Plätzchen gebacken hatten, stellte sie abends eine große gefüllte Dose auf die Fensterbank, damit die Engelchen sie abholen sollten. Weißt du noch, was sie uns dazu erzählt hat? Die im Himmel bräuchten unbedingt um die Weihnachtszeit Hilfe von uns Menschen, weil sie ihre Arbeit unmöglich allein bewältigen könnten. Schließlich wollten alle Kinder auf dieser Erde zu Weihnachten bunte Plätzchen auf ihren Tellern haben. Wir haben große Augen bekommen und ihr jedes Wort geglaubt, weil es in unseren Kinderohren irgendwie logisch klang. Weißt du noch?«
»Natürlich.«
Die beiden Schwestern fassten sich bei den Händen und versanken für ein paar Minuten in Kindheitserinnerungen.
»So, jetzt mache ich uns schnell einen schönen starken Kaffee und …«, begann Kathrina, wurde aber von ihrer Schwester unterbrochen:
»Warte noch ein bisschen damit, Kati. Ich setze mich auf mein Fahrrad, das in der Garage steht, und fahre zum Bäcker, um uns frische Brötchen zu holen. Bestimmt hat er auch Butter und Sanddornmarmelade und sogar ein paar Eier zum Frühstück.« Lu wartete die Antwort ihrer Schwester gar nicht erst ab, sondern eilte zur Garage, holte ihr Rad heraus und fuhr winkend davon.
Wahrscheinlich geht es ihr nach einer gut durchgeschlafenen Nacht tatsächlich endlich mal wieder besser, überlegte Kathrina. Rasch zog sie sich nun zurück ins Haus, deckte den Tisch in der gemütlichen Wohnküche mit den Spitzengardinen vor den kleinen Fenstern und den bunten Kissen auf der Eckbank. Danach füllte sie Kaffeemehl in den Filter und stellte die Kaffeemaschine an. Erst danach ging sie ins Bad.
Das Wasser aus der Dusche fühlte sich hier auf Borkum viel weicher an als das Leitungswasser zu Hause. Auf der Fliesenablage unter den Spiegeln standen verschiedene Dosen und Fläschchen, die Lu hier im Bad verteilt hatte. Kathrina probierte Duschgel und Körperlotion aus und war zufrieden. Als sie im Bad fertig war, schlüpfte sie in dunkelblaue Jeans und einen kamelhaarfarbenen Wollpullover mit Rollkragen. Und schon kam Lu klingelnd um die Hausecke zurück. Mein Gott, sie ist ja heute wirklich gut drauf, freute sich Kathrina und goss den heißen Kaffee in die weißen Tassen.
Auch beim Frühstück schwelgten die Schwestern weiter in Kindheitserinnerungen, während sie sich die knusprigen Brötchen mit Butter und Sanddornmarmelade schmecken ließen, die Lu gekauft hatte.
»Bist du mal wieder bei einem unserer Klassentreffen gewesen?«, erkundigte sich Lu nun, während sie sich reichlich Sanddornmarmelade auf ihr Brötchen strich.
»Nein, davon hätte ich dir doch berichtet. Außerdem hättest du garantiert auch eine Einladung bekommen. Aber etwas Neues weiß ich noch von daheim zu berichten, wenn auch nicht gerade etwas Erfreuliches: Dein alter Verehrer, der Sohn unseres Apothekers, der die Klassenfeten immer organisierte, ist verunglückt.«
»Wolf?«
»Ja, Wolf, und zwar ist er mit seinem schnellen Sportwagen bei regennasser Straße aus der Kurve geschleudert worden.«
»Und liegt nun verletzt im Krankenhaus. Wer so rast, hat nichts Besseres verdient«, behauptete Lu mitleidlos.
»Nein, er ist tot«, sagte Kathrina. Und beobachtete verwundert die Veränderung, die plötzlich bei ihrer Schwester eintrat. Lu war nicht nur kreidebleich geworden, sondern zitterte am ganzen Körper, als hätte sie Schüttelfrost. Dann fing sie plötzlich an zu schluchzen.
Die nächsten Worte sprach Kathrina unbedacht aus: »Freu dich, dass du ihn nicht geheiratet hast, sonst wärst du jetzt schon Witwe.« Lus Tränen flossen stärker.
»Wer wäre denn deiner Meinung nach der bessere Mann für mich gewesen?«, fragte sie erstickt und angelte nach einem Taschentuch.
»Georg. Ihr beide passt einfach wunderbar zusammen.«
Lu schniefte. »Du große Menschenversteherin, was weißt du denn schon. Du hast ja überhaupt keine Ahnung, was Wolf für mich bedeutet hat!« Sie erhob sich abrupt, und ein paar Sekunden später hörte Kathrina, wie die Haustür mit voller Wucht ins Schloss fiel.
Was habe ich denn jetzt bloß schon wieder falsch gemacht, dachte Kathrina genervt. Sie konnte beim besten Willen keinen Fehler in ihrem Tun entdecken. Gut, die Bemerkung mit der Witwe eben war etwas taktlos gewesen. Aber schließlich war Wolf doch wirklich nur einer von Lus vielen Verehrern gewesen. Warum brach sie bei der Nachricht seines Todes dermaßen zusammen? Lus Nerven mussten momentan wirklich sehr blank liegen.
Kathrina schob die Kaffeetasse zur Seite, räumte den Tisch ab und spülte das Geschirr, obwohl es in der Küche auch eine Spülmaschine gab. Doch sie hatte das dringende Gefühl, sich unbedingt beschäftigen zu müssen, um sich von ihren Grübeleien etwas abzulenken. Und dann kam ihr plötzlich ein fast unheimlicher Gedanke: Sollte es zwischen Wolf und ihrer Schwester doch eine engere Beziehung gegeben haben? Sollte Wolf…?!
*
Eine halbe Stunde später stand Lu plötzlich wieder in der Tür. Sie ging auf Kathrina zu, die am Tisch saß und in der gestrigen Insel-Zeitung blätterte.
»Liebste Kati, entschuldige mein unmögliches, in deinen Augen wahrscheinlich sogar kindisches Benehmen von vorhin. Du konntest ja nicht wissen, wie sehr mich die Nachricht von Wolfs Tod getroffen hat. Er… Nun … ich habe dich damals angelogen, als du mich nach dem Vater meiner Tochter fragtest. Es war keine Urlaubsliebe, es war Wolf.«
Obwohl Kathrina bereits etwas Derartiges geahnt hatte, war sie geschockt: »Aber zu der Zeit war er doch schon mit seiner Claudia verheiratet, dieser Apothekerin aus Dortmund.«
»Natürlich weiß ich das, und ich bin nicht gerade stolz auf unseren Fehltritt. Er hat mir dies auch ein paar Tage später zu verstehen gegeben, wollte aber unsere Beziehung gern heimlich fortsetzen. Eine Scheidung, und das nach relativ kurzer Zeit, passte nämlich nicht in das bürgerliche Verständnis dieser ach so ehrenwerten Apothekerfamilie. Natürlich war ich nicht damit einverstanden und habe ihm das auch in aller Deutlichkeit gesagt. Als ich ein paar Wochen danach wusste, dass ich schwanger war, habe ich ihn endgültig aus meinem Gedächtnis gestrichen. Mein Gott, habe ich ihn damals gehasst. Er hat nie erfahren, dass er Vater geworden war.«
»Mein Gott«, stöhnte Kathrina. »Wenn ich das gewusst hätte, Schwesterherz!«
»Es war dummer Stolz von mir, dir nie die Wahrheit zu erzählen. Aber als ich eben von Wolfs Tod erfuhr, brach etwas in mir zusammen…«
In diesem Moment klingelte es an der Haustür. Als die beiden Frauen nicht gleich öffneten, wurde ein Schlüssel ins Schloss gesteckt, und gleich darauf stand Georg in der Tür.
*
»Die Sternenprinzessin überstrahlte mit ihrem Glanz immer noch alle anderen Sternlein am Himmel und glitzerte und funkelte jeden Abend in Vorfreude, ihren geliebten Prinzen wiederzusehen. Doch der ließ sich einfach nicht mehr blicken. Endlich, nach vielen Wochen, erstrahlte sein weißes Schloss wieder hell erleuchtet. Der schöne Prinz war anscheinend von einer Reise zurückgekehrt. Jedermann wusste, dass sein Vater von ihm verlangte, bald zu heiraten. Doch der Prinz hatte sich bislang geweigert. Alle wunderten sich darüber, doch niemand durfte von seiner Liebe zu der fernen Sternenprinzessin wissen. Nun trat er mit seinem Minister in den Park hinaus.«
Anne Blum, die die verbindenden Texte in Nicks Theaterstück sprach, nickte Pünktchen zu, die die Rolle des Prinzen spielte.
Und das Mädchen begann: »Herr Minister, seht Ihr da oben den leuchtenden Stern? Er ist mir schon lange aufgefallen. Sein Licht ist so hell, dass er alle anderen mit seinem Glanz überstrahlt, aber gleichzeitig ist sein Schein auch so lieblich und sanft, wie ich mir meine zukünftige Frau vorstelle.«
Jetzt war wieder Anne an der Reihe: »Die Sternenprinzessin oben am Himmelszelt begann vor Glück und Stolz noch ein wenig mehr zu funkeln und nahm sich vor, den Mond unverzüglich zu bitten, er möge sie zur Erde reisen lassen. Obgleich sie ganz genau wusste, dass kein Stern, der einmal den Weg zur Erde angetreten hatte, jemals wieder zum Himmel hinaufgelangen konnte.«
Anne Blum nickte Emily und Paul, dem Mond, aufmunternd zu: »So, jetzt seid ihr dran. Ich hoffe, ihr habt den Text gut auswendig gelernt?« Die Kinder nickten.
»Lieber guter Mond, ich möchte so gern auf die Erde zu den Menschen. Es gibt dort wunderschöne Blumen, grüne Bäume und Büsche, große Meere, auf denen Schiffe fahren, tiefblaue Seen, hohe Berge, Flüsse und Bäche und viele schöne Menschen, die in Häusern leben.«
»Und es gibt dort auch ein prächtiges Schloss, in dem ein Prinz lebt, der eine schmucke Uniform mit vielen Orden trägt und heute Abend wieder einmal nach dir Ausschau gehalten hat. Glaubst du, ich hätte das nicht bemerkt?«, polterte der Mond ungehalten los.
Die Sternenprinzessin schwieg betroffen. Sie hatte nicht angenommen, dass der Mond etwas von ihrer Schwärmerei mitbekommen hätte. Jetzt räusperte sich der Mond und sah seine Sternenprinzessin bittend an:
»Ich weiß, dass du dich in ihn verliebt hast. Doch was sollen all die anderen Sterne und auch ich ohne unsere Prinzessin anfangen? Es würde uns der schönste Stern von allen fehlen, wenn du uns verlässt. Nein, schlag dir diese Gedanken aus dem Kopf«, verlangte der Mond energisch.
