Читать книгу Sophienlust Extra Staffel 4 – Familienroman - Diverse Autoren - Страница 9
ОглавлениеSie kamen von einer Hochzeit in Stuttgart. Ein Studienfreund hatte sie eingeladen. Nach dem Mittagessen war ein dringender Anruf gekommen, der Dr. Frank Durand in seine Rechtsanwaltspraxis nach Frankfurt zurückgerufen hatte. Frank hatte dem Klienten versprochen, um sechs Uhr für ihn zur Verfügung zu stehen. Der Klient war ein wichtiger Mann, und Frank lag viel an seiner Karriere.
Barbara und Frank hatten sich um vier Uhr von den Freunden verabschiedet. Am meisten hatte Dr. Thomas Calder den verfrühten Aufbruch bedauert. Er hatte sich Barbara als Tischdame ausgebeten und war nicht von ihrer Seite gewichen.
Barbara wusste, dass Thomas, der in ihren Kreisen als der hartnäckigste Junggeselle galt, sie liebte. Sie aber war ihrem Mann, dem sie zwei Kinder geschenkt hatte, ganz ergeben.
Kurz nach Maibach war es dann geschehen. Blitze zuckten in diesem Augenblick über den Himmel, Donner grollten, Dämmerlicht herrschte. Frank beschleunigte sein Tempo und knurrte: »Hoffentlich schaffen wir es bis Sechs!« Er beugte sich über das Steuerrad und trat das Gaspedal durch.
Barbara sah die Schweißtropfen auf seiner Stirn, die zuckende Schläfenader. Er hatte getrunken, wie sie auch. Vergeblich hatte sie ihn gebeten, den Zug zu nehmen. Um ihn jetzt nicht wieder zu reizen, mahnte sie vorsichtig: »Denke an den Sekt, den wir getrunken haben, Frank. Könntest du nicht ein wenig langsamer …«
In diesem Moment geschah es. Wie ein Geist tauchte plötzlich ein blondes Mädchen vor dem Kühler auf. Ein Krachen, ein Schrei! Der Wagen schleuderte, Barbara spürte schmerzhaft den Druck des Sicherheitsgurtes auf ihrer Brust. Und dann schrie sie: »Halte an! Das Kind!«
»Schweig!«, zischte Frank und bog von der Straße ab in einen Feldweg. Der Wagen holperte über Schlaglöcher, ratterte über Steine.
Barbara streckte das Bein aus, um auf die Bremse zu treten. Doch Frank stieß sie weg. »Lass das! Sollen wir auch noch verunglücken?«
Sie griff in das Steuerrad. Abermals schleuderte der Wagen. Wieder erhielt sie einen Stoß und einen Seitenblick, so fürchterlich, dass ihr das Blut in den Adern gerann. »Sie würden mich jahrelang einsperren, wenn sie mich erwischten«, zischte Frank.
»Das Kind«, stöhnte Barbara und schlug die Hände vor das Gesicht. »Das Mädchen! Es war ungefähr so alt wie unsere Erika.« Sie zerrte an seinem Arm. »Halt an! Wir müssen uns um das Kind kümmern. Es war so blond wie unser Liebling. Bedenke doch, wenn Erika etwas so Entsetzliches zustoßen würde, Frank. Bitte, bitte …«
Er unterbrach sie. »Gerade weil ich an unsere Kinder denke, muss ich weg. Es ist zu spät, um umzukehren. Ein Rechtsanwalt, der Fahrerflucht begeht! Ich wäre erledigt, und ihr mit mir.«
Sie erreichten die Autobahn, rasten dahin. Blitze stießen auf die Erde herab, Donnerschläge knallten hinterher. Barbara empfand es wie eine tödliche Drohung. Ihr war, als hielte die Natur den Atem an – wie sie selbst. Erst als Wind aufkam, Regen herabrauschte, fühlte sie sich wie von einem unerträglichen seelischen Druck erlöst.
»Der Regen wird die Reifenspuren verwischen«, knurrte Frank und beugte sich noch tiefer über das Steuerrad.
»Wenn jemand sich unsere Wagennummer gemerkt hat, Frank?«
»Hast du Leute gesehen?«
Barbara verneinte.
»Na also!«
»Dann liegt das Kind hilflos auf der Straße!«, schrie sie. Wieder presste sie die Hände auf die Lippen, um den Schrei zurückzuhalten, der aus ihr herausbrechen wollte.
»Die Straße ist viel befahren. Schweig’ jetzt! Ich muss mich konzentrieren.«
Die Räder surrten. Asphaltgeruch erfüllte den Wagen. Das Gewitter zog ab. Als sie in Frankfurt einfuhren, durchbrachen bereits einzelne Sonnenstrahlen die Wolken und vergoldeten deren Ränder.
Frank fuhr den Wagen in die Garage. Barbara eilte in das Haus, fuhr mit dem Lift in den vierten Stock hinauf, klingelte und hörte Erikas Stimmchen: »Mutti kommt! Vati kommt! Schließen Sie doch auf, Hanni.«
Das Dienstmädchen öffnete. Barbara rannte an Hanni vorbei, riss Erika in ihre Arme. Dann kam Bernd aus dem Wohnzimmer, mit seinem Traktor in der Hand. Er ließ ihn fallen und warf sich an die Brust der Mutter. Barbara umfing ihre Kinder mit beiden Armen, küsste die blonden Haarschöpfe und weinte, weinte.
»Warum weinst du denn, Mutti?«
»Weil ich so glücklich bin, dass ihr gesund seid und dass ich wieder bei euch bin, meine Lieblinge.«
Hanni, die dreißigjährige Hausgehilfin, schüttelte heimlich den Kopf. Warum stellte sich Frau Durand so an? Weil sie einmal einen Tag lang ihre Kinder hatte vermissen müssen?
Ihre Sorgen möchte ich haben, dachte Hanni und half Barbara beim Ausziehen des nassen Mantels. Später, als sie von dem Kriminalrat verhört wurde, konnte sie sich nur noch daran erinnern, dass der Mantel von Frau Durand nass gewesen war. Von den Tränen schwieg sie.
Die Kinder hörten den Vater aus dem Lift treten. Sie sprangen ihm entgegen.
Dr. Frank Durand küsste die beiden auf die Wangen, schob sie aber danach gleich von sich. »Später! Ich muss hinunter in das Büro. Ich erwarte einen Klienten. Hanni, kümmern Sie sich bitte um meine Frau. Der Tag war sehr anstrengend für sie!«
Barbara wich seinem Blick aus. Sie saß im Sessel im Wohnzimmer, starrte aus dem Fenster und wirkte wie eine Statue. »Nimm dich zusammen«, zischte er ihr ins Ohr. Dann verließ er eilig die Wohnung.
Das Anwaltsbüro lag im ersten Stock des Hauses. Die Sekretärin empfing ihn mit den Worten: »Pünktlich wie immer, Herr Rechtsanwalt. Direktor Scheuer ist soeben angekommen. Er erwartet Sie!«
»Danke, Frau Stark. Ich möchte nicht gestört werden.« Frank Durand verschwand hinter der gepolsterten Tür seines Privatbüros.
Die Sekretärin schaute ihm nachdenklich nach. Ob er zu viel gegessen und getrunken hat?, überlegte sie. So käsig hat er noch nie ausgesehen. Dem Kriminalrat sagte sie später, dass ihr Chef wie immer gewesen sei. Ruhig, überlegen, liebenswürdig! Sie verehrte ihn und beneidete seine Frau, die ihrer Meinung nach einen so attraktiven und angesehenen Mann nicht verdiente.
Direktor Scheuer aber war zu sehr mit seinen eigenen Problemen beschäftigt, um das kränkliche Aussehen seines Anwaltes zu bemerken.
Währenddessen saß Barbara Durand noch immer im Wohnzimmer. Neben ihr spielten die Kinder. Hanni hatte den Auftrag des Rechtsanwaltes ernst genommen und bedrängte Barbara mit Fragen. »Soll ich Ihnen einen starken Kaffee machen? Oder brauchen Sie eine Kopfschmerztablette? Soll ich Ihnen ein Bad einlaufen lassen?«
»Ich bin erschöpft, Hanni. Lassen Sie mich bitte mit den Kindern allein.«
Das Mädchen zog sich beleidigt in die Küche zurück, um das Abendessen zuzubereiten. Barbara aber sah ihre Kinder an. Die beiden ähnelten sich, und doch glich Erika mit ihrem schmalen Gesichtchen mehr dem Vater, Bernd mit seinen runden Wangen und dem kürzeren Näschen, dagegen ihr. Beide hatten die blauen Augen von ihr geerbt und das blonde Haar. Beide waren so blond wie jenes Kind auf der Straße hinter Maibach. Ist es verletzt?, fragte sich Barbara. Ist es tot? Muss es leiden? Weint eine Mutter um ihre Tochter? Verflucht sie vielleicht den verbrecherischen Fahrer, der das Kind hilflos hat liegenlassen? Suchte ein von Kummer und Zorn erfüllter Vater nach dem Mörder seiner Tochter?
Barbaras Gesicht blieb ausdruckslos. In ihrer Seele aber tobte ein Sturm. Sie wusste nicht, wie sie weiterleben sollte mit dieser Gewissensnot. Der Anblick der Kinder, die fröhlich lachten und sich wie gewohnt stritten, gab ihr jedoch wenigstens die Kraft, ihre Seelenpein zu verbergen. Ihre Augen blieben trocken. Ihr Herz aber weinte um das fremde blonde Kind.
*
Ebenso wie Barbara Durand nahm sich auch Dr. Anja Frey zusammen, als sie, in einen sterilen weißen Mantel gehüllt, die Maske vor dem Gesicht, den Operationssaal betrat und Heidi Holsten bewusstlos auf dem Operationstisch liegen sah.
»Wir haben Sie rufen lassen, Kollegin, weil Sie an diesem Kind besonderes Interesse haben«, murmelte der
Chirurg des Maibacher Krankenhauses. Dabei arbeitete er konzentriert weiter. Die Schlagaderblutung am Hals hatte er bereits mit einer Klemme zum Stillstand gebracht. Der erste lebensbedrohliche Schock war bekämpft worden. Nun bekam das Kind eine Bluttransfusion. Man hatte schwere innere Verletzungen festgestellt und einen doppelten Bruch des rechten Beines. Am Oberschenkel und am Schienbein. Die Brüche waren offen.
»Über die inneren Verletzungen konnten wir uns noch kein genaues Bild machen, Kollegin. Wahrscheinlich werden wir operieren müssen.«
»Heidi schwebt also nicht in Lebensgefahr?«, flüsterte Anja Frey und schaute schmerzerfüllt auf das verletzte Kind. Heidis Gesichtchen war wie aus gelbem Wachs geformt, das blonde Haar war blutverschmiert.
»Das können wir noch nicht sagen, Kollegin. Viel Hoffnung habe ich allerdings nicht. Hat die Kleine Angehörige? Sie müssen benachrichtigt werden.«
»Sie ist ein Waisenkind, das Frau von Schoenecker in das Kinderheim Sophienlust aufgenommen hat. Sie und die Kinder dort sind Heidis Familie.«
»Dann verständigen Sie bitte Frau von Schoenecker.« Der Chirurg winkte ihr und verließ mit ihr zusammen den Operationssaal. »Mehr kann ich im Moment nicht tun. Wir müssen die Reaktion auf die erste Behandlung abwarten. Was wissen Sie von dem Unfall? Hat man den Verbrecher erwischt?«
»Nein! Bis jetzt noch nicht, Herr Professor«, seufzte Anja Frey. »Ich weiß selbst nur das, was mir Schwester Regine in der Aufregung berichten konnte. Die Kinder waren mit ihr bei einer Zirkusvorstellung. Sie marschierten im Gänsemarsch auf dem Feldweg neben der Straße nach Maibach, um von dort von einem der Sophienluster Omnibusse nach Hause gefahren zu werden. Ein starkes Gewitter zog auf. Deshalb beeilten sie sich, um die Stadt noch vor dem Regen zu erreichen. Plötzlich rannte Heidi auf die Straße und direkt vor den Wagen.« »Warum?«
»Auch die Schwester weiß es nicht. Pünktchen, ebenfalls ein Sophienluster Mädchen, das am Schluss der Reihe marschierte, hörte Heidi rufen: ›Das muss ein Kätzchen sein!‹ Und dann ist die Kleine blindlings losgerannt.«
»Wie alt ist Heidi?«
»Vier Jahre. Vielleicht haben Sie von der Tragödie der Eltern gehört. Der Vater war Morphinist und hat die Mutter, die sich von ihm getrennt hatte und in einer Apotheke arbeitete, erschossen, weil sie ihm kein Rauschgift geben wollte. So blieb Heidi allein. Sie ist unser aller Liebling. Schwester Regine macht sich heftige Vorwürfe, aber meiner Meinung nach trifft sie keine Schuld.«
»Sie kann die Kinder ja nicht an einer Kette spazieren führen wie Sträflinge. Hat jemand sich die Nummer des flüchtenden Wagens gemerkt?«
»Wie mir Schwester Regine sagte, jagten die Wolken so tief am Himmel dahin, dass Dämmerlicht herrschte. Sie weiß nur, dass es ein Frankfurter Mercedes war, mit den Buchstaben RM. Die ersten Zahlen waren vier und fünf. Es war ein blauer Wagen. Schwester Regine hat zwei Menschen bemerkt, schattenhaft nur, und weiß nicht, ob es ein Paar war oder zwei Männer oder zwei Frauen. Sie hat alles bereits der Polizei gemeldet.«
»Dann müssen wir uns in Geduld üben.«
»Es wird uns allen sehr schwerfallen, Herr Professor. Heidi ist unser aller Sonnenschein. Wie Sie wissen, bin ich Hausärztin im Kinderheim Sophienlust.« Dr. Anja Frey stand auf. Sie war eine große schlanke Frau mit hochgestecktem mittelblondem Haar und dunkelbraunen Augen, in denen der Schmerz um das schwerverletzte Kind stand. »Ich will nach Sophienlust fahren und mit Frau von Schoenecker sprechen.« Bittend fügte sie hinzu: »Sie benachrichtigen mich doch sofort, falls sich Heidis Zustand verschlechtern sollte?«
»Selbstverständlich, Kollegin. Sie können auch jederzeit anrufen.«
Die junge Ärztin ging zu ihrem kleinen Wagen und fuhr nach Sophienlust. Auf der Freitreppe des ehemaligen Gutshauses drängten sich die Kinder. Schweigend schauten sie ihr entgegen, flehend, fragend.
Anja Frey bemühte sich um ein beruhigendes Lächeln, das auf die Kinder wie eine Erlösung zu wirken schien. »Heidi lebt also! Sie wird gesund, Frau Doktor?«, fragte Pünktchen.
»Wir alle hoffen es. Nun lasst mich durch. Frau von Schoenecker erwartet mich.«
Die Kinder traten zur Seite.
