Читать книгу Sophienlust Extra Staffel 4 – Familienroman - Diverse Autoren - Страница 6
ОглавлениеAndrea von Lehn bummelte durch den Kurpark von Wiesbaden. Es war ein schöner sonniger Tag, aber Andrea sah abgespannt und ein wenig verdrossen aus – etwas, was gar nicht zu ihr passte. Jetzt ging sie auf eine Bank zu, sah sich etwas verloren um und setzte sich dann mit einem abgrundtiefen Seufzer. War das ein fades Leben, den ganzen Tag spazieren gehen zu müssen. Nicht einmal eine Beschäftigung konnte man sich in diesem Park suchen. Und mit wem sollte sie sich unterhalten? Mit wildfremden Menschen? Vielleicht mit der alten Dame, die jetzt auf sie zukam, als wollte sie sich auf der Bank niederlassen? Plötzlich leuchteten Andreas Augen auf. Die alte Dame führte einen Dackel an der Leine. Er sieht aus wie unser Waldi, dachte Andrea. Am liebsten hätte sie die Hand ausgestreckt und den Dackel gestreichelt. Aber die alte Dame nahm ihn jetzt kürzer an die Leine und ging an der Bank vorbei. Schade! Das wäre endlich etwas Abwechslung gewesen, dachte Andrea. Ich sehne mich doch so nach meinen Tieren. Und am meisten nach Waldi, dem kleinen, aber so verantwortungsbewussten Chef des Tierheims Waldi & Co. Ich hätte ihn doch mit auf die Reise nehmen sollen. Aber das wollte ja Hans-Joachim nicht.
Andrea lehnte sich zurück und blinzelte in die Sonne. Bei dem Gedanken an ihren Mann stieg Ärger in ihr auf. Er hatte darauf bestanden, dass sie ihn zu dem Veterinär-Kongress nach Wiesbaden begleitete. Damit sie einmal ausspannen und sich erholen konnte. Gerade jetzt, da sie ein Kind erwartete, sei das ganz besonders nötig, hatte Hans-Joachim behauptet. Allem Anschein nach nahm er an, dass eine werdende Mutter sich vollkommen verändere. Würde er nicht so denken, hätte er voraussehen müssen, wie sehr sie sich hier in Wiesbaden langweilen würde. Zu Hause hatte sie immer Arbeit und Ablenkung. Es gab in ihrem Tierheim genug Dinge zu tun, bei denen sie sich nicht überanstrengte. Hier aber war sie dem Müßiggang und auch der Denkfaulheit ausgesetzt. Den ganzen Tag darauf warten zu müssen, dass Hans-Joachim von den Vorträgen ins Hotel zurückkam, machte sie ganz kribbelig. Meistens wurde es später, als er angenommen hatte. Sie konnte ihm daraus nicht einmal einen Vorwurf machen, weil sie verstand, dass er gern noch mit den Kollegen fachsimpelte. Zu Hause musste er das ja missen.
Andrea sah auf die Uhr an ihrem Handgelenk. Schon vor einer halben Stunde hatte sie sich hier am Weiher mit ihrem Mann treffen wollen. An Hans-Joachims Verspätung würde sicher das Abschiednehmen schuld sein. Denn an diesem Tag ging der Kongress ja zu Ende.
»Hallo, Andrea!«, erklang da eine Männerstimme.
Die junge Frau sah den Parkweg entlang, an dem die Bank stand. Sie konnte ihren Mann nicht entdecken. Aber das war doch seine Stimme gewesen … Doch jetzt hellte sich Andreas Gesicht auf. Sie sah ihren Mann. Er kam quer über den Rasen gelaufen.
Andrea sah sich erschrocken um. Als Hans-Joachim vor ihr stand und sie küssen wollte, sagte sie: »Du hast ein Glück, dass dich kein Flurwärter erwischt hat. Wie kannst du über den heiligen Rasen laufen, wenn es hier so herrlich angelegte Wege gibt?«
»Dreimal darfst du raten, Andrea, warum ich mich für die riskante Abkürzung entschlossen habe.« Hans-Joachim drückte ihr einen zärtlichen Kuss auf die Wange.
In Andreas Augen blitzte der Schalk auf. Vergessen waren Langeweile und Missmut. »Sicher, weil du dich wieder einmal wie ein kleiner Junge fühlen und etwas Verbotenes tun wolltest, Hans-Joachim.«
Der große schlanke Mann lachte. Er sah jetzt wirklich aus wie ein übermütiger Junge. »Schade, dass es nicht auch verboten ist, dich zu küssen, Andrea. Dann wäre unsere Liebe doppelt so reizvoll.«
»Ach so, ist dir die Ehe schon langweilig geworden?« Als Andrea das fragte, stieg leichte Röte in ihr Gesicht. Sie hatte einen Herrn entdeckt, der zwei Meter vor der Bank stehen geblieben war. In so auffallend abwartender Haltung, als höre er ihrem Geplänkel zu.
Hans-Joachims Blick folgte dem von Andrea. Und jetzt machte er ein verblüfftes Gesicht. »Du bist auch schon hier, Peter? Entschuldige, ich hatte damit gerechnet, dass du auf dem Weg etwas länger brauchen würdest als ich über den Rasen.«
Der große stattliche Mann kam einen Schritt näher. Er lachte und meinte: »Es ist eine alte Tatsache, dass man die durch Abkürzung gewonnene Zeit bald wieder vertrödelt.«
Dr. Hans-Joachim von Lehn sah ihn entrüstet an. »Nennst du das Zeit vertrödeln, wenn ich meine Frau küsse? Ich bin noch nicht einmal dazu gekommen, ihr zu gestehen, wie sehr ich mich den ganzen Tag nach ihr gesehnt habe.« Hans-Joachim legte den Arm um Andreas Schultern. »Darf ich dir meinen Kommilitonen Dr. Peter Renzi vorstellen, Andrea? Wir haben beschlossen, den Abend miteinander zu verbringen.«
Dr. Renzi neigte sich über Andreas Hand. »Ich freue mich sehr, Sie endlich kennenzulernen, gnädige Frau. Zwischen den Vorträgen hat mir Ihr Mann schon sehr viel von Ihnen erzählt. Ich muss ihm nun wegen einer gewissen Verdächtigung Abbitte leisten.« Die grauen Augen Dr. Renzis sahen Andrea bewundernd an.
»Verdächtigung?«, fragte Hans-Joachim. »Was heißt das?«
Dr. Renzi schlug ihm auf die Schulter. »Ich dachte, dieser Hans-Joachim von Lehn war doch zu unserer Studienzeit kein Angeber. Wie kann sich ein Mensch in wenigen Jahren so verändern? Aber das hast du gar nicht getan. Ich glaube dir jetzt, dass du die beste, die schönste und die liebenswerteste Frau der ganzen Welt hast.«
Andrea wurde ein wenig verlegen. Sie stieß ihren Mann in die Seite. »Was du immer für Unsinn erzählst, Hans-Joachim.«
Die beiden Männer setzten sich neben Andrea. Hans-Joachims Gesicht war ernst geworden. »Es war wirklich Unsinn, Andrea. Ich hätte mich nämlich besser im Zaum halten müssen. Erst nach einigen Tagen merkte ich, dass ich gerade Peter nicht so viel von dir hätte erzählen dürfen. Er hat nämlich vor einem Jahr seine junge Frau verloren.«
Andrea sah Dr. Renzi erschrocken an. Sie wusste nicht, was sie jetzt sagen sollte. Phrasen lagen ihr nicht.
Dr. Renzi nahm ihr den Druck von der Seele. »Ich gehöre nicht zu den Menschen, die anderen ihr Glück nicht gönnen, weil sie das eigene verloren haben.« Er holte tief Luft. »Ich hoffe, Sie sind mir nicht böse, gnädige Frau, dass Sie nun auch am letzten Abend in Wiesbaden nicht mit ihrem Mann allein sein können. Ich habe mich ihm nicht aufgedrängt. Er wollte unbedingt, dass ich mitkomme.«
»Ja, das ist richtig, Andrea. Und zwar aus einem ganz bestimmten Grund. Natürlich wollte ich auch, dass du Peter kennenlernst. Aber das andere ist noch wichtiger. Peter hat zwei Kinder, die ihm viele Sorgen machen.«
Dr. Renzi wehrte ab. »Bitte, verstehen Sie das nicht falsch. Es ist keineswegs so, dass meine Kinder ungezogen wären. Nicht sie machen mir Sorgen, sondern ich mache mir große Sorgen um sie. Meine Frau ist bei der Geburt unseres dritten Kindes gestorben. Auch das Kind konnte nicht weiterleben. Mein siebenjähriger Ivo und meine fünfjährige Sylveli sind auf die Hilfe fremder Menschen angewiesen. Ich habe in Hamburg eine Praxis und kann mich wenig um die Kinder kümmern. Wenn wir wenigstens auf dem Land wohnen würden, dann hätten die Kinder etwas mehr Freiheit. So aber müssen sie warten, bis jemand bis zu einem Spielplatz mit ihnen geht. Ich lasse die beiden nur ungern allein auf die Straße. Der Großstadtverkehr ist beängstigend und zu gefährlich.«
Hans-Joachim hatte seine Hand auf Andreas Arm gelegt. »Du wirst schon ahnen, was ich Peter vorgeschlagen habe. Heute kam mir dieser Gedanke.«
Andrea lächelte. »Du denkst an unser Sophienlust?«
Dr. Renzi nickte. »Ja, Ihr Mann hat mir von dem Kinderheim erzählt, das Ihre Mutter leitet. Ich habe zuerst nicht für möglich gehalten, dass es so etwas auf privater Basis gibt. Bisher habe ich mich dagegen gesträubt, die Kinder in ein Heim zu geben, obwohl mir das von Bekannten schon unmittelbar nach dem Tod meiner Frau geraten wurde.« Dr. Renzi strich sich das dunkelbraune Haar aus der Stirn. »Ich musste Hans-Joachim heute mein Herz ausschütten, weil es gerade besonders voll war. Ich hatte nämlich zuvor zu Hause angerufen. Ivo war am Apparat. Er sagte mir, dass die Erzieherin heute das Haus verlässt. Das erleben wir nun schon zum dritten Mal im Laufe eines Jahres.« Dr. Renzi biss sich auf die Unterlippe. Er brauchte einige Sekunden, ehe er weitersprechen konnte. »Ich kenne auch den Grund, warum es niemand bei meinen Kindern aushält. Wir hängen alle noch zu sehr an meiner Frau. Ich hatte gehofft, dass wenigstens die Kinder leichter vergessen würden, aber gerade sie halten die Erinnerung an ihre Mutter am meisten wach. Vielleicht werden Ivo und Sylveli gelegentlich sogar ungerecht gegenüber ihren Erzieherinnen. Die Kinder verlangen Zärtlichkeit und Liebe wie von einer Mutter. Oft habe ich die beiden schon überrascht, als sie davon sprachen, wie ganz anders ihre Mutti in dieser oder jener Situation zu ihnen gewesen wäre.«
»Ich verstehe die Kinder«, sagte Andrea leise. »Ich habe meine leibliche Mutter auch als Kind verloren. Mein Bruder und ich hungerten damals nach Mutterliebe. Sie haben recht, solche Kinder werden oft ungerecht gegenüber Menschen, die sich um sie bemühen. Ich hatte das große Glück, wieder eine Mutter zu bekommen. Eine zärtliche, liebevolle und besorgte Mutter. Es ist also meine Stiefmutter, die das Kinderheim Sophienlust leitet. Aber niemand hört bei uns das Wort Stiefmutter gern.«
»In wie vielen Fällen hat ein Mann wohl das Glück, eine solche zweite Frau zu finden?«, fragte Dr. Renzi mit verbitterter Stimme. »Eine Mutter, bei der die Kinder nichts vermissen?«
Hans-Joachim von Lehn konnte das bedrückte Gesicht seines Freundes nicht länger sehen. »Darüber wollen wir jetzt nicht rätseln. Ich verstehe, dass du nicht daran denkst, dich wieder zu verheiraten. Wir wollen dich ja auch gar nicht umstimmen. Ich mache dir einen Vorschlag: Komm mit uns und sieh dir Sophienlust an. Dort wären deine Kinder bei meiner Schwiegermutter und ihren Helfern gut aufgehoben. Außerdem würden Andrea und ich uns ebenfalls um sie kümmern. Unser Haus und das Kinderheim Sophienlust liegen so nahe beisammen, dass kaum ein Tag vergeht, an dem Andrea nicht nach Wildmoos geht oder fährt. Sophienlust gehört zu dem kleinen Ort Wildmoos. Es ist eine beinahe romantische Gegend. Für Kinder wie geschaffen, sich zu erholen und Freiheit zu genießen. Wenn sie gar noch tierlieb sind, kommen sie in unserem Tierheim Waldi & Co. voll auf ihre Kosten. Also, was hältst du davon, Peter, uns zu begleiten?«
Dr. Renzi machte ein sehr bedrücktes Gesicht, als er antwortete: »Das kann ich mir leider nicht leisten. Ich muss nach Hamburg zurück. Die Kinder sind ab heute allein. Das heißt, ohne Erzieherin. Ich habe eine Bekannte meiner verstorbenen Frau angerufen. Sie wird bei Ivo und Sylveli heute Nacht schlafen. Aber morgen muss sie wieder nach Hause zurück. Meiner Praxis kann ich auch nicht länger fernbleiben. Es war schon ein Opfer für mich, diesen Kongress zu besuchen. Ich habe mir das bisher noch nicht geleistet. Weißt du, eine Tierarztpraxis in der Großstadt ist nicht mit einer auf dem Land zu vergleichen. Du findest bei deinen Bauern sicher Verständnis, wenn du mal einige Tage wegfährst …«
Hans-Joachim unterbrach seinen Freund. »Ich habe eine Vertretung. Die Frau unseres jungen Försters ist Tierärztin. Sie hat bei mir praktiziert und bei uns ihren Mann kennengelernt. Aus Dankbarkeit hilft sie aus, wenn ich eine Vertretung brauche. Aber es stimmt, meine Bauern in der Umgebung sind sehr anhänglich.«
»In der Großstadt ist das alles anders. Oft kommt es mehr darauf an, einem Herrchen oder Frauchen zu schmeicheln, als ihren Liebling zu verarzten. Oder die Leute schikanieren einen in ihrer übertriebenen Tierliebe, wenn man den Kult nicht mitmachen will. Meine Frau und ich hatten vor, aufs Land zu gehen. Die Kinder freuten sich schon darauf. Aber nach einem so furchtbaren Schicksalsschlag, wie er mich getroffen hat, reicht die Kraft kaum zum Weitermachen, geschweige denn zu Umstellungen. Vielleicht würde ich darangehen, mir eine Praxis auf dem Land zu suchen, wenn ich nicht mehr die große Sorge um die Kinder hätte.«
»Bringen Sie Ivo und Sylveli nach Sophienlust, Herr Doktor«, sagte Andrea in ihrer spontanen Art. »Wenn Sie mit uns fahren würden, könnten Sie kaum mehr sehen, als Sie von uns zu hören kriegen.«
Hans-Joachim zog seine Frau an sich und erklärte danach lachend: »Ich warne dich, Peter. Wenn du Andrea dazu verleitest, dir die Vorzüge von Sophienlust zu erklären, dann sitzen wir noch im Winter auf dieser Bank und gefrieren zu Eismännern.«
»Du sollst nicht immer so schrecklich übertreiben, Hans-Joachim«, regte sich Andrea auf. »Dr. Renzi hat ein Recht darauf, alle Fragen beantwortet zu bekommen und zu wissen, wohin er seine Kinder gibt.«
Dr. Renzi lächelte. »Ich vertraue Ihnen. Ich habe mit Ihrem Mann zwar nur zwei Semester studiert, weil ich ein bisschen älter bin als er, aber wir haben einander doch gut kennengelernt. Ich bin überzeugt, dass er mir helfen will. Auch bin ich sicher, dass Sie meinen Kindern ebenfalls beistehen werden, gnädige Frau. Das einzige, das mich bedrückt, ist die große Entfernung zwischen Hamburg und Wildmoos. Um die Kinder in Süddeutschland besuchen und wenigstens einige Stunden bei ihnen bleiben zu können, wird ein Wochenende zu kurz sein. Und noch etwas. Könnte Ivo in Sophienlust auch die Schule besuchen? Er ist in diesem Jahr eingetreten.«
»Aber selbstverständlich kann er in Wildmoos zur Schule gehen«, erwiderte Andrea. »In Sophienlust sind mehrere schulpflichtige Kinder. Sie werden mit einem VW-Bus zur Schule gebracht und auch wieder abgeholt. Wir haben sogar einen Musik- und Zeichenlehrer im Haus, der auch die Schulaufgaben der Kinder überwacht. In Sophienlust ist wirklich für alles gesorgt.«
Hans-Joachim erhob sich. »Dann sollten wir Peter noch einige Stunden Bedenkzeit geben. Ich schlage vor, wir gehen jetzt in unsere Hotels zurück und treffen uns zum Abendessen an irgendeinem Platz, wo wir gemütlich beisammensitzen können.«
Andrea und Dr. Renzi waren mit diesem Vorschlag einverstanden.
*
Schon eine Woche später brachte Dr. Renzi seine Kinder nach Sophienlust. Er hatte seine Ankunft telefonisch angekündigt. Andrea wusste auch, wie schwer es ihm geworden war, seine Kinder zu dieser Trennung zu überreden.
Nun stiegen die beiden mit sehr skeptischen und beinahe eigensinnigen Gesichtern aus dem Wagen.
Andrea stand mit ihrer Mutter zum Empfang auf der Freitreppe.
»Sind die lieb«, meinte Andrea. »Noch hübscher als auf den Fotos, die mir Dr. Renzi gezeigt hat.«
»Ich gehe ihnen entgegen, Andrea«, sagte Denise. »Kommst du mit?« Sie zeigte auf die Treppe. »Aber sei nicht zu hastig, damit du nicht stolperst.«
»Oh, Mutti«, entgegnete Andrea lachend, »inzwischen habe ich doch gelernt, dass ich in Sophienlust nicht mehr mit den Kindern um die Wette laufen darf, sondern meinem Status als werdende Mutter gerecht werden muss.« Während sie das sagte, hingen ihre Blicke an Dr. Renzi und seinen Kindern.
Der Junge war für seine sieben Jahre recht groß. Er hatte so dunkelbraunes Haar wie sein Vater und sah ihm überhaupt sehr ähnlich. Das fünfjährige Mädchen reichte dem Bruder nur bis zu den Schultern. Es war ein zartes Geschöpf mit einem ganz lieben Gesicht, das von langem mittelblondem Haar eingerahmt wurde. An den Ohren wurde das Haar von Spangen zusammengehalten.
Andrea gab es einen Stich im Herzen. Warum konnte sich die Mutter an diesen beiden gesunden und schönen Kindern nicht mehr erfreuen? Sie war bei ihrem Tod erst dreißig Jahre alt gewesen.
Glücklicherweise konnte Andrea nicht länger diesen traurigen Gedanken nachhängen. Sie musste ihre Mutter und Dr. Renzi miteinander bekannt machen.
Im Stillen dachte Andrea: Er hat wirklich gute Manieren und ist sehr selbstbewusst. Er bedankt sich zwar für das Entgegenkommen, die Kinder bringen zu dürfen, doch das geschieht ohne Aufdringlichkeit. Aber dass er erstaunt ist, wie jung und schön Mutti noch ist, das kann er doch nicht ganz verbergen.
Die Kinder gaben artig die Hand, aber sie sahen sich scheu um. Erst als sie die Dogge Severin auf dem Rasen sitzen sahen, lachten sie. »Vati, guck, das ist ein schöner Hund«, sagte Sylveli.
»Von der Güte haben wir noch mehrere«, erwiderte Andrea lächelnd und legte den Arm um die Schultern des kleinen Mädchens. »Dackel, einen Bernhardiner und gelegentlich auch noch andere Rassen.«
Sylveli sah schüchtern zu ihr auf. »Bären auch? Ist das wahr?« Sie machte den Eindruck, als liefen ihr Schauer der Furcht über den Rücken.
»Ja, auch Bären«, versicherte Denise von Schoenecker. »Tante Andrea wird euch bald mal in ihr Tierheim einladen. Unsere Kinder sind oft dort.«
Ivo machte jetzt ein verstocktes Gesicht. »In einem Tierheim gibt es keine Bären«, behauptete er. »Du glaubst auch einfach alles, Sylveli. Das hat Vati uns doch nur erzählt, damit wir neugierig werden und lieber mit ihm fahren.«
Dr. Renzi sah betroffen aus. Er legte die Hand auf den Kopf seines Sohnes. »Ivo, das solltest du nicht sagen und auch nicht denken. Wir haben oft genug darüber gesprochen, wie gut es für euch sein wird, dass ihr auf dem Land leben und bei anderen Kindern sein könnt. Du solltest mir jetzt nicht noch immer solche Vorwürfe machen.«
Die kleine Gruppe war während dieses Gespräches bis in die Halle von Sophienlust gekommen. Sylveli schmeichelte ihre Hand in die des Vaters. Mit traurigen Augen sah sie zu ihm auf. »Wir wollten dich doch nur nicht allein lassen, Vati«, sagte sie mit dünner Stimme.
»Das weiß ich, Sylveli.« Die Stimme Dr. Renzis konnte nicht verhehlen, dass er erschüttert war.
Denise von Schoenecker bemühte sich, dieses Thema zu beenden. »Kommt, Ivo und Sylveli, wir gehen in den Wintergarten. Dort sind fast alle unsere Kinder. Ich mache euch mit ihnen bekannt. Sie sind schon schrecklich neugierig auf euch. Eigentlich wollten sie vor das Haus laufen und euch dort begrüßen, aber das wollte ich nicht. Vielleicht wärt ihr erschrocken, wenn euch gleich so viele Kinder überfallen hätten. Manchmal sind sie nämlich recht übermütig.«
»Komm mit, Vati«, bat Sylveli.
»Natürlich gehe ich mit. Ich will doch eure zukünftigen Spielgefährten ebenfalls kennenlernen.« Dr. Renzi schob Ivo durch die geöffnete Tür des Wintergartens.
Andrea blieb in der Halle. Sie wollte hier abwarten, mit welchen Gesichtern die beiden Neuen zurückkommen würden.
Pünktchen kam jetzt die Treppe heruntergelaufen. Erstaunt sah sie Andrea an, dann meinte sie verschmitzt lachend: »Dass du mal still in einem Sessel sitzt, Andrea, das wundert mich aber.«
»Ich fühle mich etwas angegriffen.« Andrea strich sich über die Stirn.
Pünktchen riss die Augen auf.
»Kommt vielleicht dein Baby schon, Andrea?«
Jetzt lachte die junge Frau hell auf. Dann schüttelte sie den Kopf. »Aber Pünktchen, mit bald zwölf Jahren und bei dem Aufklärungsunterricht, den ihr jetzt in der Schule habt, müsstest du doch wissen, dass die Lieferzeit für ein Baby noch immer neun Monate beträgt. Und die sind leider noch nicht um.«
Pünktchen, die schon in Sophienlust gelebt hatte, als Andrea noch nicht verheiratet gewesen war, und die sie deshalb auch so vertraut anreden durfte, wurde verlegen. »Na ja, so genau kann ich das doch nicht wissen. Schließlich hast du uns ja dein Geheimnis auch nicht gleich verraten. Aber warum sagtest du, dass du dich angegriffen fühlst? Das kennen wir alle nicht an dir.«
»Doch, diesen Zustand kennt ihr an mir, an Mutti und auch an euch, Pünktchen. Jedes Mal, wenn neue Kinder kommen, fragen wir uns, ob sie sich auch eingewöhnen werden. Diese Zweifel bleiben auch dann bestehen, wenn wir wissen, dass jedes Kind bei uns in Sophienlust geborgen ist. Ich habe das Gefühl, dass immer am meisten die Kinder zu bemitleiden sind, die erst vor Kurzem ihre Mutter verloren haben.«
»Sprichst du von Ivo und Sylveli, Andrea?«
»Ja, sie sind eben angekommen.«
»Aber du hast doch gesagt, dass ihre Mutter schon vor einem Jahr gestorben ist.«
Andrea seufzte. »Was bedeutet schon ein Jahr, wenn Kinder nicht zurechtkommen und sich nach Mutterliebe sehnen? Wenn sie ganz klein sind, vergessen sie schneller. Aber Sylveli war beim Tod ihrer Mutter vier, Ivo sechs Jahre alt. In diesem Alter verstehen Kinder schon, was ihnen passiert ist. Geh, Pünktchen, schau mal in den Wintergarten, was sich dort tut.«
Pünktchen ging an die Tür und öffnete sie leise. Sie schaute minutenlang durch den Türspalt, dann kam sie zurück. Ihre Augen glänzten, als sie berichtete: »Es ist so wie immer, Andrea. Die beiden Neuen sind schon aufgenommen worden. Sie sitzen mit den anderen auf dem Fußboden und spielen.«
»Beide? Auch Ivo?«, fragte Andrea, als könnte sie das gar nicht glauben.
»Ja, auch der Junge. Henrik hat ihn mit Beschlag belegt. Und bei dem ist Ivo doch in den besten Händen. Dein kleiner Bruder ist schon ein Spezialist im Eingewöhnen der Neuen.« Pünktchen lachte vergnügt.
»Ja, das stimmt. Henrik macht jetzt schon manchmal unserem Nick Konkurrenz. Und das will wirklich etwas heißen.« Andrea stand auf. »Dann werde ich auch mal stiller Beobachter spielen.« Sie schlich sich an den Türspalt.
Als sie wieder zu Pünktchen zurückkam, sah sie gelöster aus. »Ja, es stimmt. Alle spielen miteinander. Mutti sitzt am kleinen Tisch und unterhält sich mit Dr. Renzi. Vielleicht habe ich mir unnötige Sorgen gemacht. Ich hatte so eine merkwürdige Vorahnung, als die beiden Kinder ausstiegen. Ich kann das gar nicht erklären …« Andrea war sehr nachdenklich geworden. Doch jetzt zuckte sie die Schultern. »Ich glaube, unsere Huber-Mutter hat ihre Gabe, so ein bisschen in die Zukunft lugen zu können, auf mich übertragen. Ich dachte einfach, mit diesen beiden Kindern wird es Schwierigkeiten geben. Aber ich bin eben keine geborene Seherin.« Andrea griff nach Pünktchens Hand. »Komm, jetzt gehen wir auch in den Wintergarten. Wir beide brauchen doch hier nicht Zaungäste zu spielen.«
*
Andrea hatte sich zu früh gefreut. Das zeigte sich schon in den nächsten Tagen. Auch wenn Sylveli und Ivo mit den anderen spielten und sprachen, blieben sie doch zurückhaltend – viel länger, als man das in Sophienlust von anderen neuen Kindern gewöhnt war.
Denise von Schoenecker war darüber ein wenig betroffen. Bisher war es ihr fast immer gelungen, sich auf die Kinder einzustellen. Die Geschwister Renzi aber machten ihr Sorgen. Nicht etwa, dass sie bockig waren oder sich absonderten, nein, es war etwas ganz anderes, was die Erwachsenen bedrückte. Sylveli und Ivo sprachen immer wieder von ihrer Mutti. Und das gegenüber den anderen Kindern, von denen viele Vollwaisen waren oder keine Mutter mehr hatten.
Ganz plötzlich stand in Sophienlust ein Thema im Mittelpunkt, das man früher nicht so deutlich besprochen hatte. Die Kinder begannen alle davon zu träumen, wie schön es wäre, eine Mutti zu haben. Dabei steigerten sie sich in Fantasien hinein, unter denen Denise, Schwester Regine und die Heimleiterin litten. Sie taten alles für ihre Schützlinge, und diese fühlten sich auch jetzt noch sehr wohl in dem Kinderheim. Viele von ihnen wären lieber in Sophienlust geblieben, als zu Adoptiveltern gegangen. Aber das Idealbild der Mutter geisterte durch das Haus.
Denise von Schoenecker entschloss sich schließlich, mit Ivo und Sylveli zu reden. Dazu machte sie mit beiden einen Spaziergang über die Felder. Denn längst hatte sie gemerkt, was die Freiheit auf dem Land für diese beiden Großstadtkinder bedeutete. Sobald sie draußen waren, bewegten sie sich vollkommen frei und unbeschwert. Wenn sie gar noch bei Tieren sein konnten, machten sie einen glücklichen Eindruck.
Auf einem Feldrain blieb Denise mit den beiden sitzen. Sie zeigte auf ein Dach, das aus dem Wald ragte. »Das ist das Forsthaus. Wir werden es auch einmal besuchen. Der Förster hat oft Pfleglinge aus dem Wald. Ein verletztes Rehkitz oder auch junge Hasen.«
»Pflegt er die dann gesund, Tante Isi?«, fragte Sylveli. Der Blick ihrer blauen Augen war bange.
»Ja, die pflegt er gesund, um sie wieder in den Wald zurückschicken zu können, Sylveli.«
»Zu ihrer Mutti?«, fragte das kleine Mädchen.
Noch bevor Denise antworten konnte, sagte Ivo: »Manchmal ist ja auch die Reh- oder Hasenmutter tot, Sylveli.«
»Genau wie bei uns.« Das kleine Mädchen starrte über das Feld. »Wenn du uns nach Hause schickst, Tante Isi, dann wartet unsere Mutti auch nicht auf uns. Sie kann ja nicht mehr zurückkommen, weil sie gestorben ist.«
Denise war erschrocken. Sie hatte den Kindern von den Pfleglingen des Försters erzählen wollen, aber nun waren sie schon mitten in dem Thema, das sie gern noch ein wenig hinausgeschoben hätte. Es blieb ihr nun nichts anderes übrig, als es aufzugreifen.