»Paul, könntest du dich bemühen, ein wenig tiefer zu sprechen?«, fragte Anne ihren jungen Schauspieler.
»Tiefer kann ich nicht«, erwiderte Paul lakonisch. »Und außerdem, wie soll ich mich ohne Kostüm als Mond fühlen, in Jeans und Rollkragenpullover? Das geht irgendwie nicht«, mäkelte der Junge.
»Doch, Paul, das schaffst du schon! Ihr alle bekommt euer Bühnenkostüm so schnell wie möglich. So lange müsst ihr einfach improvisieren, das könnt ihr bestimmt, wenn ihr eure Fantasie einschaltet«, mischte sich Nick jetzt in das Gespräch ein.
»Alle mal herhören!«, rief er nun und sprang auf die Bühne, damit ihn alle sehen konnten. »Leute, ihr spielt nicht nur für die Zuschauer, auch nicht für meine Mutter, Anne und mich, sondern an erster Stelle für euch selbst. Als ich gestern in Maibach war, habe ich mir eine neue Videokamera gekauft, um unsere gemeinsam erarbeitete Aufführung zu filmen. Den fertigen Film kann sich jeder anschauen, später kommt er ins Archiv. Solltet ihr im späteren Leben, wenn ihr längst groß seid und im Beruf hoffentlich erfolgreich, einmal hierher zu Besuch kommen, dann habt ihr die Gelegenheit, euch den Film wieder anzusehen. Oder ihr nehmt gleich eine DVD mit und könnt sie euren neuen Familien als Erinnerung an die Zeit in Sophienlust zeigen.«
»Oh, das ist aber toll«, riefen einige der Kinder durcheinander und klatschten begeistert in die Hände.
Emily knuffte währenddessen Paul in die Seite. »Nun stell dich doch nicht so an. Denk einfach, du hättest so ein Michelin-Männchen-Anzug an und wärst doppelt so breit. Und ganz hell. Dann geht das schon.«.
Nick und Anne, die die Szene beobachtet hatten, konnten sich ein Lächeln nicht verkneifen. Die Kinder waren wirklich mit Feuereifer bei der Sache. Und tatsächlich klappte der Rest der Probe tadellos.
»Als klar wurde, dass die Sternenprinzessin aus Gram erlöschen würde, weil sie den Liebsten nie in ihre Arme schließen konnte, ließ sich der Mond endlich erweichen«, begann Anne erneut.
»Ich kann mir deinen Kummer nicht länger mit ansehen. Putz dich, mach dich fertig für die Fahrt zur Erde!«, brummte der Mond.
»Da hättet ihr die Sternenprinzessin einmal sehen sollen, sie strahlte und glitzerte, und aller Kummer war vergessen. Sogar der Prinz musste seine Augen vor dem Glanz schützen, so geblendet war er, als er zu dieser Stunde zum Himmel aufsah und seinen wunderschönen Lieblingsstern strahlender denn je dort entdeckte. Im nächsten Augenblick sah er, wie eine Sternschnuppe direkt auf ihn zugeflogen kam. Wenn man eine Sternschnuppe sieht, kann man sich etwas wünschen, und dieser Wunsch geht in Erfüllung, erzählt der Volksmund. Im selben Augenblick, als er seinen Wunsch in den Himmel schickte, stand sie auch schon vor ihm: Die schönste Frau, die ihm jemals begegnet war. Ihr Kleid war aus Goldfäden gesponnen und ihre Haut so weiß und rein wie die Farbe der Lilien. Ihr Mund war schöner als die schönste Rose in seinem Garten. Der Prinz nahm allen Mut zusammen und sprach die schöne Unbekannte an.«
Anne, die wieder den Zwischentext gelesen hatte, nickte Pünktchen aufmunternd zu.
»Verehrte Prinzessin, wer seid Ihr, aus welchem Land kommt Ihr?«, begann diese und fuhr fort: »Ich habe Eure Ankunft gar nicht bemerkt und bitte vielmals um Entschuldigung, sonst hätte ich Euch doch gebührend willkommen geheißen.« Sie verbeugte sich tief.
Die Sternenprinzessin lachte: »Mein Prinz, erinnert Ihr Euch denn nicht mehr an Euren Wunsch? Ich komme direkt vom Himmel, denn ich habe mich genauso in Euch verliebt wie Ihr Euch in mich. Mithilfe des guten Mondes reiste ich hierher. Hier bin ich also, wollt Ihr mich nicht umarmen?«
Der Prinz umarmte seine bezaubernde Prinzessin. »Wollt Ihr mich heiraten?«, fragte er, und sie sagte strahlend:
»Ja«. Emily, in der Rolle der Sternenprinzessin, schien tatsächlich zu strahlen und zu leuchten. Sie ging ganz in ihrer Rolle auf.
Anne begann nun das Ende des Märchens vorzulesen:
»Drinnen im Schloss spielten die Geigen zum Tanz auf, als das bezaubernde Paar im Saal erschien. Die geladenen Gäste applaudierten und begrüßten das zukünftige Herrscherpaar. Denn sie wussten, der alte König war des Regierens müde und wartete schon lange darauf, seine Krone an seinen Sohn weitergeben zu können. Nun erhob sich der alte Herrscher von seinem Thron und begrüßte die schöne Auserwählte seines Sohnes herzlich, umarmte sie und gab dem Paar seinen Segen. Der Prinz und die Sternenprinzessin aber erzählten keinem Menschen von dem Wunder ihrer Liebe und verwahrten das Geheimnis in ihren Herzen. Und manchmal, wenn sie in den Vollmondnächten verliebt im Park spazieren gingen, war es ihnen, als lächele ihnen der gute alte Mond vertraut zu.«
Einen Augenblick lang herrschte Stille in dem großen Aufenthaltsraum, in dem die Probe stattfand, dann brach Beifall bei allen Mitwirkenden los. So begeistert waren sie von ihrem eigenen Spiel und dem schönen Märchen, das sie heute zum ersten Mal zu Ende erzählt bekommen hatten.
»Kinder, ihr wart großartig. Ich bin richtig stolz auf euch«, sagte Nick begeistert und schüttelte seinen Hauptdarstellern und den Sternenkindern, die ihren Tanz so leichtfüßig und anmutig absolviert hatten, die Hände.
»Es wäre noch viel schöner gewesen, wenn du die Rolle des Prinzen übernommen hättest, Nick«, wandte sich Emily leise an ihn. Pünktchen, die das gehört hatte, rollte die Augen. Eigentlich wusste doch jeder in Sophienlust, dass Nick zu ihr gehörte. Er war ihr Held, und sie liebte ihn, seit er für sie dagewesen war, als sie ihre Eltern bei einem Zirkusbrand verlor. Und auch Nick spürte eine innige Verbundenheit, die er aber nicht in Wort zu fassen vermocht hätte.
Diese Geschichte der beiden war allerdings auch Anne Blum noch unbekannt. Sie hatte aber Emilys Worte ebenfalls gehört und dachte bei sich, dass das Mädchen wohl dabei war, die Kinderschuhe abzustreifen.
Der Lärmpegel um sie herum war noch immer sehr groß, verstummte aber sofort, als Denise plötzlich im Türrahmen stand. Nicks Mutter hatte eine große Dose mit vorweihnachtlichem Gebäck mitgebracht. Das verteilte sie jetzt an alle kleinen Akteure, die Lust darauf hatten.
»Nick, wäre es möglich, wenn du meiner Mutter auch eine Einladung zur Aufführung zusenden würdest, und auch meinem Freund Dirk? Mein Vater ist leider verhindert«, fragte Anne den jungen Mann in einer ruhigen Minute und sah ihn bittend an.
»Selbstverständlich«, antwortete Nick. »Ich freue mich schon, die beiden kennenzulernen.«
»Ganz ehrlich: Mir wird Sophienlust fehlen, wenn ich mein Studium beginne und von hier Abschied nehmen muss«, sagte sie. »Alle sind hier so unglaublich lieb miteinander.«
Nick lächelte. »Mir wirst du auch fehlen, Anne. Ich hoffe, dass du uns in den Semesterferien ab und zu besuchen kommst, damit wir unsere Studienerfahrungen miteinander austauschen können.«
»Darauf kannst du dich verlassen, Nick. Wir bleiben in Kontakt, das haben wir doch schon besprochen.«
»Es schneit!«, rief plötzlich eines der Kinder begeistert und zeigte durch die großen hohen Fenster nach draußen. Tatsächlich, kleine weiße Flocken fielen vom Himmel herab.
»Dürfen wir gleich in den Park und einen Schneemann bauen?«, fragte Hannah, das Sternchen mit den roten Haaren, das sich heute so viel Mühe mit seinen etwas ungelenken Beinen beim Tanz gegeben hatte.
»Kinder, warten wir erst einmal ab, ob die kleinen Flöckchen überhaupt liegen bleiben, wonach es im Moment noch nicht aussieht«, beruhigte Nick die Kinder, die am liebsten alle sofort hinausgelaufen wären. Leider sollte er recht behalten, denn gerade als eine ganz dünne Schneeschicht die Zweige und die Erde bedeckte, hörte der ganze Zauber auch schon wieder auf. Der liegen gebliebene Schnee aber reichte weder zum Schlittenfahren noch zum Schneemannbauen aus.
*
»Kati, ich danke dir, dass du mich nicht an Georg verraten hast, als er uns so plötzlich auf Borkum überfiel«, sagte Lu am Flughafen in Hamburg noch einmal zu ihrer Schwester und umarmte sie.
»Liebste Lu, dabei bin ich nach wie vor der Meinung, du hättest die Gelegenheit nutzen sollen, um ihm endlich die Wahrheit zu sagen. Das war genau der richtige Moment dafür. Georg ist so liebevoll um dich besorgt, er würde dir garantiert helfen, deine Depressionen loszuwerden«, erwiderte Kathrina noch immer mit leichtem Bedauern in der Stimme.
»Ich habe keine Depressionen, ich bin nur ein wenig überarbeitet. Außerdem hat mich die Nachricht von Wolfs Tod so aufgewühlt, dass ich kein Wort über meine Tochter herausgebracht hätte.« Die Worte ihrer Schwester klangen bitter, und es tat Kathrina leid, das Thema überhaupt noch einmal angeschnitten zu haben. Sie nickte mitfühlend.
»Dass du auch immer wieder herauskehren musst, dass du die Ältere und Vernünftigere von uns beiden bist«, sagte Lu und hatte inzwischen ihr Lächeln wiedergefunden. »Um auf Georg zurückzukommen: Ich finde, es war eine Schnapsidee von ihm, zusammen mit seinem Golffreund in dessen Maschine nach Borkum zu fliegen, nur weil dieser sich dort ein Grundstück zum Kauf ansehen wollte…«
»…und er dir kurz hallo sagen wollte«, vollendete Kathrina. »Nein, ich fand, es war eine tolle Idee von Georg. Und dann diese wundervollen Blumen, die er dir mitgebracht hat, so einen Strauß bekomme ich von meinem Mann nicht einmal zum Geburtstag.«
»Ja, das war ganz süß von ihm«, pflichtete ihr eine nachdenkliche Lu bei.