Denise von Schoenecker erwartete die Ärztin in ihrem Salon und ging ihr mit ausgestreckten Händen entgegen. Sie war so groß wie Anja Frey und so schlank. Aber ihr Haar war tiefschwarz, ihre Augen sehr groß. Doch in diesem Moment waren sie nicht so strahlend wie sonst, sondern von Angst und Kummer verschattet. »Wie geht es Heidi?«, fragte sie.
Anja Frey berichtete. Denise von Schoenecker unterbrach sie mit keinem Wort. Sie hielt die schmale langen Hände im Schoß verkrampft. »Ich werde keine Ruhe mehr finden, bis ich den Verbrecher gefunden habe, der das verletzte Kind hilflos liegenließ und sich aus dem Staub machte. Wer es auch sein mag!«, rief sie heftig, als die Ärztin schwieg. Nach einer Weile fügte sie noch hinzu: »Ich habe noch eine Bitte an Sie, Frau Doktor.« »Ja?«
»Sie wissen, ich halte nicht viel von den modernen Beruhigungsmitteln, die uns Menschen das Ertragen des Leides erleichtern sollen. Aber Schwester Regine ist so außer sich und macht sich solche Vorwürfe, dass ich Ihnen doch zu überlegen geben möchte, wie Sie ihr helfen könnten. Sie wissen, Schwester Regine hat ein sehr starkes Pflichtbewusstsein. Außerdem ist sie in diesem Fall besonders betroffen, denn sie hat in Heidi nach dem Tod ihrer Tochter immer ein wenig ihr eigenes Kind gesehen, das genauso alt wie Heidi wäre.«
»Ich gehe zu ihr. Wo ist Schwester Regine?«
»In ihrem Zimmer. Ich habe sie zu Bett geschickt. Frau Rennert ist bei ihr.«
Anja Frey setzte sich an das Bett der Kinderschwester, nachdem sie Frau Rennert, die von den Kindern »Tante Ma«, genannt wurde, hinausgeschickt hatte.
Schwester Regine drückte den blonden Kopf in die Kissen. Ihre Schultern zuckten. Sehr sanft sagte die Ärztin: »Schwester Regine, Sie brauchen sich keine Vorwürfe zu machen. Noch nie haben Sie Ihre Pflichten versäumt. Wir alle kennen Sie! Das Schicksal schlägt manchmal zu, und wir erkennen erst hinterher, warum der Herrgott uns dieses oder jenes Leid auferlegt hat. Sie tun Heidi keinen Gefallen, wenn Sie sich mit Schuldgefühlen belasten und krank machen.«
»Sie lebt also noch?«
»Natürlich!« Die Ärztin gab sich hoffnungsvoller, als ihr zumute war. Aber sie musste die Schwester beruhigen. »Wir haben allen Grund dazu, an Heidis Genesung zu glauben. Das Kind wird Sie noch sehr brauchen, Schwester Regine.«
»Als ich sie so auf der Straße liegen sah und sie dann aufnahm, glaubte ich, meine Elke auf dem Arm zu halten. Ich habe mein Kind verloren. Ich kann nicht auch noch Heidi hergeben. Ich würde am Herrgott zu zweifeln beginnen.«
Da ertönte die Stimme Denise von Schoeneckers von der Tür her. »Zweifel an den Menschen sind erlaubt, aber nicht am Herrgott, Schwester!« Ihre Stimme war gütig, aber auch sehr nachdrücklich. Sie verständigte sich mit einem Blick mit der Ärztin, ging zum Bett, streichelte Schwester Regines blondes Haar. »Sie dürfen uns nicht krank werden, Regine. Wir alle brauchen Sie so sehr. Die Kinder sind in Sorge um Sie!«
»Das darf nicht sein. Die Kleinen haben genug Kummer um Heidi. Ich will aufstehen und mich zusammennehmen.«
Schwester Regine riss sich um der Sophienluster Kinder willen zusammen. Sie kleidete sich an und erschien mit einem kleinen Lächeln um den Mund im Wintergarten, wo alle Kinder um den Papagei Habakuk versammelt waren. »Es ist Zeit zum Abendessen«, sagte sie freundlich. »Geht euch die Hände waschen.«
Die Kinder gehorchten widerspruchslos. Doch bei Tisch war es diesmal viel stiller als sonst. Kein Lachen klang auf, kein Streit brach aus. Aber manche stille Träne floss.
*
In Frankfurt lachte Barbara Durand mit ihren Kindern Erika und Bernd beim Essen. Aber es war ein Lachen der Verzweiflung. Ihr Mann hatte sich damit entschuldigen lassen, dass er mit Direktor Scheuer auswärts speisen müsse. Barbara wusste, dass er sie mied. Sie brachte die Kinder nach dem Abendbrot zu Bett und las ihnen noch das Märchen »Das Sandmännchen kommt«, vor.
Als sie am Ende der Geschichte an gelangt war, klappte sie das Buch zu, stand auf, küsste die Kinder auf die Nasenspitzen und ließ die Rollläden vor den Fenstern herunter. »Nun schlaft!«
»O Mutti, sing uns noch das Lied vom herzigen Veilchen«, bat Erika.
Bernd, nur ein Jahr älter als seine Schwester, hänselte sofort: »Du willst das Lied nur deshalb immerzu hören, weil einmal jemand gesagt hat, du hättest Veilchenaugen. Ich hab’ sie aber auch, und sie sind viel größer als deine. Auch Mutti hat Veilchenaugen.«
»Eben! Darum will ich ja das Lied so gern hören. Bitte, Mutti, sing’ es mir vor. Du hast uns den ganzen Tag mit Hanni allein gelassen. Mach’ mir doch jetzt die Freude!«
»Es ist ein trauriges Lied, Erika. Das Veilchen wird doch zertreten.«
»Aber es freut sich, weil es die Schäferin ist, die es mit ihren kleinen Füßchen tottritt, Mutti. Bitte, sing’ das Lied!«
Tottreten! Totfahren! Zwar ist es nur ein Veilchen, aber ein Kind ist so zart und hilflos und allen Winden ausgesetzt wie ein Veilchen, dachte Barbara. Es war ein blondes Kind! Sicher hat es blaue Augen gehabt wie meine zwei hier in ihren Betten. Wo mag es jetzt sein, das kleine Mädchen? Ist es schon steif und starr oder lebt es noch und leidet Schmerzen?
Die Gedanken stürmten auf Barbara Durand ein. Sie flüchtete aus dem Kinderzimmer und hörte Erika schluchzen: »Mutti ist so seltsam heute. Ich glaube, sie hat uns nicht mehr lieb, Bernd.«
Barbara lehnte an der Wand im Flur. Ich darf nicht seltsam wirken, überlegte sie. Die Kinder dürfen nichts erfahren. Um ihretwillen muss ich schweigen. Ich muss mich zusammennehmen, als sei nichts geschehen, obwohl eine Welt für mich zusammengebrochen ist. Doch die Welt der Kinder muss heil bleiben. Sie sind unschuldig! Meine Erika darf nicht meinetwegen weinen. Ich ertrage das nicht!
Barbara stieß sich von der Wand ab. Hielt sich am Türstock fest und betrat schließlich wieder das Zimmer. Sie knipste das Licht an, löschte es aber sogleich wieder. Die Kinder sollten nicht ihr Gesicht sehen.
Und dann begann sie mit ihrer süßen Sopranstimme zu singen. Ihr selbst aber kam ihre Stimme blechern vor:
»Ein Veilchen auf der Wiese stand, gebückt in sich und unbekannt: es war ein herziges Veilchen. Da kam eine junge Schäferin mit leichtem Schritt und munterem Sinn die Wiese daher und sang.
Ach, denkt das Veilchen, wär’ ich nur die schönste Blume der Natur, ach, nur ein kleines Weilchen, bis mich das Liebchen abgepflückt und an den Busen matt gedrückt, ach nur, ach nur ein Viertelstündchen lang.
Ach, aber ach! Das Mädchen kam, und nicht in acht es das Veilchen nahm, es zertrat das arme Veilchen. Es sank und starb und freut’ sich noch: und sterb’ ich denn, so sterb’ ich doch’ durch sie, durch sie, zu ihren Füßen doch.
Das arme Veilchen! Es war ein herziges Veilchen!«
Barbaras Stimme war immer leiser geworden. Den Schluss hatte sie nur noch gehaucht.
»Aber warum weinst du denn, Mutti? Das Veilchen ist doch glücklich gestorben«, meinte Erika.
»Ich finde es einfach dumm, deswegen zu heulen, Mutti«, kritisierte Bernd. »Die Blumen müssen doch alle welken und sterben. Die Tiere auch. Denke doch nur an unseren Hansi. Plötzlich lag er tot im Käfig.«
Auch wir Menschen müssen sterben, dachte Barbara und wischte sich die Tränen aus den Augenwinkeln. Auch das blonde Mädchen hätte einmal sterben müssen. Ist es so wichtig, ob es jetzt schon vom Tod ereilt wird oder erst dann, wenn es alt ist?
Barbara erschrak vor ihren eigenen Gedanken. Sie drückte die Kinder heftig an sich und sagte noch einmal: »Gute Nacht! Aber jetzt wird geschlafen!«, dann ging sie hinaus und zog die Tür hinter sich ins Schloss. Zugleich zuckte sie zusammen. Frank stand in der Diele, den Kopf an den am Haken hängenden Mantel gepresst. Seine Schultern zuckten.
Barbara blieb wie erstarrt stehen. Sie wollte zu ihrem Mann, aber ihre Füße trugen sie nicht. Sie lehnte sich an die Wand, suchte wieder Halt, wie schon zuvor. Und sie sagte kein einziges Wort, als er an ihr vorbei in sein Arbeitszimmer ging. Sie hörte, wie der Schlüssel im Schloss umgedreht wurde, und dachte: Er hat sich eingeschlossen und mich ausgeschlossen. Warum? Fürchtet er weitere Vorwürfe? Oder erträgt er meinen Anblick nicht, weil ich um seine Schuld weiß?
Barbara nahm sich zusammen, klopfte an seine Tür und flüsterte durch das Schlüsselloch: »Ich muss mit dir reden, Frank. Noch ist es nicht zu spät. Das Gesetz gibt dir vierundzwanzig Stunden Zeit, dich zu stellen. Sie berücksichtigen, dass man unter einem Schock so handeln kann, wie du es getan hast.«
Keine Antwort! Schweigen! Ein grauenvolles Schweigen des Mannes, den sie liebte. Ihre Welt war bereits eingestürzt, denn das Vertrauen zu ihrem Mann war zerstört worden. Nun aber fühlte sie, dass auch ihre Liebe zu wanken begann.
Barbara warf sich im Schlafzimmer angekleidet auf ihr Bett, grub das Gesicht in die Kissen und überließ sich ihrem Schmerz.
Etwa um fünf Uhr ist es passiert, überlegte sie. Bis morgen Nachmittag fünf Uhr hat er Zeit, sich zu besinnen, anständig zu handeln, die Konsequenzen auf sich zu nehmen. Man wird ihm vorwerfen, dass er damit den Alkoholgehalt in seinem Blut habe vertuschen wollen. Aber auch wenn die Strafe dadurch höher ausfallen dürfte, darf er nicht zum Verbrecher werden. Er muss zu seiner Tat stehen – und ich werde zu ihm stehen.
*
»Wir Kinder stehen alle zu Ihnen, Schwester Regine«, flüsterte Pünktchen am Abend am Bett der Kinderschwester. Sie hatte sich leise ins Zimmer geschlichen. »Sie können überhaupt nichts dafür. Heidi ist einfach losgerannt. Direkt vor das Auto. Haben Sie oder ich das voraussehen können?«
»Nein, Pünktchen.«
»Sie wissen doch, Schwester Regine, dass meine Eltern bei einem Zirkusbrand umgekommen sind und dass Tante Isi mich hier aufgenommen hat. Ich darf doch auch nicht auf meine Eltern böse sein, weil sie nicht rechtzeitig aus dem Zelt gelaufen sind.«
»Du willst mich trösten, Pünktchen. Ich weiß es und bin dir dankbar dafür. Aber wir wollen nicht mehr darüber reden, sondern lieber beten. Ja?«
Und so beteten beide für die kleine Heidi, die unter einem Sauerstoffzelt im Maibacher Krankenhaus lag. Frau Dr. Frey war bei ihr und wich nicht von ihrer Seite. Die Nachtschwester mahnte: »Sie haben morgen doch wieder einen arbeitsreichen Tag vor sich, Frau Doktor. Ich lasse Heidi nicht eine Sekunde allein. Das verspreche ich Ihnen. Sie sollten ein wenig schlafen oder wenigstens ruhen.«
Anja Frey schüttelte den Kopf und schaute die Krankenschwester bekümmert an. »Ich kann weder schlafen noch ruhen. Ich liebe dieses Kind genauso wie mein eigenes.«
»Felicitas ist doch aber ihr Stieftöchterchen, Frau Doktor?«
»Ja! Aber man kann ein Kind lieben, als hätte man es selbst geboren. Der Vater meiner Stieftochter war durch einen Autounfall jahrelang gelähmt.«
»Ich weiß es, Frau Doktor. Seine erste Frau hat ihn damals im Stich gelassen. Erst Sie haben Herrn Dr. Frey wieder gesund und glücklich gemacht.«
»Nicht ich, Schwester. Ich habe ihm nur Mut gemacht, sich bei einem schwedischen Spezialisten behandeln zu lassen. Und diesen Mut will ich auch auf Heidi übertragen. Wenn wir uns etwas ganz brennend wünschen, geht es manchmal in Erfüllung.«
»Ob wir dem Waisenkind das überhaupt wünschen sollen, Frau Doktor? Das arme Kindchen hat doch keine Menschenseele mehr auf der Welt.«
»Sie irren, Schwester. Heidi hat zwar keine Eltern und keine Verwandten mehr. Aber alle Sophienluster Kinder sind ihre Brüder und Schwestern. Frau von Schoenecker ist Heidis Mutter, ich selbst bin so etwas wie eine Tante, ebenso Schwester Regine vom Kinderheim. Nein, Heidi ist kein verlassenes Waisenkind. Es ist ein Kind, das reich an Liebe und Freude ist.«
Die Nachtschwester schwieg beschämt. Lange Zeit sagte sie nichts mehr, bis sie schließlich murmelte: »Frau von Schoenecker und ihr Sohn Nick sind ein Segen für die ganze Gegend.«
»Je mehr Liebe man verschenkt, umso mehr kommt zurück. Es ist wie ein Bumerang.«
So ist es Frau Doktor. Darum liebe ich auch meinen Beruf so. Alles im Leben wird vergolten. Das Gute und das Böse. Ich möchte nicht in der Haut des Schurken stecken, der das Kind liegenließ.«
*
Das war ein wahres Wort. Der »Schurke«, lag schlaflos auf der Ledercouch in seinem Arbeitszimmer. Das Bild des blonden Kindes erschien ständig vor seinem geistigen Auge. Er konnte diesen quälenden Anblick nicht loswerden. Ihm war, als verspüre er wieder den Stoß, als höre er erneut den Schrei, Barbaras Stöhnen – und ihre Stimme, als sie das Lied von dem herzigen Veilchen, das von einer unachtsamen Schäferin totgetreten wurde, sang.