»Sylveli, wie kommst du denn darauf, dass ich euch nach Hause schicken könnte?«
»Weil wir noch einen Vati haben«, antwortete Ivo. »Manche Kinder in Sophienlust haben keinen Vati und keine Mutti. Solche Kinder müssen in einem Heim bleiben, wir aber nicht.« Seine Stimme klang nicht aufsässig, aber sehr überzeugt.
»Es macht ja auch nichts, wenn du uns wieder nach Hause schickst, Tante Isi. Wir wollen doch bei unserem Vati sein.« Sylveli sah Denise an. »Vati ist ja auch so traurig, weil wir keine Mutti mehr haben.«
»Das weiß ich, Sylveli. Aber denkt auch daran, dass euer Vater arbeiten muss. Er hat wenig Zeit für euch. Und ist es nicht schöner, in Sophienlust zu sein, als eine Erzieherin zu haben?«
Ivo stocherte mit einer Rute in die Erde. Er sah nicht auf, als er erwiderte: »Wir wollen keine Erzieherin, und wir wollen auch nicht in einem Kinderheim sein. Wir wollen wieder eine Mutti haben.«
»Ja, und eine so liebe wie unsere Mutti.« Sylveli schien nur darauf gewartet zu haben, ihrem Bruder beipflichten zu können. Sehnsucht lag in ihren Augen. »Alle Kinder in Sophienlust sagen, dass nur Muttis ihre Kinder ganz lieb haben.«
Das war der wunde Punkt, den Denise an diesem Tag hatte ansprechen wollen. Doch jetzt fiel es ihr schwer, darauf einzugehen. Aber sie musste versuchen, die Geschwister davon abzuhalten, die anderen Kinder in Sophienlust in diese Wunderwelt der Mutterliebe zu versetzen. Denn die bisher zufriedenen Kinder waren unruhig geworden.
Denise zog Sylveli an sich und erklärte: »Du hast recht, Sylveli, Muttis haben ihre Kinder sehr lieb. Aber du siehst doch hier in Sophienlust, dass es eben viele Kinder gibt, die ihre Mutti verloren haben. Du hast doch selbst gesagt, dass deine Mutti nicht mehr zurückkommen kann. Wenn ihr das einseht, dürftet ihr es eigentlich den Menschen, die euch helfen wollen, nicht so schwermachen. Glaubst du nicht, dass wir alle euch liebhaben? Schwester Regine, Frau Rennert, Magda und alle, die sich in Sophienlust so sehr um euch sorgen?«
Ivo sah noch immer nicht auf. Er tat weiterhin, als müsste er mit seiner Rute unbedingt ein Loch in das Erdreich bohren. »Wir mögen ja auch alle gern«, entgegnete er endlich.
Sylveli, die meistens auf das Startzeichen von ihrem Bruder wartete, erläuterte das sofort. Sie drückte sich dabei sogar ein wenig fester an Denise. »Ja, Tante Isi, wir mögen dich, Schwester Regine und alle. Auch die anderen Kinder.«
»Wenn das so ist, solltet ihr euren Freunden aber nicht immerzu ausmalen, um wie viel schöner es wäre, wenn sie eine Mutti hätten.« Denise musste ihren ganzen Mut zusammennehmen, um das auszusprechen. Sie hatte Angst, den Geschwistern wehzutun.
»Überlegt doch, dass unsere Kinder in Sophienlust bisher zufrieden waren. Sie können ihre Mutti nicht wiederhaben. Deshalb versuchen wir, ihnen die Mutti zu ersetzen. Es tut uns weh, wenn ihr immer wieder behauptet, Muttis würden alles viel besser machen als wir.«
Jetzt sah Ivo auf. Auch er hatte so blaue Augen wie seine kleine Schwester. Erschrocken sahen sie Denise an. »Sylveli und ich wollen dir und den anderen aber keinen Kummer machen, Tante Isi. Wir möchten nur wieder eine Mutti haben, damit wir auch bei unserem Vati sein können.«
Denise zögerte einige Sekunden, bevor sie sagte: »Euer Vater ist erst sechsunddreißig Jahre alt. Vielleicht heiratet er wieder. Dann bekommt ihr auch eine Mutti. Ihr müsst nur etwas Geduld haben.«
Sylvelis Augen leuchteten auf.
»Glaubst du, Tante Isi, dass wir dann wieder eine so liebe Mutti haben würden, wie unsere war?«
»Ja, das glaube ich, Sylveli. Schau, ich habe schon oft erlebt, dass Kinder, die in Sophienlust waren, eines Tages wieder nach Hause zurückgehen konnten, weil dort eine neue Mutti auf sie wartete.«
»Aber ob Vati die richtige Mutti für uns aussucht?« Das fragte Sylveli sehr nachdenklich. Nun stieß sie ihren Bruder an. »Glaubst du das, Ivo?«
Der Junge zuckte die Schultern. »Das weiß ich doch nicht, Sylveli. Vati hat so viel Arbeit und gar keine Zeit, eine Mutti für uns zu suchen.«
Sylvelis Gesicht drückte wieder Niedergeschlagenheit aus. »Ja, das ist wahr. Wenn wir in Hamburg wären, könnten wir Vati suchen helfen. Wir wissen ja auch viel besser als er, wie unsere Mutti sein muss. So wie unsere Erzieherinnen waren, darf sie nicht sein. Und die hat auch immer Vati ausgesucht.«
Denise sah keinen Weg mehr, die Kinder etwas besser auf das Leben in Sophienlust einzustimmen. Die beiden kamen immer wieder auf dasselbe Thema zurück. Ein jedes Gespräch mit ihnen würde sich nach kurzer Zeit darum drehen, dass es ihr größter Wunsch war, die liebste Mutti dieser Welt zu haben.
Denise erhob sich deshalb und sagte: »Kommt, wir gehen jetzt zurück. Ihr wisst ja, dass Henrik mit euch noch ins Tierheim gehen will.«
Bereitwillig folgten ihr Sylveli und Ivo. Der grüblerische Ausdruck verschwand von ihren Gesichtern. Wie immer freuten sie sich auf den Besuch bei Andrea und ihren Tieren. Erst recht in der Begleitung von Henrik. Er war ihr besonderer Freund geworden. Sie neideten ihm nicht einmal, dass er eine so liebe Mutti besaß, wie es ihre Tante Isi war.
*
Auf dem Heimweg vom Tierheim Waldi & Co. machte sich das Gespräch zwischen Denise und den Renzi-Kindern doch noch bemerkbar.
Sylveli sagte: »Henrik, glaubst du, dass unser Vati die richtige Mutti für uns findet?«
Der siebenjährige Henrik blieb stehen. Er sah Sylveli verblüfft an, als er fragte: »Sucht euer Vati denn eine neue Mutti für euch?« Er sah jetzt Ivo an, als erhoffe er von ihm eine klarere Antwort, als Sylveli ihm zu geben vermochte.
Ivo blies die Luft aus den Wangen. Allem Anschein nach hatte er keine große Lust, dieses Thema schon wieder aufzugreifen. »Das denkt Sylveli nur, weil deine Mutti heute so etwas Ähnliches gesagt hat. Dabei wollte sie uns doch nur beibringen, dass wir nicht so viel von einer Mutti sprechen sollen.«
Hätte Denise das gehört, wäre sie zu der Überzeugung gekommen, dass dem Abc-Schützen Ivo auf diplomatische Weise nicht viel beizubringen war. Wo Sylveli sich noch gern führen ließ, war bei ihm sofort das Misstrauen wach.
Henrik berührte das nicht. Er nahm Sylvelis Andeutung ernst, weil für ihn alles von Bedeutung war, was seine Mutti sagte. Sie hatte ja auch immer die besten Ideen, wie man jemandem helfen konnte. Also fragte er: »Was hat meine Mutti gesagt? Dass euer Vati eine neue Mutti sucht?«
Ivos Hand wischte durch die Luft. »Tante Isi hat nur gesagt, vielleicht wird das unser Vati mal tun.«
»Ja, und deshalb wollen wir wissen, ob er die richtige Mutti suchen wird, Henrik.« Sylveli geriet in Eifer. Sie zupfte Henrik an der Hose. »Meinst du, dass dein Vati die richtige Mutti für dich finden würde?«
»Mein Vati?« Das fragte Henrik sehr gedehnt. Aber welche Gedanken jetzt durch sein Köpfchen spukten, das verriet er nicht. Konnte er den Geschwistern sagen, dass sein Vati Gott sei Dank nicht in der furchtbaren Verlegenheit war, eine Frau suchen zu müssen? Und konnte er ihnen sagen, dass er – Henrik – doch ganz sicher seine geliebte Mutti behalten würde? Nein, das durfte er nicht tun. So zog er sich geschickt aus der Affäre, indem er antwortete: »Das weiß ich nicht. Woher soll ich das auch wissen? Aber ich würde meinen Vati bestimmt niemals allein eine Mutti für mich suchen lassen. Nick und ich wären damit nicht einverstanden. Wir würden eine neue Mutti selbst aussuchen.«
Sylveli blieb der Mund vor Staunen offen stehen. Ivo aber machte ein überhebliches Gesicht und fragte: »Wie willst du das denn machen? Das würde nicht einmal dein großer Bruder Nick schaffen.«
Henrik fühlte sich angegriffen.
»Meinst du, ich könnte nicht selbst eine Mutti für mich suchen? Das wäre doch ganz einfach. Ich würde an den Rundfunk oder ans Fernsehen schreiben. Hast du noch nie gehört, dass die jemanden suchen?« Zur Bekräftigung seiner Frage boxte er Ivo leicht in die Seite.
»Das habe ich schon gehört. Aber die suchen immer nur Verbrecher und sagen, die Leute sollen bei der Suche helfen.« Ivo machte ein sehr skeptisches Gesicht. Henriks Sicherheit schien gar nicht auf ihn zu wirken.
Aber Henrik war nun nicht mehr zu bremsen. Wenn er einmal eine gute Idee hatte, wusste er sie auch zu verteidigen.
»Na und? Wenn Verbrecher über den Rundfunk und über das Fernsehen gesucht werden, kann man doch auch eine Mutti suchen.« Henrik ließ sich auf einem Kilometerstein neben der Straße nach Wildmoos nieder. So etwas Wichtiges konnte man schließlich nicht im Gehen besprechen. Dazu musste man sich schon Zeit nehmen. »Euer Vati kann höchstens in Hamburg eine Mutti für euch finden. Und wenn er so viel Arbeit hat, wie ihr sagt, kommt er vielleicht nur mit wenigen Leuten zusammen. Er kann auch gar nicht jedem sagen, wie die neue Mutti sein soll, die ihr euch wünscht.«
»Sie muss genau so sein, wie unsere Mutti war«, warf Sylveli ein. Sie hatte vor Aufregung rote Wangen bekommen.
Henrik nickte und verzog das Gesicht ein wenig. »Das ist doch klar, Sylveli. Darüber brauchen wir gar nicht mehr zu reden. Aber stelle dir vor, wie viel Leute über den Rundfunk und über das Fernsehen hören würden, wie eure Mutti sein soll.«
»Und wenn es dann so viele wissen?«, fragte Sylveli. »Was ist dann?«
»Dann werden sich viele Muttis melden. Ihr müsst halt die Adresse von eurem Vati angeben oder eure hier in Sophienlust.« Jetzt kniff Henrik die Augen zusammen. »Nein, das geht nicht. Eure Adresse dürft ihr nicht angeben. Dann kämen vielleicht alle, die eure Mutti werden wollen, nach Sophienlust. Und da würde meine Mutti nicht mittun.« Er beugte sich vor und tuschelte geheimnisvoll: »Wir dürfen überhaupt nichts von diesem Plan verraten.«
Ivo sah ihn verdattert an. »Aber wir brauchen doch jemanden, der uns hilft. Wir wissen ja gar nicht, wie wir das machen sollen.«
»Wir können doch schon schreiben, Ivo. Du und ich.« Henrik sah etwas mitleidig zu Sylveli.
»Aber solche Briefe können wir nicht schreiben. Du nicht und ich auch nicht«, widersprach Ivo. »Kann uns denn nicht jemand von den Großen helfen? Dein Bruder Nick, Pünktchen oder Angelika?«
»Blödsinn!« Henrik tippte sich an die Stirn. »Die machen doch alle nichts, ohne mit Mutti gesprochen zu haben. Die trauen sich doch nicht.«
»Und Schwester Regine?«, fragte Ivo.
»Die auch nicht. Sie ist ja sehr lieb, aber wir haben noch nie eine Mutti durch den Rundfunk oder durch das Fernsehen suchen lassen. Eine ganz neue Mutti. Deshalb wird uns auch Schwester Regine nicht helfen. Ich glaube, wir müssen es doch allein machen.« Jetzt stand Henrik auf und ging langsam weiter.
Die Renzi-Geschwister folgten ihm mit bedrückten Gesichtern. Nun hatte Henrik eine so prima Idee gehabt, aber er wusste selbst nicht, wie man sie in die Tat umsetzen konnte. Es wurde also wieder nichts mit der Hoffnung, eine neue liebe Mutti zu haben und nach Hamburg zurückkehren zu können.
Doch die beiden ahnten nicht, dass Henrik noch lange nicht am Ende seines Lateins war. Knapp vor dem Tor von Sophienlust streckte er Ivo und Sylveli die Hand entgegen und sagte: »Großes Ehrenwort, dass ihr nichts von dem ausplappert, was wir uns ausgedacht haben?«
Die Geschwister schlugen nacheinander ein, obwohl sie nicht verstanden, warum man jetzt noch ein großes besiegeltes Geheimnis aus dem Plan machen sollte. Er war doch eigentlich schon gescheitert.
Aber sie kannten Henrik eben noch zu wenig. Dieser flüsterte jetzt: »Ihr überlasst alles mir. Ich habe jemanden gefunden, der uns ganz bestimmt hilft. Magda.«
»Die Köchin?«, fragte Ivo.
Während er nicht daran zu glauben schien, dass sie in der alten Magda eine Verbündete finden könnten, strahlte Sylveli über das ganze Gesicht und meinte: »Oh, Magda kann ja auch den besten Pudding kochen. Sie hilft uns bestimmt.«
»Was das nur mit dem Pudding zu tun hat«, maulte Ivo, der gewöhnt war, Sylveli zu bevormunden und gelegentlich auch ein wenig über sie zu lächeln.
Aber Sylveli konnte sich auch entrüsten. Jetzt tat sie es. Mit funkelnden Augen sah sie ihren Bruder an und erklärte: »Magda ist auch immer sehr lieb zu uns. Das weißt du ganz genau. Als wir ihr gesagt haben, dass unsere Mutti so prima Heringssalat gemacht hat …«
Ivo unterbrach sie: »Ja, da gab es schon am nächsten Tag Heringssalat. Aber so gut wie bei Mutti war er nicht.«
Jetzt brauchte Sylveli die Köchin nicht mehr zu verteidigen. Denn Ivo hatte sich mit seiner abfälligen Bemerkung Henriks Zorn zugezogen. Der Siebenjährige hatte ein puterrotes Gesicht bekommen. »Gib nicht so an«, rief er, »als ob nur ihr in Hamburg guten Heringssalat machen könntet. Magda hat sich so viel Mühe gegeben, aber du bist ein richtiger Spinner. Auch wenn dir der Salat noch so gut geschmeckt hätte, würdest du das nicht zugeben. An etwas musst du immer herummeckern. Alles ist nicht so schön und so gut wie bei deiner Mutti. Aber das sage ich dir: So wirst du nie eine neue Mutti finden. Denn niemand würde es euch recht machen. Mir ist jetzt ganz wurscht, was für eine Mutti euer Vater aussucht. Ich mache auch die Sache mit dem Rundfunk und mit dem Fernsehen nicht mehr mit und frage auch Magda nicht, ob sie uns hilft. Kümmert euch doch, wenn ihr so gescheit seid.« Das alles hatte Henrik in grimmiger Erregung hervorgesprudelt, wobei er wie ein Kampfhahn vor den Geschwistern stehen geblieben war. Jetzt drehte er sich um und lief in den Park.
Sylveli war sehr erschrocken. Sie warf noch einen fragenden Blick auf ihren Bruder, dann lief sie hinter Henrik drein. Als sie ihn eingeholt hatte, hielt sie ihn am Arm fest. »Ich habe doch gar nicht auf den Heringssalat geschimpft, Henrik«, klagte sie sehr kleinlaut.
»Das wundert mich«, meinte Henrik. »Du redest doch sonst alles nach, was dein Bruder sagt.«
»Sei doch nicht so böse, Henrik«, bat Sylveli. Um ihren Mund zuckte es.
Das war für Henrik zu viel, um noch länger den Wütenden zu spielen. »Heul jetzt nicht!« Das kam noch ruppig über seine Lippen, aber er sah Sylveli schon versöhnlich an. »Geh zu deinem Bruder zurück. Er ist ja doch zu bockig, um nachzukommen.«
»Bockig ist Ivo nicht. Er … er …« Sylveli kam ins Stottern.
»Siehst du, du weißt selbst nicht, wie er ist, Sylveli. Ich habe ja auch nichts gegen ihn, aber er soll Magda nicht schlecht machen. Sie ist so lieb zu euch. Und sie hätte uns auch ganz gewiss geholfen.«
»Frag sie doch, Henrik. Bitte!« Sylveli sah Henrik treuherzig an. »Du kennst sie doch viel besser als wir. Und Ivo war doch von deinem Vorschlag, dass wir uns selbst eine neue Mutti suchen, begeistert.« In diesem Augenblick wurde Sylveli zur kleinen raffinierten Diplomatin. Sie kannte ihren Freund Henrik. Er war immer ansprechbar, wenn man seine Ideen lobte.
Davon konnte sie sich auch sofort überzeugen. Henrik sagte ein wenig gönnerhaft: »Na ja, ich werde mir noch überlegen, ob ich mit Magda spreche. Warten wir bis nach dem Abendessen. Da geht sie in ihr Zimmer. In der Küche kann ich sie nicht fragen. Da könnte es jemand merken. Geht schon ins Haus. Ich muss noch zu Justus.«
»Meinst du, dass er auch einen Brief für uns wegen einer neuen Mutti schreiben könnte, Henrik?«, fragte Sylveli.
»Freilich könnte Justus auch schreiben«, tat Henrik ein wenig von oben herab, »aber ich will wegen unserer Ponys zu ihm.« Jetzt machte er ein verschmitztes Gesicht. »Ich will Justus fragen, ob ihr morgen auf den Ponys reiten dürft.«
»Ivo und ich?«, fragte Sylveli. Ihre Augen glänzten vor Erwartung.
»Wer denn sonst? Ihr wünscht euch das doch schon so lange. Hans-Joachim hat die Ponys geimpft. Deshalb durften wir ein paar Tage nicht reiten.«
»Ich mag Ponys so gern, Henrik. Wenn wir aufs Land gezogen wären, hätten Ivo und ich auch Ponys bekommen. Das hatte Mutti uns versprochen.« So freudig Sylvelis Stimme eben noch geklungen hatte, jetzt sah sie Henrik erschrocken an. »Hätte ich das auch nicht sagen sollen, Henrik?«, fragte sie leise.
»Du bist vielleicht dumm. Warum solltest du das denn nicht sagen? Du kannst ja von deiner Mutti sprechen, aber … aber …« Jetzt kam Henrik nicht weiter. Es war aber auch zu schwierig, das zu erläutern. Vor so viele Probleme wie Ivo und Sylveli hatte ihn bisher noch niemand gestellt. Dabei mochte er die beiden so gern.
Sylveli sah seine Verlegenheit und wollte ihm aus der Patsche helfen. »Ich weiß schon, was du meinst, Henrik. Wir sollen nicht sagen, dass unsere Mutti besseren Heringssalat gemacht hat als Magda. Das werden wir auch nie mehr sagen. Ich verspreche es dir. Aber sprich mit Magda.«
»Ja.« Mehr äußerte Henrik nicht mehr. Er machte sich jetzt aus dem Staub und tat es in der festen Überzeugung, dass man mit Freunden manchmal Krach bekommen konnte wie eben mit Ivo, aber dass das wesentlich einfacher war, als mit einem so lieben Mädchen, wie Sylveli es war, auf Kriegsfuß zu stehen.
Sylveli lief zu ihrem Bruder zurück, der die ganze Zeit auf seinem Platz am Tor geblieben war und Sylveli und Henrik beobachtet hatte. Ivo fragte: »Ist Henrik noch immer böse?«
»Ach wo!« Sylveli lachte.
»Aber er ist doch nicht mit dir zurückgekommen.«
»Er geht zu Justus. Und weißt du, warum? Er wird ihn fragen, ob wir morgen auf den Ponys reiten dürfen, Ivo.«
»Ich auch?«, fragte der Junge ungläubig.
»Freilich, du auch.« Sylveli strahlte. »Aber sage ja nicht mehr, dass Magdas Heringssalat nicht gut war. Ich fand es auch ungezogen von dir, von Magda so etwas zu sagen.«
Ivos Gesicht erstarrte. Seit wann fand seine kleine Schwester etwas, was er tat, nicht richtig? Ja, jetzt hatte sie ihn sogar kritisiert. Damit musste er erst fertigwerden. »Gehen wir zu den anderen«, entschied er recht niedergeschmettert.
Sylveli tanzte auf dem Weg zur Freitreppe neben ihm herum. »Henrik wird doch mit Magda sprechen. Aber – pst!« Sie legte den Finger beschwörend auf den Mund.
»Ich habe Henrik doch das große Ehrenwort gegeben«, entgegnete Ivo vorwurfsvoll. »Und das halte ich auch.«
Die beiden kamen nicht mehr dazu, sich über Henriks Plan zu unterhalten. Das große Ehrenwort war schuld daran. Denn die anderen Kinder durften ja nicht einmal ahnen, welche Verschwörung sie beschlossen hatten.
*
Die alte Magda wunderte sich, als Henrik nach dem Abendessen in der Küche aufkreuzte. Wenn er gesättigt war, ließ er sich selten hier blicken.
»Ich brauche heute erst in zwei Stunden nach Schoeneich zurück, Magda«, verkündete Henrik. »Mutti bleibt auch noch in Sophienlust. Wir warten, bis Vati uns abholt. Er ist doch nach Stuttgart gefahren.«
»Na, dann stelle mal hier nicht wieder alles auf den Kopf, Henrik. Du weißt ja, nach dem Abendessen soll es in Sophienlust etwas friedlich zugehen.« Magda fuhr dem Jungen durch seinen Wuschelkopf.
»Ich will ja nur bei dir bleiben, Magda«, erklärte Henrik.
»Bei mir? Das ist ja etwas ganz Neues. Ich bin übrigens gleich fertig in der Küche. Einmal muss auch Schluss sein mit dem Arbeiten.«
»Und was machst du dann, Magda?« Henrik hatte sich vorgenommen, sich sehr vorsichtig an sein Ziel heranzupirschen. Magda liebte es nicht sonderlich, mit Wünschen überfallen zu werden.
»Dann gehe ich in mein Zimmer und stelle mir das Radio an. Um diese Zeit kommen immer Nachrichten, die mich interessieren. Auch ein alter Mensch muss wissen, was in der Welt passiert.«
Henrik spielte mit einem Kochlöffel. »Magda, könntest du das Radio nicht etwas später anstellen? Ich möchte nämlich gern mit in dein Zimmer gehen.«
Magda stemmte die Hände in die fülligen Hüften. »Was druckst du denn so herum, Junge? Da stimmt doch etwas nicht. Also, heraus mit der Sprache! Was willst du?«
»Du sagst doch immer, wir sollen nicht mit der Tür ins Haus fallen, Magda.« Henrik sah die Köchin unter der Stirn herauf an.
»Mag sein, dass ich das mal gesagt habe, aber jetzt wäre es mir lieber, wenn du Farbe bekennen würdest. Bei deinem komischen Benehmen kann man ja Läuse und Flöhe zur gleichen Zeit kriegen. Hast du was ausgefressen? Soll ich dir wieder mal beistehen?«
»Aber nein, Magda!« Das sagte Henrik im Brustton vollster Überzeugung, als sei er noch nie in der verflixten Lage gewesen, Magda um Beistand bitten zu müssen. »Ich habe nur Ivo und Sylveli versprochen, dass sie dich mit mir besuchen dürfen. Heute Abend. Es muss aber bald sein, Magda.«
Die Köchin sah noch verwunderter aus. »Dann wollt ihr drei also etwas von mir? Was habt ihr angestellt?«
»Gar nichts, Magda. Du sollst uns nur bei etwas helfen. Wirklich, wir brauchen deine Hilfe sehr nötig. Wir haben uns etwas ausgedacht, wobei wir keinen anderen als dich brauchen können.« Henrik sah jetzt zu Magda auf, als sei sie schon in Gottes Nähe gerückt.
Einem solchen Blick hätte auch ein anderer nicht widerstehen können, geschweige denn die gutmütige Magda. »Also, dann kommt. In ein paar Minuten bin ich in meinem Zimmer. Aber sagt Schwester Regine Bescheid, wohin ihr geht, damit sie euch nicht sucht.«
Das hörte Henrik nur mehr aus der Ferne, denn er verschwand schon in Richtung Halle. Schwester Regine lief ihm dabei über den Weg. Er blieb vor ihr stehen. »Schwester Regine, ich bleibe heute noch hier. Ivo, Sylveli und ich gehen zu Magda.«
»Was wollt ihr denn bei ihr? Sie dazu überreden, dass sie wieder einmal Heringssalat macht? Oder ist es diesmal etwas anderes, was sich die Renzi-Kinder wünschen?« Schwester Regine lachte.
Die Erinnerung an den Heringssalat dämpfte Henriks gute Stimmung etwas, aber sie kam ihm auch zugute. »Ja, ich glaube, sie wünschen sich von Magda wieder einmal etwas.« Damit verschwand er.
Wenig später ging Henrik mit Ivo und Sylveli die Treppe in den oberen Stock hinauf. Die drei waren schon vor Magda in deren Zimmer. Als die Köchin eintrat, lachte sie laut und sagte: »Habt ihr es aber eilig, zu mir zu kommen. Jetzt bin ich aber wirklich neugierig, wieso die alte Magda auf einmal so begehrt ist. Ja, macht es euch auf dem Sofa bequem.«
»Aber das Radio schaltest du doch jetzt noch nicht ein, Magda?« Henrik stellte sich vorsichtshalber vor den Apparat.
»Wo werde ich denn? Denkt ihr, ich bin so ungeduldig wie ihr, dass ich nichts erwarten kann? Aber wenn ich schon auf meine Nachrichten verzichten muss, dann spannt mich wenigstens nicht zu lange auf die Folter. Also, was wollt ihr von mir? Was habt ihr euch ausgedacht?«
»Du sollst einen Brief für uns schreiben, Magda.« Es war Sylveli, die damit herausplatzte.
Die beiden Jungen sahen einander vielsagend an. Henrik stöhnte: »Verrate doch nicht gleich alles, Sylveli.«
»Aber es ist doch wahr«, wehrte sich das kleine Mädchen beleidigt. »Das wollen wir doch von Magda.«
Die Köchin zog sich einen Stuhl heran und setzte sich zu den Kindern. »Jetzt spiele nicht schon wieder den Oberlehrer, Henrik. Ich soll also einen Brief für euch schreiben. Habt ihr dafür keinen anderen gefunden?«
»Wir haben noch niemanden gefragt.« Henrik rutschte vom Sofa und stellte sich neben Magda. Wenn er ihr etwas näher war, so meinte er, konnte er ihr sicher leichter begreiflich machen, wie nötig sie gebraucht wurde. »Wir wollen unser Geheimnis auch keinem anderen anvertrauen als dir, Magda. Wirst du den Brief für uns schreiben?«
»Da müsste ich zuerst wissen, an wen der Brief gehen soll. Ich lasse mich doch von euch nicht überlisten. Das würde euch so passen, mir zuerst das Versprechen abzunehmen und mir dann irgendetwas aufzuhalsen, was ich vielleicht gar nicht tun darf.«
»Das darfst du schon tun, Magda.« Jetzt meldete sich Ivo zu Wort. »Du hast doch selbst gesagt, dass Sylveli und ich wieder eine Mutti brauchen. Jetzt wollen wir eine suchen.«
Henrik sah nicht gerade zufrieden aus, als er das hörte. Er überlegte, warum sein Bruder Nick ihm immer vorwarf, dass er zu voreilig war und mit allem gleich herausplatzte. Ivo konnte das noch viel besser.
Aber Magda ließ Henrik jetzt gar nicht zu Wort kommen. »So, eine neue Mutti wollt ihr für euch suchen? Müsstet ihr das nicht eurem Vati überlassen?«
»Der hat keine Zeit dazu.« Das sagte Sylveli mit großer Bestimmtheit.
»Und er würde auch gar nicht die richtige Mutti für uns finden«, stand Ivo ihr bei. Er schien jetzt von Henriks Plan nahezu besessen zu sein.
»Vielleicht habt ihr recht, aber ich verstehe nicht, an wen ich nun einen Brief schreiben soll wegen einer neuen Mutti.« Magda schwante ein Anschlag auf sich selbst. Die Kinder sahen ihr ganz danach aus.
»Lass mich mal«, sagte Henrik nun zu Ivo. »Ich kann das Magda besser erklären.« Er zeigte auf das Radio. »Du sollst an den Rundfunk oder an das Fernsehen schreiben, dass sie für Sylveli und Ivo eine neue Mutti suchen.«
Sicher hätte Magda jetzt gern etwas geäußert, aber es verschlug ihr einfach die Sprache.
Das nutzte Henrik sofort aus. Er erklärte ihr, was die Kinder sich ausgedacht hatten. Sehr genau, in allen Einzelheiten, beschrieb er Magda die Vorzüge einer solchen Fahndung nach einer geeigneten Mutti für seine Freunde.
Magda hatte genau zugehört. Mitleid stieg in ihr auf. Der Plan der Kinder rührte an ihr Herz, weil er davon sprach, wie sehr sich die Renzi-Geschwister nach einer Mutter sehnten.