In diesem Moment wurde Kathrinas Flug nach Stuttgart aufgerufen und auf einer Tafel angezeigt. Es entstand Bewegung in der Menschenmenge, die sich zum Schalter drängte.
»Zum Glück dauert dein Flug nur etwas über eine Stunde«, sagte Lu und umarmte ihre Schwester schnell noch einmal. Dann, als Kathrina die Sperre schon passiert hatte und auf der Rolltreppe stand, rief sie ihr noch nach:
»Das war wirklich ein schöner Urlaub, Kati, und wir konnten uns endlich einmal wieder lange unterhalten. Wir sollten viel öfter gemeinsam etwas unternehmen.«
»Unbedingt«, rief Kathrina zurück, obwohl sie sich fast sicher war, dass Lu ihre Antwort nicht hören konnte. Schon ein paar Minuten später betrat sie den Flieger, verstaute ihr Handgepäck in der Ablage, die zu ihrem nummerierten Platz gehörte, und setzte sich anschließend ans Fenster. Dann nahm alles seinen üblichen Lauf. Das Gedränge auf dem Gang war vorbei, die Stewardess hatte ihre Instruktionen beendet, das Flugzeug rollte an, und dann erhob es sich in die Lüfte.
Kathrina blätterte inzwischen in dem Modemagazin, das Lu ihr noch als Fluglektüre am Bahnhofskiosk gekauft hatte. Beim Blick aus dem kleinen Fenster sah sie in diesem Moment nur graue Wolken. Kathrina legte das Blatt zu Seite und lehnte sich so bequem wie es ging in ihren Sitz zurück.
Lu hatte ihr noch auf Borkum fest versprochen, in Hamburg einen guten Psychotherapeuten aufzusuchen, um sich von ihm noch einmal beraten zu lassen.
Vom Flughafen in Stuttgart wollte Dirk Kathrina abholen, weil er sich an diesem Tag zufällig in der schwäbischen Metropole aufhielt. Und tatsächlich, Kathrina sah ihn schon von Weitem hinter der Sperre stehen. Dirk ist sehr verlässlich und eigentlich viel ernster und reifer als mancher junge Mann in seinem Alter, dachte die Frau. Anne und er waren wirklich ein perfektes Paar, und sie waren glücklich miteinander.
Nachdem sie ihren blauen Hartschalenkoffer vom Band geholt und die Kontrolle hinter sich gebracht hatte, ging sie auf den Freund ihrer Tochter zu und begrüßte ihn herzlich.
Später, als sie neben ihm auf dem Beifahrersitz seines Autos saß, erkundigte sie sich, ob er Anne schon in Sophienlust besucht hätte.
»Nein. Anne meinte, sie habe dort im Augenblick sehr viel zu tun, weil sie mitten in den Proben dieses Märchens stecke, das bald vor Publikum aufgeführt werden soll. Wir haben auch schon Einladungen dafür erhalten, die allerdings beide an deine Adresse gegangen sind.«
»Richtig, Dirk, das hat sie mir auch gemailt. Anne scheint wirklich tief in der Arbeit zu stecken. Aber Hauptsache ist doch, es macht ihr Spaß.«
»Ja, natürlich. Da hast du vollkommen recht, Kathrina. Kennst du eigentlich die Familie von Schoenecker, der Sophienlust gehört?«
»Nein, nur von Annes Erzählungen am Telefon.«
»Aha. Hat sie dir gegenüber in ihren Mails auch so oft den Namen Nick erwähnt?«, fragte der junge Mann.
»Ja. Ich denke, weil sie so eng mit ihm zusammenarbeitet. Du bist doch nicht etwa eifersüchtig?«
»Ach wo, Kathrina, wo denkst du hin«, wehrte Dirk ab, obwohl die Berichte seiner Freundin schon eine wenig schwärmerisch geklungen hatten.
»Das brauchst du auch nicht. Soviel ich weiß, ist dieser Dominik von Wellentin-Schoenecker mit Sophienlust verheiratet«, erwiderte Kathrina schmunzelnd.
»Na, dann ist ja alles gut«, erwiderte Dirk, und sein Gesicht sah in diesem Augenblick schon um einiges entspannter aus. Das Gespräch wandte sich nun Kathrinas stürmischen Urlaubstagen auf Borkum zu, die ihren ganz besonderen Reiz besessen hatten, und auch auf die Überfahrt aufs Festland kamen sie zu sprechen, bei der es einigen Mitreisenden bei dem Seegang speiübel geworden war.
In angeregtem Plaudern verging die Zeit, und schon hatten sie die Kleinstadt erreicht, in der Kathrina wohnte und aus der auch Dirk stammte.
»Wie geht es eigentlich deinem Mann, Kathrina? Hat er sich gut bei der Kur erholt?« Dirk stoppte das Auto direkt vor dem Haus.
»Ich glaube schon, nach allem, was Walter mir am Telefon Positives berichtet hat«, erwiderte sie, dann öffnete sie die Beifahrertür und stieg aus. »Danke dir, Dirk, fürs Herbringen. Das war wirklich eine große Erleichterung für mich.«
Der junge Mann stieg ebenfalls aus und holte den Koffer heraus. »Gern geschehen, Kathrina. Bitte grüß deinen Mann von mir. Ich wünsche ihm weiterhin eine gute restliche Kur.«
Zusammen hatten sie die Haustür erreicht. Kathrina schloss auf, und Dirk folgte ihr mit dem Koffer.
»Schön, wieder zu Hause zu sein«, sagte sie, zog ihren gefütterten Mantel mit der Kapuze aus und hängte ihn an die Garderobe. Dann wandte sie sich Dirk zu: »Möchtest du mir noch bei einer Tasse Tee Gesellschaft leisten?", fragte sie.
»Gern!«, lächelte der junge Mann, der seine braune Lederjacke inzwischen abgelegt hatte und auf sein Handy blickte.
»Hat Anne dir eine Nachricht geschickt?«, erkundigte sich Kathrina, stellte den Wasserkocher an und holte eine Packung Tee aus dem Küchenschrank, von der sie die richtige Menge in eine blau gemusterte Teekanne gab.
»Ja, gerade eben. Und Bilder von den Proben ihres Adventsstücks hat sie auch gleich mitgesendet. Willst du die mal sehen?«
»Gern, Dirk, zeig mal«, sagte Annes Mutter und setzte sich neben ihn auf einen Stuhl am Esszimmertisch. Interessiert sah sie auf das Display
Im nächsten Moment wurde sie blass. »Nein! Das ist doch nicht möglich!« Sie beugte sich tiefer über das Handy. Mehrere Fotos, die Dirk ihr präsentierte, zeigten Anne neben einem ungefähr zwölfjährigen Mädchen, das nicht nur ihrer Tochter, sondern auch ihrer Schwester Lu, wie sie als Kind ausgesehen hatte, verblüffend ähnelte.
»Ist dir nicht gut, Kathrina?«, erkundigte sich Dirk erschrocken.
Kathrina wollte Dirk nicht mit ihren Problemen belasten und wiegelte ab: »Es war ein anstrengender Tag heute und mir ist ein wenig flau im Magen. Entschuldige, Dirk, aber Sorgen musst du dir keine machen. Es ist schon fast wieder vorbei.
»Möchtest du vielleicht einen Kognak für den Kreislauf?«
»Nein danke, das ist nicht nötig. Ich glaube, ich habe noch eine Hühnerbrühe in der Gefriertruhe, die taue ich mir nachher in der Mikrowelle auf. Ich brauche besser etwas Solides. So – nun hat, glaube ich, der Tee lange genug gezogen, würdest du uns wohl aus der Kanne eingießen, Dirk? Ach bitte, und bring auch den Kandiszucker mit.«
Dirk war schon aufgestanden und tat wie gewünscht. Sie sprachen nun über seine Zukunftspläne und auch über die Tagespolitik. Nach einer Viertelstunde verabschiedete sich der junge Mann. An der Tür drehte er sich noch einmal um.
»Das Mädchen auf dem Handyfoto sieht Anne ein wenig ähnlich, das hast du auch bemerkt, Kathrina, nicht wahr?«
»Hm. Ja. Ein merkwürdiger Zufall«, erwiderte Annes Mutter ausweichend.
Dann war Dirk verschwunden. Die Haustür fiel hinter ihm ins Schloss. Kathrina atmete auf. In diesem Augenblick freute sie sich, endlich mit ihren Gedanken allein zu sein.
Den Koffer im Flur packe ich erst morgen aus, entschloss sie sich spontan, dann ging sie ins Bad, zog sich aus und stellte sich unter die Dusche. Der warme Wasserstrahl prasselte auf ihre Haut, und langsam entspannte sie sich.
Später, als sie in ihrem warmen Jogginganzug in der Küche saß und die heiße Hühnerbrühe löffelte, nahm sie sich vor, mit Anne über diese unglaubliche Ähnlichkeit ihres Schützlings zu reden. Sicher hatte sich ihre Tochter darüber auch schon den Kopf zerbrochen. Aber nicht mehr heute!, dachte Kathrina. War es denn möglich? Hatte das Schicksal selbst eingegriffen? Konnte dieses blonde Mädchen Lus Tochter sein?
Niemand aus ihrer Familie kannte bisher das Geheimnis ihrer Schwester. Und sie, Kathrina, musste versuchen, erst einmal so viel wie möglich über das Mädchen herauszufinden. Vor allem, ehe sie mit Lu darüber sprach. Ein Stein würde dadurch ins Rollen gebracht, der nicht mehr aufzuhalten wäre. Nicht auszudenken, wenn sie jetzt alles an die große Glocke hing, und die Ähnlichkeit stellte sich dann doch als Zufall, als eine bloße Laune der Natur heraus.
Kathrina stellte den Fernseher an, auf dem zweiten Kanal wurde ein Krimi gezeigt. Doch sie konnte sich nicht auf den Inhalt konzentrieren, weil ihre Gedanken einfach davonspazierten. Fragen über Fragen überrollten sie, die sich alle um dieses blonde Mädchen drehten, das offenbar in Sophienlust lebte.
»Ich gehe zu Bett«, sagte Kathrina irgendwann entschlossen zu sich selbst. Morgen war auch noch ein Tag, heute würde sie dieses Rätsel sowieso nicht mehr lösen. Kathrina gähnte und stellte den Apparat ab. Doch es wurde eine unruhige Nacht, in der weder warme Milch noch Schäfchenzählen sie zum Einschlafen brachten.