Ist das Kind tot?, überlegte Frank Durand. Oder lebt es und ist nur verletzt? Wenn ich mich melde, lande ich im Gefängnis. Für Jahre! Meine beiden Kinder haben dann keinen Vater mehr und müssen sich meiner schämen. Meine Praxis geht ein, das Patent als Rechtsanwalt wird mir entzogen. Mein Leben und das meiner Familie ist vernichtet. Vier Leben gegen das eines Kindes! Eines einzigen Kindes! Nein, ich muss schweigen und Barbara zwingen, ebenfalls zu schweigen. Wir müssen gemeinsam das Schwere tragen, das auf uns zukommt.
Frank Durand stand auf, schlich hinüber zum Schlafzimmer und drückte die Klinke lautlos nieder. Doch die Tür öffnete sich nicht. Barbara hatte sich eingeschlossen.
»Barbara?«, rief er mit leiser Stimme.
Wie zuvor er selbst gab nun auch Barbara keine Antwort. Sie presste das Kissen auf den Mund und gab keinen Laut von sich. Denn in diesem Moment glaubte sie ihren Mann zu hassen.
Frank schlich in sein Zimmer zurück. Als die Sonne sich am östlichen Horizont erhob, hatte er den inneren Kampf entschieden. Für die Familie, für die Karriere, für die Freiheit! Dass er damit die Hölle wählte, ahnte er zu diesem Zeitpunkt nicht.
Stumm saß Frank am Morgen beim Frühstück. Er übersah die erstaunten Blicke von Hanni, die aufgebrachten seiner Kinder, die vorwurfsvollen von Barbara. Er schwieg, löffelte sein Ei, würgte ein Brötchen hinunter, goss drei Tassen Kaffee in sich hinein und verschwand in seiner Praxis unten im ersten Stock.
Barbara glaubte, die Kinder müssten das Hämmern ihres Herzens hören. Sie hatte ihrem Mann angesehen, dass er nicht gewillt war, sich zu stellen.
Hanni brummte: »Kann ich abräumen?«
»Ja.«
Erika kletterte vom Stuhl, stellte sich vor der Mutter auf und erklärte: »Also, ich muss schon sagen, eine fröhliche Familie sind wir nicht.«
»Man kann nicht jeden Tag die beste Laune haben, Kind.«
»Aber reden kann man. Mir ist es lieber, Vati schimpft mit uns, als dass er überhaupt nichts sagt.«
»Aber ich ziehe es vor, dass er den Mund hält!«, rief Bernd.
»An dir hat Vati auch mehr auszusetzen als an mir. Schau nur deinen Pulli an, Bernd. Ganz vollgeschmiert ist er. Wir müssen ihn schon wieder waschen«, erwiderte Erika.
»Wir? Was heißt da ›wir‹? Ich denke, das machen Hanni und Mutti? Und überhaupt haben wir eine prima Waschmaschine. Da macht die Wäsche überhaupt keine Arbeit mehr.«
»Arbeit ist es trotzdem«, rügte Barbara und bat: »Fasse mit an, Bernd!« Sie selbst stellte ebenfalls Tassen und Teller zusammen und trug das Geschirr hinaus in die Küche. Dort drückte sie dem murrenden Fünfeinhalbjährigen das Geschirrtuch in die Hand und sagte: »Pass auf, damit du nichts fallen lässt, mein Sohn. Ich möchte, dass du ein tüchtiger Mann wirst, der sich später vor keiner Arbeit und keiner Verantwortung drückt.«
Bernd warf seiner Mutter einen erstaunten Blick zu. Ihre Augen waren so seltsam, ihr Mund so schmal, dass er ohne Widerstreben nach einer Tasse griff und sie sorgfältig abtrocknete. Doch Hannis heimliches Lachen versetzte ihn in Wut, sodass er erklärte: »Ich heirate später eine Frau, die es nicht mag, dass ihr Mann in der Küche herumschnüffelt!«
Barbara hörte diese Worte nicht mehr. Sie hatte sich inzwischen schnell zurechtgemacht und fuhr nun im Lift in den ersten Stock hinab. Dort bat sie die Sekretärin, sie bei ihrem Mann anzumelden.
Die Auseinandersetzung, die dann folgte, war kurz, aber heftig. Frank weigerte sich strikt, den Unfall zu melden. ,Du weißt, dass auf Unfallflucht Freiheitsstrafe steht, Barbara«, meinte er.
»Bis heute fünf Uhr, hast du Zeit, Frank.«
»Und wenn das Mädchen … ich meine, wenn es …«, Er stockte. Schwieg.
»Du meinst, wenn es tot ist, Frank? Ja, daran habe ich die ganze Nacht gedacht. Und wenn es noch lebt, das blonde Kind, dann leidet es vielleicht Schmerzen. Wissen wir, ob es liebevolle Eltern hat? Ob für das Kind so gut gesorgt wird, wie es nötig ist? Nein, ich würde keine ruhige Minute in meinem Leben mehr haben, wenn wir das Kind im Stich ließen. Wenn du es nicht tust, dann fahre ich nach Maibach und erkundige mich.«
»Damit würdest du nur den Verdacht auf uns lenken, Barbara. Nimm doch deinen Verstand zu Hilfe, wenn schon dein Herz durchgehen will! Ich habe die ganze Nacht gegrübelt, Barbara«, sagte er gequält. »Das Glück von vier Menschen steht gegen das eines einzigen Kindes! Du würdest unsere Ehe auf eine zu harte Probe stellen. Sie würde zerbrechen. Nur wenn wir gemeinsam das Geheimnis bewahren, können wir noch miteinander leben.«
»Nein!«, rief Barbara. »Nein! Niemals! Ich hätte kein Vertrauen mehr zu dir. Immer würde ich daran denken, dass du ein Feigling bist, ein Schwächling, dem man nicht vertrauen kann.«
»Hast du unsere Kinder vergessen? Willst du, dass andere sie meiden, weil ihr Vater ein Zuchthäusler ist? Oder willst du mich vielleicht sogar loswerden? Calder hat ja schamlos offen gezeigt, dass er in dich verliebt ist. Und du hast dir seine übertriebenen Komplimente sanft errötend angehört«, spottete er in seinem Elend.
»Willst du von dir selbst ablenken, Frank? Du weißt, dass ich dich liebe. Wir waren bis jetzt eine glückliche Familie. Dieses Glück ist gestern zerbrochen. Aber du hast die Scherben in der Hand und könntest das Glück wieder kitten. Es liegt an dir!«
Barbara brach in Tränen aus, und Frank ließ sie weinen. Doch sein Blick wanderte unruhig zur Tür. Ob Frau Stark gelauscht hatte? Die Tür war gepolstert, aber sie hatten laut genug gesprochen, um ihr, wenn sie am Schlüsselloch gelauscht hatte, einiges von ihrem Gespräch verraten zu haben.
Die innere Unruhe trieb Frank hoch. Er riss die Tür auf. Die Sekretärin saß an ihrem Schreibtisch und schaute ihn erstaunt an. Er gab ihr einen Auftrag und schloss die Tür wieder rasch hinter sich.
Sie hat etwas gemerkt, dachte Frank. Wie sehe ich wohl aus?
Er ging in die neben seinem Büro liegende Toilette und betrachtete sich im Spiegel. Grau war sein Gesicht. Die Augen lagen in dunklen Höhlen. Die Nasenfalte war tief eingekerbt. Er war sich selbst fremd. Ekel würgte ihn.
Als er in das Büro zurückkehrte, war Barbara gegangen. Er rief oben in der Wohnung an, und sie meldete sich am Apparat. Er hörte Erikas helles Kinderlachen im Hintergrund, als Barbara sagte: »Du musst mir sehr viel Zeit lassen, Frank. Ich gehe mit den Kindern ins Strandbad. Bis heute Mittag. Adieu!«
Frank wusste, sie konnte der Kinder wegen nicht reden. Eine ungeheure Unruhe erfasste ihn, sodass er sich nur schlecht konzentrieren konnte. Er nahm die Akte von Direktor Scheuer zur Hand, vertiefte sich in die Problematik des verzwickten Falles. Scheuer war sein erster wirklich prominenter Klient. Wenn er seine Arbeit gut tat, würden andere wichtige Leute folgen. Seine Karriere würde damit gesichert sein. Er durfte sie sich eines fremden Kindes wegen nicht zunichte machen lassen.
Frank Durand klingelte nach Frau Stark und diktierte ihr in über großem Tempo. Als sie reklamierte, entschuldigte er sich: »Ich bin heute ein wenig nervös.«
Die Sekretärin dachte: Deine Frau hat dir zugesetzt! Laut aber sagte sie: »Es ist zu heiß heute. Auch ich fühle mich nicht ganz so wohl wie sonst, Herr Doktor. Würden Sie den letzten Satz noch einmal wiederholen?«
Er zügelte seine Ungeduld, und als er kurz nach zwölf Uhr die Wohnung betrat, atmete er erleichtert auf. Er hörte Barbara in der Küche mit Hanni sprechen. Sie war also nicht nach Maibach gefahren! Sie würde schon noch Vernunft annehmen, und alles würde beim alten bleiben. Es würde dann nur noch darauf ankommen, ob sich ein Passant die Autonummer gemerkt hatte.
Nach dem Essen ging Frank in die Garage, prüfte sorgsam die vordere Stoßstange und den Kühler. Er polierte die Scheinwerfer und fuhr dann kurz entschlossen zur gewohnten Autowaschanlage.
»Na, dem hat das Gewitter gestern nicht gutgetan«, sagte der Angestellte grinsend, und da ihm, wie er wusste, ein gutes Trinkgeld winkte, nahm er sich den Wagen Dr. Durands besonders gründlich vor. Es blieb keine Spur von dem zurück, was auf der Landstraße von Maibach geschehen war. Am Fahrzeug wenigstens nicht. Aber im Herzen aller Beteiligten …
*
Heidi Holsten war kurz zu Bewusstsein gekommen. Sie hatte der Schwester und dem schleunigst herbeigerufenen Arzt etwas von einer Katze erzählt, die gewiss keine Eltern mehr hatte, genau wie sie selbst. Was danach geschehen war, das wusste die Kleine nicht mehr.
»Bitte, Schwester, kümmern Sie sich um das Kätzchen«, bat sie. »Es hat so kläglich miaut. Wenn ich weiß, dass es trocken und satt ist, werde ich schnell wieder gesund. Grüßen Sie Schneeweißchen und Rosenrot von mir.« Das waren die beiden Kaninchen, die Heidi gehörten und die im Tierheim Waldi Co. ein glückliches Hasenleben führten. »Sagt Tante Isi, dass sie sich um mich keine Sorgen machen muss. Und Tante Andrea soll …«, das süße Kinderstimmchen verstummte. Das Gesicht verzog sich vor Schmerz. Ein leiser Wehlaut drang aus dem Mund, das Köpfchen fiel zur Seite. Heidi hatte wieder das Bewusstsein verloren.
Der Arzt und die Schwester versorgten die kleine Kranke und riefen Frau von Schoenecker an, um ihr zu sagen, dass sich der Zustand der Patientin verschlechtert habe. Sie möge bitte sofort kommen.
Denise von Schoenecker verständigte Ihre Stieftöchter Andrea von Lehn, »rege dich bitte nicht auf, Liebes. Es könnte deinem Kind schaden. Ich fahre zu Heidi und komme auf dem Rückweg bei dir vorbei.«
»Ich fahre selbst sofort los, Mutti. Seit ich von dem Unglück weiß, renne ich wie ein Tiger in der Wohnung hin und her. Wenn ich den Verbrecher erwische, weiß ich nicht, was ich tue.«
»Urteile nicht vorschnell, Andrea«, rügte Denise von Schoenecker ihre temperamentvolle Stieftochter, die sie genauso liebte wie ihre eigenen beiden Söhne Nick und Henrik, sanft. Sie war in Sorge um die junge Frau, die ihr erstes Kind erwartete. Darüber vergaß sie, dass sie selbst sich geschworen hatte, alles zu unternehmen, um den Mann zu finden, der Heidi überfahren hatte und geflüchtet war. »Wir wollen Schluss machen, Andrea«, bat sie. »Mein Wagen steht schon vor der Tür.«
»Wir treffen uns im Krankenhaus, Mutti!«, rief Andrea noch schnell, dann legten beide Damen den Hörer auf.«
*
Genau in diesem Moment legte Rechtsanwalt Dr. Thomas Calder nachdenklich eine Zeitung auf den Tisch. Er hatte die Meldung von dem überfahrenen Kind und dem geflüchteten Fahrer gelesen. Noch einmal nahm er das Blatt zur Hand, sagte laut die Nummer des Unfallwagens vor sich hin: »F-RM 45! Ein Mercedes! Um diese Zeit könnten Frank und Barbara diese Stelle passiert haben. Die Kinderschwester weiß nicht, ob es fünfundvierzig oder vierundfünfzig war. Typisch Frau! Frauen können sich wirklich nichts merken. Es könnte Franks Wagen gewesen sein. Aber wenn ich ihm auch Barbara nicht gönne, so weiß ich doch, dass er zu anständig ist, um Fahrerflucht zu begehen. Der gutmütige Kerl hätte gar nicht das Format dazu!«
Thomas Calder griff nach dem Telefon, um Barbara Durand anzurufen und sie zu fragen, ob auch sie die Zeitung gelesen habe und ob sie vielleicht Zeugin des Unfalles gewesen sei. Doch in diesem Augenblick schrillte die Türklingel, und seine Haushälterin führte kurz darauf Isabelle Camenzind herein.
Isabelle ging auf Katzenpfoten auf ihn zu, legte ihre Arme um seinen Hals und küsste ihn auf die Nasenspitze. »Hast du Sorgen, Darling? Du siehst so bedrückt aus.«
»Meine Sorgen verfliegen bei deinem Anblick. Wie gut du wieder duftest«, erwiderte er und küsste sie auf die vollen Lippen.«
Barbara Durand ertrug währenddessen die Stille nicht mehr. Die Kinder hatte sie zum gewohnten Mittagsschlaf niedergelegt. Hanni hatte sich auf ihr Zimmer zurückgezogen. Frank war mit dem Wagen weggefahren. Ob er es getan hat, um mich daran zu hindern, nach Maibach zu fahren?, überlegte Barbara. Aber ich kann schließlich auch mit dem Zug fahren.