Magda war viel zu weise, um die Kinder jetzt auszulachen oder ihnen ihren ganzen Plan auszureden. Sie schüttelte nur den Kopf, als sie erwiderte: »Kinder, das ist nicht üblich, dass man eine Mutti über den Rundfunk oder über das Fernsehen sucht. So etwas habt ihr doch noch nie erlebt. Ja, ja, Henrik, ich weiß schon, womit du mir jetzt kommen willst. Damit, dass die Polizei manchmal jemanden suchen lässt. Aber das ist doch etwas ganz anderes. Ich wüsste da schon eher einen Weg. Ihr müsstet eine Annonce aufgeben.«
»Was ist das?«, fragte Sylveli.
»Das könntest du aber auch schon wissen. Mit fünf Jahren!« Henrik kam sich wieder einmal sehr gescheit vor. »Da muss man in der Zeitung schreiben, dass man eine Mutti sucht.« Er sah Magda an. »Aber ich glaube, Magda, das lesen dann nicht so viele Leute.«
»Na ja, eine gar so große Auswahl braucht ihr doch auch nicht. Sonst würde es für euch zu schwer werden, die richtige Mutti zu finden. Ihr könntet in einer Hamburger Zeitung inserieren, damit sich die Frauen bei Herrn Dr. Renzi vorstellen können. Aber ob er damit einverstanden ist?« Magda machte ein sehr zweifelndes Gesicht.
»Ist er, Magda«, trompetete Henrik. »Sylveli hat doch gesagt, dass ihr Vater auch eine neue Frau möchte. Er hat nur keine Zeit, eine zu suchen. Und dann traut er sich vielleicht nicht.«
»Aber was soll er sagen, wenn ihm plötzlich etliche Frauen schreiben oder gar zu ihm kommen? Kinder, Kinder, ihr kommt in Teufels Küche, wenn ihr diesen Plan durchführt. Und ich soll dabei noch mittun?«
Sylveli sprang vom Sofa und lief zu Magda. Schon schlang sie ihre Arme um den Hals der alten Frau. »Du musst uns doch helfen, Magda. Wir können das doch nicht allein machen. Willst du denn nicht, dass wir wieder eine Mutti kriegen? Eine, die genauso lieb ist, wie unsere Mutti es war?«
Magda seufzte. Wegen ihres weichen Herzens. Es war schon am Zerschmelzen. »Natürlich wünsche ich euch eine neue Mutti, so schön ihr es auch in Sophienlust habt. Aber bedenkt, was ich mir aufhalse, wenn die Sache schiefgeht.«
»Hast du Angst vor Herrn Dr. Renzi, Magda?«, fragte Henrik. »Du hast ja nicht einmal vor meinem Vati Angst.«
»Nein, habe ich auch nicht. In meinem ganzen Leben konnten mir Männer nichts vormachen. Dummer Schnack, dass ich Angst vor Herrn Dr. Renzi habe«, regte sich Magda auf. Sie brauchte noch einige Sekunden des Überlegens, dann erklärte sie: »Also gut, wir geben eine Annonce auf. Damit kenne ich mich Gott sei Dank aus. Ich muss mir nur die Anschrift einer großen Hamburger Zeitung verschaffen. Aber das lasst meine Sorge sein. Wir müssen jetzt den Text für eine Annonce zusammenstellen. Dabei müsst ihr mir helfen. Ich kenne ja eure Wünsche nicht genau. So, Sylveli, setz dich wieder hin. Ich muss mir Papier und Kugelschreiber holen.«
Den Kindern war anzusehen, dass sie kaum verstehen konnten, wie schnell Magda ihre Verbündete geworden war. Als Sylveli lispelte: »Was ist denn nun eine … eine … Annonce?«, stieß Ivo sie unsanft an und antwortete: »Das wirst du ja nun merken.« Aber gleich darauf überlegte er, dass er dazu verpflichtet war, seiner kleinen Schwester Auskunft zu geben. »Weißt du, Sylveli, Vati hat doch auch immer Annoncen nach Erzieherinnen aufgegeben. Und dann sind Frauen gekommen, die sich vorstellten.«
Sylveli sah sehr enttäuscht aus. »Aber solche wollen wir doch nicht. Wenn Vati dann so eine nimmt wie Frau Mastig, dann gehe ich nicht nach Hause. Eine solche Mutti mag ich nicht.«
Magda setzte sich an den Tisch. Feierlich legte sie einen Bogen Briefpapier darauf. »Wir werden schon dafür sorgen, dass sich nur solche Frauen bewerben, die ganz genau wissen, wie eure Mutti aussehen soll. Also, was ist für euch das Wichtigste an einer Mutti?«
Sylveli sah Magda mit verklärten Augen an und antwortete: »Sie muss ganz, ganz lieb zu uns sein.«
Henrik rutschte unruhig auf dem Sofa hin und her. »Ganz, ganz liebe Mutti gesucht, das kann man nicht schreiben.«
»Was dann?«, fragte Ivo etwas ratlos.
»Ich hab’s.« Magda neigte sich schon über das Papier. »Zärtliche Mutti gesucht. Zärtlich – das ist ein schönes Wort. Da weiß jeder, was gemeint ist.«
»Wenn du meinst, Magda?« Das sagte Henrik noch etwas zweifelnd. »Und weiter?«
»Jetzt müssen wir zuerst Sylveli und Ivo anpreisen. Als besonders brave Kinder. Sonst will niemand ihre Mutti sein.«
Ivo und Sylveli sahen einander an, als wollten sie fragen: Sind wir denn auch so brave Kinder? Aus diesem Zweifel heraus äußerte Ivo: »Mutti hat aber ganz bestimmt einmal gesagt, dass sie uns auch dann lieb hat, wenn wir nicht so sehr brav sind.«
»Das mag stimmen, aber wenn man eine neue Mutti sucht, muss man etwas diplomatischer sein. Man kann ja die Frauen nicht gleich abschrecken. Ich werde schreiben: ›Zwei Kinder, ein liebes, braves fünfjähriges Mädchen und ein fleißiger, folgsamer siebenjähriger Junge, brauchen ganz dringend eine neue Mutti, weil ihre Mutti gestorben ist.‹« Magda sah Henrik an. »Ich schreibe das gleich auf, damit wir es nicht vergessen.«
»Die Mutti kann auch ein Brüderchen oder ein Schwesterchen mitbringen. Das musst du auch schreiben, Magda.« Sylveli sah Ivo fragend an. »Wir wollen doch noch ein Geschwisterchen?«
»Meinetwegen«, erwiderte Ivo. Sylvelis Wunsch schien ihm weniger wichtig zu sein.
Aber Magda hatte ihn schon aufgegriffen. »Ja, das schreibe ich auch.«
Kaum hatte sich die Köchin wieder über das Papier geneigt, fiel Sylveli schon wieder etwas Neues ein. »Aber du musst schreiben, dass wir nur eine Mutti wollen, die auch unseren Vati lieb hat, damit er nicht mehr so traurig ist.«
»Lasst euch ein bisschen Zeit. So schnell kann ich ja nicht schreiben. Ich darf doch keine Fehler machen. Schwester Regine oder Tante Isi hätten die Annonce besser für euch aufsetzen können. Aber ich weiß schon, die beiden hättet ihr nicht so um den Finger wickeln können wie mich. Also, jetzt habe ich das von dem traurigen Vati. Und was noch?«
Die Kinder dachten angestrengt nach. Endlich fiel Ivo noch etwas ein: »Unsere neue Mutti muss auf dem Land leben mögen und Tiere gernhaben.«
»Gut, das kommt auch noch hinein. Aber dann reicht es. Mit jedem Wort wird die Annonce teurer. Wie ist das überhaupt, könnt ihr dazu etwas beisteuern?« Magda sah die Kinder prüfend an.
»Wir schlachten unser Sparschwein«, verkündete Ivo. »Da ist bestimmt schon viel Geld drin.«
»Einverstanden. Jetzt gebt mir noch die Adresse von eurem Vati. Ivo, die wirst du doch kennen?«
Ivo diktierte Magda die Anschrift. Die Köchin schrieb und las dann vor: »Bewerberinnen, die nicht nur ihren persönlichen Vorteil suchen, sondern den beiden Kindern die Mutti ersetzen wollen, mögen sich bei Herrn Tierarzt Dr. Peter Renzi in Hamburg, Lorettostraße 233, melden.«
»Was hast du da noch geschrieben, Magda?«, fragte Sylveli. »Das haben wir doch gar nicht gesagt.«
»Das von den persönlichen Vorteilen?« Magdas Gesicht glühte vor Eifer. »Das musste ich noch schreiben, wenn ich schon die Verantwortung für diese Annonce übernehme. Frauen, die euren Vater nur deshalb heiraten wollen, damit sie sich ins gemachte Nest setzen können, kommen für uns nicht infrage. So, und jetzt verschwindet. Hoffentlich kostet mich das nicht meine gute Stelle in Sophienlust, dass ich mich von euch habe überreden lassen.«
Henrik lachte. »Magda, du kannst doch machen, was du willst. Dir wäre Mutti nie böse.«
»Siehst du, Henrik, das unterscheidet uns beide voneinander. Während du immer darauf baust, dass deine Mutti am Ende doch nichts krummnimmt, bin ich in Sorge. In der nächsten Zeit wird mich das schlechte Gewissen ganz schön plagen.«
»Wir verraten doch niemandem, dass du uns geholfen hast«, versprach Ivo.
»Das verraten wir erst, wenn wir eine ganz liebe Mutti haben, Magda.« Sylveli drückte sich an die alte Frau. »Dann müssen es ja alle wissen, damit sie dich loben können.«
»Als ob es in meinem Alter noch darauf ankäme, ein Lob einzustecken«, murmelte Magda in sich hinein. Sie schob die Kinder zur Tür hinaus. Als sie verschwunden waren, betete sie: »Hilf uns, Herrgott, dass wir es richtig gemacht haben.«
*
Dr. Peter Renzi sah verwundert den Stapel Post an, den ihm der Briefträger eben in die Hand gedrückt hatte. Was sollte denn das heißen, dass er auf einmal so viele Briefe bekam? Und seine Adresse war meistens handgeschrieben.
Einige Briefe sah er sich jetzt an. Zwei trugen keinen Absender. Auf dem dritten stand der Name einer Frau, den er noch nie gehört hatte. Bei dem vierten und fünften Brief erging es ihm genauso.
Jetzt musste Dr. Renzi seinen nächsten Patienten doch ein Weilchen warten lassen. Zuerst musste er diese mysteriösen Briefe öffnen.
Peter Renzi ließ sich an seinem Schreibtisch im Sprechzimmer nieder und schlitzte den ersten Brief auf. Zuerst fiel ihm eine Fotografie entgegen. Sie zeigte eine nicht mehr ganz junge dunkelhaarige Frau. Das Bild sagte ihm nichts. Er legte es weg und las den Brief. Schon bei den ersten Zeilen stieg ärgerliche Röte in sein Gesicht. Was es nicht alles gab! Da bewarb sich doch tatsächlich eine Frau darum, die Mutter seiner Kinder werden zu dürfen.
Dasselbe wiederholte sich in den vier nächsten Briefen.
Dr. Renzi lehnte sich in seinen Sessel zurück. Das konnte doch nicht mit rechten Dingen zugehen, dass sich die Frauen mit einem Schlag um ihn und seine Kinder rissen. Und wie sie ihre Qualitäten anpriesen! Am häufigsten schrieben sie von Zärtlichkeit. »Da kann einem ja übel werden«, sagte Peter Renzi laut. »Auf so ein Geschäft würde ich mich nie einlassen.«
Erst jetzt fiel ihm wieder ein, dass in einem der Briefe sehr nüchtern gestanden hatte: »Aufgrund Ihrer Annonce bewerbe ich mich …« Er suchte diesen Brief noch einmal heraus. Ja, das stand hier, aber nicht, in welcher Zeitung diese Annonce erschienen sein sollte. Und warum wiesen die anderen Frauen nicht auf diese ominöse Annonce hin? Vielleicht, weil ihnen das zu nüchtern war? Sie wollten dafür allem Anschein nach lieber ihre Vorzüge betonen und vor allem ihre große Kinderliebe. Ja, von Tierliebe wurde auch geschrieben.
Hatte sich da jemand einen Scherz mit ihm erlaubt? Wütend warf Peter Renzi die Briefe in die unterste Schublade seines Schreibtisches. Als er schon an der Tür war, um den nächsten Patienten aufzurufen, oder besser dessen Herrchen oder Frauchen, kehrte er wieder um, riss die Briefe aus der Schublade und warf sie in den Papierkorb. Er wollte die Briefe nicht mehr sehen. Sie noch einmal zu lesen, danach hatte er erst recht kein Verlangen.
Obwohl Dr. Renzi meinte, mit dieser Reaktion seinen Ärger ausgerottet zu haben, kam er doch von dem Gedanken an die Briefe nicht mehr los.
Am Abend saß er im Wohnzimmer und wollte noch Abrechnungen schreiben. Aber er schob seine Notizen bald zur Seite. Am liebsten hätte er die Briefe jetzt noch einmal gelesen. Nicht mit der Empörung von heute Vormittag, sondern ruhiger. Aber der Papierkorb war inzwischen von seiner Putzfrau geleert worden.
Bis spät in die Nacht hinein saß Dr. Renzi untätig in der Wohnung. Das passierte nur sehr selten. Doch an diesem Tag merkte er nicht einmal, dass er nichts tat. Er grübelte immerzu. Durch diese Briefe war die Erinnerung an die Trennung von seinen Kindern wieder in ihm wach geworden. In den letzten Wochen hatte er sich bemüht, nicht immerzu daran zu denken, wie sehr ihm die Kinder fehlten. Aber nun meinte er sie wieder hier sprechen zu hören. Hatte es wirklich keinen anderen Weg gegeben, als die Kinder anderen Menschen anzuvertrauen?
Peter Renzi trat vor das Bild seiner Frau. »Anneliese, bist du mit mir unzufrieden? Habe ich es falsch gemacht? Hätte ich die Kinder bei mir behalten sollen?« Er starrte in das Gesicht der schönen blonden Frau auf dem Bild. »Du kannst mir keine Antwort geben, du hast mich allein gelassen«, fuhr er fort. Verzweifelt ging er zu seinem Sessel zurück. Dort grub er den Kopf in die Handflächen. Wie oft hatte er im letzten Jahr so hier gesessen und die Zukunft nur im tiefsten Dunkel vor sich gesehen.
Wieder fielen ihm diese Briefe ein. War es ein Weg, den Kindern eine neue Mutter zu geben? Aber doch nicht auf diese Art. Welche der Bewerberinnen mochte wirklich ein Herz für die Kinder haben? Jede würde doch nur an die gute Versorgung denken. Und eine Frau im Haus zu haben, die seine Kinder nur in Kauf nahm, nein, das würde er nicht ertragen. Dann sollten sie lieber in Sophienlust bleiben. Dort schenkte man ihnen Liebe, und Freunde hatten sie dort auch.
Deprimiert ging Dr. Renzi zu Bett.
Am nächsten Morgen war sein erster Gedanke: Ob heute wieder solche Briefe kommen würden? Er musste wohl damit rechnen, denn nicht alle Frauen würden sofort auf die Annonce geantwortet haben.
Diese Annonce spukte Peter Renzi immer mehr durch den Kopf. Jetzt wartete er beinahe darauf, dass ihm der Briefträger wieder einen Stapel Briefe in die Hand drückte. Vielleicht stand dann in einem, wo diese mysteriöse Annonce erschienen sein sollte.
Dr. Renzi sah enttäuscht aus, als er bei der Post diesmal nur einen einzigen Brief fand, in dem sich eine Frau als Mutter für seine Kinder anbot. Damit war natürlich die Chance geringer geworden, den Ursprung der Annonce festzustellen.
In dem Brief lag diesmal kein Foto. Eine Henriette Ott, bisher unverheiratet und zweiunddreißig Jahre alt, bewarb sich in einer unaufdringlichen Art und ohne schwülstige Worte. Aber wieder war von besonderer Liebe zu Kindern und zu Tieren die Rede.
Etwas spöttisch dachte Peter Renzi, diese Frauen scheinen zu meinen, sie müssten bei einem Tierarzt den Vorzug der Tierliebe besonders betonen. Lieber wäre es ihm jedoch gewesen, Henriette Ott hätte erwähnt, in welcher Zeitung er inseriert haben sollte. Aber sie schrieb nur: »Ich habe Ihre Annonce gelesen und mich nach reiflichem Überlegen dazu entschlossen, Ihnen zu schreiben.«
Peter Renzi warf diesen Brief nicht weg. Aber er legte ihn achtlos in eine Schreibtischschublade. Als er später eine alte Dame mit ihrem Pudel in das Wartezimmer begleitete und seine Praxis abschließen wollte, weil die Sprechstunde beendet war, hörte er Schritte im Flur. Ein Seufzer stahl sich über seine Lippen. Noch ein Patient? Das gefiel ihm gar nicht. Seit gestern fühlte er sich angegriffen. Er wäre jetzt lieber zum Mittagessen in ein nahegelegenes Restaurant gegangen und hätte sich danach ein Weilchen erholt. Dorthin war auch Anneliese mit den Kindern oft gegangen.
Dr. Renzi blieb vor der Tür seines Sprechzimmers stehen und wartete ab, wer sich da so verspätet hatte. Eine junge Frau trat ein. Klein, zierlich, mit kurz geschnittenem braunem Haar, einer Stupsnase und wachen dunklen Augen.
Das registrierte Peter Renzi alles auf den ersten Blick. Vielleicht, weil er darauf angewiesen war, allein die junge Frau anzusehen. Sie hatte nämlich kein Tier bei sich. »Wollten Sie noch in meine Sprechstunde kommen?«, fragte Dr. Renzi freundlich.
»Nein.« Die junge Frau schüttelte sehr entschieden den Kopf. Auf ihrem Gesicht machte sich verlegene Röte bemerkbar. »Ich wollte sie privat sprechen, Herr Doktor. Ist das möglich? Ich bin Maxi Fürst.« Sie zupfte an der karierten Masche ihrer beigen Bluse, die ihr ein wenig den Anstrich einer Internatsschülerin gab.
»Maxi Fürst?«, fragte Dr. Renzi, als denke er nach, ob er diesen Namen schon einmal gehört habe.
»Na ja, wenn Sie wollen, dann … Maximiliane Fürst. Aber ich finde diesen Namen schrecklich. Alle, einschließlich meiner Person, verhaspeln sich dabei immer. Deshalb habe ich mich für Maxi entschieden. So gefällt mir mein Name.«
Trotz der Verlegenheit, die noch immer an der Besucherin zu erkennen war, wirkte ihr Auftreten frisch, und die Art, in der sie sprach, gewinnend.
»Bitte, kommen Sie weiter, Frau Fürst. Ich stehe natürlich zu Ihrer Verfügung, obwohl ich mir nicht erklären kann, weshalb Sie mich sprechen wollen.« Dr. Renzi öffnete die Tür seines Sprechzimmers und ließ seine Besucherin vorangehen.
Schon nach wenigen Schritten blieb sie stehen. »Um Gottes willen, nicht Frau Fürst. Ich bin noch nicht verheiratet. Aber bis jetzt bin ich deshalb noch nicht in Panik geraten, obwohl ich schon fünfundzwanzig Jahre alt bin.« Sie nahm auf dem Stuhl Platz, den ihr Dr. Renzi mit einer Handbewegung angeboten hatte.
»Fünfundzwanzig Jahre, das ist fürwahr ein biblisches Alter«, stellte Peter Renzi lächelnd fest. Er sah in die dunkelbraunen Augen seines Gegenübers. In diesen Augen tanzten tausend Goldfunken. Von dieser Feststellung war er so fasziniert, dass er noch immer stand, obwohl er sich ebenfalls einen Stuhl an den kleinen Tisch in einer Ecke des Sprechzimmers gezogen hatte.
»Setzen Sie sich lieber auch, Herr Doktor«, bat Maxi Fürst jetzt. »Ich glaube nämlich, dass es sich im Sitzen leichter spricht.«
Dr. Renzi ließ sich nieder. Er knöpfte seinen weißen Kittel auf und griff in seine Westentasche. Als er eine Packung Zigaretten hervorzog, fragte er: »Darf ich Ihnen eine Zigarette anbieten?«
»Nein, danke – oder doch.« Maxi Fürst fingerte sich eine Zigarette aus der Packung. »Für gewöhnlich rauche ich nicht, aber wenn ich aufgeregt bin, meine ich, mich durch Rauchen beruhigen zu können.«
»Und Sie sind jetzt aufgeregt?«, fragte Peter Renzi. Der Ton seiner Stimme wurde immer freier. Ihm gefiel die Art seiner Besucherin.
Maxi Fürst nickte. »Ja, sehr. Aber das können Sie sich doch denken. Es wird ja für Sie nicht schwer zu erraten sein, weshalb ich gekommen bin.«
Peter Renzi ließ das Feuerzeug aufflammen. Dabei sah er Maxi Fürst ratlos an. »Ich weiß wirklich nicht … Sie werden mir auf die Sprünge helfen müssen, Frau Fürst.«
»Ich komme wegen Ihrer Annonce.«
Das Feuerzeug wurde zugeklappt und zurückgezogen. »Wegen der Annonce?« Dr. Renzi richtete seinen Oberkörper steif auf. »Und deshalb kommen Sie mir gleich ins Haus geschneit?«
In den braunen Augen des Mädchens waren die Goldfunken erloschen. »Ach, das wollen Sie nicht, Herr Doktor? Und ich dachte, am wirkungsvollsten ist es, wenn ich mich selbst vorstelle. Fotos können ja trügerisch sein.«
»Sie wollten sich mir also in natura präsentieren?« Die Stimme des Tierarztes klang sehr spöttisch.
»Ja, genauso ist es, Herr Doktor. Ja, und dann wollte ich Sie eben auch in Augenschein nehmen. Schließlich will man nicht die Katze im Sack heiraten. Und die Kinder wollte ich kennenlernen, bevor ich mich ernsthaft bewerbe.« Maxi sah auf ihre Zigarette. »Ich habe noch immer kein Feuer, Herr Doktor.«
»Ach, entschuldigen Sie.« Peter Renzi griff wieder nach dem Feuerzeug. »Wie konnte ich so nachlässig sein? Wo Sie es doch so nötig haben, sich zu beruhigen.«
Maxi sah ihn erschrocken und vorwurfsvoll an. »Ich verstehe Sie nicht, Herr Doktor. Zuerst animieren Sie durch Ihre Annonce, dass man sich bei Ihnen bewirbt, und jetzt tun Sie, als sei das ein Verbrechen.« Maxi blies den Rauch ihrer Zigarette aus. Mehr für sich selbst murmelte sie: »Ich habe schon den richtigen Riecher gehabt, dass ich mich hier erst umsehen wollte.«
Peter Renzi sprang auf. Seine Augen funkelten vor Erregung. »Ich habe gar nichts verlangt. Weder dass Sie mich hier überfallen, noch dass mir jemand eine Bewerbung schreibt. Schon gar nicht …«
Maxi erschrak nun noch mehr. »Sie haben also schon Bewerbungen bekommen? Das konnte ich mir denken. Ich war also zu langsam. Und das nur, weil ich es mir immer noch einmal überlegt habe.« Sie klopfte mit der Faust auf die Tischplatte. »Immer und immer noch einmal.« Sie holte tief Luft. »Schade. Jetzt hatte ich mir schon ausgemalt, wie viel Unsinn ich mit Ihren Kindern machen würde, damit sie den Tod ihrer Mutti vergessen würden.« Maxi neigte sich vor. »Wissen Sie, Kinder bringt man am besten über ihren Schmerz hinweg, wenn man mit ihnen lacht und übermütig ist.«
»Sie scheinen die wahrste Kinderpsychologin zu sein«, spottete Peter Renzi, aber seine Stimme klang nicht mehr ganz so sicher wie vorher.
»Nein, die bin ich nicht. Leider. Ich verstehe nur etwas von der Verhaltensweise der Tiere. Wahrscheinlich nicht so viel wie Sie, weil ich nicht studiert habe, aber als Tierpflegerin lernt man jeden Tag etwas dazu.«
Peter Renzi ließ sich wieder auf seinen Stuhl fallen. »Sie sind Tierpflegerin?«, fragte er fassungslos. »Was, zum Teufel, bewegt denn alle tierliebenden Frauen, sich bei mir zu bewerben? Meinen Sie, ein Tierarzt sei so versessen darauf, immerzu etwas mit Tieren zu tun zu haben? Auch in seiner Freizeit?«
»Ach, Herr Doktor, mit Tieren kann man sich auch in seiner Freizeit beschäftigen. Ich bin in einem Tierheim angestellt, aber ich habe zu Hause trotzdem noch eine Katze, einen Wellensittich, einen Goldhamster, ein Meerschweinchen und jetzt gerade ein Rehkitz, das durch eine Mähmaschine verletzt wurde.«
Peter Renzi presste die Hände um den Kopf. »Um Himmels willen, und diese Tiere vertragen sich alle miteinander?«
»Warum nicht?« In Maxis Augen blitzte es auf. Sie legte den Finger auf den Mund. »Ach, jetzt habe ich ja noch etwas vergessen. Meine weiße Maus.«
»Wollen Sie sich über mich lustig machen, dass Sie mir so viel Unsinn erzählen, Frau Fürst?« Auf der Stirn Peter Renzis erschienen jetzt zwei dicke Unmutsfalten.
Maxi sah es. Sie beugte sich vor und tippte auf die Stirn des Tierarztes. »Das sollten Sie nicht tun, solche Falten ziehen. Das steht auch einem Mann nicht. Ich jedenfalls bin der Meinung, dass solche auffallenden Falten einen Mann nicht interessant, sondern nur älter machen. Ach so, Sie wollten mir nicht glauben, dass ich eine weiße Maus habe. Das stimmt aber. Warum sollte ich Ihnen etwas vorschwindeln? Außerdem – ich soll mich über Sie lustig machen? Das würde ich gar nicht wagen. Ich muss Sie doch bei guter Stimmung halten. Vielleicht komme ich dann doch noch in den Kreis der Bewerberinnen.« Maxi stippte ihre Zigarette im Aschenbecher aus. »Aber bevor wir davon reden, muss ich Ihnen die Sache mit der weißen Maus erzählen.« Maxi lachte über das ganze Gesicht. Es stand ihr sehr gut. Auch, dass die Goldfünkchen in ihren Augen wieder aufsprühten. »Also, meinen Hannibal habe ich …«
»Wer ist denn das schon wieder?«, fragte Peter Renzi. »Sind Sie nur zu mir gekommen, um mir Geschichten zu erzählen?« Doch in diesem Augenblick war sich Peter Renzi bewusst, dass er nur deshalb so herausfordernd sprach, weil ihn die Goldfünkchen erregten. Allein, dass er sie feststellte, brachte ihn schon auf.
Maxi lachte amüsiert. »Hannibal ist meine weiße Maus.«
Dr. Renzi konnte sich das Lachen kaum verkneifen. »Ein wahrlich großer Name für eine kleine Maus.«
Maxi sah ihn entrüstet an. »Sind Sie auch so ein merkwürdiger und uneinsichtiger Mensch, der kleinen Tieren keine großen Namen gönnt? Das verstehe ich nicht. Weil Hannibal ein großer Kriegsherr war, dürfen nur Riesentiere Hannibal heißen. Kleine liebe Mäuse aber bekommen alberne, lächerliche Namen. Wenn man das mit den Menschen auch so machen würde, dürften kleine Männer nie Siegfried heißen.«
»Ein Glück, dass ich einen Namen habe, aus dem Sie keine Schlüsse ziehen können, Maxi. Sie sind sehr streitbar. Ich glaube, Sie würden mir einen glorreichen Namen ebenfalls absprechen.«
»Warum?« Maxi sah ihn aus großen Augen an. »Sie sind weder klein noch anderswie mickrig. Und Peter passt wohl zu Ihnen. Vielleicht fühlen Sie sich manchmal als Peter der Große. Den gab es ja irgendwann einmal. Aber sagen Sie mir jetzt nicht, wann das war. Jetzt möchte ich Ihnen endlich die Geschichte von der weißen Maus erzählen.«
Peter Renzi schwieg, ergeben in sein Schicksal.
»Meinen Hannibal habe ich unserem Hausarzt gemopst.«
»Gemopst?«, fragte Peter Renzi.
Maxi schüttelte den Kopf. »Kennen Sie diesen Ausdruck nicht? Haben Sie den noch nie bei Ihren Kindern gehört? Dann können mir Ihr Junge und Ihr Mädchen aber leidtun.«
»Warum?«
»Entweder haben sie den Ausdruck mopsen noch nie gehört, oder er wurde ihnen verboten. Eines ist so schlimm wie das andere. Es würde nämlich beweisen, dass Ihre Kinder bisher mit Drill erzogen wurden und sich nie als freie Menschen bewegen durften.«
»Beruhigen Sie sich, meine Kinder werden nicht mit Drill erzogen, Maxi. Aber jetzt möchte ich selbst gern die Geschichte von dem gemopsten Hannibal hören.«
»Die wüssten Sie längst, wenn Sie mich nicht immerzu unterbrechen würden. Ich habe Hannibal unserem Hausarzt gemopst, damit eine Maus auch mal eine Maus sein darf. Nämlich so gesund, wie sie zur Welt gekommen ist. Für unseren Hausarzt war Hannibal nur eine Versuchsmaus. Sie sollte durch Injektionen alle Krankheiten kriegen, die sich der Doktor gerade einfallen ließ. Eines Tages hätte Hannibal das nicht überlebt.«
Peter Renzi sah Maxi verblüfft an. »Ich fürchte, Sie werden noch viele weiße Mäuse mopsen müssen, wenn Sie ein so mitleidiges Herz haben. Ich bin überzeugt, dass Ihr Hausarzt längst wieder eine neue weiße Maus hat.«
Maxi seufzte abgrundtief.