*
An diesem Adventssonntag, und zwar ab den frühen Nachmittagsstunden, herrschte ungewöhnlich viel Betrieb auf dem Gelände von Sophienlust. Herannahende Autos, zuklappende Türen waren genauso deutlich zu hören wie die freudigen Begrüßungswünsche einiger ankommender Gäste, die sich kannten.
Die Winterluft war klar und rein, und dieses schöne Wetter hatten einige Besucher genutzt und sich aufs Fahrrad geschwungen. Dies waren die Besitzerin der Wäscherei aus Wildmoos, drei Lehrer und sogar der etwas beleibte Krämer aus Bachenau. Die schon Angekommenen, die sich noch draußen aufhielten, zollten ihnen deswegen unverhohlene Bewunderung. Immerhin zeigte das Thermometer unter 0 Grad Celsius an.
In der großen Empfangshalle von Sophienlust empfing die Familie von Schoenecker die Gäste. Programmhefte wurden von Henrik und Martin verteilt, die nicht am großen Adventsspiel beteiligt waren. Es gab ein Gläschen Begrüßungssekt – oder Orangensaft und Wasser, wer dies eher wünschte.
Aus dem großen Aufenthaltsraum, in dem das Theaterstück stattfinden sollte, erklangen weihnachtliche Melodien, auf dem Klavier gespielt, und luden zum Mitsummen ein. Das Tannengrün aus dem nahen Wald, mit dem die Räume dekoriert waren, duftete. Dazwischen leuchteten rote, rosafarbene und leicht gelbliche Weihnachtsterne neben flackernden Kerzen. Auch ein selbst geflochtener Adventskranz, der mit roten Bändern an der Decke befestigt war, fehlte nicht. Eine Bilderbuchatmosphäre.
Kathrina Blum wirkte an diesem Tag in ihrer dunkelblauen Samtjacke und der weißen Seidenbluse, die vorn im Ausschnitt mit einer Schleife gebunden war, und den schwarzen hochhackigen Stiefeln zum engen Rock äußerst elegant. Auch ihr kinnlanger Pagenkopf war die Arbeit eines Könners, den ihre Schwester ihr extra in Stuttgart empfohlen hatte. Auch Dirk neben ihr hatte mit einem dunkelblauen Shirt zum gleichfarbenen Jackett durchaus die richtige Wahl getroffen.
Sie wurden herzlich von Denise und Alexander von Schoenecker in Empfang genommen, und Denise versicherte ihnen, wie zufrieden sie mit der Arbeit von Anne waren.
»Sicher möchten Sie Ihre Tochter sehen«, wandte sich Denise an Kathrina. »Sie ist im Aufführungsraum und spielt für uns Klavier.«
Nachdem sie noch ein paar weitere Freundlichkeiten miteinander ausgetauscht hatten und sich andere Gäste dazu drängten, hielt Kathrina Ausschau nach dem ‚Kind’, wie sie Anne oft noch in Gedanken zu nennen pflegte.
Kathrina und Dirk brauchten nur den sanften Klängen zu folgen und gelangten so zu dem großen Aufenthaltsraum, der zu einem richtigen kleinen Theater hergerichtet worden war. Tatsächlich, da saß Anne hinter einem schwarzen Flügel und stimmte mit festlichen Weisen auf die Aufführung ein. Dirk, der seine Freundin genau wie Kathrina fast vier Wochen nicht zu Gesicht bekommen hatte, freute sich sehr, sie wiederzusehen.
Neben Anne stand ein schwarzhaariger junger Mann in Jeans, weißem Hemd und dunklem Jackett, der ihr gerade etwas zuflüsterte. Ein sehr gut aussehender junger Mann, wie Dirk mit gemischten Gefühlen feststellte. Eigentlich konnte es sich nur um diesen Dominik von Wellentin-Schoenecker handeln, überlegte er.
Offensichtlich hatte der junge Mann Anne mitgeteilt, dass Besuch für sie gekommen war, denn sie hob den Kopf und winkte ihnen lächelnd zu, ohne ihr Spiel zu unterbrechen. Dann flüsterte ihr Nick wieder etwas ins Ohr, schwang sich neben sie auf die Klavierbank und übernahm die Tasten, während Anne aufstand und auf ihre beiden Lieben zueilte.
Innig umarmte sie ihre Mutter und Dirk, doch für einen längeren Plausch reichte es nicht mehr, denn sie und Nick mussten hinter die Bühne. Pech war, wie Anne Dirk rasch noch zuflüsterte, dass Wolfgang Rennert, der eigentlich für alle musikalischen Aktivitäten in Sophienlust zuständig war, krank zu Bett lag, sodass sie überraschend komplett für diese Aufgabe hatte einspringen müssen. Und nun wurden sie hinter der Bühne noch dringender gebraucht…
»Soll ich so lange den Part übernehmen? Ich glaube für die üblichen Weihnachtslieder reichen meine Kenntnisse noch«, bot Dirk seiner Freundin an.
»Das würdest du tun, Dirk?«
»Für dich selbstverständlich!«, sagte der Mann leise und folgte Anne zum Klavier.
Kathrina wählte derweil zwei freie Plätze in der Mitte der dritten Reihe aus, die nicht reserviert waren. Noch gab es etwas Auswahl, aber inzwischen drängten sich immer mehr Zuschauer in den schönen großen Raum, der fast wie ein kleiner Saal wirkte. Auch hier gab es vor der Bühne Blumenschmuck, Kerzen und Tannengrün.
Kathrina hatte sich gerade hingesetzt, da bewegte sich der Vorhang ein wenig, und ein neugieriges Augenpaar nebst ein paar blonder Locken lugten für einen Moment durch einen kleinen Spalt in den noch beleuchteten Zuschauerraum.
»Könnte das Emily gewesen sein?«, hörte Kathrina eine Frauenstimme aus der Reihe direkt hinter ihr zu ihrem Begleiter sagen.
»Meinst du? Man konnte ja kaum etwas sehen«, entgegnete eine dunkle, uninteressiert klingende Männerstimme.
Emily, welch ein schöner Name für ein Mädchen, dachte Kathrina – und spontan dachte sie an die Probenfotos, die sie auf Dirks Handy gesehen hatte. War es am Ende diese Kleine gewesen, die eben durch den Vorhangspalt geschaut hatte? Dann musste sie, Kathrina, Augen und Ohren offenhalten, ob sie vielleicht etwas über deren Familienverhältnisse herausbekam…
Während sie so ihren Gedanken nachhing, füllten sich langsam die Reihen, und sie hatte Mühe, den Platz für Dirk neben sich freizuhalten.
‚Oh du fröhliche’, klang die altbekannte Melodie vom Klavier zu ihr herüber, doch nach der ersten Strophe endete das Lied bereits. Hinter der Bühne läutete es nämlich, genau wie in einem echten Theater, einmal, zweimal und dann dreimal. Rasch erhob sich Dirk vom Flügel und zwängte sich durch die Reihe zu Anne hin. Dann verdunkelte sich auch schon der Zuschauerraum, und die Bühne wurde beleuchtet. Auch wenn alles ein wenig improvisiert wirkte, so wurden die Gäste doch von einem ganz besonderen Zauber umsponnen.
Jetzt öffnete sich der Vorhang und Anne trat ins Rampenlicht, daneben Nick, der ein paar offizielle Begrüßungsworte an seine Gäste richtete. Dann deutete er auf Anne und erläuterte, dass seine Assistentin die begleitenden Texte in diesem Märchen vortragen würde und die Tänze der Sternenkinder einstudiert hätte. Zum Schluss bat er um Aufmerksamkeit für die Kinder von Sophienlust, die mit so viel Herzblut und Begeisterung das Stück ›Die Sternenprinzessin‹ nun spielen würden. Mit diesen Worten zog sich Nick unter dem freundlichen Beifall des Publikums zurück, und das Spiel begann.
In der ersten Szene hockten bezaubernd anzusehende kleine Sternenkinder im Kreis um ihre Prinzessin. Auf dem Bühnenhintergrund aus blauem Papier, das den Himmel symbolisieren sollte, waren goldene Sterne aufgemalt.
Auch ein dicker weißer Mond – Paul in seinem neuen Kostüm, das ihn wirklich fast so breit wie hoch wirken ließ – war zu entdecken. Leise Sphärenmusik lief im Hintergrund.
Kathrina hatte sich in ihren Stuhl ein wenig zurückgelehnt und lauschte den Klängen und dem Text, den Dominik selbst verfasst hatte, wie sie von ihrer Tochter wusste.
Auch die anderen Zuschauer lauschen andächtig dem Geschehen und spendeten schon am Ende des ersten Aktes den kleinen Akteuren großen Beifall.
Was für eine bezaubernde Sternenprinzessin, musste Kathrina immer wieder denken, die vom Spiel der zarten Emily einfach begeistert war. Und dann diese Ähnlichkeit mit Anne und auch mit Lu, als wären sie alle drei Geschwister! Das konnte kein Zufall sein! Warum ein paar Tränen in diesem Moment über Kathrinas Wangen liefen, das ahnte natürlich niemand.
Am Ende des Märchens, als die Fahrt der Sternenprinzessin zur Erde erfolgt war und der Prinz sie seinem Vater als seine Braut vorgestellt hatte, klatschten alle Zuschauer frenetischen Beifall, der lange anhielt. Die vom Spiel erhitzten Kindergesichter strahlten vor Glück. Immer wieder mussten sich alle Akteure verbeugen und den Dank des Publikums in Empfang nehmen.
Vergessen waren die kleinen Pannen, die winzigen Verhaspelungen und auch, dass beim Sternentanz eines der Kinder, ein hübsches rothaariges Mädchen, vor lauter Begeisterung gestolpert und hingefallen war. Jedoch war sie mutig wiederaufgestanden und hatte so selbstverständlich weitergetanzt, als gehörte diese kleine Soloeinlage zum Spielablauf.
Natürlich wurden Nick, der Autor, und Anne, seine Regieassistentin, die ja auch für den Sternentanz verantwortlich zeichnete, mit begeistertem Beifall und Bravorufen bedacht. Dann ergriff Denise von Schoenecker das Wort und dankte allen Mitwirkenden im Namen des Publikums für diese große Freude.
Später, nach dem Verlassen des kleinen Theaters, fand man sich an den weiß gedeckten Stehtischen im Flur zusammen, inmitten eines größeren Geräuschpegels. Es wurden Kaffee und Weihnachtsplätzchen gereicht, die natürlich alle aus Magdas Küche stammten. Außerdem kleine Brotdreiecke, mit Käse und gekochtem Schinken belegt, für diejenigen unter den Gästen, denen der Sinn nach Herzhaftem stand.
»Sag mal, wie heißt die schöne Sternenprinzessin mit der Engelsstimme eigentlich im wirklichen Leben?«, fragte Kathrina ihre Tochter, als diese endlich, glücklich über den beachtlichen Erfolg, neben ihr stand und nun auch etwas Zeit für ihre Mutter und Dirk hatte.