Barbara öffnete leise die Tür zum Kinderzimmer. Erika und Bernd schliefen mit roten Wangen. »Meine Engel«, flüsterte Barbara leise vor sich hin. Die Augen wurden ihr dabei feucht. »Darf ich euch das, was ich vorhabe, antun? Aber wie würdet ihr später über mich denken, wenn ihr erfahren würdet, dass eure Eltern ein hilfloses Kind im Stich gelassen haben? Vielleicht sind sie Frank schon auf der Spur. Oder würdet ihr es mir nie verzeihen, dass ich euren Vater ins Gefängnis gebracht habe, eines fremden Kindes wegen?«
Barbara ertrug den Anblick ihrer Kinder nicht mehr. Sie zog die Tür leise ins Schloss, kehrte ins Wohnzimmer zurück. Dann sprang sie auf und holte sich am Kiosk eine Zeitung. Das Bild des hellblonden Mädchens mit den Ponyfransen in der Stirn und den lustigen Rattenschwänzchen hinter den Ohren ließ sie innerlich erstarren. Ohne die Schwänzchen könnte es Erika sein!, dachte sie und las hastig den Bericht:
»Heidi Holsten, vierjährig, wurde gestern auf der Straße zwischen Maibach und der Autobahnzufahrt nach Frankfurt von einem blauen oder schwarzen Mercedes überfahren. Das Kind war blindlings auf die Straße gerannt, weil es ein Kätzchen miauen hörte und besonders tierlieb ist. Das Kennzeichen des Unfallwagens lautet: F - RM 45 oder F - RM 54. Die Kinderschwester, die ihre Schar auf dem Feldweg neben der Straße nach Maibach geführt hatte, kann sich nicht mehr genau an die Farbe des Wagens und auch nicht an die Nummer erinnern. Wer hat einen Wagen mit einem ähnlichen Kennzeichen gesehen? Es war genau vier Uhr und achtundvierzig Minuten. Das Auto war mit überhöhter Geschwindigkeit herangebraust und nach dem Unfall weitergefahren. Die Insassen konnten wegen des düsteren Lichtes nicht erkannt werden. Es kann sich um ein Paar, aber auch um zwei Männer oder zwei Frauen gehandelt haben. Heidi Holsten ist ein Waisenkind, das ein tragisches Schicksal hat. Ihr Vater war Morphinist, die Mutter Apothekerin. Heidi wurde von Frau von Lehn, der Gattin eines Tierarztes, in einem Gully gefunden, in den das Kind gefallen war. Frau von Schoenecker und ihr Sohn Dominik, denen das Kinderheim Sophienlust gehört, kümmerten sich um Heidi und behielten das Kind später für immer, als der Vater seine Frau erschoss, weil sie ihm das verlangte Morphium verweigerte.
Heidi wurde bei dem Unfall schwerverletzt. Die Ärzte des Maibacher Krankenhauses haben wenig Hoffnung, ihr Leben retten zu können.
Aber auch wenn das Wunder geschehen würde, bestünde die Gefahr, dass die Vierjährige für den Rest ihres Lebens invalid bleiben würde. Wir alle können nur hoffen, dass der gewissenlose Fahrer seiner gerechten Strafe nicht entgeht.«
Barbara sprang auf, schleuderte die Zeitung zu Boden. Ich muss zu dem Kind, dachte sie. Ich muss die Verantwortung, die Frank nicht tragen will, auf mich nehmen. Wir müssen für das Mädchen sorgen. Die besten Ärzte sollen sich um Heidi Holsten kümmern. Das ist das wenigste, das wir tun können. Ich darf nicht egoistisch sein und über meinen eigenen Kindern die anderen vergessen, die nicht in der Geborgenheit aufwachsen, die Erika und Bernd bei uns haben. Ist es nicht gleichgültig, wer sühnt? Frank oder ich? Wie oft schon mussten andere Menschen die Fehler gutmachen, die ich begangen habe. Sie wissen nicht, ob eine Frau oder ein Mann am Steuer saß. Ich glaube, das ist ein Wink des Himmels, der mir den Weg zeigt.
Barbara fuhr mit dem Zug nach Maibach. Sie nahm im Bahnhofshotel ein Zimmer, bestellte durch den Portier ein Taxi und ließ sich zum Krankenhaus fahren. Es war genau sechs Uhr und dreißig Minuten. Fünfundzwanzigeinhalb Stunden nach dem Unglück.
Barbara bat die Aufnahmeschwester um ein Gespräch mit dem Arzt, der Heidi Holsten behandelte. Professor Guthoff starrte sie wenig später an, als sähe er ein Gespenst, als sie sagte: »Ich habe gestern das Mädchen überfahren. Besteht Hoffnung?«
»Sie?«
Diese Frau sollte es fertiggebracht haben, ein verletztes Kind liegenzulassen? Der Professor konnte es nicht begreifen. Mitleid mit der Frau erfasste ihn, wich aber sofort einer rasenden Wut. Er sprang auf und schrie Barbara an: »Haben Sie gewusst, dass sich jemand um Heidi kümmern würde? Oder hätten Sie das Kind verbluten lassen? Das Kind hat schwere innere Verletzungen. Wir müssen es operieren. Dazu zwei offene Knochenbrüche, eine Gehirnerschütterung, gottlob kein Schädelbruch, wie wir zuerst befürchtet haben. Und Sie fahren weiter und melden sich erst einen vollen Tag später!, haben Sie denn kein Gewissen?«
»Ich habe eines. Sonst wäre ich nicht hier. Ich werde mich der Polizei stellen.«
»Tun Sie das! Und zwar schleunigst, rate ich Ihnen. Der Empfang wird unerfreulich sein. Vorher aber sprechen Sie mit Frau von Schoenecker, die Heidi Mutter und Vater ersetzt.«
»Also ist auch der Vater tot? Es stand nicht in der Zeitung.«
»Er ist mit seinem Wagen verunglückt, nachdem er seine Frau erschossen hatte.« Der Professor klingelte nach der Schwester und bat sie, Frau von Schoenecker zu ihm ins Büro zu bringen.
Denise kam und mit ihr Andrea von Lehn. Als Barbara den gewölbten Leib der jungen Frau sah, zuckte sie zusammen. Und als ihr Blick von Andreas Blick festgehalten wurde, wankte sie. Hass sprach aus den Augen der jungen Frau.
Denise von Schoenecker stand steif vor Barbara. »Sie also haben unsere Heidi überfahren und sind geflüchtet.«
Barbara nickte.
»Sie wollen sich selbst der Polizei stellen, wie mir Herr Professor Guthoff sagte?«
Barbara nickte abermals stumm mit dem Kopf.
»Reichlich spät kommt das, meine Dame«, mischte sich Andrea ein. »Wie heißen Sie eigentlich?«
Barbara nannte ihren Namen.
»So, die Frau eines Rechtsanwaltes sind Sie? Hat er Sie vielleicht nach langem Überreden dazu gebracht, sich zu Ihrer Tat zu bekennen? Das ist Ihr Glück, denn wir hätten Sie gefunden. Meine Mutter und ich hätten keine Ruhe gegeben, bis wir Sie aufgestöbert hätten. Wir lieben Heidi! Sie ist ein liebes Kind, und viele weinen um sie. Die Sophienluster Kinder, Schwester Regine, Frau Dr. Frey. Mein Gott, wir alle wollen …«
Denise von Schoenecker hatte Barbara inzwischen unauffällig beobachtet. Sie wusste, das war keine leichtfertige Frau. Das Leid hatte Spuren in dem schönen Gesicht hinterlassen. Sie musste im Schock so unverständlich gehandelt haben.
»Ich habe Ihnen im Krankenhaus gesagt, dass wir Ihnen die Sorge um Ihre Kinder abnehmen können, Frau Durand«, erklärte Denise. »Ich habe es ernst gemeint. Ausnahmsweise nehmen wir auch Kinder auf, deren Eltern verhindert sind, sich um sie zu kümmern. Denken Sie daran, wenn es Ihnen nun schwerfallen sollte, das zu tun, was sein muss.«
»Danke, Frau von Schoenecker!« Das war alles, was Barbara sagen konnte. Die Kehle war ihr eng. Blitzartig zuckte ein Bild an ihr vorbei. Franks über das Steuerrad gebeugter dunkler Kopf, die zuckende Schläfenader, sein Knurren, sein Stoß. Wie unbegreiflich fremd war er ihr in diesem Moment geworden. Frank, sonst so großmütig und ehrlich, hatte die Miene eines Verbrechers gehabt. Er hatte brutal und rücksichtslos ausgesehen. Aber dann, am Abend, im Flur, hatte er geweint.
Barbara straffte ihren Rücken, erwiderte den Händedruck. »Danke, dass Sie mich begleitet haben. Nun finde ich meinen Weg allein, Frau von Schoenecker.«
Die schwere Tür schloss sich hinter ihr.
Erst Stunden später trat Barbara wieder in den dämmernden Abend hinaus. Das Verhör war eine Pein gewesen. Der Inspektor hatte seine Verachtung deutlich zu erkennen gegeben, aber sie hatte es ihm nicht übelgenommen. Wie hatte sie selbst denn bisher über Fahrerflucht geurteilt? Sie hatte das Protokoll unterschrieben und damit endgültig die Tat ihres Mannes auf sich genommen. Nun musste sie in Frankfurt zur Verfügung der Staatsanwaltschaft bleiben. Der Inspektor hatte ungerührt zu ihr gesagt, dass sie selbstverständlich mit einer angemessenen Freiheitsstrafe zu rechnen habe. »Da Ihr Gatte Jurist ist, kann er Ihre Verteidigung übernehmen!«
»Es würde ihm schwerfallen, Worte der Entschuldigung für mich zu finden«, hatte sie erwidert und damit das ausgesprochen, was sie selbst über ihn dachte.
Nun stand Barbara auf der Straße. Eine Gebrandmarkte! Sie sah auf der gegenüberliegenden Seite ein Blitzlicht aufflammen. Wie die Blitze gestern! dachte sie. Doch jetzt war sie von einem Reporter fotografiert worden. Morgen würde ihr Bild in den Zeitungen veröffentlicht werden. Man würde sie meiden, verachten, vielleicht auch ihre Kinder spüren lassen, dass ihre Mutter eine Verbrecherin war.
Panik ergriff Barbara. Sie rannte los, die Straße hinab, irrte durch die Stadt, fand endlich den Bahnhof und das Hotel. In ihrem Zimmer warf sie sich auf das Bett und grub das Gesicht in die Kissen. So lag sie, bis das Telefon schrillte. Der Portier meldete ihr, dass eine Frau Dr. Frey aus Wildmoos sie zu sprechen wünsche.
»In fünf Minuten komme ich hinab in die Halle. Bitte, verbinden Sie mich sofort mit Frankfurt.«
Barbara nannte noch ihre Nummer und teilte Frank kurz darauf in dürren Worten mit, was inzwischen geschehen war. »Erspare mir deine Vorwürfe, Frank«, sagte sie abschließend. »Sie hätten uns doch aufgespürt. Das Kind war in Begleitung. Es wurde ein Teil der Wagennummer notiert.«
»Das habe ich bereits in der Zeitung gelesen.«
»Die du mir heute morgen unterschlagen hast«, gab sie herb zurück. »Nun ist alles entschieden. Ich bleibe diese Nacht noch hier in Maibach und werde morgen versuchen, das Kind zu sehen. Erfinde Erika und Bernd gegenüber eine Ausrede.«
»Das wäre töricht. Sie erfahren es doch durch andere Kinder. Leider! Ich hatte dich gewarnt.«
»Das müssen wir verhindern!«, rief Barbara erregt.
»Wie? Soll ich Ihnen sagen, du hättest dich für Monate auf eine Safari begeben?«
»Spottest du, Frank?«
»Nein! Ich bin nur außer mir.«
»Behalte jetzt die Nerven. Ich werde mit der Leiterin des Kinderheimes Sophienlust sprechen. Sie hat mir ihre Hilfe angeboten.«
»Du wirst die Kinder doch nicht ausgerechnet dorthin geben wollen, wo die Kleine …?« Frank begann zu stottern. Barbara merkte daran, wie erregt er war. Es kam selten vor, dass er nicht die richtigen Worte fand. Flüchtiges Mitleid streifte sie und die Ahnung, dass sie den leichteren Weg gewählt hatte. Für fremde Sünden zu büßen war nicht leicht. Ungleich schwerer aber war es, andere für sich selbst sühnen zu lassen.
»Barbara, vielleicht wäre es noch nicht zu spät«, erklang Franks Stimme nun aus dem Telefon.
»Es ist zu spät«, erwiderte sie hart. »Vermeide jede Aussage vor der Polizei, bis ich dich darüber instruiert habe, was ich zu Protokoll gegeben habe. Gute Nacht!« Es klang wie Hohn.
Frank Durand zuckte zusammen. Er legte den Hörer langsam auf und sagte zu den Kindern, die ihn fragend anschauten: »Eure Mutter hatte heute in Maibach zu tun. Sie wird morgen erst heimkommen.«
»Bringst du uns zu Bett, Vati?«
Er nickte.
»Singst du uns das Lied vom zertretenen Veilchen, Vati? Deine Stimme ist nicht so schön wie die von Mutti, aber besser als gar nichts«, äußerte Bernd.
Frank bemühte sich um ein Lächeln. Doch es misslang. Er ließ die beiden stehen und schloss sich in seinem Arbeitszimmer ein.
Die Kinder fühlten sich verlassen. Sie empfanden Angst und begannen zu weinen. Hanni tröstete sie.
*
Barbara empfand die Anwesenheit der jungen Ärztin als Trost. Kein Wort des Vorwurfes, kein verächtlicher Blick traf sie.
»Frau von Schoenecker hat mich gebeten, Sie aufzusuchen«, sagte Dr. Anja Frey. »Ich darf Sie bezüglich Heidis Zustand beruhigen. Morgen wird Heidi operiert. Wir haben Hoffnung, dass die Kleine auch diesen Eingriff überleben wird.«
»Und später?«
Anja Frey verstand die Frage. »Die Brüche sind kompliziert. Ob Heidi je wieder das graziöse, muntere Mädchen sein wird, das sie vorher war, wissen wir nicht.«
»Es soll alles für Heidi getan werden, Frau Doktor!«, rief Barbara leidenschaftlich. »Ich selbst bin wohlhabend. Das Kind soll die besten Ärzte, die beste Pflege haben. Selbstverständlich werde ich für das Kind auch später sorgen. Ich werde es zu uns nehmen und es wie ein eigenes Kind halten.«
»Sie haben doch Frau von Schoenecker kennengelernt?«, Barbara nickte.