»Eine? Er hat sich gleich eine ganze Zucht zugelegt. Sie haben recht, die kann ich mir nicht auch noch nach Hause holen. Ich habe nämlich nur ein einziges Zimmer und eine Kammer. Und die Kammer ist jetzt voll besetzt. Aber was sprechen wir eigentlich immerzu von Tieren?« Maxi sah Dr. Renzi vorwurfsvoll an. »Das kann doch nicht an mir liegen. Oder doch?«, sinnierte sie. »Es ist möglich, dass ich daran schuld bin, weil mir in meiner Haut nicht sonderlich wohl ist. Ich bin eben wegen dieses Besuches aufgeregt.«
»Wollen Sie noch eine Zigarette?«, fragte Peter Renzi. Jetzt wirkte sein Gesicht wieder so verschlossen, als habe er sich nicht schon das Schmunzeln verkneifen müssen. »Also gut«, sagte er, während er Maxi Feuer gab, »kommen wir zur Sache. Etwas ganz Bestimmtes daran interessiert mich nämlich auch. Wo haben Sie die Annonce gelesen, dass ich eine Frau suche? In welcher Zeitung?«
Maxi sah ihn erschrocken an. »Ach, haben Sie in so vielen Zeitungen annonciert? Dann brauche ich mich nicht darüber zu wundern, dass Ihnen ein Stapel von Bewerbungen zu Kopf gestiegen ist.«
»Ich habe in keiner einzigen Zeitung inseriert.« Das kam ingrimmig über Peter Renzis Lippen.
Maxi schien diese Behauptung den Atem zu verschlagen. Erst nachdem sie einige Sekunden lang versucht hatte, den Gesichtsausdruck des Tierarztes zu studieren, sagte sie: »Warum lügen Sie jetzt so dick?«
»Ich lüge nicht. Nie im Leben würde es mir einfallen, über eine Zeitungsannonce eine Frau zu suchen. Oder gar eine Mutter für meine Kinder.«
»Was ja dasselbe wäre, da Sie bereits Kinder haben«, parierte Maxi sofort. »Für wen halten Sie mich eigentlich, dass Sie es wagen, mich erst mit einer Annonce ins Haus zu locken und mich dann mit einer so knüppeldicken Lüge abblitzen zu lassen?« Sie stand auf, wühlte in ihrer Handtasche und legte dann einen kleinen Zeitungsausschnitt auf den Tisch. »Hier haben Sie es schwarz auf weiß, mit Namensnennung. Dieser Beweis ist aber kein Triumph für mich. Ich bin sehr traurig darüber, dass Sie mit einer so heiligen Sache ein so übles Spiel treiben. Da wird einem das Herz weich, und man denkt an die Kinder und an den Vati, der immer traurig ist. Doch dann steht man einem Sadisten gegenüber. Ja, einem Sadisten, dem es einen Heidenspaß macht, sich darüber zu amüsieren, dass …«
Peter Renzi war ebenfalls aufgestanden. Er drückte Maxi auf ihren Stuhl zurück. »Beruhigen Sie sich, bitte, diese Aufregung ist nicht angebracht. Ich habe meinen Namen in der Annonce schon gelesen. Aber glauben Sie mir, ich habe diese Annonce nicht aufgegeben. Meine Reaktion konnte deshalb nicht anders sein als so, wie Sie sie eben erlebt haben. Als die ersten Bewerbungen eintrafen, war ich noch mehr erschlagen, doch da saß mir keiner gegenüber, dem ich das zeigen konnte.«
»Dann war ich also der Blitzableiter. Dafür eigne ich mich sehr schlecht.« Maxi wollte schon wieder aufstehen.
»Bleiben Sie sitzen«, herrschte Peter Renzi sie an. »Ich will wenigstens die Annonce lesen.«
Maxi sah ihn entgeistert an. »Allein wegen dieses Tones würde ich von meiner Bewerbung zurücktreten«, murrte sie in sich hinein.
Peter Renzi aber las laut: »Zärtliche Mutti gesucht. Zwei Kinder – ein liebes, braves fünfjähriges Mädchen und ein fleißiger, folgsamer siebenjähriger Junge – brauchen ganz dringend eine neue Mutti, weil ihre Mutti gestorben ist. Die neue Mutti kann auch ein Brüderchen oder ein Schwesterchen mitbringen, aber sie muss ganz lieb zu unserem Vati sein, damit er nicht mehr traurig ist. Unsere neue Mutti muss auch auf dem Land leben mögen und Tiere so gern haben wie wir. Bewerberinnen, die nicht nur ihren persönlichen Vorteil suchen, sondern den beiden Kindern die Mutti ersetzen wollen, mögen sich bei Herrn Tierarzt Dr. Peter Renzi, Hamburg, Lorettostraße 233, melden.«
Maxi hatte Dr. Renzi aufmerksam beobachtet. Jetzt fragte sie: »Wollen Sie nun noch immer leugnen, diese Annonce aufgegeben zu haben?«
»Ja. Aus welcher Zeitung stammt die Annonce?«
»Aus dem Hamburger Abendblatt. Aber wozu sage ich Ihnen das?« Maxi winkte ab, als Peter Renzi den Mund zum Sprechen öffnete. »Ersparen Sie es sich, mir weiter etwas vorzuflunkern. Sie werden mich auch anders los. Ich lege keinen Wert mehr darauf, in den engeren Kreis der Bewerberinnen aufgenommen zu werden. Mit Ihnen käme ich nie zurecht. Ich mag Menschen mit Gesichtern wie Sauertöpfe nicht.« Maxi machte ein sehr zerknirschtes Gesicht. »Überhaupt, ich bin ja nicht Ihretwegen gekommen, sondern wegen der Kinder. Sie taten mir leid. Ich konnte mich ehrlichen Herzens bewerben. Die Bedingung, dass ich nicht an meine persönlichen Vorteile denke, erfülle ich.«
»Wer soll Ihnen das glauben?«, fragte Peter Renzi.
»Sie sicher nicht, das erkenne ich jetzt. Ihnen blitzt doch das Misstrauen nur so aus den Augen. Aber solche Menschen fallen am ehesten herein. Aber wozu sage ich das noch? Ich fahre besser wieder zu meinen Tieren zurück. Lieber werde ich eine verschrobene alte Jungfer, als mich Ihnen aufzudrängen.« Maxi lief zur Tür. In ihren Augen standen Tränen. Sie fuhr sich schnell mit dem Handrücken über das Gesicht. »Blödsinn, jetzt vielleicht noch zu heulen. Nur weil ich nicht einmal die Kinder sehen durfte, die sich so sehr nach einer Mutti sehnen. Auf Peter den Großen war ich ja gar nicht so scharf.« Maxi riss die Tür auf und lief ins Wartezimmer.
Peter Renzi starrte ihr nach. Was sollte er tun? Ihr folgen, sie zurückholen? Sie war ja wirklich durch eine Annonce zu ihm gelockt worden. Sie konnten sich also als Leidensgenossen fühlen, als Opfer eines üblen Scherzes.
Als Peter Renzi in das Wartezimmer ging, war er noch immer unschlüssig. Doch er atmete befreit auf, als er feststellte, dass Maxi Fürst schon verschwunden war. Nein, besser war es, nicht mehr mit ihr zu sprechen, sonst würde er noch einige für ihn unangenehme Wahrheiten einstecken müssen. Aber ans Fenster konnte er getrost gehen, um Maxi nachzusehen. Durch die Spanngardine würde sie ihn nicht erkennen. Seine Praxis lag ja im Erdgeschoss, Maxi Fürst hatte keinen weiten Weg bis zum Bürgersteig.
Da war sie ja schon. Der kurze dunkle Faltenrock wippte um ihre Beine. Im Übrigen sehr schöne schlanke Beine. Wozu stelle ich das jetzt fest?, fragte sich Peter Renzi ärgerlich. Ich habe doch bereits im Sprechzimmer bemerkt, dass sie eine attraktive kleine Person ist. Mit einem lieben stupsnasigen Gesicht und Goldfunken in den braunen Augen.
Diese Erinnerung musste es wohl sein, dass er jetzt die Spanngardine etwas zur Seite schob. Damit war der Blick auf Maxi Fürst ungetrübter. Sie stand nun vor einem kleinen schiefergrauen Wagen. Aha, ein ›hässliches Entlein‹, dachte er. Nun, dieser Wagen war praktisch und sparsam. Vielleicht waren das zwei Eigenschaften, die auch zu Maxi gehörten. Obwohl – mit Angriffen gegen ihn war sie nicht gerade sparsam gewesen.
Jetzt hielt sie ihre Wagenschlüssel in der Hand, schloss die Tür auf und warf sich auf den Sitz. Peter Renzi konnte sie genau sehen. Was tat sie denn jetzt? Sie wischte mit der bunten Masche ihrer Bluse über die Augen. In Ermangelung eines Taschentuches? Und warum so ausgiebig? Nun legte sie den Gang ein. Gleich darauf machte der kleine Wagen einen Hopser vom Parkplatz auf die Fahrbahn.
Was für ein Leichtsinn, dachte Peter Renzi erschrocken. Sie hat bestimmt nicht in den Rückspiegel gesehen. Oder hatte das Polieren ihrer Augen mit der lustigen Masche noch nicht genügt? Waren die Augen noch getrübt?
Dr. Renzi atmete auf, als sich das ›hässliche Entlein‹ in den fließenden Verkehr einordnete. Er verfolgte es mit seinen Blicken, bis es um die leichte Biegung der Straße verschwand.
An das Mittagessen dachte der Tierarzt jetzt nicht mehr. Aber es blieb ihm noch Zeit, zur Redaktion des Hamburger Abendblattes zu fahren. Er musste herausfinden, wer die Annonce aufgegeben hatte.
Als Peter Renzi zu Beginn der Nachmittagssprechstunde zurück war, wusste er es. Die Köchin Magda von Sophienlust hatte die Annonce aufgegeben und bezahlt. Ihren Namen kannte er von seinen Kindern. Mehrere Male, wenn er mit ihnen telefoniert hatte, war Magdas Name gefallen. Meistens von Sylveli. Sie hatte den besonders guten Pudding der Köchin gerühmt.
Waren seine Kinder die Initiatoren dieser Annonce? Magda würde von sich aus sicher nicht auf eine so verrückte Idee verfallen sein. Trotzdem musste er sie zur Rechenschaft ziehen. Die Köchin von Sophienlust konnte sich doch nicht erdreisten, in sein privates Leben einzugreifen und ihm damit so viel Ärger zu machen. Nicht nur ihm, sondern auch anderen. Er brauchte nur an die Briefe der Bewerberinnen zu denken. Welche Hoffnungen hatte Magda mit dieser Annonce geweckt! Und sogar Tränen hatte sie heraufbeschworen. Tränen, die ihm nicht aus dem Sinn gehen wollten, weil sie Augen getrübt hatten, die mit lustig tanzenden Goldpünktchen viel anziehender gewesen waren.
Dass er daran immer wieder denken musste, trieb ihn erst recht dazu, nach Sophienlust zu fahren und die Köchin Magda zur Rechenschaft zu ziehen. Aber diese Reise konnte er sich erst am Wochenende leisten. Bis dahin musste er noch drei Tage durchhalten. Merkwürdigerweise brachte ihm der Postbote in diesen drei Tagen kein weiteres Bewerbungsschreiben mehr. Jene Damen, die unter dem Komplex Mutter- und Tierliebe litten, schienen keine alten Zeitungen zu lesen. Das stellte er in seiner spöttischen Art fest, mit der er sich jedoch nur schützen wollte.
*
In Sophienlust war schon aufgefallen, dass die Renzi-Geschwister ihre große Liebe zu der Köchin Magda entdeckt hatten. Sie waren jetzt sehr häufig bei ihr in der Küche. Aber niemand ahnte, dass sie dort immer wieder dieselbe Frage stellten: »Ob Vati schon eine neue Mutti ausgesucht hat?«
Magdas Druck im Magen wurde immer stärker. Am liebsten hätte sie Denise von Schoenecker anvertraut, wozu sie sich von den Kindern hatte überreden lassen. Aber Henrik riet ihr davon immer wieder ab. »Warte doch ab, Magda, bis Sylveli und Ivo eine neue Mutti haben. Dann wird dir meine Mutti keine Vorwürfe mehr machen«, meinte er.
»Daran glaube ich nicht. Ich ahne ein furchtbares Donnerwetter«, stöhnte Magda.
»Von Mutti?«, fragte Henrik, als zweifle er an Magdas Verstand.
»Nein, sie schafft das nicht. Aber ihr stiller Vorwurf trifft mich genauso hart. Das Donnerwetter wird wohl von Dr. Renzi kommen.«
Henrik sah Magda enttäuscht an. »Und du sagst immer, dass du vor Männern keine Angst hast, dass du mit jedem Mann fertig wirst. Justus hast du gestern so zusammengeschimpft, als er mit seinen dreckigen Stiefeln in die Küche kam. Da bist du mit dem Kochlöffel hinter ihm her gerannt. Das kannst du doch mit Dr. Renzi auch machen, wenn er vielleicht zu dir kommt und wütend ist.«
»Ja, das ist ein guter Rat, Henrik.« Magda lachte schon wieder. »Ich werde ihn befolgen, wenn es nötig werden sollte.«
Zu dieser Stunde mochte die Köchin noch gehofft haben, dass der Kelch an ihr vorübergehen werde. Aber am Samstag wusste sie, dass sie ihn austrinken musste. Das war zu der Stunde, als Henrik außer Atem in die Küche gerannt kam und schrie: »Dr. Renzi ist eben angekommen. Er hat gleich nach dir gefragt. Da ist er schon.« Henrik lauschte auf die festen Männerschritte im Flur. Sie kamen auf die Küchentür zu. Nur den Bruchteil von Sekunden überlegte der kleine Henrik, ob er durch die Küchentür verschwinden sollte. Aber das hätte bedeutet, dass er Ivos und Sylvelis Vater direkt in die Arme gelaufen wäre. Das war sicher nicht ratsam. Besser war es, in die Speisekammer zu verschwinden.
»Aha, die Ratten verlassen das sinkende Schiff«, murmelte Magda. Vorsichtshalber ließ sie sich auf einem Küchenschemel nieder.
Die Tür wurde aufgerissen. Dr. Peter Renzi trat ein. An der einen Hand Ivo, an der anderen Sylveli.
»Vati hat sich gar nicht gefreut über unsere An… An…« In dieser Aufregung konnte Sylveli den für sie ohnehin schweren Namen Annonce erst recht nicht aussprechen.
»Guten Tag, Herr Dr. Renzi«, sagte Magda. Ihr volles Gesicht strahlte plötzlich Ruhe aus. »Auch in der Küche von Sophienlust nimmt man seinen Hut ab und grüßt. Wir legen in jedem Raum dieses Hauses Wert auf Höflichkeit und gute Manieren.«
»Guten Tag«, knurrte Peter Renzi. »Die Höflichkeit vergeht einem, wenn man erleben muss, wie eigenmächtig Sie gehandelt haben. Wie konnten Sie es wagen, eine Annonce mit meinem Namen aufzugeben? Mit einem Inhalt, der mir nie im Traum eingefallen wäre?«
»Dinge, die einem im Traum einfallen, sind auch meistens fantastisch, Herr Doktor.« Magda setzte sich etwas fester auf ihrem Stuhl zurecht. »Ich habe mehr an die Wirklichkeit gedacht. Daran, dass sich Ihre Kinder nach einer Mutti sehnen. Aber bitte, Herr Doktor, nehmen Sie doch Platz. Auch, wenn es nur auf einem harten Küchenschemel ist.«
»Danke, ich stehe lieber.«
»Ganz wie Sie wollen, Herr Doktor. Bei uns in Sophienlust wird niemand zu etwas gezwungen.« Magda lächelte. Es sah wirklich sehr höflich aus.
»Ja, ist Ihnen vielleicht gar nicht bewusst, was Sie angestellt haben, Frau Magda?«, fragte Peter Renzi etwas konsterniert.
»Sagen Sie nur Magda zu mir, Herr Doktor. Ich kenne das auf Sophienlust nicht anders. Sie sehen ja, auch die Kinder rufen mich nur so.«
»Meinetwegen. Aber Sie haben meine Frage nicht beantwortet, Magda.«
»Darf ich zuerst eine Frage an Sie stellen, Herr Doktor? Nämlich die, ob unsere Annonce erfolglos blieb? Wir haben uns doch so viel Mühe mit dem Text gegeben. Haben wir nun das Geld zum Fenster hinausgeworfen?«
»Wäre ich hier, wenn sich keine Bewerberinnen gemeldet hätten? Ohne die wüsste ich ja von dieser verteufelten Annonce gar nichts.«
»Da haben Sie auch recht, Herr Doktor. Nun, einer alten Frau müssen Sie schon zugutehalten, dass sie mal nicht so konzentriert denkt. Aber bei der Annonce habe ich meinen ganzen Grips zusammengenommen. Das müssen Sie mir glauben.« Magda sah Dr. Renzi treuherzig an. »Eigenmächtig habe ich auch nicht gehandelt. Es ist nur das in die Annonce gekommen, was sich Ihre Kinder so sehr wünschen.«
»Ja, Vati«, meldete sich Ivo. »Sylveli hat gesagt, dass wir eine ganz, ganz liebe Mutti wollen. Magda hat dann nur gemeint, das sollte besser eine zärtliche Mutti heißen.«
Ivos Vorstoß machte auch Sylveli Mut. Sie sah zu ihrem Vater auf und berichtete: »Und ich wollte, dass eine Mutti auch ein Brüderchen oder ein Schwesterchen mitbringen kann. Weil doch unser Brüderchen damals mit Mutti gestorben ist.«
Peter Renzi starrte auf den Fußboden. Er brauchte einige Minuten, bis er sich etwas gefasst hatte. »Trotzdem bleibt alles heilloser Unsinn. Mir ist ja schließlich auch nicht die Idee gekommen, zu einem Heiratsinstitut zu gehen, um mir dort eine Frau aufschwatzen zu lassen. Ich denke gar nicht daran, mich wieder zu verheiraten.«
»Das ist sehr schade, Herr Doktor.« Jetzt stand Magda auf. »Für Ihre Kinder. Sie sind zwar hier in Sophienlust gut aufgehoben, aber wenn Sie es sich recht überlegen, nehmen die beiden zwei Vollwaisen die Plätze weg. Kinder, die noch einen Elternteil haben, sollten doch wieder in die Familie zurückgehen können.«
»Ich glaube, Sie machen sich zu viele Gedanken um fremde Menschen, Magda. Es wäre besser, Sie würden an Ihr Reich, die Küche, denken.«
»Das tue ich, Herr Doktor.« Magdas Gesicht rötete sich. »In dieser Beziehung lasse ich mir von niemandem etwas vorwerfen. Sie können mich dafür zur Rechenschaft ziehen, dass ich die Annonce aufgegeben habe, aber kommen Sie mir nicht mit meiner Küche.«
Die Tür der Speisekammer wurde vorsichtig geöffnet. Henrik steckte den Kopf heraus und zeigte aufgeregt mit der Hand auf ein Bord an der Wand. Dort steckten die Kochlöffel.
Nur Magda hatte Henrik entdeckt. Der Ärger auf ihrem Gesicht verschwand. Plötzlich brach sie in Lachen aus.
Verblüfft sah Dr. Renzi sie an. »Wollen Sie sich auch noch über mich lustig machen, Magda?«
»Nie würde ich das wagen, Herr Doktor. Aber es gibt eben Situationen, in denen man das Lachen nicht zurückhalten kann.« Ihr Blick fiel auf die Speisekammertür. Sie war wieder zugezogen worden.
»Das ist alles reichlich verworren. Sie finden also kein Wort der Entschuldigung für Ihr Vorgehen, Magda?«
»Nein.« Magda schüttelte sehr entschieden den Kopf. »Wenn ich etwas ausfresse, trage ich die Folgen. Mich dafür zu entschuldigen, das liegt mir nicht. Ich tue zu oft etwas, was mir mein Herz empfiehlt. Da käme ich bald aus dem Entschuldigen nicht mehr heraus.«
Peter Renzi kam immer mehr aus dem Konzept. Jetzt sah er seine Kinder strafend an. »Und euch ist dieser Unsinn eingefallen? Habt ihr dabei nicht überlegt, in welche Verlegenheit ihr mich bringt?«
»Aber Vati, wir wissen doch, dass du keine Zeit hast, eine neue Mutti für uns zu suchen. Da wollten wir dir eben helfen.« Ivo sagte es mit trotziger Stimme.
»Ja, und unsere neue Mutti sollte so sein, wie wir sie uns wünschen. Du verstehst das doch gar nicht.« Sylveli sah ihren Vater mit großen Augen an.
Diesen Blick ertrug Dr. Renzi nicht. Immer mehr war seine Verärgerung zusammengeschmolzen und der Erschütterung gewichen. Aber gerade deshalb musste er wohl noch einmal hart werden. »Wir werden noch allein miteinander sprechen«, verkündete er. Das klang sehr drohend. So drohend, wie die beiden Kinder es wohl noch nie von ihrem Vater gehört hatten. Sylveli lief auch gleich ein paar Schritte von ihm weg, und plötzlich war sie verschwunden.
Henrik hatte das Mädchen in die Speisekammer gezogen. Sylveli drückte sich an ihn und schluchzte: »Ivo musst du auch noch holen. Hörst du nicht, wie laut Vati jetzt ist?«
»Er schimpft noch einmal mit Magda. Ich kann doch nicht schon wieder die Tür öffnen, Sylveli. Einmal merkt das dein Vati doch.«
Aber Henrik brauchte dieses kleine Manöver gar nicht mehr zu riskieren, denn die Tür wurde von der anderen Seite aufgeschoben. Ivo drängte sich in die Speisekammer und drückte die Tür wieder zu. »Ich habe doch gesehen, wohin Sylveli verschwunden ist«, flüsterte er.
»Mensch, jetzt sind wir alle hier und lassen Magda im Stich«, überlegte Henrik. »Das ist gemein von uns.«
»Sie gibt Vati schon die richtigen Antworten.« Ivo presste sein Ohr an die Tür der Speisekammer. Das wäre jedoch nicht nötig gewesen, denn Magdas Stimme war jetzt sehr laut geworden.
»Sie sind ein Rabenvater. Ihre Kinder so zu verscheuchen. Und warum? Weil sie sich nach einer Mutter sehnen? Das passt Ihnen nicht. Natürlich nicht. Sie selbst haben ja wohl Mutterliebe genossen, bis sie selbstständig waren. Dass Ihre Frau gestorben ist, dafür kann man das Schicksal anklagen. Wenn ein Mann ohne Kinder zurückgeblieben ist, dann darf er bis zu seinem Tod allein bleiben. Aber ein Vater kann sich das nicht leisten. Auch nicht, wenn er so überheblich tut wie Sie. Ja, ich habe mich zu etwas hinreißen lassen, was ein bisschen aus dem Rahmen fällt. Aber glauben Sie, dass ich es getan habe, weil es mir Genuss bedeutet, von Ihnen hier so heruntergeputzt zu werden? Ich dachte, manchen Dingen muss man etwas nachhelfen. So ein kleiner Schubs tut manchmal Wunder. Bei Ihnen aber ist Hopfen und Malz verloren. Ivo und Sylveli …«
»Wo sind die Kinder eigentlich?«, fragte Dr. Renzi.
»Geflüchtet. Vor Ihnen. Welche Kinder wollen schon bei ihrem Vater bleiben, wenn er sie nach wochenlanger Trennung behandelt, als hätten sie das Allerheiligste entehrt? Aber wozu reden wir hier noch lange? Die Kinder und ich haben Geld für eine Annonce hinausgeworfen, Sie haben ein paar Unannehmlichkeiten durch Bewerbungen gehabt, und die eine oder andere Frau, die es ehrlich gemeint hat, ist enttäuscht worden. Über all das geht die Weltgeschichte hinweg. Alles kann beim alten bleiben. Sie fahren nach Hamburg zurück und verarzten versnobten Leuten ihre Pudel und Siamkatzen, machen sich Sorgen, dass Hunde Würmer haben, und Ihre Kinder bleiben weiter bei uns in Sophienlust. Bis sie auf eigenen Beinen stehen können. Genauso wie unsere armen Vollwaisen.« Magda war außer Atem geraten. »Ja, alles wird so bleiben, wie es ist. Ihre Kinder werden sich nach Mutterliebe sehnen und von Tag zu Tag mehr erkennen müssen, dass die Liebe ihres Vaters zu ihnen auch nicht gerade das Gelbe vom Ei ist. So, und jetzt gehen Sie, ich habe das Mittagessen zu kochen. Ich möchte mich nicht der Gefahr aussetzen, dass Sie daran auch noch etwas herumzumeckern haben.«
Die Kinder in der Speisekammer hörten nun kein Wort mehr. Nach einigen Minuten öffnete Magda die Tür. »Kommt heraus«, sagte sie, »meine Speisekammer ist keine Arrestzelle. Habt ihr mir vielleicht inzwischen etwas vernascht?«
Ein dreistimmiges protestierendes »Nein« erklang. Und danach erklärte Henrik bewundernd: »Dem hast du es aber gegeben, Magda.«
Magda schmunzelte in sich hinein. »Das glaube ich nicht. Ich war ja schon ein guter Blitzableiter. Mehr wird er wohl nicht gebraucht haben, der Herr Tierarzt.« Als die Kinder Hand in Hand die Küche verlassen hatten, murmelte sie: »Ich habe einen Blick für künstliche Erregung. Der Mann ist längst mürbe.«
*
Magda behielt recht. Dr. Renzi verriet Denise von Schoenecker nicht, weshalb er so überraschend nach Sophienlust gekommen war. Sie erfuhr davon erst nach seiner Abreise. Von Henrik, dem es nun doch etwas zu riskant geworden war, vor seiner Mutter noch länger dieses Geheimnis zu haben. Natürlich sprach Denise nun mit Magda. In der ihr eigenen verständnisvollen Art. »Das war schon ein ganz schönes Husarenstück, Magda. Und auch eine Einmischung in fremde Angelegenheiten. Ich wundere mich nicht darüber, dass Dr. Renzi zornig war.«
»Ach was – zornig. Hilflos ist er. Wie alle Männer, die vor einem so großen Problem stehen. Dann schreien sie und spielen den starken Mann, in Wirklichkeit möchten sie jedoch lieber heulen.
Denise lachte. »Magda, du bist nicht zu übertreffen. Und deine Ansichten sind kaum zu widerlegen. Manche Ehefrau sollte sie sich zu eigen machen, dann gäbe es weniger Ehekrisen.«
Magda machte ein sehr bedenkliches Gesicht. »Ich weiß nicht, ob ich mich in der Ehe auch so behaupten könnte. Ich glaube, da hat man mehr Angriffsflächen. Einem fremden Mann den Kopf zu waschen, das ist ungefährlich. Was kann mir heute Dr. Renzi noch anhaben? Er ist wieder in Hamburg. Nicht einmal bei Andrea hat er über mich oder die Kinder geklagt. Dabei müßte man meinen, dass er Andrea und Hans-Joachim zuerst sein Herz hätte ausschütten wollen. Dass er es nicht tat, ist für mich ein Zeichen seiner Einsicht. Er wird den Kampf mit sich allein ausfechten wollen. Vielleicht greift er doch noch auf eine der Bewerberinnen zurück. Und wenn er sich selbst auf die Socken macht, um eine Mutter für seine Kinder zu suchen, soll es mir auch recht sein. Hauptsache, er besinnt sich auf das, was er seinen Kindern schuldig ist. Dass er sich dabei auch für sein einsames Herz etwas Liebe holt, wird ihm vielleicht erst später aufgehen. Ich müsste ja meinen, dass ein so gescheiter Mann in der Wahl seiner zweiten Frau nicht ganz danebengreift.«
*
Dr. Renzi fühlte sich zu dieser Zeit gar nicht so gescheit, wie Magda voraussetzte. Er war sehr angeschlagen nach Hamburg zurückgekommen. Mehr als die weite Fahrt lag ihm die neuerliche Trennung von seinen Kindern in den Knochen. Und vor allem im Herzen. Immer wieder dachte er an Sylvelis liebes Gesichtchen, an ihre fragenden blauen Augen.
Erst vor dem Wagen hatte Sylveli zu fragen gewagt: »Wirst du keine Mutti für uns suchen, Vati? Hat dir keine liebe Mutti geschrieben?«
Peter Renzi wusste jetzt nicht mehr genau, was er Sylveli geantwortet hatte. Es waren Worte des Ausweichens gewesen. Sylveli hatte ihn deshalb auch traurig angesehen.
Jetzt, am Abend nach dem ersten Arbeitstag, verfolgten Peter Renzi immerzu Magdas Worte. »Ja, alles wird so bleiben, wie es ist. Ihre Kinder werden sich nach Mutterliebe sehnen und von Tag zu Tag mehr erkennen müssen, dass die Liebe ihres Vaters auch nicht gerade das Gelbe vom Ei ist.« Das war Magdas etwas burschikose Redeweise gewesen, aber der Sinn blieb, auch wenn man die Worte verfeinerte.
Sollte er wirklich eine der Frauen prüfen, die sich darum beworben hatten, die Mutter seiner Kinder zu werden?
Peter Renzi nahm die Annonce aus der Schublade, die Maxi Fürst hatte liegen lassen. Sein Blick blieb auf der Zeile haften: »… aber sie muss ganz lieb zu unserem Vati sein, damit er nicht mehr traurig ist.« Diesen Satz mussten seine Kinder Magda diktiert haben. Die Kinder ertrugen es also nicht, dass er nicht mehr so fröhlich wie früher war. Sie liebten ihn, sie wollten auch ihm die Last abnehmen, unter der er litt. Mit einer neuen Mutti? Ja, Kinder mochten noch daran glauben, dass allein der Name Mutti verpflichtete, dass sie von jener Frau Liebe bekommen würden, denen sie diesen Namen schenken würden.