»Du meinst unsere Emily Mertens?«
»Aha. Ich hätte doch vorher mein Programm durchlesen sollen, dann wäre ich informierter gewesen«, erwiderte ihre Mutter.
»Was wolltest du mir bezüglich Emilys sagen? Nun sprich es doch schon aus, was du wahrscheinlich schon die ganze Zeit über sagen willst. Ja, Emily hat eine verblüffende Ähnlichkeit mit mir, das ist mir natürlich auch schon aufgefallen. Und nicht nur mit mir, sondern auch mit Tante Lu, wie du sicher schon selbst festgestellt hast. Mich hat das bei unserer ersten Begegnung fast umgehauen. Der Kleinen geht es übrigens ähnlich. Manchmal fühle ich mich heimlich von Emily beobachtet, als wollte sie ergründen, wie so ein Phänomen entstehen kann, wo wir doch nicht mal miteinander verwandt sind.«
»Ja, das ist wirklich merkwürdig«, erwiderte Kathrina leise und hoffte, man würde ihr die Verwirrung nicht zu stark anmerken.
»Anne, ist das deine Mutter?«, fragte in diesem Augenblick die blondlockige Hauptdarstellerin mit neugierigen Augen und trat an den Stehtisch heran.
»Ja, Emily, und neben ihr steht mein Freund Dirk. Möchtest du uns guten Tag sagen, das ist aber lieb von dir! Meiner Mutter hat unser Stück sehr gut gefallen, und dich hat sie ganz besonders gelobt, weil du den meisten Text zu sprechen hattest und das fehlerfrei geschafft hast. Und nicht nur das, sondern auch dein Spiel hat sie begeistert.«
»Danke, Frau Blum«, sagte Emily artig und fuhr dann fort: »Du, Anne, deine Mutter sieht dir aber gar nicht so sehr ähnlich.« Es klang enttäuscht.
»Das stimmt. Allerdings hat meine Mutter eine Zwillingsschwester, und wenn du die siehst, dann würdest du staunen.«
»So?« Die blauen Augen der schönen Sternenprinzessin, die ihr himmlisches Goldgewand noch nicht abgelegt hatte, waren riesengroß geworden.
»Ist sie denn nicht hier, diese Schwester?«, erkundigte sich das Mädchen und wirkte auf einmal seltsam angespannt.
Doch noch ehe Anne ihr eine Antwort darauf geben konnte, hörte man die ungeduldige Stimme einer Frau aus der Nähe, die Emily zu sich rief und sie schalt, dass sie an diesem Abend noch gar nicht von ihr begrüßt worden sei. Eine Männerstimme sprach dabei von großer Undankbarkeit und davon, dass man sich die weite Reise hierher auch gleich hätte sparen können.
Doch Emily rührte sich nicht vom Fleck, sie schien die Worte ihrer Angehörigen gar nicht wahrgenommen zu haben.
»Wohnt sie nicht hier in der Nähe?«, fragte das Mädchen nachdrücklich.
»Wer?«, wunderte sich Anne.
»Na, die Schwester deiner Mutter.«
»Nein, Lu lebt in Hamburg«, mischte sich nun Kathrina in das Gespräch ein.
»Und was macht sie da?«
»Meine Zwillingsschwester besitzt mehrere Kosmetiksalons.«
»Schön«, sagte Emily, als würde ihr das gefallen. »Hat diese Frau auch einen Mann und Kinder?«, wollte sie noch wissen.
»Keine Kinder, aber einen Mann«, beantwortete Anne die seltsame Frage des Mädchens.
»Ich glaube, Emily, du solltest jetzt zuerst einmal zu deinen Eltern gehen. Wenn du möchtest, darfst du gern nachher noch einmal zu uns zurückkommen«, ermahnte Kathrina das Mädchen mütterlich.
Emily warf einen völlig gleichgültigen Blick über die Schulter auf ihre Angehörigen, die in einiger Entfernung standen und zu ihr hinsahen. »Sie sind nicht so wichtig«, sagte sie. »Es ist nur meine Adoptivmutter mit ihrem neuen Mann. Ich mag ihn nicht, und er mag mich nicht, und sie hat mich jahrelang belogen und mich glauben lassen, sie hätte mich geboren. Aber ich habe eine andere leibliche Mutter, wie jeder Mensch sie hat. Auch wenn ich ihren Namen nicht kenne und ihn mir keiner sagen will. Eines Tages werde ich sie finden, das spüre ich ganz genau, wenn ich nur lange genug nach ihr suche. Sie vermisst mich auch, das weiß ich.« Nach dieser flammenden Rede, drehte sich Emily um und ging auf die Frau im Hintergrund zu. Man sah, dass sie sich nur höchst widerwillig von ihr umarmen ließ.
Kathrina lief eine Gänsehaut über Rücken und Arme, und es war ihr eiskalt in dem warmen Samtblazer.
»Was war das denn?«, erkundigte sich auch Dirk, der das Gespräch aufmerksam verfolgt hatte.
»Ich weiß es nicht, oder du, Mama?«, antwortete eine fassungslos wirkende Anne.
»Unsere Sternenprinzessin ist ein wenig verstört, seitdem sie vor ein paar Jahren durch Zufall erfuhr, dass sie adoptiert wurde.« Nick schaltete sich in das Gespräch ein, das er im Vorübergehen unfreiwillig mitbekommen hatte.
Kathrina dagegen sagte kein Wort, ein Abgrund schien sich vor ihr aufzutun. Schließlich war sie die Einzige hier, die eine Verbindung zwischen Emily und ihrer Zwillingsschwester Lu herstellen konnte. Jetzt galt es nur noch, dies auch zu beweisen, aber dabei musste sie sehr behutsam vorgehen, damit kein Porzellan zerschlagen wurde, sollte sich ihre Vermutung vielleicht doch als Irrtum herausstellen.
Die Worte Nicks, der sich nun wieder auf seine Pflichten den anderen Gästen gegenüber besann und sich verabschiedete, lenkten sie für einen Moment ab.
»Er ist ganz nett, dein Nick von Wellentin-Schoenecker«, hörte sie Dirk zu Anne sagen.
»Es ist nicht mein Nick«, erwiderte Anne sichtlich verärgert über die offensichtlich eifersüchtige Bemerkung ihres Freundes. »Er ist nett, ja, und ich mag ihn als guten Freund. Aber mehr ist da nicht und wird auch nicht sein. So, und nun lasst uns gehen. Seht ihr, die anderen Gäste brechen auch auf. Wir müssen hier ja noch aufräumen, morgen ist wieder ein ganz normaler Tag.«
Draußen war es noch kälter geworden. An den Autoscheiben hatte sich Raureif gebildet. Dirk hatte zum Glück Enteiser dabei und machte sich sofort ans Einsprühen.
»Ich hoffe, dass ihr unterwegs keine glatten Straßen bekommt«, sagte Anne besorgt, die in ihrem schwarzen Kleid, über das sie nur einen roten Schal gelegt hatte, ganz offensichtlich fror.
Gerade als Kathrina und Dirk nach einer letzten Umarmung mit Anne ins Auto steigen wollten, kam Emily mit wehenden blonden Haaren keuchend angerannt.
»Könnten Sie mir von Ihrer Zwillingsschwester bitte ein Foto senden, Frau Blum? Bitte, bitte!«, bettelte sie.
»Das macht meine Mutter bestimmt gern. Nicht wahr, Mama?«
Kathrina nickte stumm.
»Und jetzt komm mit mir, Emily, sonst holen wir beide uns hier draußen noch den Tod, so dünn wie wir angezogen sind. Und verrenn dich bitte nicht in unsinnige Überlegungen. Meine Tante Lu hat keine Kinder«, mahnte Anne.
»Ist das wahr, Frau Blum?«, wandte sich das Mädchen enttäuscht an Kathrina.
Einen Augenblick lang zögerte die Frau mit der Antwort. Sie konnte doch unmöglich hier und jetzt die Wahrheit sagen. Die Wahrheit, die nicht einmal Anne kannte…
»Nein, Emily«, antwortete sie schließlich, doch es war ihr ganz und gar nicht wohl dabei. Schnell nahm sie den Platz neben Dirk ein.
Anne hatte Emily inzwischen an die Hand gefasst, und beide liefen so schnell sie konnten die Freitreppe hinauf ins Haus zurück.
Ich hätte dieses entzückende Kind, das sich so verzweifelt an mich gewandt hat, am liebsten tröstend in die Arme genommen und ihr über das Haar gestrichen, dachte Kathrina. Aber was hätte sie Emily sagen sollen? Dass sie alles versuchen wollte, um Klarheit in diese Geschichte zu bringen, die nicht einmal sie durchschaute? Bisher wusste ja nicht einmal ihre eigene Tochter über ihre Vermutungen Bescheid, und so sollte es vorerst auch bleiben.
Zunächst müsste sie einmal überlegen, wie sie ein unverfängliches Gespräch mit Lu über dieses Thema anfing. Der einzige Hinweis, den sie bisher überhaupt hatte, war der Name jener Frau, die Emily als ihre Adoptivmutter bezeichnet hatte. Mertens hieß sie, das hatte Anne erwähnt, und mit Vornamen Doris, das hatte nämlich ihr Begleiter zu ihr gesagt.
Ich muss versuchen, diese Frau ausfindig zu machen, grübelte Kathrina. Andererseits – was sollte Frau Mertens ihr sagen können? Adoptiveltern wurden im Allgemeinen von den Behörden nicht darüber informiert, wer die leiblichen Eltern ihres Kindes waren. Wie nur sollte sie vorgehen? Ihr Herz klopfte vor Aufregung.
»Geht es dir nicht gut, Kathrina?«, fragte Dirk besorgt.
»Wieso?«, erkundigte sie sich und schreckte aus ihren Gedanken auf.
»Weil ich dich schon zweimal gefragt habe, ob ich dir irgendwie bei den Vorbereitungen zu deiner Silberhochzeit helfen kann«, antwortete Dirk und schien tatsächlich beunruhigt.
»Das muss ich wirklich überhört haben. Entschuldige, ich habe plötzlich Migräne bekommen. Mein Kopf schmerzt seit geraumer Zeit so stark, als würde er jeden Augenblick platzen.«
»Hast du keine Tabletten dabei?«
Kathrina verneinte, sie hätte sie leider zu Hause gelassen.
»Im Handschuhfach liegt ein Fläschchen mit Pfefferminzöl, oft hilft es bei normalen Kopfschmerzen, wenn man sich mit ein paar Tropfen die Schläfen einreibt«, schlug Dirk der Mutter seiner Freundin vor.
»Der Versuch kann ja nicht schaden«, meinte sie. Und schon bald roch das ganze Auto nach Pfefferminzöl, aber das war Kathrina egal, Hauptsache, Dirk glaubte ihre Ausrede.