»Könnten Sie sich vorstellen, dass Heidi es in einer anderen Umgebung besser haben könnte als bei ihr?«
»Sie kann sich nicht persönlich um jedes Kind kümmern.«
»Sie kann es, denn sie hat ein großmütiges, weites Herz und unerhört viel Liebeskraft. Sie ist selbst vom Leben geprüft worden, aber heute eine glückliche Frau. Dieses Glück teilt sie mit den verlassenen Kindern.«
»Wie kam sie zu dem Heim?«
Anja Frey erzählte von der unerwünschten Eheschließung des Dietmar von Wellentin mit Denise Montand, einer ehemaligen Tänzerin und von dem Unfall, der ihn von der Seite seiner jungen Frau riss. »Sie musste damals ihren Sohn Dominik in ein Kinderheim geben, um für ihn und sich das tägliche Brot zu verdienen. Aber Sophie von Wellentin, Dominiks Urgroßmutter, hinterließ dem Urenkel einige Jahre später das Gut Sophienlust, nachdem sie Denise kennengelernt und eingesehen hatte, dass sie ihr unrecht getan hatte. Denise hat später den Besitzer von Schoeneich, Alexander von Schoenecker, geheiratet und ist seinen beiden Kindern Andrea und Sascha seitdem die liebevollste Mutter. Sie hat auch von ihrem zweiten Mann einen Sohn, den kleinen Henrik.«
»Ich habe Frau von Lehn kennengelernt.«
Ein leichtes Lächeln umspielte die Lippen der Ärztin. »Sie hat es Ihnen bestimmt nicht leicht gemacht. Sie hat viel Temperament und liebt Kinder und Tiere über alles.«
»Ich habe es ihr nicht übelgenommen. Früher habe ich genauso geurteilt wie sie.« Barbaras Blick schweifte ab. »Was in einem Menschen in einem so fürchterlichen Augenblick vorgeht, kann nur der verstehen, der ihn selbst erlebt hat. Es ist, als säße man neben sich und staune über den Fremden, der so unglaublich anders reagiert, als man von sich selbst geglaubt hatte.«
»Ich bemühte mich um Verständnis«, wich Anja Frey aus.
»Vielen Dank! Sagen Sie auch Frau von Schoenecker, wie sehr ich mich ihr für ihr Mitleid verpflichtet fühle.«
»Das wäre das Letzte, das sie wünschte. Sie will nur Ihnen und Ihren Kindern helfen. Einer ihrer Wahlsprüche lautet, dass einem jeden das geschehen kann, was dem einen geschieht. Deshalb verurteilt sie keinen Menschen, der unter seiner Tat leidet. Kommen Sie also morgen früh nach Sophienlust?«
»Ja!«, bestätigte Barbara. »Aber für die Unterbringung meiner Kinder brauche ich das Einverständnis meines Mannes.«
»Ich habe mit Frau von Schoenecker und Andrea lange über Sie gesprochen. Dass Sie eine Gefängnisstrafe bekommen, liegt wohl fest. Dann ist es für Ihre Kleinen besser, sie sind während dieser Zeit in einer neutralen Umgebung, wo keiner sie gegen die Mutter aufhetzen kann.«
»Aber gerade in diesem Heim?«, murmelte Barbara. »Wenn die anderen Insassen nun erfahren, wer die Mutter der Kinder ist?«
»Frau von Schoenecker wird es zu verhindern wissen.«
»Es könnte doch trotzdem bekannt werden. Ein Mädchen, das der Inspektor Pünktchen nannte, besucht schon das Gymnasium. Es weiß von dem Unfall.«
»Das Mädchen wird schweigen, wenn Frau von Schoenecker es darum bittet, Frau Durand. Machen Sie sich darüber keine Gedanken.«
Sie verabredeten, dass Anja Frey am nächsten Morgen um acht Uhr mit ihrem Wagen vorbeikommen würde. Sie habe sowieso in Sophienlust zu tun und werde Barbara mitnehmen. »Eine gute Nacht kann ich Ihnen nicht wünschen«, sagte die Ärztin beim Abschied. »Nur ein festes Herz, Frau Durand.«
Sie ist taktvoller als ich, dachte Barbara, während sie dem Auto nachschaute. Ich habe Frank eine »gute Nacht«, gewünscht und weiß doch, dass er kein Auge zutun wird. Er ist ein Versager, aber kein leichtfertiger Mensch.
*
Barbara fuhr nach einer schlaflosen Nacht mit der Ärztin nach Sophienlust. Es war ein wolkenloser Sommertag. Sie fuhren an Koppeln vorbei, auf denen Ponys galoppierten. Sie tauchten ein in den Dom hoher Bäume, die das Herrenhaus umstanden. Blumen leuchteten in den herrlichsten Farben. Vom Spielplatz drang fröhliches Kindergeschrei herüber. Ein sommersprossiges Mädchen äugte um die Hausecke und verschwand wieder.
»Das war Pünktchen«, sagte Anja Frey so nebenbei und brachte den Wagen zum Stehen.
Die beiden Frauen stiegen aus. Barbara Durand holte tief Atem. Das also war das Heim, in dem Heidi Holsten eine neue Heimat gefunden hatte. Hier hatte sich das Kind wohl gefühlt und hierher würde es zurückkehren, wenn Gott es am Leben erhalten würde.
In diesem Moment war Barbara entschlossen, Frank zu bitten, Erika und Bernd hierherzugeben für die Zeit ihrer Haft. Sie fühlte, dass ihre geliebten Kinder sie hier weniger vermissen würden als daheim, wo die Erinnerung an sie ständig lebendig sein würde. Und sie hoffte, dass Heidi die Spielkameradin ihrer Kinder sein würde.
Hinter Denise von Schoenecker trat jetzt Andrea von Lehn aus dem Haus. Sie schaute Barbara ernst an, reichte ihr die Hand und sagte: »Entschuldigen Sie, dass ich gestern so ausfällig wurde. Meine Mutter hat mir den Kopf gründlich gewaschen.«
»Ich hätte früher genauso geurteilt wie Sie, Frau von Lehn«, gab Barbara zurück.
Die beiden jungen Frauen schauten sich lange nachdenklich an. Es gab kaum größere Gegensätze als sie. Barbara war blond und hochgewachsen. Andrea von Lehn braunhaarig, zierlich und trotz ihrer Schwangerschaft erstaunlich behend.
Denise Schoenecker schob ihre Hand unter den Arm von Anja Frey. »Ich glaube, wir haben einiges zu besprechen. Andrea, würdest du bitte Frau Durand inzwischen das Heim zeigen?«
»Gern! Könnten wir nicht auch zu unserem Sanatorium fahren?«
»Sanatorium?«
Andrea lachte. »So nenne ich manchmal unser Tierheim, Frau Durand. Es ist bevölkert von alten und jungen Eseln und Bären, Schimpansen, Hasen, Füchsen …«
»Hör mit der Aufzählung auf!«, meinte Denise lachend. »Zeige Frau Durand einfach alles. In einer Stunde erwarte ich euch zum Frühstück.«
Barbara saß stumm neben Andrea von Lehn, als sie zum Tierheim Waldi Co. fuhren. Und schweigend ging sie neben ihr von Box zu Box, zum Freigehege. »Das sind die Kaninchen, die Heidi gehören«, sagte Andrea leise. »Sie heißen Schneeweißchen und Rosenrot.«
Barbara bückte sich, nahm die Tierchen auf den Arm. Sie hielten still.
»Sie sind es gewohnt, herumgetragen zu werden. Heidi liebt sie sehr und besucht sie fast jeden Tag«, berichtete Andrea.
»Der Inspektor sagte mir, sie sei wegen eines Kätzchens über die Straße gerannt.«
»Ja«, bestätigte Andrea. »Als Pünktchen uns das erzählte, sind mein Mann und ich noch gestern Abend zu der Unfallstelle gefahren. Wir haben das Kätzchen gefunden. In einem üblen Zustand! Es muss unter ein Auto gekommen sein. Heidi hat wohl das jämmerliche Miauen gehört.« »Wo ist es?«
»In unserer Praxis. Mein Mann hat es verarztet. Wenn es gesund wird, darf Heidi es behalten.«
»Wenn sie selbst gesund wird«, flüsterte Barbara und begann am ganzen Körper zu zittern.
Der Anblick der blonden schönen Frau mit den Veilchenaugen, die die beiden Kaninchen auf den Armen hielt, spülte den letzten Groll in Andrea hinweg. Sie sah, dass Barbara litt, und ihr Gewissen regte sich. War sie nicht selbst eine allzu forsche Fahrerin? Konnte ihr nicht auch ein solches Unglück zustoßen wie dieser Frau? Nur eines wusste sie: Nie und nimmer würde sie sich hinter das Steuer setzen, wenn sie auch nur einen Tropfen Alkohol getrunken hatte. Aber – die Durands waren von einer Hochzeit gekommen. Da wurde nun einmal getrunken. Sie hätten den Zug nehmen müssen. So hätten verantwortungsbewusste Menschen jedenfalls gehandelt.
Aber durfte sie dieser Frau allein die Schuld aufladen? War nicht auch ihr Mann bei ihr gewesen? Andrea fragte: »Warum sind Sie gefahren, Frau Durand? Die meisten Ehemänner lassen sich doch nicht gern von ihren Frauen kutschieren.«
»Mein Mann hatte mehr getrunken als ich. Er ist sehr gewissenhaft, Frau von Lehn.«
»Warum hat er sie nicht gezwungen, anzuhalten und sich um das verletzte Kind zu kümmern?«
»Er hat es probiert. Er ist auf die Bremse getreten, aber ich habe ihn weggestoßen. Ich war außer mir. Er wollte in das Steuerrad greifen, aber ich ließ es nicht zu. Ich bog in den Feldweg ein und raste weiter. Als es goss, war mein einziger Gedanke: die Spur wird verwischt! Ich war darüber ungeheuer erleichtert. An das Kind habe ich überhaupt nicht gedacht. Als er mir drohte, sich an meiner Stelle als Fahrer zu melden, habe ich es ihm verboten. Er muss doch an seine Karriere denken. Wir haben Kinder! Sie dürfen nicht die Achtung vor dem Vater verlieren. Eine Mutter ist wichtig, aber ein Vater ist der Ernährer der Familie, Frau von Lehn. Sie selbst werden bald Mutter sein. Dann erst werden Sie verstehen, dass eine Mutter dazu verführt werden kann, die Rechte des eigenen Blutes höher zu schätzen als die Rechte von fremden Kindern. Mütter werden anderen gegenüber blind.«
*
»Ich nicht! Davon bin ich überzeugt«, gab Andrea gelassen zurück. Barbaras Worte hatten sie in heimliche Wut versetzt. Und doch spürte sie in ihrem Herzen ein Unbehagen. Sie wusste, diese Worte passten nicht zu der Frau, die soeben die Kaninchen sehr sorgsam auf die Erde gesetzt hatte, um ihnen nicht weh zu tun. Diese Frau war keine Familienegoistin. Und doch hatte sie wie eine solche gehandelt!
Barbara fühlte, dass sie in Versuchung war, sich zu verraten. Die ungeheure Erregung ließ sie Dinge aussprechen, die nicht gesagt werden durften. Der aufmerksame Blick Andrea von Lehns stürzte sie in eine noch größere Verwirrung. Am liebsten wäre sie weggelaufen, irgendwohin. Nur allein sein wollte sie, keinem Menschen in die Augen sehen.
Andrea legte ihren Arm um Barbaras Hüfte und sagte nachdenklich: »Denken Sie immer daran, dass ein Mensch, der durch eine Schuld ging, sie tief bereute und dafür einstand, hinterher reiner sein kann als ein Mensch, der niemals in Ihre schreckliche Lage kam. Und nun wollen wir zu meiner Mutter zurückkehren. Sie und Frau Dr. Frey werden schon auf uns warten.«
Als Barbara sich später von Frau von Schoenecker verabschiedete, versprach sie, noch diesen Abend wegen ihrer Kinder telefonisch Bescheid zu geben. Sie wollte nach ihrer Rückkehr sofort mit ihrem Mann sprechen.
»Erika und Bernd könnten sich nirgends wohler fühlen als hier bei Ihnen«, meinte sie abschließend. »Ich danke Ihnen für Ihr Verständnis.«
Barbara fuhr nach Frankfurt zurück. Einen Besuch bei Heidi hatte der Professor ihr verweigert. Das Kind durfte nicht aufgeregt werden. »Wir haben alles getan, was in unserer Macht stand«, hatte er erklärt. »Unsere Hoffnung ist, dass Heidi gesund werden Will um der geliebten Tante Isi willen. Die Liebe ist eine ungeheure Kraft. Im Guten wie im Bösen.«
Barbara schloss zu Hause ihre Kinder in die Arme, verständigte sich durch einen bedeutsamen Blick mit Frank. Sie wusste nicht, welche Ausrede er den Kleinen gegenüber gebraucht hatte. Er tat harmlos, half ihr, indem er fragte: »Hast du in Maibach gefunden, was du suchtest, Barbara?«
»Was ist es?«, riefen die Kinder im Chor.
»Das werdet ihr zu Weihnachten erfahren, ihr neugierigen Knirpse!«
Und dann nahm Barbara all ihren Mut zusammen und stellte Frank einfach vor die vollendete Tatsache. »Hört mir gut zu, meine Lieblinge«, rief sie. »Ihr wisst, dass ich mein Studium unterbrochen habe, als ich euren Vati heiratete. Das will ich nun nachholen. Denn so bald ihr in der Schule seid, habe ich daheim nicht mehr genug zu tun. Unsere tüchtige Hanni nimmt mir ja die Hausarbeit ab. So werde ich mein Examen als Juristin nachholen und muss noch sehr viel studieren. Und zwar in Heidelberg. Während dieser Zeit werdet ihr in ein wundervolles Kinderheim gehen, in dem es viele Tiere und fröhliche Kinder gibt.« Danach schilderte sie Sophienlust in den glänzendsten Farben.
»Was hat das aber mit Weihnachten zu tun, Mutti?«, fragte der sachlich denkende Bernd. »Zu Weihnachten gibt es doch überall Ferien.«
Aber nicht im Gefängnis, dachte Barbara. Ihr wurde übel vor Schmerz. »Daran habe ich nicht gedacht, Bernd«, erwiderte sie. »Aber nun wollen wir essen. Heute Abend erzähle ich euch mehr davon.«
»Vati bringt uns wieder zu Bett. Das hat er versprochen. Denk’ dir, Mutti, er hat uns das Lied vom armen Veilchen gestern Abend vorgesungen. Es hat gar nicht so schlecht geklungen. Wir haben richtig herausgehört, dass das Veilchen weinte, weil es zertreten wurde.«
Er wird geweint haben vor Scham und wegen seines schlechten Gewissens, dachte Barbara und wich einer Antwort aus. Sie schob die beiden Kinder in das Badezimmer und überwachte die gründliche Reinigung.
Dann aßen sie. Die Kinder plauderten, sodass ihnen nicht auffiel, dass die Eltern schweigsamer waren als sonst. Das Kinderheim Sophienlust und die Tiere, von denen die Mutter erzählt hatte, beschäftigten ihre kindliche Phantasie.
Am folgenden Morgen meldete Hanni Barbara den Besuch von Rechtsanwalt Dr. Thomas Calder aus Stuttgart. Frank war zu diesem Zeitpunkt schon in sein Büro gegangen.
»Wie nett, dass du kommst, Tom«, begrüßte Barbara den Jugendfreund. »Ich werde Frank anrufen und ihn fragen, ob er eine Stunde Zeit für dich hat.«
»Ich bin deinetwegen gekommen, Barb.« Tom benutzte den Kosenamen, den ihre Eltern gebraucht hatten. Frank ärgerte sich stets darüber und empfand das als Anmaßung. Sie aber kannte Thomas seit der gemeinsamen Schulzeit am Gymnasium. Er hatte ihr stets geholfen, wenn sie in Schwierigkeiten gesteckt hatte.