Lange Zeit stand Peter Renzi am Fenster des Wohnzimmers. Die Straße war wie leergefegt, denn in der Innenstadt erlosch am Abend jedes Leben. Immer mehr Menschen zogen hinaus an die Peripherie der Stadt oder ganz aufs Land. So wie er und seine Frau es vorgehabt hatten. Auch das war bei seinen Kindern nicht in Vergessenheit geraten. Eine ihrer Bedingungen in der Annonce hatte gelautet, dass die neue Mutti gern auf dem Land leben müsse.
Aber er besaß die Briefe der Bewerberinnen ja nicht mehr. Er hatte sie in den Papierkorb geworfen. Auch den letzten? Jenen, der noch vor dem Besuch Maxi Fürsts angekommen war? Nein, diesen Brief hatte er in irgendeine Schublade geworfen. Musste er ihn jetzt suchen? Es gab doch ein Mädchen, das er schon gesehen hatte. Eben jene Maxi Fürst. Aber von ihr besaß er nicht einmal die Adresse. Es war ihm unwichtig gewesen, zu wissen, wo sie lebte. Er hatte sie verekelt. Sie war mit Tränen in den Augen gegangen.
Dieser Gedanke beschwerte ihn und ließ die Frage, ob Maxi Fürst die richtige Mutter für seine Kinder gewesen wäre, gar nicht in ihm aufkommen. Dieses Kapitel war damit abgeschlossen, dass die streitbare und doch anscheinend so weiche Tierpflegerin Maxi gesagt hatte: »Auf Peter den Großen war ich gar nicht so scharf.«
Langsam ging Peter Renzi in sein Sprechzimmer. Er suchte in den Schubladen, bis er den einzigen Brief fand, den er aufgehoben hatte. Ach ja, Henriette Ott hieß die Frau. Sie war zweiunddreißig Jahre alt, unverheiratet, Sozialpflegerin und wohnte in Altona.
Sozialpflegerin – sinnierte Peter Renzi. Das war vielleicht eine Frau, die Verständnis für seine Kinder mitbringen würde. Er sollte sich wenigstens mit Henriette Ott einmal treffen. Ganz unverbindlich. Aber diese Vereinbarung musste er sofort treffen, denn morgen konnte er schon wieder wankelmütig werden.
Diese Sorge ließ ihn einen kühnen Entschluss fassen. Henriette Ott hatte ihre Telefonnummer angegeben. Also würde er sie anrufen. Sofort.
Wie in einem Trancezustand, den er selbst hervorgerufen hatte, ging Peter Renzi an den Telefonapparat und wählte die Nummer Henriette Otts. Als es dort läutete, dachte er: Wenn sie bloß zu Hause ist. Ein zweites Mal würde ich wahrscheinlich nicht anrufen.
Er zuckte zusammen, als er eine Stimme hörte: »Henriette Ott.«
Peter Renzi schluckte zweimal, bevor er seinen Namen nannte. Er wartete nicht auf die Reaktion von der anderen Seite, sondern sprach gleich weiter: »Frau Ott, ich bitte um Entschuldigung, dass ich Sie habe warten lassen. Ich war bei meinen Kindern zu Besuch. Sie sind augenblicklich in einem Heim. Sehen Sie eine Möglichkeit, dass wir uns heute noch treffen? Ich weiß, es ist schon spät, aber tagsüber fehlt es mir leider an Zeit.«
»Wenn ich keinen weiten Weg zu machen brauche, wäre ich auch heute Abend noch mit einem Treffen einverstanden, Herr Doktor.« Die Stimme Henriette Otts klang nicht unangenehm.
»Ich könnte mit dem Wagen bis zu Ihrer Wohnung kommen. Wir finden sicher ein kleines Lokal in Altona, in dem wir ungestört miteinander sprechen können, Frau Ott.«
»Gut, ich erwarte Sie. Läuten Sie bitte bei dem dritten Namensschild an der Haustür …«
Peter Renzi sagte rasch: »Ich kann in einer Viertelstunde bei Ihnen sein.«
Beinahe fluchtartig verließ er seine Wohnung und fuhr nach Altona. Nachdem er an einem großen modernen Wohnhaus geläutet hatte, brauchte er nicht lange zu warten. Eine große schlanke Frau trat aus dem Eingang.
»Frau Ott?«, fragte Dr. Renzi. Er sah in das Gesicht der Frau, das vom Straßenlicht hell beleuchtet wurde. Es war ein auffallend schmales, etwas herb wirkendes Gesicht. Sie ist sicher keine Schönheit, dachte Peter Renzi, aber sie hat auch kein unsympathisches Gesicht.
»Nur ein paar Schritte weiter ist ein kleines Weinlokal«, sagte Henriette Ott. Sie schien in keiner Weise befangen zu sein, was Peter Renzi von sich jedoch nicht behaupten konnte. Immer deutlicher kam ihm zu Bewusstsein, wozu er sich entschlossen hatte.
Doch diese Befangenheit verstand Henriette ihm zu nehmen. Durch ihre Sicherheit. Als sie ihm gegenübersaß, sah sie ihn gelassen an. Sie hatte mittelblondes, streng zurückgekämmtes Haar, blaue, etwas ausdruckslos wirkende Augen und einen rosigen Teint, der sie bedeutend jünger erscheinen ließ.
Ist sie ein mütterlicher Typ?, fragte sich Peter Renzi. Er fand darauf keine Antwort.
Jetzt fragte Henriette Ott: »Haben Sie viele Bewerbungen bekommen, Herr Doktor?«
»Einige«, wich Peter Renzi aus.
»Ich frage das nur, um mir ein Bild zu machen. Und ich hätte gern gewusst, ob Sie sich auch schon mit anderen Frauen getroffen haben.«
»Nein, mit keiner.« Das konnte Peter Renzi so fest sagen, weil es stimmte.
»Was hat Sie dazu bewogen, sich gerade mit mir zu treffen?« Diese Frage schien nicht bezwecken zu sollen, ein Kompliment herauszufordern. Sie klang ruhig, beinah ein bisschen überlegen. Oder geschäftlich?, fragte sich Peter Renzi.
Er wich aus. »Ich kann das nicht so genau sagen. Vielleicht war es Ihr Beruf. Meine Kinder brauchen Liebe und Verständnis.«
»Ja, das war aus der Annonce zu erkennen. Aber auch ohne den ausdrücklichen Hinweis hätte ich gewusst, in welcher Not mutterlose Kinder sind. Sie haben recht, in meinem Beruf eine Gewähr dafür zu sehen, dass ich mich auf Ihre Kinder einstellen könnte. Wie haben Sie sich unser Zusammenleben gedacht?« Nun mochte sie doch das Gefühl haben, in ihrer Sicherheit etwas zu weit gegangen zu sein. Etwas leiser fügte sie hinzu: »Ich meine, falls es dazu kommt.«
Peter Renzi starrte auf seine auf dem Tisch liegenden Hände. »Der Entschluss wird mir sehr schwer. Bitte, verstehen Sie das. Es ist erst ein Jahr her, dass ich meine Frau verloren habe. Und … Es war eine Liebesehe.« Er sah auf. »Eine Ehe, die diese Bezeichnung bis zuletzt verdiente.«
»Ich bin kein junges Mädchen mehr. Ich verlange keine himmelstürmende Liebe. Ich würde zunächst nur die große Aufgabe sehen, den Kindern die Mutter zu ersetzen. Außerdem habe ich ein sehr starkes Erlebnis hinter mir, das ich noch immer nicht ganz überwunden habe.« Henriette Ott biss sich auf die Unterlippe, als überlege sie, ob sie weitersprechen sollte. Erst nach längerem Zögern tat sie es. »Ich habe wahrscheinlich die große Liebe meines Lebens ebenfalls bereits hinter mir. Der Mann, den ich liebte, ist knapp vor unserer geplanten Hochzeit gestorben. Ich stehe ganz allein auf der Welt. Leider ohne Kinder. Nichts hätte ich mir mehr gewünscht, als wenigstens ein Kind zu haben. Dieser unerfüllte Wunsch war auch der Grund, dass ich auf Ihre Annonce hin schrieb. Es hat mich viel Überwindung gekostet.« Wieder zögerte sie ein Weilchen. »Bei so einer Bewerbung ist doch damit zu rechnen, dass man in einen Topf mit all jenen Frauen geworfen wird, die zuerst an eine gute Versorgung denken und die Kinder eben dafür in Kauf nehmen.«
»Es war auch meine Sorge, an eine solche Frau zu geraten«, gestand Peter Renzi. »Aber da wir beide gleich vorsichtig zu sein scheinen, könnten wir vielleicht eine Probezeit ausmachen. Es wäre mir sehr recht, wenn Sie auf diesen Vorschlag eingingen.« Er sah Henriette Ott gespannt an.
In ihrem Gesicht zeigten sich weder Enttäuschung noch besondere Bereitwilligkeit. Sie sagte nur: »Warum nicht? Das gäbe die Möglichkeit, dass wir uns erst alle kennenlernten.« Sie sah auf die Uhr. »Ich habe zwar morgen keinen Dienst, weil ich gerade dabei bin, meine Stelle zu wechseln, aber um diese Zeit liege ich sonst schon im Bett. Ich glaube, wir sind uns einig. Ich könnte zu jeder Zeit zu Ihnen übersiedeln. Selbstverständlich ist meine Bedingung ein eigenes Zimmer. Gerade, wenn man sich erst irgendwo eingewöhnen muss, ist es gut, sich mal zurückziehen zu können.«
»Meine Wohnung ist groß genug, dass ich Ihnen diesen Wunsch zu erfüllen vermag. Ich kann erst am nächsten Wochenende meine Kinder zurückholen. Wenn Sie zu dieser Zeit zu uns kommen wollen, wäre es mir recht. Sie sollten möglichst schon in der Wohnung sein und sich etwas heimisch fühlen, wenn ich die Kinder nach Hause bringe.«
»Gut, dann werde ich am Freitag kommen. Ich nehme an, dass Sie nicht erst am Samstag zu Ihren Kindern fahren werden.«
»Nein, am Freitagabend. Dann habe ich die Nacht zur Verfügung, bin am Samstagvormittag im Kinderheim und kann am Sonntagmorgen schon wieder wegfahren.«
Henriette Ott stand auf. Peter Renzi bezahlte den Wein, den sie getrunken hatten, und begleitete sie zu ihrer Wohnung zurück.
Vor der Haustür sagte Henriette Ott: »Ich werde meine Wohnung vorläufig nicht aufgeben. Ich bin immer für Sicherheit. Bis Freitagnachmittag also, Herr Doktor.«
»Ja, bis Freitagnachmittag«, wiederholte Peter Renzi. Benommen ging er zu seinem Wagen. Auf dem Heimweg überlegte er, ob dieses Engagement anders verlaufen sei als früher die Suche nach einer neuen Erzieherin für seine Kinder. Hatte das an ihm oder an Henriette Ott gelegen? Vielleicht hätte er ihr etwas herzlicher entgegenkommen sollen. Aber die Aussicht, seine Frau zu werden, schien sie gar nicht besonders verlockt zu haben. Das war ihm zunächst recht gewesen, aber jetzt kam ihm dieses ganze Gespräch doch etwas zu kühl vor. Nicht einmal nach den Namen seiner Kinder hatte Henriette Ott gefragt.
Als Peter Renzi in seiner Wohnung war und noch lange grübelte, fiel ihm wieder Maxi Fürst ein. Das Gespräch mit ihr wäre anders verlaufen. Sicher um vieles temperamentvoller. Aber daran sollte er jetzt nicht mehr denken. Er hatte sich für Henriette Ott entschieden. Das musste er sich in den nächsten Tagen immer wieder einhämmern, sonst bestand die Gefahr, dass er am Wochenende nicht nach Sophienlust fuhr, um seine Kinder nach Hause zu holen.
Schon am nächsten Tag rief Dr. Renzi Denise von Schoenecker an. Sehr kurz berichtete er ihr von seiner Entscheidung, denn er wollte sich nicht der Gefahr eines längeren Gespräches aussetzen, um seine Unsicherheit und Wankelmütigkeit nicht zu verraten. Zugleich nahm er sich damit, dass er Denise wissen ließ, wann er seine Kinder abholen würde, die Chance, von dem Abkommen mit Henriette Otto wieder zurückzutreten.
*
Denise aber ging schweren Herzens zu Sylveli und Ivo. Der überstürzte Entschluss Dr. Renzis gefiel ihr nicht. Zu oft hatte sie schon erlebt, dass Menschen, die sich strikt gegen etwas zur Wehr setzten, dann plötzlich umschwenkten und eine Dummheit begingen. Die nervöse Stimme Peter Renzis ging ihr auch nicht aus dem Sinn. Sie schien ihre Sorgen zu bestätigen.
Denise hatte Ivo und Sylveli aus dem Wintergarten geholt und mit in ihr Zimmer genommen. Natürlich folgte Henrik schon Minuten später. Denise wollte ihn nicht fortschicken. Sie wusste, damit würde sie ihn zu Tode kränken, denn er hatte ja so sehr am Schicksal seiner neuen Freunde Anteil genommen. Von ihm stammte doch auch die Idee, für die beiden eine neue Mutti zu suchen. Wenn er das auch über Rundfunk und Fernsehen hatte tun wollen.
»Am Samstag will euch euer Vati nach Hause holen, Sylveli und Ivo«, begann Denise mit belegter Stimme.
»Auf einmal?«, platzte Henrik heraus.
Sylveli war einige Sekunden unsicher, dann strahlten ihre Augen. »Hat Vati eine Mutti für uns gefunden?«
»Ja, Sylveli.« Denise kam sich in diesem Augenblick wie ein Rattenfänger vor. Machte sie den Kindern hier nicht etwas schmackhaft, wovon sie gar nicht wusste, wie es in Wirklichkeit war?
Aber jetzt fiel Sylveli schon ihrem Bruder um den Hals. »Wir haben eine neue Mutti, Ivo. Vati hat doch eine für uns gesucht. Ganz bestimmt nur, weil Magda so böse mit ihm war.« Jetzt lief sie zu Denise. »Ist die neue Mutti auch ganz, ganz lieb? Hat sie auch Vati lieb? Mag sie mit uns aufs Land ziehen, und hat sie Tiere gern?« Das alles sprudelte nur so über die Lippen des kleinen Mädchens.
»Frag doch nicht so viel«, wies Ivo seine Schwester zurecht. »Das weiß ja Tante Isi auch nicht alles so genau. Sie hat doch die neue Mutti nicht gesehen.«
Denise war erleichtert, dass Ivo ihr beistand. Alle Fragen Sylvelis mit ja zu beantworten, das wäre ihr sehr schwergefallen.
Henrik zog einen Flunsch. »Dann fahrt ihr ja für immer nach Hamburg«, meinte er.
Die Kinder sahen einander betroffen an. Erst jetzt wurde ihnen bewusst, was sie mit ihrer Suche nach einer neuen Mutti heraufbeschworen hatten.
Sylveli fing sich in ihrer Vorfreude zuerst. »Wir kommen ganz oft zu Besuch. Vati will ja immer zu Onkel Hans-Joachim, und unsere neue Mutti wird sicherlich auch mit uns nach Sophienlust fahren wollen. Damit sie sieht, wie schön es hier ist. Und sie hat ja Tiere gern. Da will sie ganz bestimmt Tante Andreas Tierheim sehen.«
Denise beobachtete Ivo. Er war nicht mehr so schnell zu begeistern wie seine jüngere Schwester. Jetzt sagte er: »Da muss ich schon wieder in eine andere Schule gehen.« Aber in dieser Klage lag wohl mehr. Vor allem die Angst vor dem schnellen Entschluss seines Vaters. Doch das konnte er nicht in Worte kleiden. Deshalb schwieg er.
Auch in den nächsten Tagen, wenn Sylveli immer wieder von der neuen Mutti schwärmte, war Ivo sehr schweigsam. Selbst Magda war darüber bestürzt. Jetzt fürchtete sie, zu hart mit Dr. Renzi ins Gericht gegangen zu sein. Wollte er ihr vielleicht beweisen, dass er nicht nur an sich, sondern vor allem an seine Kinder dachte? Oder hatte sie ihm mit der Drohung Angst gemacht, er werde eines Tages auch die Liebe seiner Kinder verlieren?
*
Auch als Dr. Renzi am Samstagmorgen in Sophienlust eintraf, fand niemand heraus, was ihn zu seinem schnellen Entschluss getrieben hatte. Er wich allen besorgten Fragen von Denise aus, ging Magda aus dem Weg und versprach seinen Kindern, ihnen unterwegs alles von der neuen Mutti zu erzählen.
Nur bei Andrea und Hans-Joachim von Lehn war er nicht gar so sparsam mit seinen Erklärungen. Auf Andreas eindringliche Frage, ob er die künftige Mutti seiner Kinder auch genau unter die Lupe genommen habe, antwortete er: »Wir haben eine Probezeit von drei Monaten vereinbart. Darüber habe ich eigens mit Frau Ott vor meiner Abreise noch einmal telefoniert. Unter anderen Bedingungen kann man eine so riskante Sache ja gar nicht angehen.«
»Es sei denn, Sie hätten eine Frau gefunden, in die Sie sich verliebt hätten«, entgegnete Andrea in ihrer offenen Art.
Das trug ihr zwar einen vorwurfsvollen Blick ihres Mannes ein, aber sie wehrte sich sofort. »Das stimmt doch. Aus Liebe zu einem Mann würde eine Frau sicher auch dessen Kinder lieben. So denke ich mir das wenigstens. Und wir haben es in Sophienlust schon mehrere Male erlebt. Aber Dr. Renzi war ja nicht bereit, selbst auf die Suche zu gehen. Nun wird er sehr vorsichtig sein müssen.«
»Deshalb ja die Probezeit«, wiederholte Peter Renzi mit einem hartnäckigen Ton in der Stimme.
Aber der schüchterte Andrea keineswegs ein. »Sie mögen mich für indiskret halten, Doktor, aber ich muss doch fragen, ob Ihnen irgendetwas an dieser Henriette Ott ganz besonders gefallen hat.«
Hans-Joachim von Lehn stöhnte: »Ach, Andrea!«
Sie funkelte ihn aus blitzenden Augen an. »Du sollst mich nicht immer bremsen.«
»Das schaffe ich ja doch nicht, Andrea. Die Bremse ist noch nicht erfunden, die dein Temperament dämpft.«
»Das ist auch gut so«, konterte Andrea. »Einer muss schließlich den Mut haben, etwas gründlicher zu sein.« Sie sah Peter Renzi an. »Ich frage ja nicht aus Neugierde, ich …« Sie stockte. »Nun, wir alle möchten schließlich, dass die Kinder eine liebe Mutti bekommen, aber dass auch Sie noch einmal glücklich werden. Mit sechsunddreißig Jahren hat ein Mann doch noch ein großes Stück Leben vor sich.«
»Nein, ich habe nichts entdeckt, was mir an Henriette Ott besonders gefallen hätte«, bekannte Peter Renzi. »Sie kam mir unaufdringlich und verlässlich vor.«
»Das ist meiner Ansicht nach zu wenig.« Das sagte Hans-Joachim von Lehn, obwohl er sich doch nicht hatte einmischen wollen.
Seine Frau sah ihn einen Moment prüfend an, dann erklärte sie: »Du würdest dich genauso benehmen wie dein Freund. Wenn ich nicht mehr wäre, könntest du dann überhaupt noch erkennen, ob du einem liebenswerten Menschen gegenüberstehst, einer Frau mit Herz und Gefühl?«
Hans-Joachim, der die gründlichen Fragen seiner Frau sonst immer zu einem Scherz benutzte, blieb jetzt ernst. »Ich will mir gar nicht vorstellen, was wäre, wenn ich dich nicht mehr hätte, Andrea. Beenden wir dieses Thema lieber. Peter muss sehen, wie er zurechtkommt. Als Ausweg bleibt für seine Kinder noch immer Sophienlust, und für ihn selbst bleiben wir, seine Freunde.«
»Danke, Hans-Joachim«, sagte Peter Renzi mit Bewegung in der Stimme. Auch ihm war es recht, dass man von etwas anderem sprechen wollte. Noch hatte er Andreas Worte im Ohr. Jene von einem liebenswerten Menschen, von einer Frau mit Herz und Gefühl.
Eine solche Frau hatte er ja kennengelernt. Maxi Fürst.
In dieser Stunde wusste Peter Renzi, dass er sich um Maxi bemüht hätte, obwohl sie gesagt hatte, sie sei auf Peter den Großen gar nicht scharf. Aber wo hätte er Maxi suchen sollen?
*
Auf der Fahrt nach Hamburg bedrängten Sylveli und Ivo den Vater. Sie wollten endlich mehr über die neue Mutti erfahren.
Peter Renzi konnte nicht mehr ausweichen. So gut er es vermochte, erzählte er den Kindern, wie Henriette Ott aussah. Dann sagte er: »Vielleicht seid ihr jetzt ein bisschen enttäuscht, wenn ich euch bitte, Frau Ott zunächst mit Tante Henriette anzureden.«
Sylveli beugte sich aus dem Fond etwas nach vorn und erklärte: »Aber wir wollen doch keine Tante, Vati.«
»Nein, ich weiß, ihr wollt eine Mutti. Aber seht doch ein, dass das nicht von einer Stunde zur anderen geht. Frau Ott und ich haben uns auch eben erst kennengelernt.«
»Hast du sie denn nicht lieb, Vati?«, fragte Sylveli. »Mutti hast du doch sehr lieb gehabt.«
»Ja, Mutti …« Das sagte Peter Renzi in einem Ton, als scheue er sich, den Namen der geliebten Frau im Zusammenhang mit Henriette Ott zu nennen.
»Nun quäle doch Vati nicht schon wieder!« Ivo stieß seine Schwester an. »Wir können wirklich zuerst Tante Henriette sagen.«
»Das ist ja ein so schwerer Name. Mutti wäre viel einfacher«, verteidigte Sylveli ihren Wunsch. »Aber wenn du meinst …«
Sie sah ihren Bruder unsicher an.
»Wir wollen ja auch erst sehen, ob uns Frau Ott als Mutti gefällt.« Der Junge spürte, dass er seinem Vater beistehen musste. Zu deutlich war dessen Hilflosigkeit zu erkennen.
Sylveli warf die Lippen auf. »Sie weiß doch, wie sie zu uns sein muss. Das haben wir doch in der Annonce geschrieben.«
»Jetzt kannst du wenigstens Annonce sagen«, neckte Ivo sie.
»Du sollst nicht über mich lachen. Immer, wenn ich etwas sage, tut ihr, als ob ich noch zu klein wäre. Ich bin schon fünf Jahre. Ich will wieder eine Mutti, die so lieb ist, wie unsere Mutti es war.«
»Sylveli«, bat Peter Renzi, »du darfst es mir jetzt nicht so schwer machen. Ich habe versucht, euren Wunsch zu erfüllen. Jetzt werden wir ja sehen, ob Frau Ott so lieb ist, wie eure Mutti es war. Aber wir müssen auch erst wissen, ob ihr Frau Ott so lieb haben könnt wie eure Mutti. Du berufst dich darauf, dass du schon fünf Jahre alt bist. Dann musst du auch vernünftig sein und das tun, was ich von euch verlange. Ich habe es mir bestimmt gut überlegt. Vielleicht sind diese Gespräche in einigen Wochen vollkommen überflüssig. Seid lieb und brav, so, wie ihr es in der Annonce versprochen habt.«
Jetzt begehrte Ivo doch einmal auf. »Das hat ja Magda so schreiben wollen. Wir wollten gar nicht, dass sie uns so anpreist. Jetzt werden wir immerzu daran denken müssen, dass wir nichts falsch machen dürfen. In Sophienlust war niemand so streng zu uns. Da konnten wir auch mal toben und übermütig sein.«
»Ja, das war schön.« Sylvelis Augen strahlten in der Erinnerung an die Zeit in Sophienlust.
Diese Erinnerung stieg in den nächsten Wochen in den beiden Kindern sehr oft auf. Voll tiefer Sehnsucht. Von der ersten Stunde an hatten sie mit Henriette Ott nicht warm werden können. Ihre distanzierte Art hatte zunächst dem Vater zugesagt, weil er noch nicht dazu bereit gewesen war, mehr zu nehmen und zu geben. Den Kindern aber schaffte sie eine eiskalte Atmosphäre. Selbst das »Tante Henriette« schien ihnen schwer über die Lippen zu gehen. Ab und zu steckten sie sogar die Köpfe zusammen und schwärmten von ihren drei Erzieherinnen, die ihnen doch alle zu wenig gegeben hatten.
Peter Renzi kam bald noch seltener aus seinem Sprechzimmer in die Wohnung. Am Abend mussten die Kinder so frühzeitig zu Bett gehen, dass er kaum ein paar Worte mit ihnen wechseln konnte. Am meisten aber belastete ihn die Tatsache, dass Sylveli und Ivo nicht klagten. Sie waren so verschlossen, als wollten sie damit zeigen: Wir sind ja schuld daran. Wir haben erzwungen, dass diese fremde Frau jetzt im Haus ist.
Über eines allerdings konnte sich niemand beklagen – über mangelnde Ordnung. Henriette war eine perfekte Hausfrau. Sie putzte den ganzen Tag, hatte die Wohnung auf Hochglanz gebracht, und das Essen stand auf die Minute pünktlich auf dem Tisch. Dass das Henriette niemand dankte, schien sie zu ergrimmen. Aber noch warf sie das nur den Kindern vor. Immer öfter schimpfte sie: »Diese Schlamperei habt ihr nur im Kinderheim gelernt. Ich weiß doch, wie es dort zugeht. Ihr wisst nicht zu schätzen, dass ich hier euer Dienstmädchen spiele. Und wofür eigentlich? Ich bekomme nicht einmal Gehalt.«
Ivo ließ sich zu der Entgegnung hinreißen: »Unsere Mutti hat auch kein Geld für ihre Arbeit bekommen, Tante Henriette.«
»Noch bin ich nicht eure Mutti«, gab Henriette giftig zurück. Ihre Ruhe schien allmählich im Schwinden zu sein.
Sylveli, in den letzten Tagen besonders oft von Henriette angegriffen, sagte mit ernstem Gesicht: »Wir möchten auch nicht, dass du unsere Mutti wirst, Tante Henriette.«
»Was fällt dir ein?« Henriettes Gesicht zeigte hektisch rote Flecken.
Sie sah aus, als wollte sie zuschlagen.
Schon sprang Ivo zu seiner Schwester und stellte sich schützend vor sie. Obwohl er sonst nicht so spontan wie Sylveli reagierte, meinte er nun doch, ihr beistehen zu müssen. Rasch erklärte er: »Nein, wir möchten nicht, dass du unsere Mutti wirst. Vati hat gesagt, du hast eine Probezeit. Wenn du sie nicht bestehst, musst du wieder von uns fort.«
»Solchen Unsinn erzählt euch euer Vater?« Henriette bemühte sich um Beherrschung. Nein, sie durfte sich nicht von den Kindern reizen lassen. Sie musste so distanziert bleiben, wie Peter Renzi sie bei ihrer ersten Begegnung kennengelernt hatte. Es war ihr Plan gewesen, ihm nicht zu zeigen, wie sehr sie danach strebte, seine Frau zu werden. Diesen Plan hatte sie konsequent durchgeführt, und er hatte ihr bisher auch Erfolg gebracht. Es war ihr gelungen, in diese Familie einzudringen. Nun musste sie es noch schaffen, die Frau Dr. Renzis zu werden. Nur damit konnte sie dem Mann, der sie nach fünf Jahren Verlobungszeit versetzt hatte, beweisen, dass sie nicht auf ihn angewiesen war. Ja, dass sie die angesehene Frau des Tierarztes Dr. Renzi werden konnte, während sie anders nur die Frau eines kleinen Vertreters geworden wäre. Henriette Ott war voller Genugtuung, wenn sie daran dachte, dass Peter Renzi ihr das Märchen von dem geliebten Mann, der gestorben sein sollte, geglaubt hatte. Sie musste nur weiter so klug vorgehen und sich auch von den Kindern nicht aus ihrem Konzept bringen lassen.
Deshalb sagte sie jetzt sehr ruhig: »Ihr wisst manchmal nicht, was ihr sprecht. Nun, ich nehme euch das nicht übel. Ihr seid noch zu klein, um zu verstehen, wie sehr ich mich für euch aufopfere. Aber ihr werdet schon noch einsehen lernen, dass ich es genauso gut mit euch meine wie eure Mutti.«
Sylveli hatte inzwischen gelernt, die Gelegenheiten zu nutzen. Deshalb fragte sie: »Dürfen wir dann auch unseren Goldhamster wieder aus dem Keller holen? Mutti hätte das erlaubt.«
»Nein, der Goldhamster bleibt im Keller«, entschied Henriette Ott. »Und das Angorakätzchen, das euer Vater sich hat aufschwatzen lassen, geben wir ins Tierheim.«
»Nein!«, schrien Sylveli und Ivo gleichzeitig.
»In der Wohnung bleibt das Kätzchen aber nicht. Ich bin heilfroh, dass ich so viel überflüssigen Krimskrams hinausgeworfen habe, damit es hier endlich etwas hygienischer ist. Nichts als Staubfänger standen herum.«
»Meine Stofftiere waren keine Staubfänger«, widersprach Sylveli mit tränenerstickter Stimme.
»Und Muttis Vasen auch nicht. In denen standen immer Blumen. Wenn Vati von seiner Reise zurückkommt, wirst du alles wieder aus dem Keller holen müssen.« Ivos blaue Augen sahen vor Erregung dunkel aus.
»Blumen in der Wohnung? Im Wasser! Es stinkt nach einem Tag. Und in so einer Bazillenhöhle wollt ihr wohnen?« Henriette hatte schon wieder vergessen, dass sie sich beherrschen wollte. Aber die vergangenen vier Wochen mit diesen hartnäckigen Kindern hatten ihre Nerven bis zum Zerreißen gespannt.