Ein paar Kilometer weiter fiel ihr doch noch etwas ein, um das sie Dirk bitten konnte, und so fragte sie ihn, ob er am Tag ihrer Silberhochzeit wohl ein paar Gäste vom Hotel am Ort bis zum Gasthof im Nachbarort, wo sie feiern würden, fahren könnte, so eine Art Shuttle-Verkehr.
»Selbstverständlich«, versprach Dirk sofort. Und dann waren sie auch schon zu Hause.
*
»Hast du unsere Zeitung schon gelesen, Nick?«, fragte Denise ihren Sohn am nächsten Morgen, als sie den Kopf durch den Türspalt seines Büros steckte.
»Nein, Mama, aber da du offensichtlich allerbester Laune bist, nehme ich an, du meinst dieses Mal keine neuen politischen Schlagzeilen.«
»Richtig!«
»Hat der Redakteur, der für den kulturellen Teil zuständig ist, tatsächlich etwas über unser gestriges Fest geschrieben?«
»Stimmt!« Denise lächelte. »Soll ich dir vorlesen? Hör zu: ‚Die Aufführung des von Dominik von Wellentin-Schoenecker geschriebenen Märchens ›Die Sternenprinzessin‹, das gestern im Kinderheim Sophienlust uraufgeführt wurde, war ein schöner Erfolg. Fantasievolle Kostüme und Dekorationen, aber vor allem das begeisterte Spiel der Kinder entführten große und kleine Zuschauer in die kindgerechte Handlung. Besonders hervorgehoben sei das Spiel der zwölfjährigen Emily in der Hauptrolle. Auch die liebevoll einstudierten Tänze der Sternenkinder (Einstudierung: Anne Blum) waren Höhepunkte. Man darf gespannt sein, ob diese Aufführung ein einmaliges Ereignis bleibt, oder ob es eine zweite Aufführung geben wird. Den großen und kleinen begeisterten Zuschauern wäre dies nur zu wünschen.’« Denise zeigte Nick den Artikel. Ein Foto von Emily mit Krönchen im Haar im prächtigen goldfarbenen Kleid rundete das Ganze ab.
»Das ist ja mal eine tolle Reklame für unser Haus, und meine kleinen Akteure haben das Lob wirklich verdient«, erwiderte Nick mit vor Freude strahlendem Gesicht.
Denise klopfte ihm sacht auf die Schulter: »Bis nachher, mein Sohn!«
Noch ehe Nick antworten konnte, war seine Mutter schon wieder verschwunden. Er erinnerte sich, dass sie einen Termin beim Jugendamt hatte.
Am Nachmittag rief der Bürgermeister von Maibach an, der den Zeitungsbericht ebenfalls gelesen hatte und anfragte, ob man das Stück nicht in einer Nachmittagsvorstellung in der Stadthalle spielen könne.
Nick versprach, darüber nachzudenken und mit allen Beteiligten zu reden, und stellte dem Mann seine baldige Antwort in Aussicht.
Die vorweihnachtliche Dekoration im Haus sah auch ohne Beleuchtung sehr heimelig aus, und die meisten der Kinder waren an diesem Nachmittag damit beschäftigt, weiter an ihren Geschenken für das Fest zu basteln. Natürlich war das während der Proben stark vernachlässigt worden. Pünktchen, die den Prinzen im Märchen gespielt hatte, strickte fleißig an einem Schal aus weißer Wolle weiter, der für Magda bestimmt war, die zuweilen bei Wind und Wetter mit dem Fahrrad nach Wildmoos und wieder zurück fuhr.
Kim, der sehr gern malte, stand vor einer Staffelei und arbeitete an einem Bild von Sophienlust weiter, das er Tante Isi schenken wollte. Vicky Langenbach stickte schon seit dem frühen Herbst an einer kleinen Decke, die als Unterlage unter den Christbaum gedacht war.
Emily dagegen hatte beschlossen, sich jeglichen Weihnachtsvorbereitungen in diesem Jahr zu verweigern, und nahm auch nicht an den gemeinsamen Werkstunden teil. Es gab ja niemanden, den sie beschenken wollte. Doris, ihre Adoptivmutter, hatte nur Augen für ihren neuen Mann. Außerdem hatte sie ihr, Emily, nicht den Namen ihrer richtigen Mutter genannt, als sie sie danach gefragt hatte. Angelika Langenbach, Vickys ältere Schwester, hatte sie zwar darauf hingewiesen, dass die Frau das gar nicht wissen konnte, weil die zuständigen Behörden solche Informationen grundsätzlich nicht weitergaben, aber dennoch ärgerte sich Emily. So war das letzte Telefonat mit Adoptivmutter Doris recht frostig geblieben. Was wahrscheinlich auch daran lag, weil der neue Mann neben ihr gestanden hatte. Immerhin hatte Emily ihr die Erlaubnis abgerungen, über Weihnachten in Sophienlust bleiben zu dürfen.
Nein, Emilys Stimmung war momentan nicht die beste, daran änderte auch der tolle Zeitungsartikel nichts, den Nick den Kindern vorgelesen hatte.
Eine knappe Woche später nahmen die Kinder Abschied von Anne Blum, und es waren sogar ein paar Tränen geflossen, auch bei Emily, die sie nur zu gern als große Schwester gehabt hätte. Schade auch, dass Annes Tante Lu in Hamburg nie ein Kind geboren hatte. Emily hatte so sehr darauf gehofft, sie könnte ihre Mutter sein, nachdem sie am Theaterabend von der Ähnlichkeit gehört hatte. Die Adresse der Familie Blum, die Anne ihr gegeben hatte, falls sie ihr einmal schreiben wollte, hütete sie wie einen Schatz.
Jeden Abend vor dem Schlafengehen stellte sich das Mädchen jetzt vor, diese Lu würde eines Tages hier auftauchen, sie in die Arme nehmen und mit nach Hamburg nehmen, wo sie auch von ihrem Vater herzlich aufgenommen werden würde. Vielleicht war sie ja als Baby von bösen Menschen gekidnappt worden und galt seither als verschollen? Es könnte doch immerhin sein, geisterten solche Geschichten nicht immer wieder mal durch die Zeitungen?
»Na, Emily, worüber grübelst du denn heute nach?«, fragte Nick eines Nachmittags, dem das veränderte Verhalten seiner Sternenprinzessin längst aufgefallen war.
Das Mädchen zögerte zuerst mit einer Antwort, dann platzte sie mit einer Frage heraus, die sie schon lange beschäftigte: »Nick, wenn du nicht genug Geld dafür hättest, einen Privatdetektiv zu bezahlen, um einen Menschen ausfindig zu machen, den du suchen möchtest, was würdest du dann tun?« Sie sah ihn dabei so bittend an, als würde von seiner Antwort ihr zukünftiges Glück abhängen.
»Das kann ich dir nicht so einfach beantworten, Emily«, erwiderte der junge Mann ratlos, der nicht ahnen konnte, was sich hinter dieser Frage verbarg. »Wieso möchtest du das überhaupt wissen?«, hakte er nach.
»Ich habe die Adresse meiner Brieffreundin verloren«, schwindelte Emily, die Nick nicht die Wahrheit erzählen wollte, weil sie fürchtete, er würde ihre Idee für ein Hirngespinst halten. »Wir haben uns damals im Internat kennen gelernt. Ich erinnere mich aber nur noch an ihren Vornamen, weil wir uns nicht allzu oft geschrieben haben. Jetzt möchte ich ihr von dem Weihnachtsmärchen berichten. Also, noch mal, ich habe nur ihren Vornamen. Wie geht man da vor?«
»Hm, wenn du den Nachnamen nicht kennst, ist es so gut wie unmöglich, sie zu finden«, meinte Nick. »Kennst du wenigstens den Wohnort und den Beruf der Eltern, dann könntest du wenigstens im Branchenverzeichnis nachsehen?«
»Ja, Hamburg, und die Eltern des Mädchens haben einen Kosmetiksalon.«
»Dann musst du im Telefonbuch von Hamburg ganz einfach nach Kosmetik- oder Beautysalons suchen. Das ist im Computer mit einer Suchmaschine ganz einfach. Danach musst du alle Kosmetiksalons anrufen und fragen, ob der Inhaber oder die Inhaberin vielleicht eine Tochter haben, die so heißt, wie deine Brieffreundin. Vielleicht hast du Glück, aber es ist ziemlich mühsam. Auf jeden Fall ist es die einzige Möglichkeit, ans Ziel zu kommen.«
Emily nickte nachdenklich. »Danke Nick, das war wirklich ein guter Tipp. Kannst du mir jetzt auch noch sagen, wie der Frauenname heißt, den man mit Lu abkürzt?
Nick stutzte. Er hatte nämlich von Emilys Adoptivmutter erfahren, dass ihre Tochter schon seit Langem auf der Suche nach ihrer leiblichen Mutter war. Ihre ganze Fragerei kam ihm ein wenig seltsam vor.
»Weißt du es nicht?«, bohrte das Mädchen.
»Lass mich kurz nachdenken«, erwiderte Nick. »In abgekürzten Frauennamen kenne ich mich nicht so gut aus.«
»Dann streng mal deine kleinen grauen Zellen an – bitte«, forderte Emily, die gerade rechtzeitig noch gemerkt hatte, dass sie sich vor lauter Anspannung ein wenig im Ton vergriffen hatte. Nick schüttelte den Kopf, kam aber ihrer Bitte nach. Was sie wohl wirklich im Schilde führt?, dachte er.
»Vielleicht heißt sie Luise oder Ludowika«, meinte er nach einer Weile und beobachtete Emily genau bei seiner Antwort.
»Luise, richtig, das könnte stimmen.«
»Na, dann viel Glück beim weiteren Suchen, Emily«, wünschte er ihr. Das betont unschuldige Lächeln, mit dem sie ihn bedachte, konnte ihn nicht täuschen: Das Mädchen hatte einen ganz bestimmten Plan…
»Ach, Emily, was ich dich noch fragen wollte«, Nick war noch einmal stehen geblieben. »Du weißt ja schon, dass wir unser Theaterstück in Maibach noch einmal aufführen werden. Der Bürgermeister möchte die Eintrittsgelder an uns spenden, und zwar für ein bestimmtes Projekt in Sophienlust. Drei stehen zur Auswahl. Kennst du sie schon? Deine Stimme steht nämlich noch aus.«
»Mir egal«, entgegnete Emily achtlos und war im nächsten Augenblick davongelaufen, als ginge sie weder die Veranstaltung noch das geplante Projekt etwas an.
Nick sah ihr verwundert hinterher. Irgendetwas war da im Busch, stand für ihn fest. Kopfschüttelnd ging er weiter in den Aufenthaltsraum. Alle anderen Kinder hatten ihre Stimme inzwischen schon abgegeben, und es schien so, als sollte ein kleiner Ausflug an einen bayerischen See, später, im Frühling, die meisten Interessenten gefunden haben.
*
Emily saß längst in ihrem Zimmer und hatte ihr Handy aus dem Schrank geholt, das sie nicht immer bei sich trug.