»Du hast die Abendzeitungen gelesen?«
Er nickte. Hanni servierte dem frühen Besucher noch eine Tasse Kaffee. Dann verschwand sie in der Küche und beschäftigte die Kinder, die Thomas Calder nur kurz begrüßt hatten.
»Ich werde dich als Anwalt vertreten, Barb. Du musst mir also sagen, wie sich alles zugetragen hat.«
»Du vergisst, dass mein Mann selbst Jurist ist, Tom.«
»So wie ein Chirurg nicht seine Familie operiert, wird Frank auch deine Verteidigung nicht übernehmen. Es wäre geschmacklos.«
»Er hat auch nie daran gedacht, Tom.«
»Für so töricht hätte ich ihn auch nicht gehalten. Nimmst du also mein Angebot an, Barb? Dass ich keine Honorarrechnung stelle, ist unter Kollegen wohl selbstverständlich.«
»Es wird Frank nicht recht sein.«
»Ich weiß, dass er eifersüchtig ist, Barb. Aber hat er dazu Grund?« Thomas Calder schlug die Beine übereinander und musterte die Jugendfreundin eindringlich.
»Nein!«
Barbara wehrte sich instinktiv gegen den mitreißenden Charme des Besuchers. Die glänzenden, kastanienbraunen Haare mit den weichen Wellen fand sie allzu weiblich, die dunklen Augen zu weich im Ausdruck, die langen Hände mit den gepflegten Fingernägeln beinahe peinlich. Die Garderobe war zu elegant, Toms Allüren fand sie überheblich. So war es ihr schon immer ergangen. Eine innere Stimme hatte sie stets vor Thomas Calder gewarnt. Sie hatte sich in Franks Arme gestürzt und war froh gewesen, dass sie dem Jugendfreund damit entronnen war. Aber nun saß er vor ihr, bot ihr seine Hilfe an und sagte nicht ein einziges Wort des Vorwurfs. Seine samtbraunen Augen schauten sie voller Mitleid an, während sie den Vorgang so schilderte, wie sie ihn bei der Polizei in Maibach zu Protokoll gegeben hatte.
»Wie viele Gläser Sekt hast du zugegeben?«
»Drei.«
»Das war töricht, Barb. Du hättest gut wenigstens eines unterschlagen können.«
»Ich hatte doch auch ein Gläschen Likör getrunken.« »Hast du das etwa auch erzählt?« »Ich hatte es im Moment vergessen.« Schweigen.
»Frank hat gut seine fünf bis sechs Gläser getrunken und noch Wein dazu, Barb.«
»Darum ist er auch nicht selbst gefahren, Tom.«
»Erstaunlich!« Das klang sehr nachdrücklich. »Ich habe dich niemals am Steuer eures Wagens gesehen.«
»Wie solltest du auch? Du wohnst in Stuttgart, wir leben in Frankfurt, seitdem wir verheiratet sind.«
Thomas Calder spielte mit seinem Siegelring. »Ich jedenfalls hätte niemals zugelassen, dass du in diese Schwierigkeiten geraten wärst. Ich hätte mich selbst als Fahrer gemeldet. Frank hätte als Anwalt seine Verbindungen spielen lassen können. Vielleicht wäre die unangenehme Sache unter den Tisch gefegt worden.«
»Dazu ist Frank zu aufrichtig!« Barbara verteidigte ihren Mann, aber es blieb doch ein Stachel zurück. Sie glaubte Tom. Er hätte gelogen, einen Meineid geschworen, um sie zu retten. Und Frank? Er ließ zu, dass sie an seiner Stelle ins Gefängnis ging. Er war ein Feigling!
Als Frank auf ihren Anruf hin heraufkam und mit der Wahl ihres Rechtsbeistandes nicht einverstanden war, sagte sie hart: »Tom ist mein Jugendfreund! Keiner kann mich besser verteidigen als er. Denn niemand kennt mich gründlicher.«
»Ich kenne dich besser«, erwiderte Frank.
»Du kennst mich als Ehefrau, Frank. Tom aber als Mädchen. Ich habe mich bereits entschieden. Ich werde Thomas als Anwalt nehmen.«
Der Ton ihrer Stimme ließ keine Widerrede zu. Frank betrachtete Thomas Calder mit Abneigung. Er fühlte genau, dass dieser die Gunst der Situation für sich nutzen würde, um Barb doch noch zu erringen.
Am Abend bot er Barbara zum dritten Mal an, die Sache zu bereinigen. Doch sie lehnte wieder ab. »Zu spät Frank! Es ist für vieles zu spät!«
*
Ende Oktober wurde Barbara zu einem Jahr Gefängnis verurteilt. Sie hatte die Strafe sofort angetreten.
Barbara brachte die Kinder nach Sophienlust und übergab sie Frau von Schoenecker.
»Heidelberg ist nicht weit weg, Mutti. Kommst du uns übers Wochenende besuchen?«, fragte Bernd.
»Eure Mutti hat sehr viel zu arbeiten«, sagte Denise rasch, und Barbara war ihr dankbar dafür. Sie drückte ihr noch einmal die Hand, unterdrückte die Tränen, als sie die Kinder umarmte. »Seid brav und gehorsam. Vati wird euch sicher oft besuchen.«
»Er hat gesagt, er käme nicht. Du weißt ja, dass er nicht wollte, dass du uns hierherbringst, Mutti.«
Es hatte harte Kämpfe zwischen ihr und Frank gegeben. Die Kinder hatten einiges davon mitbekommen.
»Ihr seid hier besser aufgehoben. Hanni muss für euren Vater sorgen. Ihr werdet vielleicht gar nicht mehr heimkommen wollen, wenn ich mit meinem Studium fertig bin.«
»O Mutti, wie kannst du nur so etwas sagen!« Erika begann zu weinen und warf sich an Barbaras Brust. »Wie kannst du nur so herzlos sein und uns zu fremden Menschen schicken, nur weil du eine Frau Doktor werden willst?« Sie schmiegte ihr tränennasses Gesichtchen an Barbaras Hals. »Wir wollen keine Frau Doktor. Nicht wahr, Bernd? Wir wollen eine Mutti, die mit uns spielt.«
»Hier habt ihr viele Spielkameraden, Erika.« Denise von Schoenecker nahm das kleine Mädchen auf den Arm. »Wir haben hier ein Mädchen, das so alt ist wie du. Es muss auf Krücken gehen, denn es wurde von einem Auto überfahren und schwer verletzt. Du kannst dich um Heidi kümmern. Sie sieht dir so ähnlich, als wäre sie deine Schwester.« Nach einem Blick in Barbaras blass gewordenes Gesicht fügte Denise hinzu: »Heidi ist trotzdem sehr fröhlich und zu allen Streichen aufgelegt. Unsere Ärztin, Frau Dr. Frey, die ihr noch kennenlernen werdet, sorgt gut für sie. Zu Weihnachten kann Heidi vielleicht schön wieder so frei herumspringen wie ihr. Nun macht eurer Mutti den Abschied nicht zu schwer. Kommt, ihr dürft den Papagei Habakuk sehen, der euch begrüßen wird.«
Denise führte die Geschwister Durand in den Wintergarten, wo die anderen Kinder um den großen Käfig saßen. Wie angewurzelt blieben Erika und Bernd unter der Tür stehen, als der prächtige Vogel schnarrte: »Erika! Bernd! Willkommen! Willkommen!«
»Woher kennt er uns?«, fragte Erika erstaunt.
Denise lächelte Pünktchen, die dem Vogel die Namen eingelernt hatte, dankbar zu. Da sie es sich zur Gewohnheit gemacht hatte, Kinder niemals grundlos anzulügen, sagte sie, dass die freundliche Angelina Dommin, die von ihnen allen nur Pünktchen genannt werde, dem Papagei diese Begrüßungsansprache beigebracht habe. »Sie wollte euch damit erfreuen«, schloss sie.
»Das ist ihr auch wirklich gelungen, Tante Isi!«, jubelte Erika. Barbara, die das helle Stimmchen ihrer Tochter hörte, wandte sich zum Gehen. Sie wusste, sie hatte für ihre Kinder ein warmes Nest ausgesucht. Das ihrige würde weniger gut gepolstert sein.
Barbara fuhr nach Frankfurt zurück und nahm ihr Köfferchen. Franks Begleitung lehnte sie ab. Im Taxi fuhr sie zum Gefängnis. Kurz darauf schlössen sich die Tore hinter ihr.
*
An diesem Abend kam Andrea mit ihrem Mann Hans-Joachim nach Sophienlust.
»Ich muss mich über dich wundern, Mutti«, sagte Andrea in ihrer aufrichtigen Art. »Du hast uns immer gepredigt, dass man auch Kinder nicht anlügen darf. Was aber hast du den Geschwistern Durand von Studium und Doktorarbeit ihrer Mutter vorgeschwindelt?«
Hans-Joachim wechselte einen amüsierten Blick mit seiner Schwiegermutter. Doch Denises Miene blieb ernst. Sie wandte sich an Andrea. »Wahrheitsliebe kann auch zu Brutalität entarten. Diesen Kindern die ganze Wahrheit zu sagen, hätte eine zu schwere Last für sie bedeutet. Frau Durand wird wirklich im Gefängnis studieren und dort ihre Doktorarbeit schreiben.« Sie seufzte. »Niemand hier kennt den Familiennamen Durand. Die Zeitungen haben damals nur den Anfangsbuchstaben abgedruckt. Die Kinder sind arglos und werden keine Schwierigkeiten machen. Nur bei Pünktchen bin ich nicht ganz sicher. Ihr wisst, wie sehr sie an Heidi hängt. Ich habe das Gefühl, sie ahnt, wer Erika und Bernd sind.«
»Soll ich mit ihr sprechen, Mutti?«, bot Andrea sofort an.
»Ich will es selbst übernehmen. Wenn ich sie bitte, Schweigen zu bewahren, wird sie es tun.«
»Pünktchen wird beim besten Willen nicht verhindern können, dass ihre Gedanken ihr Verhalten gegenüber den Durandschen Kindern beeinflussen«, warf der junge Tierarzt ein.
»Sie hat Habakuk die Begrüßung der Kinder beigebracht, Hans-Joachim«, gab Denise zu bedenken. »Hätte sie das getan, wenn sie den unschuldigen Kindern gegenüber Abneigung fühlte?«
»Dann wollen wir hoffen, dass Erika und Bernd bei uns eine unbeschwerte Zeit verleben dürfen. Riskant war die Aufnahme, Mutti.«
Denise nickte. »Das wusste auch Frau Durand. In Frankfurt hätten ihre Kinder auf jeden Fall die Wahrheit erfahren. Sie wohnen dort in einem großen Appartementhaus. Ein anderes Kinderheim wäre vielleicht gefahrloser gewesen/aber auch dort wäre es möglich gewesen, dass man über sie und ihre Gefängnisstrafe gesprochen hätte. Frau Durand hat Vertrauen zu uns. Wir dürfen sie nicht enttäuschen. Ich glaube, sie wollte auch, dass ihre Kinder Heidi kennenlernen und ihr helfen.«
»Diese Frau steckt voller Widersprüche, Mutti. Wenn ich sie vor mir sehe, mit Heidis Kaninchen im Arm, dann kommt mir das, was sie getan hat, einfach unglaublich vor.«
»Diesen Gedanken hatte ich, als ich das Plädoyer ihres Anwaltes Dr. Calder las. Trotz ihres Geständnisses scheint er nicht an ihre Schuld zu glauben«, schaltete sich Hans-Joachim von Lehn wieder in das Gespräch ein.
»Es gibt Lügen aus Barmherzigkeit und solche aus Liebe«, murmelte Denise von Schoenecker. Als sie Andreas erstaunten Blick sah, erhob sie sich hastig und erklärte: »Ich will den Kindern noch den Gute-Nacht-Kuss geben, auf den sie warten. Du solltest früh zu Bett gehen, Andrea. In deinem Zustand hat eine Frau Schlaf besonders nötig.«
Andrea und Hans-Joachim von Lehn verabschiedeten sich. Denise aber ging leise von Zimmer zu Zimmer. Sie küsste die Haarschöpfe, sprach hier ein Wort des Trostes, dort eines des sanften Tadels. Als sie das Zimmer betrat, in dem Erika und Bernd gemeinsam schliefen, zuckte sie zusammen. Schluchzen drang an ihr Ohr.
Denise setzte sich an Erikas Bettchen. »Warum weinst du? Hast du Sehnsucht nach deinen Eltern?«
Die Kleine grub das Gesichtchen noch tiefer in das Kissen. »Pünktchen mag mich nicht leiden, Tante Isi.«
»Dabei ist sie riesig nett zu uns, Tante Isi«, schimpfte Bernd. »Erika ist eine richtige Heulsuse.«
Sie hat ein feineres Empfinden als du, dachte Denise und tröstete liebevoll das unglückliche Kind. Dann, als die Geschwister Durand endlich schliefen, ging sie in Pünktchens Zimmer.
Das Mädchen lag lesend im Bett. Das lange rotblonde Haar flutete über das Kissen. Die schönen blauen Augen in dem sommersprossigen Gesicht blickten Denise zurückhaltend an.
»Ich muss mit dir reden, Pünktchen.«
»Wegen der neuen Kinder, Tante Isi?«
»Ja.« Denise setzte sich auf den Bettrand.
»Ich habe mir nicht anmerken lassen, dass ich weiß, wer ihre Mutter ist.«
»Du weißt es also?«
Pünktchen zog die Stupsnase kraus. »Ich habe Frau Durand bei ihrem ersten Besuch gesehen. Und später habe ich sie dann aufgrund des Zeitungsfotos erkannt.« Pünktchen hatte sich bis jetzt um Gelassenheit bemüht. Doch nun brach ihr Temperament durch.
»Warum hast du diese Kinder aufgenommen, Tante Isi? Wenn ich an Heidi denke, bricht mir beinahe das Herz. Erika und Bernd laufen und springen fröhlich herum, aber Heidi muss sich mit Krücken quälen. Ich weiß ja, dass die Kinder nichts für das können, was ihre Mutter getan hat, aber ich hasse sie, ich hasse sie!« Das hatte Pünktchen leidenschaftlich herausgesprudelt.
»Aber du wirst dir Mühe geben, dir diesen Hass nicht anmerken zu lassen«, stellte Denise von Schoenecker ruhig fest.