»Dann wirst du wohl auch nicht auf dem Land wohnen wollen, Tante Henriette«, meinte Ivo jetzt mit einem prüfenden Blick.
»Niemals!«, entrüstete sich Henriette.
Sylveli hatte wieder Mut gefasst »Dann hast du gelogen. Wir haben in unserer Annonce geschrieben, dass du Tiere gernhaben sollst und auf dem Land leben magst.«
»Wieso in eurer Annonce?«, fragte Henriette. »Die hat ja wohl euer Vater aufgesetzt.«
»Nein. Das waren wir. Mit Magda haben wir das gemacht und mit unserem Freund Henrik.« Ivo war ganz nahe vor Henriette getreten. »Vati wusste ja gar nichts davon. Er wollte noch keine Mutti für uns und keine neue Frau.«
Henriette verschlug es den Atem. So war das also! Die Kinder hatten den Vater erpresst. Jetzt konnte sie sich erklären, weshalb er so wenig Interesse an ihr hatte. Bisher war sie der festen Überzeugung gewesen, er suche eine Frau. Dabei war sie nur ein Dienstmädchen hier, das sich auch noch von den Kindern schikanieren lassen musste. Umsonst hatte sie Peter Renzi vorgespielt, wie geduldig sie auf ein Zeichen von aufkeimender Liebe warten könne. Er dachte gar nicht daran, ihr entgegenzukommen. Eines Tages würde er irgendeine Frau kennenlernen, in die er sich verlieben würde. Er war ein gut aussehender Mann, auf den die Frauen sicher flogen. Vielleicht hatte er gar schon irgendwo eine Liebschaft? Warum hatte er sonst allein an den Ratzeburger See fahren wollen? Um sich eine Praxis anzusehen, die in kurzer Zeit frei wurde? Nein, das glaubte sie jetzt nicht mehr. Sie schien trotz ihres wohl überlegten Planes alles falsch gemacht zu haben. Jetzt konnten ihr nur mehr die Kinder helfen. Wenn Peter Renzi auf ihre Annonce eingegangen war, dann würde er ihnen auch andere Wünsche nicht abschlagen.
»Ach, so war das also«, sagte sie mit so weicher Stimme, dass die Kinder beinah erschraken. Aber sie sollten gleich noch mehr überrascht werden. Henriette legte zuerst den Arm um Sylvelis, dann um Ivos Schultern. »Ihr hattet den großen Wunsch nach einer ganz lieben Mutti. Warum habt ihr mir das nicht gleich gesagt? Versteht ihr denn nicht, dass ich unsicher war? Ich wollte mich euch mit meiner Liebe nicht aufdrängen.«
»Aber du hast uns doch gar nicht lieb, Tante Henriette.« Sylveli erklärte das sehr bestimmt.
Und Ivo pflichtete ihr sofort bei. »Nein, du hast uns nicht lieb, Tante Henriette. Wir möchten viel lieber wieder in Sophienlust sein als bei dir. Dort war es so schön. Dort hatten uns alle mehr lieb als du.«
Henriette zuckte zurück. Liebe zu geben, das war ihrem Wesen versagt. Aber jetzt vermochte sie Liebe auch nicht mehr zu heucheln. »Dann schaut doch, dass ihr nach Sophienlust kommt«, äußerte sie. »Aber hofft nicht, dass euch jemand hilft.« Sie musste jetzt einfach einen harten Schlag gegen die beiden Kinder austeilen, die ihr alle Illusionen genommen hatten. »Dass ihr es nur wisst, euren Vater stört weder, dass ich die vielen Vasen eurer Mutter in den Keller geräumt habe, noch, dass euer Goldhamster dort unten steht. Das Angorakätzchen hat er sich aufschwatzen lassen, aber nun sieht er ein, dass es nicht in die Wohnung gehört, sondern in ein Tierheim.«
»Das ist nicht wahr«, weinte Sylveli auf. »Vati hat Tiere gern. Deshalb wollen wir ja auch aufs Land ziehen.«
»Ja, und deshalb ist Vati an den Ratzeburger See gefahren.« Auch in Ivos Stimme klangen jetzt schon unterdrückte Tränen mit.
Doch das brachte Henriette nicht zur Vernunft. Sie brauchte Opfer für ihren ohnmächtigen Zorn. »Niemals geht ihr aufs Land«, erklärte sie fest. »Wir bleiben hier in Hamburg. Euer Vater macht nur einen Besuch bei einem Kollegen. Ich habe das Versprechen eures Vaters, dass wir nicht aus Hamburg fortgehen. Euer Vater und ich werden heiraten. Ihr müsst also mit mir als Mutter vorliebnehmen, ob ihr das wollt oder nicht.«
»Vati hat dich doch gar nicht lieb«, schluchzte Sylveli.
In diesem Augenblick war es um Henriettes Beherrschung vollends geschehen. Klatschend schlug ihre Hand in Sylvelis Gesicht. »Davon kannst du in Zukunft noch mehr haben. Und du auch, Ivo.«
Die Kinder flüchteten in einen Winkel des Zimmers. Beide zitterten. Die Frau, die sich anfangs so sanft gegeben hatte, sah aber jetzt auch zum Fürchten aus. Ihr streng zurückgekämmtes Haar hatte sich gelöst, ihr Gesicht war puterrot, aus ihren Augen schienen Blitze zu schießen, ihr Mund war verzerrt. Plötzlich rannte sie zur Wand und riss das Bild von Anneliese Renzi herunter. Sie warf es auf den Fußboden, dass das Glas zersplitterte. »Da habt ihr eure Mutter, die euch nichts anderes beigebracht hat, als an Liebe zu denken. ›Zärtliche Mutti gesucht‹! Wie lächerlich mir das gleich vorkam. Kinder brauchen Zucht, Ordnung und Schläge. Anders bin ich auch nicht aufgewachsen. Rührt euch nicht aus diesem Zimmer. Ich habe noch eine Besorgung zu machen.«
Schon schlug die Tür hinter ihr ins Schloss.
Sylveli rutschte auf dem Fußboden bis zum Bild ihrer Mutter, presste es an sich und schluchzte: »Mutti! Mutti!«
»Pass doch auf, Sylveli, du rammst dir ja Glassplitter in die Knie.« Ivo sagte es mit zitternder Stimme. Er streckte die Hand aus und zog seine Schwester zu sich zurück. Seine Finger strichen über ihre Wange. »Hat es sehr weh getan, Sylveli?«
»Ja, Ivo.« Sylveli legte den Kopf an seine Brust. »Ich habe solche Angst. Warum will Vati Tante Henriette heiraten? Sie wird immer so böse sein.«
Ivo wusste darauf keine Antwort. Er kam nicht auf den Gedanken, dass Henriette gelogen haben könnte. Plötzlich erklärte er: »Wir müssen nach Sophienlust, Sylveli. Tante Isi und Tante Andrea werden Vati sagen, dass er Tante Henriette nicht heiraten darf. Auf uns hört er bestimmt nicht, weil wir ja wollten, dass sie unsere Mutti wird. Jetzt heiratet er sie gewiss nur deshalb.«
»Aber es bringt uns niemand nach Sophienlust. Das hat Tante Henriette doch vorhin gesagt. Wir sollen allein gehen.« Sylveli hob den Rock ihres blau-weiß geblümten Kleides und trocknete sich damit die Tränen ab.
Ivo lauschte auf den Flur hinaus. »Jetzt ist sie fortgegangen. Sicher fährt sie zu ihrer Wohnung. Samstagnachmittag sind die Geschäfte ja nicht geöffnet.«
»Aber sie wird bald zurückkommen.« Sylveli zitterte schon wieder.
»Wenn sie nach Altona fährt, braucht sie immer eine Stunde, bevor sie zurückkommt.« Ivo riss Sylveli hoch. »In dieser Zeit müssen wir fort sein. Ich bin doch schon groß, Sylveli. Ich kann schon lesen und schreiben und auf dich aufpassen. Wir fahren nach Sophienlust.«
»Das ist doch so schrecklich weit, Ivo«, wandte Sylveli verzagt ein, obwohl in ihren Augen ein sehnsuchtsvoller Schimmer lag.
»Wir müssen eben mit dem Zug fahren. Es ist doch gar nicht weit bis zum Hauptbahnhof. Dorthin kommen wir doch.«
»Aber wir haben kein Geld.«
Jetzt sah auch Ivo betrübt drein. »Nein, in unserem Sparschwein ist nicht so viel Geld, wie wir brauchen würden. Aber ich will nach Sophienlust.« Ivo, der so etwas sicher noch nicht oft getan hatte, trat mit dem Fuß auf. »Ich will nach Sophienlust!«
»Ich auch. Vati kommt erst morgen Abend nach Hause. Bis dahin wird uns Tante Henriette noch oft schlagen. Das hat sie ja gesagt. Und dann heiratet Vati sie.« Sylveli liefen längst wieder die Tränen über die Wangen.
»Dann bleiben wir eben für immer in Sophienlust, Sylveli.« Ivo nahm ihr das Bild der Mutter ab. »Aber das soll Vati wissen, dass Tante Henriette Muttis Bild zerschlagen hat. Das schreibe ich ihm. Komm mit, wir legen das Bild in Vatis Schreibtisch.«
Die beiden stiegen über die Glassplitter hinweg und verließen das Wohnzimmer. Im Sprechzimmer setzte sich Ivo an den Schreibtisch seines Vaters, nahm einen Zettel vom Rezeptblock und malte in seiner Abc-Schrift darauf: »Das war Tante …« Er sah Sylveli an. »Wie schreibt man denn Henriette?«
»Hast du das denn noch nicht in der Schule gelernt, Ivo?«
»Doch.« Der Junge wollte vor seiner Schwester nicht zugeben, dass er etwas nicht konnte. Schließlich sollte sich Sylveli ihm ja noch für die weite Reise nach Sophienlust anvertrauen. Von diesem Plan würde er nicht abgehen. Also malte er eben nach Gutdünken einige Buchstaben auf den Zettel, in der Hoffnung, dass sie das Wort Henriette ergeben würden.
Sylveli hatte die Schreibtischschublade aufgezogen. Als sie das Bild der Mutter hineinlegen wollte, erstarrte sie. »Da liegt so viel Geld, Ivo. Können wir das für die Reise nehmen?«
Ivo sah sie unschlüssig an. Er begann zu zählen. »Fünfzig – siebzig – hundert Euro. Und noch einmal zwanzig Euro.«
»Reicht das für die Fahrkarten nach Wildmoos, Ivo?« Sylveli zappelte vor Ungeduld.
»Das weiß ich nicht. Da müssen wir erst auf dem Bahnhof fragen.«
»Aber können wir das Geld nehmen, Ivo?«
»Wir borgen es uns von Vati. Wenn wir fleißig sparen, können wir es ihm bald zurückgeben. Vielleicht ist es auch das Geld für mein Fahrrad. Das braucht mir ja Vati dann nicht zu kaufen.« Ivo griff wieder nach einem Zettel vom Rezeptblock. Und nun schrieb er darauf: Lieber Vati, wir haben uns Dein Geld geborgt, damit wir nach Sophienlust fahren können. Du bekommst es bestimmt zurück, und Du brauchst mir auch kein Fahrrad zu kaufen.
»Hast du auch alles richtig geschrieben, Ivo?«, fragte Sylveli besorgt. »Vati sagt, du vergisst immer einen Buchstaben.«
»Ja, das ›h‹, aber das ist doch jetzt egal. Hauptsache, Vati weiß, dass wir ihm das Geld nicht gestohlen haben.« Schon schob Ivo die Scheine in seine Hosentasche und zog seinen gestreiften Pulli so weit herunter, dass die Tasche bedeckt war.
Aber damit war Sylveli noch nicht zufrieden. »Wenn ein Taschendieb kommt, zieht er dir das Geld aus der Hosentasche. Ich nehme es und gebe es in meine kleine Lacktasche. Ich hole sie gleich.«
»Ja, und wasch dir das Gesicht, damit man nicht sieht, wie verheult du bist, Sylveli. Ich wasche mir hier die Hände. Dann hole ich unser Angorakätzchen aus deinem Zimmer. Das nehmen wir mit, damit Tante Henriette es nicht ins Tierheim bringen kann. Tante Andrea wird es gern aufnehmen, und Waldi mag kleine Katzen auch.«
»Und unseren Goldhamster?«, fragte Sylveli.
Ivo sah sie zweifelnd an. »Wir können doch nicht den Käfig mit in den Zug nehmen. Das fällt ja auf. Und in die Hosentasche kann ich den Hamster auch nicht stecken, da brennt er uns durch. Er muss hierbleiben.«
»Dann wird ihn Tante Henriette verhungern lassen, Ivo.«
Der Junge lief schon wieder an den Schreibtisch zurück. Ein neuer Zettel musste her. Wieder kritzelte Ivo. Diesmal noch flüchtiger.
»Was hast du denn jetzt geschrieben?«
»Vati, bitte füttere unseren Hamster. Er steht im Keller.«
»Meinst du, dass Vati das tut?«, fragte Sylveli. Seitdem sie gehört hatte, dass ihr Vati Tante Henriette heiraten würde, war ihr Vertrauen in den Vater erschüttert.
»Klar tut er das. Er ist doch Tierarzt. Geh jetzt endlich. Und zieh einen Mantel an. In der Nacht wird es kalt.«
Ivo lief in das Zimmer seiner Schwester, während diese im Badezimmer verschwand. Noch ehe Sylveli aus dem Bad kam, öffnete er die Tür. »Das Angorakätzchen ist nicht mehr da, Sylveli.« Ivo sprach stockend. Er konnte seine Schwester dabei nicht ansehen.
»Dann ist Tante Henriette nicht nach Altona gefahren. Sie hat sicher das Kätzchen ins Tierheim gebracht. Heul nicht wieder, Sylveli. Hole lieber deinen Mantel.«
Mit gesenktem Kopf ging das kleine Mädchen durch die Wohnung. Unterwegs wischte es sich über die Augen. Als es in die Diele zurückkam, hatte es einen dunkelblauen Mantel an. Er war verkehrt zugeknöpft.
»Wie siehst du denn aus? Du hast ja die Knöpfe in die falschen Knopflöcher gesteckt. So kann ich nicht mit dir nach Sophienlust fahren. Sich richtig anzuziehen, das könntest du doch schon allein schaffen.« Es schien Ivo ein Bedürfnis zu sein, mit Sylveli jetzt zu schimpfen. Damit machte er wohl sich selbst stark gegen den Schmerz um das Angorakätzchen.
»Ich habe ja die Knopflöcher nicht gesehen«, murmelte Sylveli.
»Ja, weil du schon wieder heulst. Da, gib das Geld in dein Täschchen, und dann schnell fort, sonst kommt Tante Henriette zurück.« Ivo schob seine Schwester aus der Diele auf den Flur. Dort nahm er sie an die Hand und zog sie zur Haustür. Auf der Schwelle sah er den Bürgersteig hinauf und hinunter. »Ich sehe sie nirgends. Pass auch gut auf, Sylveli. Komm, wir gehen zu Fuß zum Hauptbahnhof.«
In der Innenstadt herrschte schon wieder die Ruhe des Wochenendes. Aber auf dem Hauptbahnhof gerieten die beiden Kinder sofort zwischen etliche Pulks von Menschen. Aber das war ihnen nur recht. So fielen sie wenigstens nicht auf.
Es war Ivo anzusehen, dass er sich nicht ganz so sicher fühlte, wie er Sylveli gegenüber tat. Was sollte er nur machen, wenn das Geld nicht für zwei Fahrkarten nach Maibach reichen sollte? Immerhin wusste er, dass Maibach die Bahnstation von Wildmoos war, dem Ort, zu dem Sophienlust gehörte. Aber vielleicht brauchte Sylveli gar keine Fahrkarte?
Um am Fahrkartenschalter nicht aufzufallen, riskierte Ivo es, einen älteren Bahnbeamten in der Halle anzusprechen. »Braucht meine kleine Schwester auch schon eine Karte, wenn sie mit der Bahn fahren will?«, fragte er.
»Aber natürlich, mein Junge«, antwortete der Mann. »Die Deern ist ja schon ganz schön groß. Wohin wollt ihr denn?«
»Oh, ganz weit«, sagte Sylveli. Sie erntete dafür einen Rippenstoß ihres Bruders.
»Wissen Sie auch, was eine Fahrkarte bis Maibach kostet?«, fragte Ivo. Er reckte sich ein wenig, um noch etwas größer auszusehen. Aber das wäre nicht nötig gewesen. Bisher hatten ihn alle mindestens für ein Jahr älter gehalten, als er war.
»Maibach, Maibach«, überlegte der Bahnbeamte. »Ist das da unten in Württemberg? Ich war nämlich einmal Zugschaffner.« Er wartete nicht erst die Antwort des Jungen ab. »Na, da müsst ihr für zwei Karten schon um die hundertfünfzig Euro berappen. Ja, ja, unsere gute Bundesbahn ist teuer geworden. Früher fuhr man billiger.«
»Haben wir so viel Geld?«, fragte Sylveli leise.
Ihr Bruder nahm sie bei der Hand. »Danke schön«, sagte er und wollte weitergehen. Doch jetzt fiel ihm noch etwas ein. »Bis nach Frankfurt wäre es doch sicher billiger?«
Der ältere Mann lachte. »Das will ich wohl meinen. Aber meistens kann man sich nicht die billigere Fahrt aussuchen. Wer nach Maibach will, der kann schlecht nur bis Frankfurt fahren. Von dort wäre es nämlich noch ein ganz schöner Fußmarsch. Das gäbe Blasen an den Füßen.«
Nun zog Ivo seine Schwester endgültig weiter.
Der Bahnbeamte sah den zwei Kindern etwas verdutzt nach. Erst jetzt schien ihm aufzufallen, dass sie sich doch etwas sonderbar benommen hatten. Sollte er ihnen vielleicht einmal nachgehen? Aber jetzt waren sie schon zwischen den vielen Leuten verschwunden.
Ivo blieb mit seiner Schwester vor einer Litfaßsäule unweit der Fahrkartenschalter stehen. »Rühre dich nicht von hier fort, Sylveli. Geh ja nicht mit jemandem mit«, beschwor er seine Schwester. »Ich hole die Fahrkarten.«
»Warum kann ich denn nicht mitkommen?«
»Du bist zu klein. Ich allein falle nicht so auf. Gib mir deine Tasche. Ich komme gleich zurück.«
Sylveli ließ ihren Bruder nicht aus den Augen. Ihr wurde immer banger zumute. Die vielen fremden Menschen jagten ihr Angst ein. Am liebsten hätte sie schon wieder zu weinen begonnen – um ihren Vati, um das schöne Bild ihrer Mutti, weil Tante Henriette sie geschlagen hatte, weil das Angorakätzchen verschwunden war und weil Vati diese böse Tante Henriette heiraten wollte.
Aber nun kam Ivo schon vom Fahrkartenschalter zurück. Sie lief ihm entgegen. »Können wir jetzt fahren?«
»In einer halben Stunde. Komm, wir müssen den Bahnsteig elf suchen. Von dort fährt unser Zug nach Frankfurt.«
»Aber was wollen wir denn in Frankfurt? Dort waren wir doch noch nie«, klagte Sylveli.
»Wir sind doch mit Vati durch Frankfurt gefahren. Weißt du das nicht mehr?«
»Ja, mit dem Auto. Aber das war noch weit weg von Sophienlust, Ivo.«
»Du sollst nicht jammern. Hauptsache, wir sind erst einmal in Frankfurt. Von dort kommen wir schon weiter.«
»Meinst du, Ivo?« Das klang noch immer etwas kläglich. Aber dann hellte sich Sylvelis Gesicht auf. »Vielleicht finden wir nette Leute im Zug, die uns noch weiter mitnehmen. Bis nach Sophienlust.«
Ivo antwortete darauf nicht. Ihm war selbst nicht wohl zumute. Er zeigte auf ein Schild und fragte: »Siehst du das dort? Das sind zwei Einsen, und das bedeutet elf. Auf diesen Bahnsteig müssen wir. Der Zug steht schon dort. Wir steigen gleich ein.«
Jetzt hatte es Sylveli eilig. »Ja, komm schnell, Ivo, damit uns Tante Henriette nicht findet. Vielleicht sucht sie uns schon.«
*
Dr. Renzi machte einen Abendspaziergang am Westufer des Ratzeburger Sees entlang. Er hatte den kleinen Ort Einhaus eben hinter sich gelassen. Mit einem beglückenden Gefühl. Er hatte sich an diesem Nachmittag mit seinem Kollegen Dr. Plötz geeinigt, dessen Praxis in vier Wochen zu übernehmen.
Noch war es für Peter Renzi unvorstellbar, dass er schon in kurzer Zeit mit seinen Kindern in dieser friedlichen, Geborgenheit ausströmenden Landschaft würde leben dürfen. Mit welcher Ungewissheit war er an den Ratzeburger See gefahren.
Durch Zufall hatte er von der Tierarztpraxis in Einhaus gehört, die ein Kollege aus Altersgründen aufgeben wollte.
Peter Renzi blieb jetzt stehen und sah über den schimmernden See. Nein, er hatte nicht für möglich gehalten, dass es ihm gelingen würde, sich hier niederzulassen. Er war darauf gefasst gewesen, dass Dr. Plötz sagen würde: »Da hätten Sie sich früher bewerben müssen. Eine Praxis in einer so schönen Gegend ist heutzutage vielumworben.« Aber Dr. Plötz hatte genau das Gegenteil geäußert. Mit etwas bedrücktem Gesicht.
»Ich verstehe die Menschen nicht«, hatte er erklärt. »Sie wollen lieber in der Stadt leben, einfach deshalb, weil sie dort mehr Geld verdienen können. Dabei wirft meine Praxis so viel ab, dass ich immer ein gutes Leben hatte, mir jedes Jahr mit meiner Familie meine Reisen leisten konnte und es auch schaffte, meine drei Kinder studieren zu lassen.«
Das Gesicht Dr. Renzis überschattete sich. Wie sehr hätte Anneliese sich gefreut, wenn sie hierher hätte ziehen können, dachte er. Sogar in ein eigenes schmuckes Haus. Denn er konnte das Haus von Dr. Plötz kaufen. Der alte Herr hatte sich an einer anderen Stelle des Sees schon vor Jahren ein kleines Haus gebaut.
Langsam ging Peter Renzi jetzt weiter. Hier würden seine Kinder genügend Freiheit haben. Hier würden sie sich austoben können und all das wiederbekommen, was sie in Sophienlust so sehr geschätzt hatten.
Jetzt legte sich doch ein Lächeln um die Lippen des Tierarztes. Als er daran dachte, dass Sylveli und Ivo hier etwas wiederfinden würden, was sie kaum zu erträumen gewagt hätten – eine Zweitausgabe des Tierheims Waldi & Co. Ja, Dr. Plötz besaß seit Jahren ein kleines Tierheim, in das er kranke und verstoßene Tiere aufgenommen hatte. Genau wie Andrea von Lehn. Er, Dr. Renzi, brauchte sie und ihren Mann nicht mehr zu beneiden, denn er würde auch das Tierheim von Dr. Plötz übernehmen.
Oder musste er die Freunde doch beneiden? Andrea und Hans-Joachim konnten gemeinsam schaffen. Sie waren ein glückliches junges Ehepaar, er aber war mit seinen Kindern allein.
Mit etwas bitteren Gefühlen dachte Peter Renzi jetzt an Henriette Ott. Sie würde in diesen Frieden hier nicht passen. Aber sicher würde es ihm nicht schwerfallen, seinen Kindern zu erklären, dass sie ihre Hoffnung, in Henriette die ersehnte Mutti zu finden, aufgeben mussten.
Sylveli und Ivo hatten längst zu spüren bekommen, dass Henriette diese Stelle nicht ausfüllen konnte. Er musste seine Kinder nur bewundern, dass sie nicht öfter geklagt hatten. Sicher kam das nur daher, dass sie sich an seinem Entschluss, Henriette ins Haus genommen zu haben, schuld fühlten. Es war schade, dass die Kinder diese Enttäuschung hatten einstecken müssen.
Ob ihnen das auch bei Maxi Fürst passiert wäre?
Diese Frage beschäftigte Peter Renzi schon, seitdem Henriette bei ihm war. Immer wieder sah er das hübsche Gesicht mit den braunen Augen vor sich, diese kleine adrette Person, die vor Lebenslust gestrotzt hatte. Er hätte sie damals nicht so spöttisch behandeln dürfen, dachte er. Was hatte Maxi doch gesagt? »Schade, jetzt hatte ich mir schon ausgemalt, wie viel Unsinn ich mit Ihren Kindern anstellen würde, damit sie den Tod ihrer Mutti vergessen würden. Wissen Sie, Kinder bringt man am besten über ihren Schmerz hinweg, wenn man mit ihnen lacht und übermütig ist.«
Peter Renzi unterdrückte einen Seufzer. Die Wahrheit dieser Ansicht von Maxi Fürst hatte sich rasch erwiesen. Eben weil Henriette tierisch ernst im Umgang mit seinen Kindern war, weil sie selbst nicht lachen konnte, hatte sie keinen Kontakt gefunden. Weder zu ihm noch zu Sylveli und Ivo.
Aber da war ja noch so mancherlei, was ihn an Henriette störte. Ihr pedantisches altjüngferliches Wesen, die Art, in der sie aus seiner Wohnung alles entfernte, was ihr nicht passte, ohne jede Rücksicht auf Pietät. Seit einigen Tagen waren alle Vasen verschwunden. Als ob Vasen nicht dazu da wären, mit Blumen gefüllt zu werden – wie Anneliese es immer getan hatte. Aber Henriette liebte wohl Blumen ebenso wenig wie Kinder. Sie war ein gefühlsarmes Wesen, das es verstanden hatte, ihm etwas vorzugaukeln. Sehr geschickt hatte sie das getan. Ihre unaufdringliche Art, ihr Gleichmut, ob er auf ihre Bewerbung eingehen werde oder nicht, hatten ihm gefallen. Eine Frau, die so vermessen gewesen wäre, Ansprüche an seine Gefühle zu stellen, hätte ihm Furcht eingejagt.
Ja, du hast eine halbe Sache gemacht, Peter Renzi, sagte er zu sich selbst in dieser Stunde. Andrea von Lehn hatte recht, als sie dich fragte, ob dir wenigstens irgendetwas an Henriette besonders gefallen habe. Aber nun musst du damit fertig werden, einen falschen Entschluss gefasst zu haben.
Doch hier draußen würden seine Kinder vergessen, dass sie wieder einmal um eine Hoffnung betrogen worden waren. Und hier würde er sich auch mehr um Sylveli und Ivo kümmern können als in der Stadt. Er würde sie mitnehmen können, wenn er über Land fahren würde, sie würden auch ohne Aufsicht im Freien sein können, und er würde Ivo für seinen Schulweg nicht mehr einzuhämmern brauchen, dass er jede Minute auf den Straßenverkehr achten müsse. Hier konnte der Junge auf dem Weg von und zu der kleinen Schule auch einmal träumen und trödeln.
Aber wer würde ihm den Haushalt führen? Die alte Wirtschafterin, die Dr. Plötz seit dem Tod seiner Frau den Haushalt geführt hatte, begleitete den alten Herrn in sein kleines Haus. Morgen musste er Dr. Plötz fragen, ob er jemanden im Ort kenne, der ins Tierarzthaus kommen würde. Zu zwei Kindern. Am besten wäre eine ältere mütterliche Person.
Peter Renzi kehrte jetzt um. Er schlenderte nach Einhaus zurück und ging in den kleinen Gasthof, in dem er sich für diese eine Nacht ein Zimmer genommen hatte. Er saß noch lange mit dem Wirt an einem Tisch und sprach über Land und Leute.
*
Am nächsten Morgen stand Peter Renzi frühzeitig auf. Die Sonne hatte ihn aus den Federn getrieben. Nein, er wollte sich keine Stunde hier draußen entgehen lassen. Nach dem Frühstück spazierte er wieder ein Stück am See entlang und schlug dann die Richtung zum Haus des Tierarztes ein – zu dem Haus, in dem er bald wohnen würde.
Dr. Plötz, ein lebhafter alter Herr, erwartete ihn schon. »Wollen wir gleich zum Tierheim gehen, Herr Kollege?«, fragte er. »Vielleicht überlegen Sie sich danach noch, ob Sie es tatsächlich erhalten wollen. Ich mache Sie schon jetzt darauf aufmerksam, rentabel ist es nicht.« Der alte Herr lachte. »Aber die Bauern steuern mir bei, was ich an Stroh und Futter brauche. Meine Kinder hatten darauf gedrungen, dass ich neue Boxen bauen ließ. Das hat mich einen Batzen Geld gekostet, aber den brauchten Sie jetzt nicht mehr auszugeben. Für Sie bliebe nur das Gehalt einer Kraft, die sich um die Tiere kümmert. Es ist unmöglich, diese Arbeit selbst zu übernehmen. Wenn Sie nicht allzu kleinlich wären, könnte ich dafür sorgen, dass Ihnen meine derzeitige Kraft erhalten bleibt. Sie ist eigentlich unbezahlbar. Ich habe noch selten jemanden gefunden, der vernarrter in Tiere ist, aber trotzdem handfest zupacken kann. Übertriebenen Kult mit Tieren gibt es bei uns nicht, aber jedem wird geholfen, soweit es in unserer Kraft steht.« Während dieses Gespräches führte Dr. Plötz Peter Renzi schon über einen großen Hof. Das Wohnhaus mit der Praxis war bereits weit hinter ihnen geblieben, als sie mitten im sattgrünen Gelände auf einen flachen Bau stießen.
Dr. Plötz blieb stehen. »Aha, es wird schon ausgemistet. Da, schauen Sie hin, mit welchem Eifer bei uns geschafft wird.«
Peter Renzi sah eine kleine schlanke Gestalt in Blue Jeans, einem buntkarierten Hemd und mit einem Kopftuch. »Ist das ein Mädchen?«, fragte er.