Wie sich schon bald herausstellte, gab es in jedem Stadtteil von Hamburg mehrere sogenannte Beauty-Salons, die alle Kosmetik, Wellness, Fuß- und Nagelpflege anboten. Bei einem hieß die Inhaberin Ilona Hintz, bei einem anderen Sophia Schmitz oder Marlene Kegel. Ein paar Zeilen tiefer endlich entdeckte Emily den Hinweis, dass einer Luise Schroeder-Welz drei Salons in Hamburg gehörten und noch weitere in anderen Städten.
Ohne sich vorher zu überlegen, was sie am Telefon wohl sagen sollte, begann Emily mit leicht zitternden Händen die Telefonnummer einzugeben, musste dies allerdings noch drei Mal wiederholen, weil sie sich jedes Mal verwählt hatte. Dann endlich ging der Ruf hinaus.
Ihr Herz klopfte. Die sympathische Stimme der Empfangsdame am anderen Ende der Leitung sagte zuerst einmal den kompletten Firmenamen auf, dann fragte sie nach dem Begehr.
»Frau Luise Schroeder-Welz möchte ich sprechen, bitte«, verlangte Emily, die sich inzwischen auch mit ihrem Namen vorgestellt hatte, in energischem Ton.
»Tut mir leid, die Chefin ist nicht anwesend. Rufen Sie privat an, oder kann ich Ihnen vielleicht weiterhelfen? Wünschen Sie vielleicht einen Termin für eine Behandlung?«
»Ich möchte sie privat sprechen. Wir sind nämlich miteinander verwandt«, sagte Emily keck und unterbrach dadurch den geschäftigen Redefluss der Beautyfee.
»Aha. Ja, dann ahnen Sie vielleicht auch, wohin die Chefin und ihr Gatte gefahren sind, und ich verrate Ihnen kein Geheimnis, dass sie bei ihrer Schwester zu einem Familienfest weilt.«
»Bei Frau Blum, ach ja, natürlich. Dass ich nicht gleich daran gedacht habe«, erwiderte Emily so schlagfertig, dass sie sich selbst darüber wunderte. Die freundliche Mitarbeiterin von Frau Schroeder-Welz schwieg.
»Danke, dann werde ich sie bestimmt dort antreffen«, sagte Emily noch und beendete das Gespräch mit einem: »Danke, Sie haben mir sehr geholfen.« Und dieser Satz klang nicht nur in ihren Ohren sehr erwachsen, sondern bei der Empfangsdame kam er auch so an.
Jetzt brauche ich nur noch zu Annes Elternhaus zu fahren und meine Mutter bei Frau Blum kennen zu lernen und in den Arm zu nehmen, dachte Emily, nachdem sie einen wilden Freudentanz beendet hatte.
Und wenn sie dich gar nicht sehen will und dich aus irgendeinem Grund längst aus ihrem Leben gestrichen hat, was willst du dann machen?, fragte eine dumme innere Stimme, die ihr die Freude verderben wollte. Darauf wusste Emily erst einmal keine Antwort, und die Angst vor einer bitteren Enttäuschung sprang sie an, bis es ihr gelang, sie abzuschütteln. Sie konnte doch jetzt nicht aufgeben, jetzt, wo es ihr gelungen war, das Geheimnis herauszufinden! Diese Frau musste einfach ihre Mutter sein, das sagte das Herz ihr, und das konnte sich doch nicht so irren! Und vielleicht suchte ihre Mutter längst genau so verzweifelt nach ihr, wie sie, Emily, es tat? Wenn sie jetzt feige war, kamen sie ja nie zueinander. Es gingen dem Mädchen tausend Gedanken durch den Kopf, dass ihm fast schwindlig davon wurde.
Ob ich vielleicht Anne anrufen sollte?, überlegte sie dann, doch nur, um den Gedanken im nächsten Moment wieder zu verwerfen. Ach wozu, die hatte sie doch angelogen und gesagt, dass ihre Tante keine Kinder hätte. Aber wenn sie davon nun gar nichts wusste? Es gab doch Familiengeheimnisse, die manche Menschen mit ins Grab nahmen. Davon hatte Emily schon einmal gehört oder gelesen. Möglich wäre das doch. Sie musste auf jeden Fall zu dieser Familienfeier fahren und selbst mit Lu reden. Wie gut, dass sie die Adresse der Blums hatte! Sie wohnten nicht weit von Stuttgart entfernt. Mit dem Zug von Maibach aus war das gar nicht mehr so weit. Glücklicherweise bekam sie Taschengeld, sodass sie eine Fahrkarte kaufen konnte. Emily war bei diesen Gedanken im Handumdrehen allerbester Laune.
*
»Kathrina, ich habe Georg endlich die Wahrheit über mein erstes Kind und die Adoption gebeichtet. Er hat mich zwar so entsetzt angesehen, dass ich diesen Blick mein Leben lang nicht vergessen werde. Aber seine Vorwürfe hielten sich in Grenzen, und er hat unsere Ehe nicht einen Moment lang infrage gestellt, sondern mir seine volle Unterstützung bei der Suche nach dem kleinen Mädchen zugesagt. Er meinte allerdings, dass ich damals ziemlich kopflos gehandelt hätte. Aber immerhin gäbe es aus fast jeder Situation einen Ausweg.«
»Lu, das ist ja wunderbar, das ist ja großartig, und wie fühlst du dich jetzt?«, jubelte ihre Zwillingsschwester, und es hielt Kathrina nicht länger auf der Bank in der Wohnküche, wo sie beide zusammen gerade eine Tasse Kaffee getrunken hatten.
»Natürlich unendlich erleichtert, was denkst du denn!«, antwortete Lu. Dann umarmte sie Kathrina so stürmisch, als wollte sie sie vor Freude erwürgen.
Die beiden Frauen waren zurzeit allein zu Haus. Es war ein Tag vor Kathrinas Silberhochzeit. Anne und ihr Vater, der inzwischen von seiner Kur zurückgekehrt war, waren im Ort unterwegs, um noch ein paar Besorgungen zu machen. Georg konnte leider erst am Abend kommen, weil er noch an diesem Vormittag einen Gerichtstermin in Hamburg wahrzunehmen hatte.
»Ich habe vielleicht eine Spur zu deinem Kind«, sagte Kathrina plötzlich sehr leise, sodass Lu ganz genau hinhören musste, um sie zu verstehen.
»Waaas?! Und das sagst du erst jetzt?«, keuchte ihre Schwester.
»Schau dir mal diese Zeitung an, Lu, der aufgeschlagene Artikel darin handelt von dieser Adventsaufführung in Sophienlust, von der ich dir doch am Telefon erzählt habe.«
»Ja, und?«
»Auf dem Foto ist das Mädchen abgebildet, das in dem Märchenstück die Hauptrolle gespielt hat. Sieh sie dir einmal genau an, sie heißt Emily.«
Eine Weile war es so still im Raum, dass man hätte eine Stecknadel fallen hören können.
»Das ist sie!«, flüsterte Lu endlich. »Schau doch mal, genauso habe ich auf Kinderbildern ausgesehen. Mein Gott das ist sie!«
»Bitte, Lu, steigere dich nicht in etwas hinein, das noch nicht bewiesen ist. Wir brauchen die Geburtsdaten von dieser Emily. Nur, wie kommen wir da heran?«
»Ich fahre nach Sophienlust und werde um nähere Informationen bitten.«
»Man wird sie dir verweigern«, entgegnete Kathrina.
»Aber es muss doch eine Möglichkeit geben, dass ich mir Gewissheit verschaffen kann. Kati, dieser kleine Goldschatz ist mein Mädchen, das spüre ich ganz genau. Hilf mir doch, bitte hilf mir!« Jetzt liefen Tränen über die Wangen der völlig aufgelösten Frau.
»Kann Anne mir nicht helfen?«, schniefte sie. »Sie hat doch sicher noch gute Beziehungen zu diesem Heim. Vielleicht macht man bei ihr eine Ausnahme, was den Datenschutz anbelangt«, schlug Lu unter Tränen vor.
»Anne hat von allem noch keine Ahnung, ich habe sie ohne deine Erlaubnis nicht in dein Geheimnis eingeweiht«, erklärte Kathrina. »Trotzdem kann ich sie fragen, ob sie etwas herausbringen kann.« Kathrina merkte, dass sie wahrscheinlich einen Fehler begangen hatte, ihrer Schwester noch vor dem morgigen Fest von ihren Vermutungen zu erzählen, Lu hatte jetzt nur noch diese Angelegenheit im Kopf.
»Lu, bitte, frag Georg, wenn er heute Abend hier eintrifft, welche Möglichkeiten er rein rechtlich sieht, um festzustellen, ob diese Emily wirklich deine Tochter ist. Und in der Zwischenzeit reiß dich bitte zusammen. Bitte!«
»Versprochen.« Kathrina merkte richtig, wie die Schwester sich zusammennahm und die Schultern straffte. »Großes Ehrenwort, ich gehe sofort ins Bad und sehe zu, dass ich wieder präsentabel aussehe. Hattest du nicht gesagt, du wolltest noch einen Kartoffelsalat für heute Abend zubereiten? Ich helfe dir, vielleicht bringt mich das auf andere Gedanken. Mein Gott, was sind das für Neuigkeiten…«
In dem Augenblick, als Lu im Bad verschwand, läutete das Telefon. Es läutete mindestens fünf Mal, bis Kathrina dazu kam, den Hörer abzunehmen. Am anderen Ende der Leitung war ihre Nachbarin, Frau Meier.
»Guten Tag, Frau Blum. Entschuldigen Sie die Störung, Sie haben sicher am Tag vor Ihrer Silberhochzeit viel zu tun. Aber vor Ihrem Haus auf dem Gehweg steht ein fremdes kleines, blondes Mädchen. Schon seit zwanzig Minuten. Sie starrt unentwegt Ihr Haus an. Draußen ist es bitterkalt, auch wenn die Kleine eine warme Jacke trägt und eine Mütze aufhat. Sie tut mir einfach leid. Können Sie nicht mal hingehen und fragen, was sie will?«
Die Antwort blieb Kathrina erst einmal vor freudigem
Schreck im Halse stecken, denn sie konnte sich schon denken, um wen es sich bei dem Mädchen da draußen handelte. Endlich brachte sie ein "Danke" heraus und versprach der aufmerksamen Nachbarin, gleich einmal nachzuschauen. Lu war noch immer nicht aus dem Bad zurück.
Vielleicht war das gut so, sie würde ihr bestimmt sofort folgen wollen, und es war immens wichtig, die Kleine nicht gleich zu überfordern. Kathrina nahm ihren Mantel vom Garderobenhaken, zog ihn an und ging mit weichen Knien nach draußen. Tatsächlich, da stand Emily, die Sternenprinzessin, und sie hatte sich inzwischen schon eine rote Nase vor Kälte geholt.