Pünktchen nickte. »Es wäre wirklich unrecht.«
»Ja, das wäre es, Pünktchen. Vergiss auch nicht, dass andere Menschen es fühlen, wie wir über sie denken. Erika jedenfalls hat deine Abneigung bereits gespürt. Sie hat bitterlich geweint.«
»Das tut mir leid, Tante Isi. Ich will mich mehr zusammennehmen.«
»Weiche den Kindern aus, solange du diese Wut in dir noch nicht überwunden hast. Frau Durand hat sich freiwillig gestellt und wird ihre Gefängnisstrafe absitzen.«
Pünktchen war im Bett hochgefahren, mit blitzenden Augen. Doch Denise drückte sie sanft in die Kissen zurück. »Ich weiß, was du sagen willst«, meinte sie. »Sie habe sich reichlich spät zu ihrer Tat bekannt! So ist es auch. Aber wir haben kein Recht, einen Menschen zu verurteilen, der in eine Lage geraten ist, die wir selbst nicht nachfühlen können. Wir müssen Ursachen und Motive zu verstehen suchen, Pünktchen. Frau Durand leidet. Sie hat Anspruch auf unsere Gerechtigkeit und unser Erbarmen. Sie wird für ihre Schuld sühnen und später wieder frei von Schuld sein. Das wollte ich dir sagen, denn ich weiß, dass du ein großmütiges und vernünftiges Mädchen bist, Pünktchen.«
Denise drückte Pünktchen einen Kuss auf die Stubsnase und verabschiedete sich mit den Worten: »Ich verlasse mich also auf dich, Pünktchen.«
»Du kannst beruhigt sein, Tante Isi. Ich werde Erika und Bernd ausweichen, bis ich ganz genau fühle, dass ich sie ehrlich liebhaben kann.«
Die junge Angelina Dommin gab dieses Versprechen mit dem reinsten Gewissen. Doch sie überschätzte ihre Kraft.
*
Barbara Durand lag in ihrer Zelle auf dem Lager und betete um Kraft. Thomas Calder hatte sie eben besucht und beim Abschied gesagt: »Du musst immer daran denken, dass du nicht eine gewöhnliche Verbrecherin bist, wie die anderen Frauen, die mit dir einsitzen. Du bist schuldlos schuldig geworden, wie man so sagt. Behalte den Kopf oben, lass dich nicht von Schuldgefühlen niederdrücken. Dann wirst du diese Zeit gut überstehen. Außerdem wirst du bei deinem Studium deine Umgebung vergessen.«
Frank, wie konntest du zulassen, dass sie mich für das, was du getan hast, einsperren?, begehrte sie innerlich auf. Doch dann kam die Einsicht, dass sie selbst ihn daran gehindert hatte, sich zu stellen. Dazu ist es nun zu spät, hatte sie immer wieder zu ihm gesagt und ihm damit den Mund geschlossen. Erst hier im Dunkel der Nacht kam ihr zum ersten Mal der schreckliche Gedanke, dass sie ihn damit hatte demütigen wollen.
Panik ergriff Barbara. Sie sprang vom Bett auf, hämmerte an die Tür, verlor völlig die Nerven, schrie: »Ich will heraus! Ich bin unschuldig!«
Die Wärterin schob den Riegel zurück, das Licht flammte auf. Streng sah sie die Gefangene an und erklärte: »Das sagen alle, Frau Durand. So bald Sie jedoch einsehen werden, dass sie zu Recht hier Ihre Strafe verbüßen, wird es Ihnen leichterfallen, sich in Ihr Schicksal zu ergeben. Denken Sie an das Kind, das Sie überfuhren und hilflos liegenließen.«
Ich war es nicht!, wollte Barbara rufen, aber sie presste die Fäuste auf den Mund, um die Worte zurückzuhalten, die sich ihr auf die Zunge drängten. Ich muss schweigen, dachte sie, büßen für Frank! Ich selbst habe es ja so gewollt!
Sie neigte den Kopf, als die Wärterin milder sagte: »Ich weiß nicht, ob Sie gläubig sind. Ich selbst habe die Erfahrung gemacht, dass Beten um Kraft eine große Hilfe ist.«
Barbara sank in die Knie, legte den Kopf auf das Bett und weinte. Die Wärterin löschte das Licht und schloss hinter sich ab. Sie wusste, dass diese Gefangene nicht mehr aufbegehren würde. Die Tränen und das Gebet würden ihr helfen, sich in ihr Schicksal zu ergeben.
*
Die ständige Erinnerung an Barbaras Weigerung, dass er sich stelle, half Frank, die Tatsache zu ertragen, dass seine Frau unschuldig im Gefängnis saß, dass sie für ihn büßte. Die Hoffnung, dass Erika und Bernd im Sophienluster Kinderheim unbeschwert leben würden, half ihm zudem, die Sehnsucht nach ihnen zu unterdrücken. Er saß in einem Sessel, das aufgeschlagene Buch auf den Knien. Doch lesen konnte er nicht. Es fehlte ihm die nötige Konzentration. Ständig sah er Barbara vor sich, allein in der unwirtlichen Zelle. Was denkt sie?, fragte er sich. Weint sie? Schläft sie? Ein gutes Gewissen ist ein sanftes Ruhekissen, sagt ein Sprichwort. Etwas Wahres ist daran. Barbara hat es leichter als ich. Und schwerer zugleich!
Frank sprang auf, rannte im Zimmer auf und ab. Hanni steckte den Kopf herein. »Soll ich Ihnen nicht doch eine Tasse Tee bereiten?«, fragte sie. »Frau Durand hat es mir aufgetragen, Herr Doktor.«
»Danke, Hanni!« Er bemühte sich um Ruhe. Doch innerlich barst er beinahe. Er wollte allein gelassen werden, seine Ruhe haben. Als die Türklingel schrillte, rannte er in sein Schlafzimmer. Dann hörte er Thomas Calders Stimme: »Ist Herr Dr. Durand daheim, Hanni? Ich möchte ihn sprechen.«
Er hörte auch Hannis Antwort: »Warten Sie bitte im Wohnzimmer. Ich werde Herrn Doktor Bescheid geben, dass Sie hier sind.«
Frank wusste, er musste zu ihm, dem verhassten Nebenbuhler, hinaus. »Du bist in Frankfurt?«, begrüßte er den Jugendfreund seiner Frau zurückhaltend.
»Wie du siehst, Frank. Ich war beim Direktor der Anstalt, um für Barbara so viel Besuchstage wie möglich zu erreichen. Du hast doch nichts dagegen, dass ich mich um sie kümmere?«
»Nein! Du hast sie glänzend verteidigt.«
»Das Lob kommt recht widerwillig aus deinem Mund, mein Lieber. Hast du etwas zu trinken im Haus? Oder meidest du seit dem Unglück jeden Alkohol?«
»Warum sollte ich etwas gegen Alkohol haben?«
Thomas Calder hob leicht die Schultern, ein Lächeln um den Mund. Frank wusste nicht, ob es Spott oder nur gesellschaftliche Geschliffenheit ausdrückte. Während er die Bar öffnete und die Flaschen auf den Tisch stellte, erschrak er. Wusste Calder die Wahrheit?, überlegte er. Hatte Barbara sich ihm anvertraut?
»Wir sind beide Juristen, Frank. Die Verurteilung deiner Frau wird dir Schwierigkeiten bringen. Wenn ich dir dabei helfen kann, tue ich es gern. Wie du weißt, habe ich immer viel für Barb übrig gehabt. Wenn du nicht so forsch gewesen wärst, würde sie heute meine Frau sein. Sie war das einzige Mädchen, das mich hätte zum Traualtar schleppen können.«
»Barbara hat damals entschieden, Thomas. Sie liebte mich.«
»Warum sprichst du in der Vergangenheitsform, mein Lieber? Hegst du den Verdacht, dass sie dich nicht mehr liebt – oder hast du vor, sie abzuschieben? Sie ist nun eine unbequeme Frau geworden. Vor allem für einen Rechtsanwalt.«
»Hältst du mich für einen Schuft? Schließlich habe ich mit ihr im Auto gesessen.«
»Sie hat immer wieder betont, dass du sie zum Anhalten zwingen wollen, Frank. Ich habe mich oft gefragt, wieso du das eigentlich nicht geschafft hast. Ein Griff ins Steuerrad oder ein Tritt auf die Bremse hätte doch genügt.« Und mit einem süffisanten Lächeln fügte er hinzu: »Entschuldigung! Ich habe vergessen, dass du ja betrunken warst.«
Frank leerte sein Glas. Es zitterte in seiner Hand. Thomas sah es mit Genugtuung.
Frank Durand bot alle Kraft auf, um dieses Verhör zu bestehen. Dass es sich darum handelte, fühlte er. Thomas war nur gekommen, um ihn auszuhorchen. Wenn er die Wahrheit auch nicht wusste, so ahnte er sie doch. Warum aber hatte er während der Gerichtsverhandlung nichts von diesem Verdacht verlauten lassen? Was führte er im Schilde?
Thomas Calder hatte nicht vor, seine Karten offen auf den Tisch zu legen. Es bereitete ihm Vergnügen, Barbaras Mann zu quälen. Er wusste, die Zeit würde für ihn arbeiten, und er besaß die Gelassenheit, die richtige Stunde abzuwarten, die ihn seinem Wunschziel, Barbara zu besitzen, näherbringen würde. Dass sie wohlhabend, sogar reich war, bedeutete für ihn eine angenehme Zugabe, denn er war verschuldet. Der Bungalow, den er sich hatte bauen lassen, hatte die doppelte Summe gekostet, die der Architekt veranschlagt hatte. Jede seiner wechselnden Freundinnen hatte Ansprüche gestellt, Änderungen vorgeschlagen, die er als Mann von Welt nicht hatte ignorieren können, ohne sich bloßzustellen. Am teuersten aber war ihm bisher Isabelle Camenzind gekommen. Er hatte vor, sie gegen Barbara Durand einzutauschen. Er wusste, dass diese sich von ihren Kindern nicht trennen würde. Also musste er Erika und Bernd in Kauf nehmen. Aber das fiel ihm nicht einmal besonders schwer, denn er kannte Frank und wusste, dass dieser großzügig für seine Sprösslinge sorgen würde. Finanziell würden die Kinder also für ihn, Thomas, keine Belastung bedeuten.
Aus diesen Gedanken heraus fragte Thomas Calder nach Erika und Bernd. Widerwillig gab Frank Auskunft.
»Ich will sie auf dem Heimweg besuchen«, erklärte Thomas daraufhin. »Ich komme ja in der Nähe vorbei.«
»Lass die Kinder in Ruhe, Thomas! Sie merken mehr, als wir Erwachsenen ahnen. Und du als Junggeselle bist nicht besonders geschickt im Umgang mit Kindern.«
»Das denkst du nur, Frank! Sie hängen an mir wie an einem Onkel. Ist dort übrigens nicht auch das Kind, das du, pardon, das deine Frau überfahren hat?«
Frank war aschfahl geworden. Er umklammerte das Glas. Ein feines Klirren ertönte, das Glas zersprang. Blut sickerte aus Franks Fingern.
Thomas sprang auf, mit gespieltem Schrecken. »Du musst die Wunden desinfizieren, Frank!«
»Mach’ keine Geschichten!« Frank wickelte sein Taschentuch um die Hand, sammelte die Scherben ein, trug sie hinaus in die Küche. Von dort hörte er Thomas sagen: »Ich habe sogar die Pflicht, mich um diese Heidi Holsten zu kümmern. Barbara hat mir einen recht erklecklichen Scheck anvertraut, den ich Frau von Schoenecker übergeben soll.«
»Das kann ich auch übernehmen, wenn ich meine Kinder besuche!«
»Du hast das vor? Erstaunlich! Wirklich! Aber da ich nun einmal der Anwalt deiner Frau bin, muss ich ihre Aufträge ausführen.«
»Stelle deine Honorarrechnung an mich, Thomas!« Franks Stimme war eisig.
»Aber ich bitte dich! Unter Kollegen ist das nicht üblich, mein Lieber. Außerdem scheinst du zu vergessen, dass ich Barbara länger kenne als du. Wir sind sehr innig verbunden, auch wenn sie deine Frau geworden ist. Und nun will ich mich auf die Beine machen. Diese Nacht bleibe ich noch hier im Hotel. Morgen fahre ich über Sophienlust nach Stuttgart zurück.«
Die schwelende Wut auf Calder wandte sich in Hass, als Frank sah, wie Thomas in seinem eleganten Sportkabriolet davonbrauste. Er hatte das Gefühl, mitten in der Hölle zu sitzen. Dass es nur der Vorhof gewesen war, erfuhr er in den nächsten Tagen. Denn der Mann, um dessentwillen er nach Frankfurt zurückgerast war, entzog ihm den erhofften wichtigen Auftrag.
»Sie müssen mich verstehen, Herr Doktor«, erklärte der Klient. »Durch die Verurteilung Ihrer Gattin sind auch Sie kompromittiert. Ich brauche einen Rechtsbeistand von untadeligem Ruf.«
Frank hätte auf dem abgeschlossenen Vertrag bestehen können. Doch er verzichtete. Und Direktor Scheuer eilte davon, als habe Frank die Pest.
Kurz darauf entzogen ihm auch zwei bedeutende Liegenschaftsverwaltungen den Auftrag, ihre Interessen zu vertreten. Sie brachten dabei fadenscheinige Gründe vor. Doch Frank akzeptierte sie ebenfalls ohne Widerspruch.
Frank Durand, der Rechtsanwalt, erfuhr nun an sich selbst, was es bedeutete, der Ehepartner einer Strafgefangenen zu sein. Das alles hätte Barbara erleiden müssen, dachte er, wenn ich im Gefängnis säße, wenn ich dort säße, wo ich hingehöre. Bitterkeit erfüllte ihn. Ich habe es vorausgesehen, Barbara, dachte er. Nur deshalb habe ich mich den Konsequenzen entziehen wollen. Und später hast du mir in deiner Selbstgerechtigkeit die Möglichkeit genommen, die Schuld auf mich zu nehmen.
Frank ertrug das Leben in der leeren Wohnung nicht mehr. Er fuhr nach Sophienlust zu seinen Kindern.
Denise von Schoenecker empfing ihn. »Gedulden Sie sich einige Minuten, Herr Durand. Die Kinder werden bald von ihrem Ausflug zurückkommen.«
»Geht es ihnen gut? Haben sie keine Schwierigkeiten?«
»Nein! Sie sind fröhlich und unbeschwert. Sie haben nichts erfahren.«
»Fragen Sie nach ihrer Mutter?«
»Sehr oft! Das ist verständlich. Aber da ihre Spielgefährten hier überhaupt keine Eltern haben, fällt ihnen die Trennung leichter.«
»Hat Ihnen der Anwalt meiner Frau einen Scheck übergeben?«
Denise fühlte, dass Dr. Durand den Rechtsbeistand seiner Frau innerlich ablehnte. Sie teilte sein Gefühl. Auch ihr war Dr. Calder unsympathisch. Sie schätzte sein allzu weltmännisches Auftreten nicht, denn sie vermutete dahinter Unehrlichkeit. Erika und Bernd aber waren von ihrem Onkel Tom begeistert, der sie mit Geschenken überhäuft hatte.
Denise konnte nicht verhindern, dass die Kinder ihrem Vater gegenüber diese Begeisterung zeigten. Sie sah, dass dieser Mann litt. Mitleid erfasste sie. Zugleich verstärkte sich der Verdacht in ihr, dass Barbara Durand die Rolle der Büßerin spielte.
Frank wich Denises vorsichtigen Fragen aus. Er lehnte es auch ab, das Kind kennenzulernen, das durch den Unfall so schwer verletzt worden war.