»Ja, auch bei uns tragen Männer noch keine Kopftücher«, entgegnete Dr. Plötz lachend. »Kommen Sie weiter. Sie müssen sich selbst überzeugen, welch bildhübsches Mädchen das ist. Nicht jede, die mit der Mistgabel umzugehen versteht, ist ein Trampel.«
Das Mädchen in den Blue Jeans schien die Besucher noch nicht gehört zu haben. Jetzt sprang ein weißer Spitz wild kläffend auf den Misthaufen. Bei jeder neuen Ladung, die heraufgeflogen kam, wollte er nach der Gabel schnappen.
Das Mädchen lachte laut und rief: »Strenge dich nicht so an, Fips. Schau lieber, dass du herunterkommst. Ich bade dich heute nicht. Es ist Sonntag. Da mache ich mir nur am Morgen stinkende Hände.«
»Wer das wohl glauben soll, Maxi«, rief Dr. Plötz.
Peter Renzi zuckte zusammen. Maxi? Ihm war doch eben schon so mulmig zumute gewesen, als er die zierliche Gestalt in den Blue Jeans gesehen hatte.
Jetzt drehte sich Maxi um. Sie lachte über das ganze Gesicht. »So früh am Morgen sind Sie schon auf den Beinen, Doktor? Und …«
Ihre Stimme erstarb. Plötzlich stemmte sie die Mistgabel mit einem Schwung in den Erdboden und richtete sich kampfbereit auf.
»Ich musste so früh kommen, Maxi, um Ihnen meinen Nachfolger vorzustellen.« Dr. Plötz hatte noch nicht die Erstarrung der beiden Menschen neben ihm bemerkt.
»Der da?«, fragte Maxi und zeigte ungeniert auf Peter Renzi.
»Der da, ja«, antwortete Dr. Plötz konsterniert. »Aber was soll denn das heißen? Warum sind Sie so beleidigend?«
»Ich?«, fragte Maxi. »Das ist gar nicht meine Art.«
»Das meine ich doch auch.« Dr. Plötz atmete auf. »Das ist Dr. Peter Renzi, Maxi.«
»Aha!« Maxi verzog die Mundwinkel ein wenig. Dann schob sie das Kopftuch in den Nacken. Die Morgensonne fiel auf ihr braunes Haar und ließ es aufleuchten.
»Und das, lieber Kollege, ist Maxi Fürst.«
»Die kleine Fürstin«, sagte Peter Renzi. Es war ihm über die Lippen gehuscht, ohne dass er es gewollt hatte.
Maxis Augen blitzten auf. »Haben Sie plötzlich Humor, Herr Doktor, oder wollen Sie gar Komplimente verteilen?«
Dr. Plötz schüttelte ärgerlich den Kopf. »Was ist denn in Sie gefahren, Maxi? Warum sind Sie so angriffslustig? Als ob Sie hier nicht auch oft die kleine Fürstin genannt würden.«
Maxi machte eine weit ausholende Bewegung mit dem Arm. »Ja, hier, das ist aber auch etwas ganz anderes. Doch wenn das ein Mann sagt, dem der Spott mit in die Wiege gelegt wurde und der sich wie Peter der Große benimmt, dann werde ich allergisch gegen solche Schmeicheleien.« Sie zog die Mistgabel aus dem Boden. »Wenn Sie Ihrem Nachfolger das Tierheim zeigen wollen, tun Sie es, Doktor. Ich habe Arbeit. Aber etwas möchte ich Ihnen doch gleich sagen: Mein Angebot, auch bei Ihrem Nachfolger zu bleiben, ziehe ich natürlich zurück.«
»Himmeldonnerwetter, sind Sie mit dem linken Fuß zuerst aufgestanden, Maxi? Heraus mit der Sprache! Kennen Sie Dr. Renzi? Haben Sie etwas gegen ihn?«
»Beide Fragen werden von mir kurz und bündig mit ja beantwortet, Doktor.« Maxi stürzte sich wie ein Berserker auf ihre Arbeit. Sie sah nicht mehr rechts und nicht mehr links. Auch der kläffende Spitz interessierte sie nicht. Er bekam jetzt mehrere Male eine Ladung Mist ab.
Dr. Plötz fühlte sich hilflos. Er zog Peter Renzi mit sich. »Sehen wir uns zuerst einmal im Tierheim um«, schlug er vor.
Peter Renzi warf noch einen Blick auf Maxi, dann folgte er dem älteren Kollegen. Der blieb im Mittelgang des Tierheims stehen. »Kann ich von Ihnen erfahren, was das soll? Maxi ist sonst nicht so ruppig. Sie müssen ihr einmal ganz schön auf die Zehen getreten haben, dass sie so streitbar ist.«
»Das habe ich wohl«, seufzte Peter Renzi. »Aber vielleicht will Maxi nicht, dass ich etwas, was möglicherweise ihr Geheimnis ist, erzähle?«
»Maxi hat vor mir keine Geheimnisse. Ich kenne sie seit ihrer Schulzeit. Sie stammt aus Ratzeburg. Ihr Vater war auch Tierarzt. Aber er und seine Frau starben sehr früh. Maxi war schon mit sieben Jahren Vollwaise. Sie lebte einige Jahre bei Verwandten, später in einem Heim. Nach ihrer Schulzeit machte sie eine Lehre als Tierpflegerin. Danach habe ich sie zu mir geholt. Also, wo haben Sie Maxi kennengelernt? Falls es etwas länger dauern sollte, bis sie mir alles erzählt haben, setzen wir uns draußen auf die Bank unter der Kastanie. Das ist zwar Maxis Stammplatz, aber da sie ihn nur am Abend benutzt, wird sie ihn uns wohl um diese Zeit nicht streitig machen. Kommen Sie, Interesse an Maxis Lieblingen in den Boxen sehe ich jetzt doch nicht in Ihren Augen.« Dr. Plötz zog Dr. Renzi wieder aus dem Tierheim. Sie mussten über den Hof gehen, bis sie bei der Kastanie waren.
Nachdem sie sich gesetzt hatten, erzählte Peter Renzi, wo und wie er Maxi kennengelernt hatte. Zuerst sprach er etwas stockend. Nur sein Schuldbekenntnis, wie ironisch er Maxi in Hamburg behandelt hatte, kam fließend über seine Lippen. Es war, als könnte er damit etwas gutmachen.
Dr. Plötz hörte zunächst aufmerksam zu, dann war auf seinem Gesicht Erregung zu erkennen. Als Peter Renzi schwieg, schüttelte der alte Herr den Kopf. »Es war also nur Einbildung von mir, dass Maxi keine Geheimnisse vor mir habe. Von dieser Sache habe ich nichts gewusst. Aber ich erinnere mich sehr genau daran, dass Maxi vor einigen Wochen überraschend nach Hamburg fahren wollte. Mit ihrem ›hässlichen Entlein‹ und ziemlich herausgeputzt. Ich hatte sie damals im Verdacht, dass es ihr bei uns nicht mehr gefalle und dass sie sich um eine neue Stelle umsehen wolle. Das machte mich so kopfscheu, dass ich heilfroh war, als sie wieder zurückkam. Deshalb habe ich sie auch nicht mit Fragen bedrängt.« Der alte Herr wurde sehr nachdenklich. »Wenn Maxi den Entschluss gefasst hatte, die Mutter Ihrer Kinder zu werden, muss ihr diese Annonce sehr ans Herz gegangen sein. Aber ist das bei einem Mädchen, das seit seinem siebenten Lebensjahr ohne Eltern aufgewachsen ist, nicht verständlich? Ich weiß, wie sehr Maxi unter der Lieblosigkeit ihrer Verwandten gelitten hat. Wahrscheinlich ist es ihr im Heim besser gegangen als bei diesen Leuten, die sich an dem kleinen Vermögen noch bereichern wollten, das Maxis Eltern hinterlassen hatten.« Dr. Plötz sah zu dem Platz, auf dem Maxi eben gearbeitet hatte. Sie war jetzt verschwunden. »Weil sie selbst Liebe entbehren musste, schenkt sie jetzt jeder Kreatur Liebe.« Er lachte plötzlich. »Das geht so weit, dass sie unserem Arzt weiße Mäuse …«
»… mopst«, vervollständigte Peter Renzi den Satz.
»Was, das wissen Sie auch? Und noch dazu in Maxis Jargon? Sie hat Ihnen allerhand anvertraut. So ganz abstoßend scheint sie Peter den Großen nicht gefunden zu haben. Aber muss man sich nicht darüber wundern, was sich das Schicksal manchmal leistet? Jetzt treffen Sie hier wieder aufeinander – zwei Menschen, die einander schon auf recht merkwürdige Weise kennengelernt haben.«
»Ja, ich bin darüber auch noch immer fassungslos. Aber Sie haben ja gehört, dass Maxi nichts mit mir zu tun haben will. Sie möchte sogar ihre Stelle aufgeben.«
»Darüber ist das letzte Wort noch nicht gesprochen.« Dr. Plötz erhob sich. »Eine wütende Maxi ist noch lange keine lieblose Maxi. Ganz im Gegenteil. Wenn sie ruppig wird, hat sie meistens eine große Schwäche zu verbergen. Aber was rede ich da? Ergründen Sie selbst, wie Maxi zu Ihnen steht. Die Suppe, die sich einer eingebrockt hat, soll er auch selbst auslöffeln. Das war immer meine Devise. Sehen Sie sich hier etwas um, Sie wollen ja schließlich das Tierheim übernehmen.«
»Das wollte ich, aber nicht ohne Maxi.« Schnell verbesserte sich Peter Renzi. »Nicht ohne die Kraft, die Sie mir fest zugesagt hatten. Ich kann mich, genauso wenig wie Sie es konnten, um das Tierheim kümmern.«
Dr. Plötz schlug Peter Renzi auf die Schulter. »Heutzutage herrscht Personalmangel, Herr Kollege, da muss man die Leute schon mit Glacéhandschuhen anfassen. Tun Sie es.« Der alte Herr ging über den Hof. Gleich darauf war er auf dem schmalen Weg verschwunden, der zu seinem Wohnhaus führte.
Peter Renzi stand ratlos unter der Kastanie. Was sollte er tun? Sich wieder auf die Bank setzen, ins Tierheim gehen oder Maxi suchen?
Nach einigem Überlegen entschloss er sich dazu, Maxi aufzustöbern. Er sah zu dem kleinen Anbau. Dort waren zwei Fenster, an denen Gardinen hingen. Wohnte Maxi in diesem Anbau? Genauso, wie im Tierheim Waldi & Co. der Tierpfleger Helmut Koster in einem Anbau wohnte?
Zögernd ging Peter Renzi auf den Eingang zu. Er sah, dass sich eine Gardine bewegte. Hatte Maxi am Fenster gestanden? War sie vielleicht gar nicht so wütend auf ihn? Sonst hätte sie ihn doch wohl kaum beobachtet.
Peter Renzi betrat einen schmalen Flur, auf den zwei Türen mündeten. An der ersten klopfte er an. Als niemand antwortete, drückte er trotzdem auf die Türklinke.
»Meinetwegen, kommen Sie herein«, erklärte nun Maxis Stimme. »Sie sind wie eine Klette. Ich hätte es mal wagen sollen, mich länger bei Ihnen aufzuhalten, als Ihnen lieb war, da wäre ich hochkantig hinausgeflogen.« Maxi stand mitten im Zimmer. Sie hatte eine saubere Hose an und die Bluse mit der bunten Masche. »Was schauen Sie mich so an? Jeder Mensch wäscht sich, wenn er es vorher mit Mist zu tun hatte. Und heute ist außerdem Sonntag.«
»Ja, es ist Sonntag, Maxi«, sagte Peter Renzi mit glänzenden Augen. »Ein ganz besonderer Sonntag, weil ich Sie wiedergefunden habe.«
Maxi riss die Augen auf. »Wollen Sie mich schon wieder verkohlen?«
»Nein, Maxi. Sie sind selbst schuld daran, dass wir uns nicht früher wiedergesehen haben. Sie hatten mir ja nicht einmal Ihre Adresse zurückgelassen.«
Maxi sank auf einen Stuhl. »Haben Sie inzwischen eine Kur durchgemacht? Mit Injektionen zur Veränderung der Persönlichkeit, Herr Doktor?«
»Heute sind Sie es, die spottet, Maxi.«
»Soll ich das nicht, wenn Sie mir so merkwürdige Vorwürfe machen? Hätte ich Ihnen damals meine Adresse aufgezwungen, wäre die doch nur in Ihrem Papierkorb gelandet.«
»Das stimmt, Maxi. Aber ich bin sicher, dass ich noch am selben Tag Ihre Adresse wieder aus dem Papierkorb hervorgeholt hätte. Sie waren kaum weggefahren, da bekam ich schon einen moralischen Kater.«
»Von dem haben weder ich noch Ihre Kinder etwas. Sie waren doch so selbstherrlich, dass Sie nur an sich selbst dachten. Ich passte Ihnen nicht, und da fragten Sie auch nicht, ob ich Ihren Kindern gefallen hätte.«
»Ivo und Sylveli hätten Sie gefallen, Maxi. Das weiß ich erst heute ganz genau. Aber wollen wir nicht zunächst einmal über etwas Unverfängliches sprechen, damit wir uns aneinander gewöhnen? Ich fürchte, wenn wir uns über das Geschehene streiten, werfen Sie mich doch bald hinaus.«
»Und was wäre in Ihren Augen unverfänglich?«, fragte Maxi.
»Zum Beispiel Ihre Tiere in der Kammer. Vor allem Hannibal, die weiße Maus.«
»Hannibal lebt nicht mehr.« Maxi sah ihn traurig an. »Den hatte unser Hausarzt schon vermurkst mit seinen vielen Versuchen. Und die anderen Tiere habe ich aus der Kammer ausquartiert.« Maxi zeigte auf eine Verbindungstür. »Die sind alle im Tierheim.«
»Warum? Sie waren doch sehr stolz auf Ihren Privatzoo, Maxi.«
»Setzen Sie sich schon.« Maxi zeigte auf einen Stuhl mit bunten Bezügen. »Einen Stuhl haben Sie mir schließlich auch angeboten. Also vergebe ich mir nichts, wenn ich dasselbe tue.«
Peter Renzi setzte sich. »Und eine Zigarette habe ich Ihnen auch angeboten. Sogar zwei, weil Sie vor Aufregung rauchen mussten. Ich bin heute auch sehr aufgeregt, Maxi.«
Maxi presste die Lippen zusammen und musterte ihn. Dann stand sie auf, holte von einer Kommode eine Packung Zigaretten und reichte sie Peter Renzi. »Wenn ich nur bei Ihnen wüsste, was Ernst und was Spott ist.« Sie nahm sich auch eine Zigarette und ließ sich Feuer geben.
»Heute ist alles Ernst, Maxi. Und was damals Spott zu sein schien, war sicher auch Ernst. Aber wir sind schon wieder beim alten Thema. Wollten Sie mir nicht sagen, warum Sie Ihre Tiere ausquartiert haben?«
»Der Grund dazu wird für Sie nicht sehr interessant sein. Ich brauchte die Kammer für mich. Ich hatte sie mir ja zuvor nur für meine Tiere abgezwackt. Ich habe die Kammer gründlich geschrubbt, desinfiziert und austapeziert.« Maxi lehnte sich zurück. »Und alles nur, weil Sie mir Minderwertigkeitskomplexe beigebracht hatten.«
»Wieso denn das, Maxi?«, fragte Peter Renzi verdutzt.
Maxi zuckte die Schultern. »Na, irgendetwas musste doch an mir nicht in Ordnung sein, dass ich so gar keinen Eindruck auf Sie gemacht habe. Ich dachte mir: Maxi, du bist fünfundzwanzig Jahre alt, du musst etwas für dich tun, sonst passiert dir das immer wieder, dass einer so achtlos an dir vorbeigeht.« Jetzt stieg leichte Röte in Maxis Gesicht. »Na ja, da habe ich mir eben die Kammer so quasi als Schönheitssalon eingerichtet.«
Dr. Renzi stand auf. Er öffnete die Tür zur Kammer und sah in ein sehr hübsch eingerichtetes kleines Zimmer mit Regalen an der Wand, auf denen viele Bücher standen. »Das soll ein Schönheitssalon sein?«, fragte er.
»Den Spiegel dort sehen Sie wohl nicht? Und die Kommode darunter mit all den teuren Tinkturen? Ich habe ja noch die erste Ausstattung, weil ich am Abend meistens zu müde bin, um mein Gesicht noch einzubalsamieren.«
»Oh, Maxi!« Peter Renzi schüttelte den Kopf. »Und mit den vielen Büchern wollten Sie wohl noch gescheiter werden, als Sie schon sind?«
»Ich bin nicht gescheit. Ich muss blitzdumm sein, dass ich auf den verrückten Gedanken verfiel, zu Ihnen zu fahren.«
»Dieser Gedanke war gar nicht verrückt. Ich selbst war mit Blindheit geschlagen und viel dümmer als du.« Peter Renzi zog Maxi aus dem Stuhl hoch. »Bleibst du hier, Maxi? Ich übersiedle schon in vier Wochen ins Tierarzthaus.«
Maxi schluckte. In ihren Augen begannen die Goldfünkchen zu tanzen. »Sagen Sie das nur, weil Sie mich als billige Kraft für das Tierheim erhalten wollen?«, fragte sie stockend.
»Aber nein, Maxi. Wir können sogar einen Tierpfleger einstellen. Wir werden einen finden.«
»Was?« Maxi sah ihn entrüstet an. »Ein anderer soll meine Tiere versorgen? Das lasse ich niemals zu.«
»Wenn du meinst, dass du deine Tiere noch versorgen kannst, obwohl Sylveli, Ivo und ich dir schon sehr viel Arbeit machen werden …«
»Zur Haushälterin eigne ich mich auch nicht.«
»Aber vielleicht zur Mutti für meine Kinder, Maxi? Und zu meiner Frau?«
Maxi wich seinem Blick aus. »Ich möchte nur wissen, worauf es Peter der Große jetzt angelegt hat.«
»Darauf, die kleine Fürstin zu heiraten. Und zwar sehr bald. Wir sind in großer Not, Maxi, meine Kinder und ich.«
»Ist das wahr?« Maxi sah erschrocken aus. »Das muss ja stimmen. Mit so etwas spielt man nicht.«
»Nein, das tue ich auch nicht, Maxi. Ich erzähle dir noch alles. Auch wie sehr ich bereut habe, dich fortgeschickt zu haben. Und wie ich mich öfter nach dir gesehnt habe. Aber bevor ich das alles verrate, solltest du endlich Du zu mir sagen. Ich heiße Peter.« Er zog sie an sich und küsste sie.
Als sie wieder zu Atem kam, sagte sie: »Ja, du heißt Peter. Peter der Große.«
»Ist das jetzt wieder ein Vorwurf, Maxi?«
»Nein, das ist kein Vorwurf und kein Spott. Das ist – Liebe.« Maxi warf die Arme um seinen Nacken. »Ich habe mich ja so unsterblich in dich verliebt, obwohl du mich so schlecht behandelt hattest, Peter. Wegen der Kinder bin ich zu dir gekommen, todunglücklich fuhr ich zurück. Deinetwegen.« Sie zog die bunte Masche ihrer Bluse hoch und wischte sich damit über die Augen.
»Lass doch die arme Masche, Maxi. Die hat schon die Tränen vor meiner Wohnung in Hamburg trocknen müssen. Wenn es jetzt Freudentränen sind …«
»Was denn sonst?« Maxi lachte.
»Dann kann ich die Masche sehr gut ersetzen.« Peter küsste ihr die Tränen von den Wangen.
»Jetzt muss ich hinaus, an die frische Luft. Ich halte es hier drinnen nicht mehr aus. Das ist mir alles zu eng für mein großes Glück, Peter. Komm, wir gehen an den See. Ich will jetzt wissen, in welcher Not du bist.«
Peter Renzi legte den Arm um Maxis Schultern. So ging er mit ihr am See entlang.
Als sie einen schönen Platz vor einem Gebüsch gefunden hatten, setzten sie sich ins Gras.
Peter erzählte nun, dass seine Kinder jene Annonce zusammengesetzt hatten, die jetzt zu ihrem Glück geworden war. Er ersparte sich nichts. Auch seine Vorwürfe Magda gegenüber beichtete er und das, was sie ihm angedroht hatte.
Erst als er von seinem Treffen mit Henriette Ott sprach, gingen ihm die Worte schwer über die Lippen.
»Du brauchst dich jetzt nicht zu zieren, Peter. Habe ich dir nicht damals schon prophezeit, dass du auf irgendeine Frau hereinfallen wirst, die sich gar nicht für die Kinder interessiert? Falls ich das nicht gesagt haben sollte, dann habe ich es zumindest gedacht. War es sehr schlimm? Vor allem für Sylveli und Ivo?«
»Ich glaube, Maxi, denn ich habe zu allem geschwiegen. Zuerst kam ich mir hilflos vor, dann dachte ich nur mehr daran, durch einen Umzug von Hamburg ganz neue Verhältnisse zu schaffen. Ich wollte Henriette los sein, aber die Kinder gleichzeitig in eine andere Umwelt verpflanzen. In eine, nach der sie sich schon so lange sehnen.«
»Du hast es also noch vor dir, diese Frau an die Luft zu befördern, Peter?« Maxi sah sehr bedenklich drein.
»Ja. Das werde ich noch heute Abend besorgen. Jetzt kann ich den Kindern ja sagen, dass wir nach Einhaus ziehen, dass sie nicht nur in einem schönen Haus wohnen, sondern auch ein Tierheim haben werden. Und vor allem, dass die zärtliche Mutti auf sie wartet, nach der sie sich so sehr sehnen.«
»Wenn aber diese Henriette Ott dich auch geliebt hat? Es gibt doch Menschen, die das nicht zeigen können, Peter.«
»Darüber brauchst du dir keine Gedanken machen. Henriette Ott ist eine gefühlskalte Frau. Sie verstand es nur, Eindruck auf mich zu machen. Sie hat mir Gelassenheit vorgespielt und mir eine dramatische Geschichte von einer großen Liebe erzählt. Aber die Welt ist sehr klein. Das hat sich jetzt bei uns erwiesen. Doch auch im Fall Henriette musste ich das erleben. Vor zwei Wochen kam ein Patient mit einem kranken Hund in meine Praxis. Er sah Henriette und erschrak. Später hat er mir gestanden, dass er fünf Jahre lang mit Henriette verlobt war. Sie hat in dieser Zeit von ihm nur immerzu verlangt, mehr als nur Vertreter zu werden. Sie zählte ihm die Zigaretten ab, schrieb ihm vor, welchen Speiseplan er einzuhalten habe, und dachte sich noch andere Schikanen aus. Der Mann lebte längere Zeit mit ihr zusammen. Er muss sie also genau gekannt haben. Und er hat sich von ihr getrennt, weil er dieses Leben nicht mehr ertrug. Schließlich gestand er mir, dass Henriette ihn hatte wissen lassen, sie werde jetzt einen vermögenden Mann heiraten. Von den Kindern hat sie kein Wort gesagt. Du kannst also beruhigt sein. Henriette werde ich zwar verletzen, aber sie hat es nicht besser verdient. Außerdem hätte ich sie nie lieben können. Und meine Kinder hatten schon recht, als sie in ihrer Annonce nach einer Mutti suchten, die auch ihren Vati lieb haben sollte.«
»Wann werde ich Sylveli und Ivo kennenlernen, Peter?«, fragte Maxi. »Hoffentlich mögen sie mich. Aber ich werde mir viel Mühe geben. Manchmal wirst du etwas zurückstehen müssen.«
»Das glaube ich nicht, Maxi. In deinem Herzen ist sicher für uns alle Platz. Ich werde am nächsten Wochenende mit den Kindern herkommen. Früher wird es nicht möglich sein, es sei denn, ich würde einen Abend für die Fahrt benutzen und in der Nacht wieder zurückfahren.«
»Bitte, tu das, Peter«, bat Maxi. »Aber jetzt sollten wir zu Dr. Plötz gehen, sonst fürchtet er, ich hätte dich mit der Mistgabel erdolcht.«
»So, wie du dich mir gegenüber zuerst benommen hast, dürfte ihm dieser Verdacht tatsächlich kommen, Maxi.«
Sie lachte. »Das glaube ich nicht. Unser alter Doktor kennt mich zu gut. Dem konnte ich nie etwas vormachen.«
»Aber dass du bei mir in Hamburg warst, wusste er nicht, Maxi.«
»Nein, das war mein Geheimnis. Das hätte ich nie jemandem verraten. Weil ich dich liebte, Peter.«
Noch einmal küsste Peter seine Maxi, dann gingen sie zum Tierarzthaus zurück.
Dr. Plötz stand vor der Haustür. »Ich wollte gerade der Polizei mitteilen, dass zwei Menschen verschwunden sind. Aber das ist ja jetzt nicht mehr nötig. Na, Maxi, wollen Sie mich noch immer wortbrüchig machen? Ich hatte meinem Kollegen versprochen, dass meine beste Kraft auch ihm dienen würde.«
»Dienen?«, fragte Maxi langgezogen und sah Peter an. »Das ist mir zu altmodisch. Ich werde ihn einfach lieben. Immer so wie jetzt.«
Dr. Plötz streckte beide Hände aus. »So viel Segen kann auf dem Entschluss eines alten Mannes ruhen, das Feld zu räumen? Ich gratuliere euch. Das ist der schönste Sonntag meines Lebens.«
»Unseres auch, Doktor. Oder glauben Sie das nicht?«, fragte Maxi. Sie hob sich auf die Zehenspitzen und drückte Dr. Plötz einen Kuss auf die Wange.
Der alte Herr war ganz gerührt, versuchte das aber durch einen Scherz zu überbrücken. »Schauen Sie mich nicht so scheel an, Herr Kollege. Ich ziehe ja aus, wenn Sie mit Ihrer jungen Frau hier einziehen. Sie wird also selten Gelegenheit haben, mich zu küssen. Aber jetzt kommen Sie ins Haus. Nach dem Mittagessen müssen wir noch einen guten Tropfen auf dieses große Ereignis trinken.«
*
Peter Renzi fuhr erst am Abend nach Hamburg zurück. Dabei wurde er von Gewissensbissen geplagt. Denn er hatte Sylveli und Ivo versprochen, nicht zu spät nach Hause zu kommen. Doch jetzt würden sie bei seiner Ankunft schon in den Betten liegen.
Dr. Renzi nahm sich vor, sich diesmal nicht von Henriette davon abhalten zu lassen, noch zu den Kindern zu gehen. Wenn sie schon schlafen sollten, würde er sie wecken. Am besten, er trug Sylveli gleich in Ivos Zimmer, damit er die beiden beisammen hatte, wenn er berichtete.
Als Peter Renzi seinen Wagen vor dem Haus parkte, fiel ihm auf, dass die Fenster seiner Wohnung nicht erleuchtet waren. Nanu, war Henriette aus dem Haus gegangen, obwohl sie wusste, dass er nicht wünschte, dass die Kinder allein blieben? Ärger stieg in ihm auf. Aber der legte sich gleich wieder. Nein, er würde nicht mehr mit Henriette richten, sondern sie nur in aller Höflichkeit bitten, seine Wohnung zu verlassen. Auch davon, dass sie die Probezeit schon lange vor dem Termin nicht bestanden hatte, würde er nicht reden. Er wollte sich in Frieden von ihr trennen.
Als er die Dielentür aufschloss, kam ihm alles unheimlich vor. Es herrschte Dunkelheit, und kein Geräusch war zu hören. Es war so, als sei hier alles unbewohnt.
Peter Renzi ging sofort in Sylvelis Zimmer. Doch das Bett seiner Tochter war unberührt. Hatte sie sich zu Ivo geflüchtet, wie sie es so gern tat?
Bereits in leichter Erregung öffnete Peter Renzi die Tür zu Ivos Zimmer und knipste das Licht an. Er schrak zurück. Auch Ivos Bett war unberührt.
Jetzt lief Peter Renzi durch die ganze Wohnung. Überall stieß er auf die vorbildliche kalte Ordnung, die ihn in letzter Zeit so oft bedrückt hatte. Aber auch Henriette war nicht hier. Sie musste also mit den Kindern weggegangen sein.
Dieser Gedanke beruhigte Peter wieder etwas. Er setzte sich ins Wohnzimmer, obwohl er wusste, dass er jetzt eigentlich bei Dr. Plötz anrufen müsste. Denn er hatte Maxi versprochen, das sofort nach seiner Heimkehr zu tun. Sie wollte am Abend deshalb bei Dr. Plötz in der Wohnung sein.
Zum ersten Mal seit Annelieses Tod sorgt sich wieder jemand um mich, dachte Peter Renzi. Maxi will wissen, dass ich gut in Hamburg angekommen bin. Aber konnte er sie jetzt anrufen? Er müsste ihr dann doch sagen, dass er die Wohnung leer angetroffen hatte. Bisher war es noch nie passiert, dass Henriette mit den Kindern ausgegangen war. Nicht einmal bei Tage hatte sie das getan, obwohl die Kinder sie so oft darum gebeten hatten.
Peter Renzi stand wieder auf und ging in sein Sprechzimmer. Irgend etwas trieb ihn dorthin. Er setzte sich an seinen Schreibtisch und grübelte, was er tun sollte.
Jetzt griff er nach dem Telefonhörer und rief in Henriettes Wohnung an. Als er bereits wieder auflegen wollte, wurde der Telefonhörer am anderen Ende doch noch abgenommen. Henriette meldete sich.
»Gott sei Dank!«, sagte Peter Renzi wie erlöst. »Sind Sie mit den Kindern in Ihrer Wohnung? Warum haben Sie mir keine Nachricht hinterlassen? Ich komme hier vor Angst um.«
»Was für eine Nachricht hätte ich denn hinterlassen sollen, Herr Doktor? Sie selbst werden doch die Hand im Spiel gehabt haben, als die Kinder gestern verschwanden.« Henriettes Stimme geiferte.