Ein Leuchten ging über das Gesicht des Mädchens, als sie Annes Mutter erkannte, die nun geradewegs auf sie zukam. Emily hatte einfach nicht den Mut gefunden, den letzten Schritt zu tun und bei den Blums zu klingeln. Dabei hatte sie doch extra zu diesem Zweck die gar nicht so kurze Reise unternommen, hatte sich frühmorgens aus Sophienlust weggeschlichen, in Wildmoos den Bus nach Maibach genommen und sich dann das Bahnticket gekauft.
»Komm herein, Emily, du willst uns doch sicher besuchen«, sagte Kathrina und nahm das sonst gar nicht so schüchterne Mädchen einfach bei der Hand und zog es sanft mit sich durch den Garten auf das Haus zu. »Bei uns geht es allerdings heute ein bisschen turbulent zu, denn mein Mann und ich feiern morgen unsere Silberhochzeit. Ich würde mich sehr freuen, wenn du dabei wärst, und lade ich dich herzlich dazu ein. Anne macht noch ein paar Besorgungen in der Stadt, aber sie muss bald zurückkommen. Dann werde ich sie bitten, gleich in Sophienlust anzurufen, damit sich dort keiner um dich sorgt. Und deine Schule muss natürlich auch informiert werden, damit du für den morgigen Tag entschuldigt bist.«
»Danke, Frau Blum, das ist wirklich nett von Ihnen«, erwiderte Emily sichtlich erleichtert, und dann nahm sie allen Mut zusammen und erkundigte sich bei ihr, ob ihre Schwester Lu auch da sei.
»Ja, natürlich, Emily, sie darf doch bei unserer Feier nicht fehlen. Stell dir einmal diesen Zufall vor: Gerade vorhin habe ich ihr die Zeitung mit deinem Foto in dem Theaterstück gezeigt. Sie war sehr angetan von dir und möchte dich gern kennen lernen. Und dir natürlich ein paar Fragen stellen. Ich hoffe, das ist dir recht?«, fragte Kathrina und öffnete die Haustür. »Aber jetzt komm erst einmal herein, damit du dich wieder aufwärmen kannst. Du zitterst ja am ganzen Leib vor Kälte.«
Die Frau nahm ihrem kleinen Gast in der Diele erst einmal die Jacke und die Mütze ab, dann zog sie selbst ihren Mantel aus und hängte die Sachen an die Garderobe.
»Natürlich beantworte ich Ihrer Schwester gern alle Fragen, Frau Blum«, antwortete das Mädchen endlich. Emily konnte es noch immer nicht fassen, was sich in den letzten Minuten ereignet hatte. Und wie leicht ihr plötzlich dieser für sie so schwere Weg gemacht wurde.
Bitte, bitte, lieber Gott, gib, dass diese Lu tatsächlich meine Mutter ist. Ich wünsche es mir so sehr, schickte sie schnell ein Stoßgebet zum Himmel und ihr Herz klopfte wie verrückt vor Aufregung.
»Was hältst du davon, wenn ich dir jetzt erst einmal einen Kakao koche? Wenn Anne früher vom Rodeln heimkam, hat ihr der immer gut getan. Vielleicht wirst du inzwischen auch Hunger haben. Ich habe vorhin einen Schokoladenkuchen angeschnitten. Na, wie wäre es damit?«, fragte Kathrina mütterlich. Emily nickte, und zum ersten Mal zeigte sich ein Lächeln auf ihrem Gesicht.
Es wunderte die Frau nicht, dass ihr kleiner Gast kaum ein Wort über die Lippen brachte. Sie konnte sich gut vorstellen, was in der Kleinen gerade vor sich ging. Immerhin hoffte sie, in wenigen Minuten ihrer leiblichen Mutter zu begegnen. Hoffentlich würde sich das auch bewahrheiten und diese Begegnung für Emily und Lu nicht zu einer bitteren Enttäuschung werden!
Beide betraten nun das gemütliche Wohnzimmer. Kathrina schob Emily erst einmal einen Sessel hin, damit sie Platz nehmen konnte. Das arme Kind sah kreidebleich aus, so, als würde es gleich schlapp machen. Und die großen blauen Augen sahen so ängstlich aus, dass es ihr fast das Herz zerriss. Am liebsten hätte sie Emily in die Arme genommen, ihr über den Rücken gestreichelt und sie fest an sich gedrückt.
In diesem Augenblick ging die gegenüberliegende Tür auf, und Lu stand im Zimmer.
Überrascht sah sie auf den kleinen Gast in dem großen Sessel. War das nicht…? Sie öffnete den Mund, aber es war ihr in diesem Moment nicht möglich, auch nur ein einziges Wort zu sagen.
Ja, das war sie, das war Nadine. Ihr Kind! Sie spürte es mit jeder Faser ihres Herzens. Am liebsten wäre sie auf Emily zugestürzt, um sie an sich zu drücken und nie wieder loszulassen. Doch eine gewisse Scheu hielt sie plötzlich davon ab. Was sollte sie dem Mädchen denn sagen: Dass sie es aus Feigheit weggegeben hatte, dass sie die schlechteste Mutter der Welt war? Würde ihr kleines Mädchen das jemals verstehen können? Und wie oft im Leben sie diese Entscheidung schon zutiefst bereut hatte? Nein, das konnte doch kein Mensch begreifen, geschweige denn verzeihen…
»Lu, dies ist Emily«, sagte in diesem Moment Kathrina zu ihr. »Ich wollte ihr gerade einen heißen Kakao machen, sie hat heute schon einen weiten Weg hinter sich gebracht und ist bei der Kälte von Kopf bis Fuß durchgefroren. Leiste ihr doch ein wenig Gesellschaft, während ich in der Küche bin.«
»Gern«, erwiderte Lu, mechanisch wie eine Puppe. Dann ging sie langsam auf Emily zu und reichte ihr die Hand. Diese Berührung elektrisierte sie allerdings so sehr, als hätte sie ein Stromkabel berührt. Denn diese zarte Kinderhand fühlte sich zwar noch immer kalt an, aber so vertraut, dass ihr vor dem überquellenden Gefühl die Tränen in die Augen stiegen.
Auch Emily drohten die Empfindungen zu überwältigen. Sie ist es, sie muss es sein, meine wirkliche Mutter, ich fühle es ganz deutlich!, dachte sie in fieberhafter Erregung. Aber wenn es nun doch nicht stimmte? Nein, das durfte nicht sein, so konnte sie sich doch nicht irren!
In diesem Moment sah sie die gleiche Angst in den Augen der Frau, die ihr liebevoll über das Haar strich. »Wann hast du Geburtstag, meine kleine Emily?«, hörte sie sie fragen.
»Am dritten März werde ich dreizehn Jahre alt.« Sie schmiegte ihren Kopf zärtlich an die Schulter der Frau, alle Scheu war plötzlich von ihr abgefallen und auch alle Zweifel.
»Ja, es stimmt! Nadine, Emily, mein geliebtes Kind, dass ich dich endlich wiederhabe«, flüsterte Lu, und Tränen liefen ihr bei diesen Worten über die Wangen, während sie ihre Arme ausbreitete und ihre kleine Tochter damit wie in einen warmen Mantel einhüllte. Und dann vermischten sich die kalten Kindertränen mit denen der Frau, und für ein paar Minuten vergaßen Mutter und Kind die ganze Welt um sich herum. Sie waren nur noch überglücklich. Die Stimme des Blutes hatte sie zusammengeführt. Und nichts auf der Welt würde sie je wieder trennen können! Das wussten sie beide in diesem Augenblick mit absoluter Sicherheit.
»Mama, liebste Mama«, flüsterte Emily immer wieder und ihr kleines Gesicht strahlte plötzlich wie noch nie zuvor. »Wolltest du mir nicht noch ein paar Fragen stellen?«, fragte sie nach einer Weile, als sie sich ein wenig gefasst hatten, und sie fügte hinzu: »Ich habe dir schon alles Wichtige aufgeschrieben, schau mal hier!« Emily zog ein Blatt Papier aus ihrer Hosentasche, auf dem sie die ersten Stationen ihres Lebens fein säuberlich notiert hatte.
»Nein, mein kleiner Schatz, das ist nicht mehr nötig. Ich weiß es mit absoluter Gewissheit, du bist meine geliebte, so lange vermisste Tochter«, erwiderte ihre Mutter zärtlich. »Und ich hoffe, dass du mir irgendwann den größten Fehler meines Lebens verzeihen kannst«, fügte sie leise hinzu.
»Ach, Mama, liebste Mama! Das habe ich doch schon jetzt, denn ich habe dich so unendlich lieb, so grenzenlos unendlich. Aber nun musst du mir auch etwas von meinem Papa erzählen. Ist es dein Mann? Wie sieht er aus? Habt ihr euch sehr lieb?«
»Liebling, das ist eine lange, lange Geschichte«, antwortete ihre Mutter unter Tränen. »Doch eines kann ich dir schon jetzt sagen: Dein Papa wäre unendlich stolz auf seine kluge und bezaubernde Tochter, wenn er noch am Leben wäre.«
»Hier kommt der heiße Kakao! Ich habe gleich zwei Tassen, für euch beide, mitgebracht«, sagte plötzlich Kathrina, die aus der Küche zurückkam und ein Tablett auf den Tisch stellte. Auch der versprochene Schokoladenkuchen für den kleinen Hunger fehlte nicht.
Ihr Blick fiel auf das Papier, das ausgebreitet auf dem Tisch lag. Mit ihrer sorgfältigen Schrift hatte Emily darauf ihre Geburtsdaten und den Geburtsort notiert und noch einiges mehr. Als sie das las, lächelte Kathrina befreit auf. Nun gab es überhaupt keine Zweifel mehr: Dieses bezaubernde Mädchen war tatsächlich ihre Nichte und die leibliche Tochter von Lu. Beide hatten es ganz tief in ihren Herzen gespürt und recht behalten.
»Wie wäre es, Emily, wenn du mich auch einmal umarmen könntest?«, fragte sie scherzhaft, um die allgemeine Spannung etwas aufzulockern. »Schließlich hat deine Mutter nicht nur eine Tochter bekommen, sondern ich auch eine reizende kleine Nichte.« Sie breitete ihre Arme aus.
»Natürlich, sehr gern sogar, liebe Tante Kathrina!«, jubelte Emily und kam der Aufforderung strahlend nach. Dann aber lief sie rasch wieder zu ihrer Mutter zurück. Kathrina lächelte. Die beiden hatten so viel nachzuholen! Sie gönnte ihnen das Glück von ganzem Herzen!
Sie selbst wollte nun nicht erst auf Annes Rückkehr warten, sondern jetzt gleich die Telefonnummer von Sophienlust heraussuchen und dort anrufen. Sicherlich wurde Emily schon vermisst. Sie freute sich darauf, eine doppelt gute Nachricht dort verkünden zu können!