»Was sind die Kinder? Verschwunden?« Der Telefonhörer zitterte in Peter Renzis Hand. »Und das sagen Sie so seelenruhig?«
»Ich habe mich bei Ihnen genug aufregen müssen. Jetzt denke ich an meine Gesundheit.«
»Ich werde Ihnen die Polizei ins Haus schicken«, tobte Peter Renzi. »Reden Sie endlich! Was ist gestern passiert?«
»Die Kinder waren verschwunden, als ich aus dem Tierheim zurückkam.«
»Aus dem Tierheim? Was hatten Sie denn dort zu tun?«
»Ich habe das Angorakätzchen weggebracht. Hätte ich das vielleicht auch nicht tun sollen? Bin ich Ihre Leibeigene gewesen? Sie haben mich ausgenutzt, überlistet und mir vorgespiegelt, dass Sie mich heiraten würden. Dafür habe ich mich mit diesen Bälgern wochenlang geplagt und Ihre Wohnung erst in Schuss gebracht.«
»Hören Sie mit diesen Vorwürfen auf. Ich habe Ihnen niemals die Ehe versprochen. Wir hatten eine Probezeit abgemacht. Aber was reden wir davon? Wir sind geschiedene Leute. Ich will nur wissen, was aus meinen Kindern geworden ist. Haben Sie sofort die Polizei verständigt?«
»Wozu? Ich war doch überzeugt, dass Sie die Kinder abgeholt hätten. Ihre Reise nach Ratzeburg haben Sie mir doch auch nur vorgelogen. Wer weiß, wo Sie sich in Hamburg herumgetrieben haben.«
»Die Polizei wurde also nicht verständigt? Wann sind Sylveli und Ivo verschwunden?«
»Am Nachmittag. Die genaue Zeit weiß ich nicht mehr. Ich war auch aufgeregt. Diese Rangen hatten mich bis zur Weißglut geärgert.«
Peter Renzi warf den Hörer auf die Gabel. Er riss die Schublade seines Schreibtisches auf, um das Telefonregister herauszunehmen. Er wollte sofort die Polizei anrufen. Vor ihr würde Henriette Ott schon genauere Angaben machen müssen.
Fassungslos starrte Peter Renzi dann auf das Bild seiner Frau. Ohne Rahmen und Glas lag es in der Schublade. Dass er diese pietätlose Tat von Henriette schon im Wohnzimmer hätte gewahr werden müssen, wenn sie in ihrem Ordnungsfimmel nicht die Glasscherben noch zusammengefegt hätte, kam ihm nicht zu Bewusstsein. Doch Henriette war diese Arbeit selbst vor ihrer Flucht aus der Wohnung nicht zu viel gewesen.
»Anneliese«, flüsterte Peter Renzi. Er griff nach einem Zettel seines Notizblocks. Das war Tante Henriette, stand darauf in Ivos gemalter Schrift. Dass »Henriette« falsch geschrieben war, merkte Peter Renzi jetzt gar nicht.
»Sie hat das Bild vor den Kindern zerschlagen. Das nennt sie dann, ›diese Rangen haben mich bis zur Weißglut geärgert.‹ War ich blind und verantwortungslos, dass ich meine Kinder dieser Frau anvertraut habe?« Peter Renzi sagte das laut und legte dann das Bild behutsam auf die Platte des Schreibtisches. Als er nun nach dem Telefonregister greifen wollte, fiel ihm ein zweiter Zettel in die Hände. Und ein dritter. Auf einem stand: Vati, bitte, füttere unseren Goldhamster. Er steht im Keller. Peter Renzi unterdrückte ein Stöhnen. Der nächste Zettel wollte ihm entgleiten. Mit fiebernden Augen las er: Lieber Vati, wir haben uns Dein Geld geborgt, damit wir nach Sophienlust fahren können. Du bekommst es bestimmt zurück, und Du brauchst mir auch kein Fahrrad zu kaufen.
Peter Renzi ließ den Kopf auf die Platte seines Schreibtisches fallen. Seine Schultern zuckten. »Sie sind nach Sophienlust gefahren …« Er brauchte wenige Minuten, bis er ruhiger wurde. Aber die große Angst war noch nicht ausgestanden. Sie war stärker als der Vorwurf, die Kinder vernachlässigt zu haben, sodass sie nur mehr einen einzigen sicheren Platz gesehen hatten, den im Kinderheim Sophienlust. Wie aber hatten sie dorthin kommen wollen? Mit dem Zug? Ivo war ein aufgeweckter Junge. Er wusste sich zu helfen. Aber welche Gefahren lauerten auf einem so weiten Weg? Hundertzwanzig Euro waren in der Schreibtischschublade gewesen. Das fiel Peter Renzi jetzt wieder ein. Diese Summe konnte nicht für zwei Fahrkarten nach Maibach gereicht haben.
Peter Renzi brauchte noch einige Sekunden, dann nahm er endlich das Telefonregister zur Hand. Doch jetzt suchte er nicht mehr die Nummer der Polizei, sondern die von Sophienlust. Dann wählte er durch. Noch nie in seinem Leben war ihm furchtsamer ums Herz gewesen als in diesem Augenblick. Sollte er in Maxi ein neues Glück gefunden, seine Kinder aber verloren haben? Was konnte seit gestern Nachmittag nicht alles passiert sein.
Schwester Regine meldete sich. Als sie Peter Renzis Namen hörte, schrie sie auf: »Endlich!«
»Meine Kinder, Schwester Regine«, stammelte Peter Renzi.
»Sie sind bei uns, Herr Doktor. Wir versuchen schon seit zwei Stunden, Sie zu erreichen. In der letzten halben Stunde haben wir es aufgegeben und dafür die Polizei in Hamburg verständigt. Haben Sie noch keine Nachricht bekommen?«
»Nein. Aber ich bin erst vor Kurzem in meine Wohnung zurückgekommen. Eben habe ich ein Telefongespräch geführt, sodass niemand durchkommen konnte, der mich anrufen wollte. Wie geht es Sylveli und Ivo?«
»Jetzt geht es ihnen wieder gut. Sie liegen schon in den Betten. Frau von Schoenecker ist bei den beiden. Seien Sie ohne Sorge, Herr Doktor. Die Kinder haben uns schon erzählt, warum sie flüchteten.«
»Aber wie sind sie bis nach Sophienlust gekommen, Schwester Regine?«
»Das ist etwas abenteuerlich. Die Polizei hat sie in Frankfurt auf dem Bahnhof aufgegriffen. Die beiden hatten nämlich nur Karten bis nach Frankfurt gelöst, weil ihnen das Geld nicht gereicht hatte. Sie waren wohl in Frankfurt ziemlich ratlos. Den Polizisten gaben sie immer nur eine Adresse an, die von Sophienlust. Die Hamburger Adresse verrieten sie nicht.«
»Nein«, sagte Peter Renzi niedergeschlagen, »sie wollten ja nicht mehr hier sein. Sie sehnten sich nach Sophienlust.«
Es blieb einige Sekunden still in der Leitung. Danach meinte Schwester Regine mit etwas unsicherer Stimme: »Zu Ihnen würden sie sofort zurückkommen, Herr Doktor, aber nur, wenn Sie diese Henriette Ott nicht heiraten. Davor fürchten sich die Kinder.«
»Ich habe keine Sekunde daran gedacht, Henriette Ott zu heiraten, Schwester Regine.« Peter Renzis Stimme klang erzürnt.
»Aber Henriette Ott hat das Ihren Kindern gegenüber sehr sicher behauptet. Sie hat Sylveli geschlagen und ihr angedroht, dass sie in Zukunft noch mehr Schläge bekommen würde. Aber darüber sollten wir vielleicht jetzt nicht sprechen. Werden Sie die Kinder zurückholen?«
»Ja, morgen schon. Ich schließe meine Praxis. Bitte, bestellen Sie meinen Kindern, dass Henriette Ott gelogen hat, dass Sie nicht mehr in der Wohnung ist und dass sie sie auch nicht mehr betreten wird. Könnten das die Kinder noch heute erfahren, Schwester Regine?«
»Aber selbstverständlich. Daran sind wir in Sophienlust doch am meisten interessiert. Sylveli und Ivo sollen gut schlafen können. Wann werden Sie ungefähr bei uns sein, Herr Doktor?«
»Erst morgen gegen Abend. Ich muss zuerst noch jemanden abholen, der mit mir fahren soll, Schwester Regine.« Peter Renzi verabschiedete sich und legte den Hörer auf.
Aber er ließ ihn nur für kurze Zeit auf der Gabel ruhen. Dann rief er bei Dr. Plötz an.
Maxi war sofort am Apparat. »Ich habe schon so sehr gewartet, Peter. Es ist furchtbar. Kaum bist du nicht mehr bei mir, denke ich schon, geträumt zu haben.«
»Wir haben nicht geträumt, Maxi. Bitte, höre mir gut zu.« Überstürzt erzählte er ihr, was er eben durchgestanden hatte. Er meinte, durch das Telefon Maxis Erregung zu spüren. Jetzt fragte sie: »Sind die Kinder wirklich in Sophienlust, Peter?«
»Ja, dessen bin ich ganz sicher. Maxi, ich hole dich morgen sehr früh ab. Du musst mich nach Sophienlust begleiten. Ist das möglich?«
»Warum nicht? Meine Tiere kann hier auch ein anderer versorgen. Jetzt seid ihr wichtiger, du und deine Kinder. Ich werde zur Abfahrt bereit sein, wenn du kommst.« Maxis Stimme wurde etwas leiser, als sie fortfuhr: »Peter, danke, dass du mich mitnimmst.«
*
Als Peter Renzi am Morgen nach Einhaus kam, stand Maxi schon am Fenster ihrer kleinen Wohnung. Sie kam herausgelaufen und fiel ihm um den Hals. »Armer Peter! Warum konnte ich gestern Abend nicht bei dir sein, als du so große Sorgen hattest?«
»In Zukunft werden wir immer beisammen sein. Nie mehr wird es so kommen, dass nur einer Sorgen hat, Maxi. Komm, wir fahren gleich.«
»Aber über Hamburg«, sagte Maxi sehr bestimmt.
»Ja, über Hamburg. Warum betonst du das so? Hast du dort noch etwas vor?«
»Und ob. Zuerst holen wir das Angorakätzchen aus dem Tierheim und dann den Goldhamster aus dem Keller. Beide nehmen wir mit nach Sophienlust. Weißt du, in welchem Tierheim das Kätzchen ist?« Maxi sah ihn bange an.
»Ich bin ziemlich sicher, dass sich Henriette Ott keinen weiten Weg ausgesucht hat. Wir werden zu dem meiner Wohnung am nächsten gelegenen Tierheim fahren.«
Das Paar ging noch kurz zu Dr. Plötz und fuhr dann los.
Peter Renzi hatte sich nicht geirrt. Sie fanden das Angorakätzchen in jenem Tierheim, in dem er es vermutet hatte.
Maxi nahm das Kätzchen auf den Arm. »Du wirst die Fahrt schon gut überstehen. Es geht ja zu Sylveli und Ivo.«
»Aber müssen wir jetzt wirklich auch noch den Goldhamster mitnehmen?«, fragte Peter. »Ich habe ihn heute Morgen gefüttert, wie Ivo es von mir verlangt hat.«
»Ohne Goldhamster fahren wir nicht. Die Kinder sollen alles bekommen, was sie lieb haben. Sonst glauben sie vielleicht gar nicht, dass nun endlich bessere Zeiten für sie anbrechen.«
»Also gut. Meine kleine Fürstin bestimmt, und ich gehorche.« Peter drückte Maxi schnell einen Kuss auf die Nasenspitze.
»Na, weißt du, das ist nicht gerade ein Hofzeremoniell, eine Fürstin auf die Nasenspitze zu küssen.« Sie hielt ihm die Wange hin. »Hole nach, was du eben verpatzt hast.«
Peter tat, als füge er sich nur gezwungenermaßen. Er hauchte einen Kuss auf Maxis Wangen. »Die Zeit wird kommen, in der mir die kleine Fürstin auch den Mund reichen wird.«
»Das ist sehr leicht möglich. Aber nicht die Nasenspitze.«
*
Sylveli und Ivo wurden am Montag wie kleine Helden in Sophienlust behandelt. Aber sie selbst fühlten sich gar nicht so. Als Henrik nicht genug von ihrer abenteuerlichen Flucht hören konnte, sagte Sylveli: »Tu das lieber niemals, Henrik. Wir haben so große Angst gehabt.« Sie sah ihren Bruder fest an und zeigte dann mit dem Finger auf ihn. »Ja, du auch. Du brauchst gar nicht zu schwindeln. Ich habe es gesehen. In Frankfurt hast du mich so fest an die Hand genommen, dass sie mir jetzt noch wehtut. Und als die Polizisten kamen …«
»… hast du zu heulen angefangen. Wie immer«, ergänzte Ivo.
»Der eine Polizist hat mich ja auf den Arm genommen, weil ich so sehr geweint habe. Er war ganz lieb zu mir.«
»Ja, und als er dich gefragt hat, wer auf die Idee gekommen ist, auszureißen, hast du gesagt: ›Mein Bruder.‹ So verpetzt du mich.«
Sylveli sah von einem zum anderen. »Aber das musste ich doch sagen. Du wärst doch böse gewesen, wenn ich gesagt hätte, ich hätte die Idee gehabt. Du warst doch so stolz darauf.«
Denise von Schoenecker trat zu den Kindern. Sie legte den Arm um Ivo und sagte: »Gib zu, dass es so war. Sicher wärst du zu Tode beleidigt gewesen, wenn Sylveli dir den Ruhm abgesprochen hätte, dass du die glorreiche Idee hattest, auszureißen.«
Ivo erwiderte darauf nichts, dafür aber Henrik. Er tat es im Brustton vollster Überzeugung. »Auf so eine Idee kommen Mädchen ja auch nicht. Niemals.«
Denise von Schoenecker schubste die Kinder zur Tür. »So, geht endlich. Draußen hat es schon ein paarmal gehupt. Onkel Hans-Joachim holt euch ab.«
»Sind wir aber auch wieder zurück, wenn mein Vati kommt?«, fragte Sylveli. »Und bringt er Tante Henriette ganz gewiss nicht mit?«
»Nein, die hat er schon gefeuert«, erklärte Henrik. Er sah seine Mutter an. »Ist doch wahr, das hat Schwester Regine gesagt.«
»Gefeuert hat sie bestimmt nicht gesagt.« Denise sah ihren Sohn etwas vorwurfsvoll an.
»Aber Dr. Renzi hat Tante Henriette bestimmt gefeuert«, beharrte Henrik. »Das ist auch ganz richtig. So eine böse Frau haben wir nicht mit unserer Annonce bestellt. Die kann bestimmt nicht lesen.«
»Jetzt geht endlich, sonst wird Onkel Hans-Joachim ungeduldig.«
Denise winkte ihrem Schwiegersohn von der Tür aus zu und rief: »Andrea soll die drei am späten Nachmittag aber zurückschicken.«
»Wird gemacht, Mutti. Bis dahin haben sie bei uns wahrscheinlich schon alles auf den Kopf gestellt«, rief Hans-Joachim zurück.
*
Maxi hatte auf der weiten Fahrt darauf gedrungen, dass sie Peter am Steuer ablöste. »Eine Rast können wir uns nicht leisten, Peter«, hatte sie dazu gemeint, »sonst kommen wir zu spät nach Sophienlust.«
Peter war mit dieser Regelung einverstanden gewesen. Erst recht froh war er, dass sie schon am frühen Abend in Wildmoos einfuhren.
Maxi drückte sich an ihn. »Es ist gut, dass du jetzt chauffierst, Peter. Ich würde den Wagen bestimmt in den Straßengraben lenken. Ich bin ja so aufgeregt. Was habe ich mir eigentlich gedacht, als ich gleich bereit war, mit dir zu fahren? Die Kinder kennen mich doch noch gar nicht. Sie werden mich sicher ablehnen.«
»Das ist unmöglich. Schließlich hast du ja Schokolade für sie in der Tasche, Maxi.«
»Schokolade?«, fragte Maxi. »Ich verstehe dich nicht. Kein Krümchen habe ich bei mir. Sind deine Kinder denn so vernascht? Das hättest du mir aber auch früher sagen können.«
»Nun, ein Stück Schokolade schlagen sie nie aus, aber wichtiger sind ihnen bestimmt der Goldhamster und das Angorakätzchen. Und die beiden hast du ja anstelle von Schokolade mitgenommen. So meinte ich es.«
»So eine Umstandskrämerei«, murrte Maxi. »Dich muss ich aber auch erst allmählich begreifen lernen.«
»Nimm dir Zeit dazu, Maxi.« Peter lachte. »Ich finde es ganz amüsant, wenn du auch mal an etwas herumrätseln musst. Warum sollen immer nur Frauen rätselhafte Geschöpfe sein?«
»Du hast aber gute Laune, Peter. Wie mir zumute ist, daran denkst du wohl nicht?«
»Doch, Maxi. Aber ich bin ganz zuversichtlich. Seit gestern hat bei mir die Glückssträhne begonnen. Mit der kleinen Unterbrechung, als ich vom Verschwinden der Kinder erfuhr. Aber das war dann auch schon wieder Glück, dass ich sie so reibungslos wiederfand. Wir sind da, Maxi.« Er lenkte den Wagen durch die Einfahrt von Sophienlust. »Natürlich, dort hängt schon eine ganze Traube Kinder. Das ist in Sophienlust ein gewohnter Anblick.«
»Ist das dort Sylveli?«, fragte Maxi mit aufgeregter Stimme. »Das Mädchen in dem blau-weiß geblümten Kleid?«
»Ja, das ist unsere Sylveli. Du hast sie nach dem Foto erkannt, Maxi. Und der Junge in dem beigen Pullover mit den braunen und orangefarbenen Streifen ist Ivo. Jetzt kommen sie schon angerannt.«
Peter stieg aus. Auch er war nun aufgeregt. Er breitete die Arme aus. Beide Kinder liefen hinein. »Vati! Vati!«, riefen sie überglücklich. Doch gleich darauf sahen sie etwas bedrückt zu ihm auf. »Bist du sehr böse?«
»Gar nicht. Aber darüber sprechen wir später, Kinder. Dazu gibt es nämlich einiges zu sagen.«
Sylveli sah zum Wagen. Maxi war inzwischen ausgestiegen. Auf dem Arm hielt sie das Angorakätzchen, in der Hand den Käfig mit dem Goldhamster.
»Mein Kätzchen!«, rief Sylveli und lief auf Maxi zu. Kurz vor ihr blieb sie abrupt stehen. »Wieso bringst du mein Kätzchen?«
»Weil ich es zusammen mit deinem Vati aus dem Tierheim geholt habe, Sylveli. Und den Hamster aus dem Keller. Er mag auch nicht immerzu im Dunkeln hocken. Ich habe ihm auch einen Namen gegeben, weil dein Vati erzählt hat, dass ihr euch nicht einig werden konntet. Der Goldhamster heißt ab heute Hannibal.«
»Das ist ja auch für mich eine Überraschung«, sagte Peter Renzi. Er hielt seinen Sohn noch fest. »Bisher kannte ich nur einen Feldherrn, der Hannibal hieß, und eine weiße Maus.«
»Hannibal«, probierte Sylveli. Sie hielt den Kopf etwas schräg. »Der Name ist ganz schön, aber ich muss erst meinen Bruder fragen, ob er ihm auch gefällt. Und wie heißt du?« Sie sah zu Maxi auf.
»Ich heiße Maxi Fürst.«
»Maxi, das ist ein ulkiger Name«, überlegte Sylveli. »Und warum bist du mitgekommen?«
Jetzt sah Maxi Hilfe suchend zu Peter Renzi, der Sylveli zu sich zog. »Ihr hättet Maxi schon früher kennengelernt, wenn ihr in Hamburg geblieben wärt. Ganz sicher wäre ich heute früh mit euch zu Maxi an den Ratzeburger See gefahren. Maxi pflegt auch Tiere in einem Heim. Genauso wie Herr Koster bei Waldi & Co. Und stellt euch vor, dieses andere Heim gehört zu meiner Praxis.« Er drückte beide Kinder an sich. »Wir übersiedeln in vier Wochen an den Ratzeburger See. In ein schönes gemütliches Haus.«
»Aber nicht mit Tante Henriette«, warf Sylveli ein. Ihre Stimme klang noch immer etwas fragend.
Das hatte auch Henrik gehört. Natürlich war er nicht bei den anderen Kindern auf der Freitreppe geblieben, sondern hatte sich an seine Freunde herangeschlichen. Jetzt rief er sehr laut: »Aber Sylveli, die hat dein Vater doch gefeuert.«
»Hast du das, Vati?«, fragte Ivo.
Peter Renzi lachte. »Das musste ich wohl tun, wenn sie euch so dumme Sachen erzählt. Zum Beispiel, dass ich sie heiraten würde und dass sie eure Mutti werden würde. Daran habe ich niemals gedacht. Das hättet nicht einmal ihr mir aufzwingen können. Ich habe nämlich eine ganz, ganz liebe Mutti für euch gefunden. Eine, die genau so ist, wie ihr sie haben wolltet. Denkt ihr noch an eure Annonce?«
»Ja, aber Tante Henriette konnte das alles nicht lesen.« Sylveli sah betrübt drein. »Sie war nicht tierlieb, und sie wollte auch nicht auf das Land ziehen.«
»Aber eure neue Mutti ist tierlieb und wohnt schon auf dem Land, Sylveli.«
»Tante Henriette war auch nicht lieb«, fuhr Sylveli fort. »Sie hatte dich nicht lieb und uns auch nicht, Vati.«
»Aber eure neue Mutti hat euch lieb und mich, Sylveli.«
»Nur Geschwisterchen bringt sie noch keines mit«, warf Maxi nun ein. Sie beugte sich zu Sylveli hinab. »Ist das sehr schlimm, wenn ich eine Bedingung eurer Annonce nicht erfülle?«
»Das war ja ohnehin nur Sylvelis Idee«, mischte sich jetzt Ivo ein. Er war dem ganzen Gespräch mit sehr ernstem Gesicht gefolgt.
»Geschwisterchen können wir ja noch kriegen«, sagte Sylveli. »Oder nicht, Vati?«
»Ich denke schon. Aber jetzt freundet euch erst einmal mit Maxi an. Sie hat so viel Angst, dass ihr sie nicht mögt.«
»Ich mag sie schon«, erklärte Sylveli. »Bekommt sie auch eine Probezeit, Vati?«
Alle lachten. Peter Renzi am meisten. »Das werden wir erst nach ein paar Tagen aushandeln, Kinder. Ihr könnt das bestimmen. Aber gehen wir endlich ins Haus. Eure Tante Isi und die anderen warten nun schon lange genug auf uns.«
»Magda auch. Siehst du, Vati, sie versteckt sich dort an der Haustür. Sie hat noch immer Angst vor dir.«
»Na, das wäre ja noch schöner.« Magda trat einen Schritt vor. Und nun kam sie gar über die Treppe herunter. Ihre Augen forschten in Maxis Gesicht, dann reichte sie ihr die Hand. »Ich habe ganz undeutlich etwas von einer neuen Mutti gehört. Sollen Sie das sein?«
»Ja, Magda«, sagte Maxi. »Und ich will mich gleich dafür bedanken, dass Sie meinem zukünftigen Mann gründlich den Kopf gewaschen haben. Das ist schon eine Wäsche weniger, die ich zu besorgen habe.«
»Dieser Kopf hatte es aber auch nötig.« Magda reichte jetzt auch Peter Renzi die Hand. »Nichts für ungut, Herr Doktor. Wollen wir wieder Frieden schließen? Glauben Sie, ich habe mehr Qualen ausgestanden als Sie. Besonders gestern, als die Polizei die Kinder brachte. Durch unsere Annonce waren sie doch so in Not geraten.«
»Aber durch Ihre Annonce, Magda, habe ich auch Maxi gefunden.«
»Ist das wahr?« Magda strahlte.
»Ja, es ist wahr«, bestätigte Maxi. »Vielleicht erfülle ich Ihre und der Kinder Wünsche.«
Denise von Schoenecker begrüßte ihre Gäste. Schon eine Stunde später fuhr sie mit Peter Renzi und Maxi zu den von Lehns.
Als man sich dort zu vorgerückter Stunde verabschiedete, flüsterte Andrea dem Freund ihres Mannes zu: »Ich bin fest überzeugt, dass Sie jetzt nicht nur ein Tierheim bekommen, wie wir es haben, sondern auch eine zärtliche Mutti für Ihre Kinder.«
Hans-Joachim, der hinter seine Frau getreten war, stieß Peter Renzi an. »Ich habe dir nichts mehr voraus, Peter. Wenn wir uns das nächste Mal auf einem Kongress treffen, werde ich sicher dich verdächtigen, dass du ein Angeber geworden bist.«
»Das nehme ich gern auf mich, Hans-Joachim, wenn ich so glücklich werde, wie du es bist.«
*
Drei Tage später gab es einen großen Abschied in Sophienlust. Henrik ging mit hängendem Kopf durch das Haus. Erst als Maxi ihm versprach, dass er bald einmal an den Ratzeburger See kommen dürfe, war er getröstet.
Magda stand auf der Freitreppe, als die Familie Renzi abreiste. Sie hatte Tränen in den Augen. »Nein, dass man so etwas auch findet«, sagte sie zu Denise von Schoenecker. »Eine Mutti, die genau so ist, wie man sie sich in der Annonce gewünscht hat. Das will mir noch gar nicht in den Sinn. Da, schauen Sie hin, diese Maxi tobt mit den Kindern um den Wagen, als ob sie selbst Spaß daran hätte.«
»Den hat sie sicher auch«, entgegnete Denise von Schoenecker lächelnd.
Maxi trieb die Kinder jetzt in den Wagen. »Und nun kümmert ihr euch auf der ganzen Fahrt um Hannibal und um das Angorakätzchen. Außerdem denkt ihr euch endlich einen Namen für die kleine Katze aus. Wie wäre euch denn zumute, wenn ihr keinen Namen hättet?«
»Maxi wird euch schon bei der Namenssuche helfen. Sie ist sehr erfindungsreich«, meinte Peter Renzi und setzte sich hinter das Steuer. »Ich nehme an, dass sie auf Kleopatra oder Salome kommt.«
»Na ja, Musch heißt schließlich jede Katze.« Maxi setzte sich neben ihn. Dann winkten sie alle zurück, bis das Kinderheim Sophienlust ihren Blicken entschwunden war.
Sylveli schien das Thema Namen noch sehr zu beschäftigen. Sie tuschelte lange Zeit mit Ivo. Ein paarmal nickte er, dann stieß er sie an. »Sag du’s doch«, wisperte er. »Das passt besser zu dir als zu mir.«
Sylveli sah ihn noch einen Augenblick an, dann neigte sie sich zu Maxi vor und erklärte: »Das Angorakätzchen bekommt einen Namen. Aber du auch.«
Maxi drehte sich um. »Ich habe doch einen Namen, Sylveli.«
»Aber der gefällt nur Vati, uns nicht.« Sylveli schlang ihre Arme um Maxis Nacken und wisperte: »Wir wollen Mutti zu dir sagen. Weil du genauso lieb bist, wie unsere Mutti es war.« Sie sah Ivo auffordernd an. »Etwas könntest du auch sagen!«
Ivo neigte sich langsam vor. »Ja, wir möchten schon jetzt Mutti zu dir sagen. Es macht ja nichts, wenn Vati dich erst in vier Wochen heiratet und wir dann erst in das schöne Haus am Ratzeburger See ziehen.«
»Nein, das macht wirklich nichts, Kinder.« Maxi strahlte. »Weil ich euch nämlich gleich mit an den Ratzeburger See nehme. Ivo, du kannst schon bei uns zur Schule gehen. Wer soll sich denn in Hamburg um euch kümmern, wenn euer Vater in die Sprechstunde muss und später für den Umzug zu sorgen hat? Ich habe zwar nicht viel Platz in meinen zwei kleinen Zimmern, aber wir werden schon zurechtkommen.«
»Dann bist du ja wirklich schon unsere Mutti.« Sylveli drückte Maxi noch fester an sich.
»Halt an, Peter!«, rief Maxi. »Ich muss mal aussteigen.«
Peter trat auf die Bremse. »Das fängt ja gut an«, sagte er. »Wir sind doch erst am Ortsrand von Wildmoos. Wenn wir das öfters so machen, kommen wir erst zu unserem Umzug nach Hamburg.« Er neigte sich zu Maxi und fragte: »Brauchst du vielleicht wieder einmal deine große Masche, mein Liebes?«
»Nein, jetzt habe ich ja dich, Peter den Großen.« Maxi rückte etwas näher an ihn heran, und er küsste die zwei Tränen von den Wangen, die sie vor Glück nicht hatte zurückhalten können.
»Jetzt muss ich aber trotzdem aussteigen.« Sie öffnete die Wagentür. »Lasst mich mal da hinten einsteigen, Kinder.«
»Kommst du zu uns?«, fragte Sylveli mit lachenden Augen.
»Wenn ihr zwischen euch für mich Platz habt?« Maxi drückte sich in den Fond. Sie legte die Arme um die Kinder.
»So geht das also«, seufzte Peter und startete wieder. »Ihr nehmt mir einfach meine Fürstin fort.«
»Mutti ist doch von selbst zu uns gekommen, Vati.« Sylveli schmiegte sich fest in Maxis Arm.
»Ja, und sie wird auch wieder von selbst zu dir kommen, Peter.« Maxi neigte sich vor und drückte einen Kuss auf Peters Wange.
»Dafür halte ich gern von Neuem an. Zerdrückt mir aber eure Mutti bis dahin nicht, Kinder.«
Peter sah in den Rückspiegel. Die strahlenden Kinderaugen zeigten ihm, dass Sylveli und Ivo nun ihre zärtliche Mutti gefunden hatten. Und in Maxis Augen tanzten wieder die Goldfünkchen.