»Es genügt mir zu wissen, dass es hier gut aufgehoben ist«, erklärte er. »Nicht nur meine Frau, auch ich zahle jede Summe, die nötig ist, um Heidi Holsten ganz genesen zu lassen.«
»Es wurde bereits alles getan. Der Betrag, den Ihre Gattin uns zukommen ließ, genügt.«
Frank Durand verabschiedete sich von Denise von Schoenecker und seinen Kindern, die bettelten: »Sag’ Mutti, dass sie uns einmal besuchen soll. Ihre Briefe sind sehr lustig, aber wir möchten doch, dass sie zu uns kommt. Wir haben ihr so viel zu zeigen, Vati.«
Frank fühlte, dass seine Kinder sich innerlich von ihm entfernt hatten – genauso wie auch Barbara, die sich weigerte, ihn am ersten Besuchstag zu empfangen.
*
Trotzdem saß Frank Durand einige Tage später seiner Frau im Sprechzimmer des Gefängnisses gegenüber. Er hatte ihr Kommen erzwungen.
»Wir haben uns nichts zu sagen, Frank«, erklärte Barbara. Ihr Gesicht war unbeweglich.
»Ich denke doch, Barbara. Ich ertrage es nicht mehr, dass du …«
Sie legte den Finger auf den Mund und warf einen bedeutsamen Blick zu der Wärterin hinüber, die so tat, als höre sie nichts.
»Kann ich etwas für dich tun?«, drängte er.
Barbara verneinte.
Nach einer quälenden, schleppenden Unterhaltung ging er, innerlich ausgebrannt und unglücklich. Er sehnte sich nun nach der Strafe, die er hatte vermeiden wollen. Doch Barbara hinderte ihn daran, sein Gewissen zu erleichtern.
Frank kam von da an jeden Besuchstag. Er ließ sich nicht abweisen. Doch Barbara fühlte, dass ihre Liebe zu ihm langsam erlosch, wie eine Kerze, die sich selbst verzehrt. Sie begann sein Kommen immer mehr zu fürchten und freute sich auf die Besuche von Thomas Calder. In den einsamen Nächten beschwor sie die Vergangenheit herauf. Sie dachte an die fröhlichen Stunden mit dem Jugendfreund, daran, wie sehr er sie angebetet hatte, und hoffte, darüber die nagende Sehnsucht nach Erika und Bernd zu vergessen. Tagsüber widmete sie sich dem Studium. Aber immer öfter legte sie die Bücher zur Seite und dachte an Tom. Er hätte niemals zugelassen, dass ich seine Schuld büße, überlegte sie. Niemals hätte er ein Kind liegenlassen, hilflos, verletzt, mit Schmerzen! Wie nett spricht er von Erika und Bernd. Er mag sie, sonst würde er sie nicht so regelmäßig besuchen. Ich habe mich in ihm getäuscht. Er wirkt leichtlebig, denn er spielt den Lebemann. In seiner Seele aber ist er ein tiefernster, verantwortungsbewusster Mann. Frank erringt bei den Menschen sofort Zutrauen, und keiner vermutet hinter seiner zuverlässigen Miene die Untiefen seines Wesens – seine Feigheit, seine Schwäche, seine Herzlosigkeit!
Barbara drängte diese Gedanken von sich. Ich tue Frank unrecht!, überlegte sie weiter. Er wollte sich stellen, aber ich habe es nicht zugelassen. Doch wer hätte ihn daran hindern können, zum Richter zu gehen und ganz einfach die Wahrheit zu sagen? Habe ich das vielleicht heimlich erwartet? Habe ich mich selbst irregeführt?, fragte sie sich.
Barbara kannte sich in ihrem eigenen Wesen nicht mehr aus. Sie begann an sich selbst zu zweifeln. Und die Sehnsucht nach Erika und Bernd wurde immer schmerzlicher. Sie schrieb liebevolle Briefe, lustige Briefe. »Ich bin wieder ein Schulmädchen geworden und so dumm, dass ich sogar an den Samstagen und Sonntagen arbeiten muss, um mitzukommen. Dafür dürft ihr dann später stolz auf eure Mutti sein, meine Lieblinge.«
Die Kinder ließen durch Schwester Regine antworten: »Wir wollen keine gescheite Mutti, sondern eine, die bei uns ist. Es ist sehr lustig hier, und wir haben es schön. Tausendmal schöner aber wäre es, wenn du hier bei uns wärst. Vati ist immer so komisch, wenn er kommt. Nicht einmal unsere Freundin Heidi hat er sehen wollen. Dabei ist sie so lieb und macht ganz dumme Streiche. Wir dürfen sogar mit Rosenrot und Schneeweißchen spielen.«
Barbara schrieb unter Tränen: »Euer Vater hat sehr viel zu arbeiten. Er muss doch Geld verdienen, denn mein Studium ist teuer. Denkt Euch, gestern war ich bei einer Studienkollegin eingeladen …«
Hell wurde es nur dann um sie, wenn Tom sie besuchte. Er hatte für sich eine Sondergenehmigung bewirkt und saß oft bei ihr, hielt ihre Hand, tröstete sie. Er durfte auch ohne Beisein der Wärterin mit ihr sprechen.
»Mir bricht das Herz, wenn ich dich anschaue, Barb. Du siehst elend aus. Was sagt denn Frank dazu?«
»Ich habe ihn seit zwei Monaten nicht mehr gesehen.«
»Höre ich recht? Besucht er dich nicht?«
»Ich will es nicht, Tom.«
»Warum?« Er legte den Arm um ihre Schultern und wollte sie an sich ziehen.
Barbara schob ihn von sich. In der folgenden Nacht weinte sie, wie in all den vorangegangenen Nächten. Aber diesmal geschah es nicht mehr aus Gram über Frank, auch nicht aus Sehnsucht nach den Kindern. Diesmal weinte sie wegen Thomas Calder. Weil sie fühlte, dass er ihr mehr bedeutete als ihr Mann, der Vater ihrer Kinder, an dem Erika und Bernd hingen, den sie liebten, dem sie gehörten.
Barbaras Kummer verwandelte sich in schüchterne Freude, als sie den nächsten Brief aus Sophienlust erhielt.
»Onkel Tom war wieder hier«, las sie. »Er hat Tiere genauso gern wie wir. Er hat gesagt, er könne nicht verstehen, dass Vati uns keinen lieben kleinen Hund gekauft hat. Wenn er einmal Kinder hätte, würde er ihnen einen Zoo schenken, so einen, wie Tante Andrea hat. Warum hat Onkel Tom eigentlich keine Frau und keine Kinder? Er ist doch ein erwachsener Mann, Mutti?«
Ja, warum heiratet er nicht, dachte Barbara und legte den Brief zu den anderen. Sie lächelte ein wenig bei der Erinnerung an Toms Erklärung für sein Junggesellendasein. »Ich habe keine Frau gefunden, die ich hätte heiraten wollen. Du wärst die einzige gewesen, Barb, mit der ich mein ganzes Leben hätte verbringen mögen«, hatte er gesagt.
Der galante Schwerenöter, hatte sie damals gedacht. Jetzt aber überlegte sie: Ob es wahr ist? Ob er mich wirklich so sehr liebt? Noch immer! Es muss so sein, denn sonst würde er sich nicht so selbstlos um mich und meine Kinder kümmern.
*
Als Tom das nächste Mal Barbara gegenüberstand, begrüßte sie ihn zum ersten Mal mit einem Lächeln. Er erwiderte es, und diesmal schob sie ihn nicht von sich, als er den Arm um ihre Schulter legte. Sie weinte leise vor sich hin. Es war ein Weinen, das erlösender war als die Tränen der Nächte. Es schwemmte viel Bitterkeit hinweg und die Angst vor der Zukunft mit Frank.
Ich muss ja nicht bei ihm bleiben, ging es ihr zum ersten Mal durch den Kopf.
»Liebst du Frank noch, Barb?«, fragte Tom.
Sie schwieg.
»Wenn du ihn noch liebtest, würdest du sehnsüchtig auf seine Besuche warten, Barb. Ich glaube, du weißt selbst nicht, was in dir vorgeht. Du ahnst auch nicht, wie gut ich dich begreife.«
Barbara hob den Kopf. Er hielt ihren Blick fest. »Was begreifst du, Tom?«, flüsterte sie.
Er bettete ihren Kopf an seine Schulter und sprach über ihren blonden Scheitel hinweg. »In solchen Situationen zeigt sich, wie tragfähig eine Liebe ist, Barb. Du hast nun viel Zeit, über dich und deinen Mann nachzudenken. Ist es so?«
Sie nickte an seinem Hals.
»Und du fühlst, dass er dir nicht mehr die ganze Welt bedeutet, wie du bis jetzt geglaubt hast. Es stimmt schon, was die Hüter des Gesetzes sagen: Keiner sitzt im Gefängnis, ohne sein Gewissen zu erforschen und sich über das eigene Wesen klarzuwerden. Das ist auch der Sinn einer Strafe, Barb.«
Wenn du wüsstest, dachte sie aufbegehrend. Sie wollte sich nun vor ihm reinwaschen, aber er ließ ihr Geständnis nicht zu. Es hätte seine Absichten durchkreuzt.
»Du weißt, dass ich dich nicht verurteile, Barb. Darüber wollen wir gar nicht erst reden. Denke nur immer daran, dass du in drei Monaten entlassen wirst. In spätestens drei Monaten! Ich habe nämlich den Antrag auf vorzeitige Entlassung gestellt, denn deine Führung ist tadellos, wie mir der Direktor vorhin sagte. Ich wundere mich, dass Frank das nicht probiert hat.«
Barbara wollte erwidern, dass sie ihm ein solches Gesuch verboten hatte, doch da sprach Tom schon weiter: »Vielleicht geht es ihm wie dir, Barb. Ich bin gestern schon nach Frankfurt gekommen und speiste im Mainkeller. Dort sah ich Frank. Er war in Gesellschaft von Frau Stark. Ich finde, das musst du wissen.«
Aber dann begehrte sie doch auf. Ich sitze für ihn im Gefängnis, und er amüsiert sich!, überlegte sie weiter. Muss nicht auch ich jeden natürlichen Trieb in mir ersticken? Ich bin jung und sehne mich nach Liebe! Aber nicht nach der Liebe in Franks Armen. Nie, nie mehr kann ich das Zusammensein mit ihm genießen. Mir ekelt vor ihm! Ich hasse ihn!
Als ahne Tom ihre Gedanken, legte er seinen Mund auf Barbaras Lippen und gab ihren Mund nicht mehr frei. Sie bäumte sich auf und stieß ihn zurück. Doch er hielt sie fest. Und plötzlich brach ihr Widerstand zusammen. Sie erwiderte seine Küsse, seine Zärtlichkeiten, ihre Sinne regten sich, ihr Körper antwortete auf seinen Anruf.
In dieser Stunde wusste Barbara, dass ihr Weg sich von Franks Weg für immer trennen würde. Sie nickte nur, als Tom sagte: »Du bist also mit einer Scheidung einverstanden, Liebste?«
Tom küsste sie heiß. Dann fragte er: »Welchen Scheidungsgrund könntest du angeben?«
»Ich habe keinen, Tom.«
O doch, dachte er, behielt seine Gedanken aber bei sich. Jeder Richter würde dich scheiden, dachte er, wenn er wüsste, dass du für deinen Mann im Gefängnis sitzt, der zugelassen hat, dass du dieses Opfer auf dich genommen hast, obwohl du beinahe daran zerbrichst. Aber darüber zu sprechen wäre jetzt unklug.
Tom machte Barbara den Vorschlag, als Scheidungsgrund seine Beobachtung im Mainkeller anzuführen. Doch sie lehnte das ab, ebenso den Rat, Frank durch einen Privatdetektiv beobachten zu lassen.
»Ich würde mich vor mir selber schämen, Tom«, erklärte sie. »Ich spreche mit Frank. Er wird mich freigeben. Dann werden wir einen Weg für die Scheidung finden.«
»Ich könnte mir denken, dass er nichts gegen eine Trennung einzuwenden hat, Barb. Aber wenn er erfährt, dass wir zwei uns lieben, wird er dich aus Rachsucht nicht freigeben. Er hat mich immer gehasst, Barb!«
»Du denkst zu schlecht von Frank, Tom. Er war eifersüchtig auf dich, und wir beide wissen jetzt, dass er es nicht ohne Grund war. Er hat wohl immer unbewusst gefühlt, wie viel ich für dich übrig habe.« Leise fügte Barbara hinzu: »Frank ist schwach, aber niemals rachsüchtig.«
»Wann wirst du es ihm sagen?«, drängte er.
»Lass mir einige Tage Zeit, Tom. Ich schreibe dir, so bald ich mit ihm gesprochen habe.«
»Wirst du nicht schwach werden, wenn er dich bittet, bei ihm zu bleiben?«
Sie schüttelte langsam den Kopf. Ihre tiefblauen Augen blickten ihn ernst an. »Du kennst mich zwar gut, aber nicht die letzte Falte meines Herzens, Tom. Ich kann sehr, sehr hartnäckig sein und auch hart gegen mich selbst.«
Das hast du bewiesen, dachte er bei sich und zog sie schnell in seine Arme. Sie sollte nicht den Triumph in seinen Augen lesen. Er hatte behauptet, dass Frank ihn hasse, aber er wusste sehr genau, dass er selbst Barbaras Mann, der ihm die erste und die größte Niederlage seines Lebens beigebracht hatte, hasste. Frank hatte ihm das Mädchen weggenommen, das er, der von allen bewunderte und verehrte Thomas Calder, geliebt hatte.
Die Sprechzeit war um. Die Wärterin kam ins Besuchszimmer und brachte Barbara in ihre Zelle zurück. Tom schaute ihr nach, als sie mit ihrem anmutigen Gang den langen Gang entlangschritt. Danach setzte er sich hinter das Steuer seines Wagens und fuhr nach Sophienlust. Er war entschlossen, Barbara daran zu hindern, ihren Entschluss zu ändern.
Frau von Schoenecker empfing ihn mit der gewohnten Zurückhaltung. Tom spürte ihre Vorbehalte. Denise war ihm genauso unsympathisch wie er ihr. Aber er war nicht der Mann, der unter der Ablehnung seiner Mitmenschen litt. Seine Ansicht war, dass nur schwache, bedeutungslose Männer von allen geliebt oder – besser gesagt – geduldet wurden.
Tom teilte Denise unverblümt mit, dass Frau Durand sich entschlossen habe, sich von ihrem Mann scheiden zu lassen. Er habe kein Recht, die Gründe darzulegen, erklärte er. Er sei nur gekommen, um die Kinder schonend darüber zu informieren.
»Hat das nicht noch Zeit, Herr Calder? Frau Durand wird doch erst in drei Monaten entlassen.«
Früher! Ich habe eine Eingabe gemacht. Es kann sein, dass Frau Durand bereits in einigen Wochen ihre Freiheit wieder hat.«
»Kommt sie dann hierher, wie sie mir geschrieben hat?«
»Selbstverständlich! Sie hat Sehnsucht nach ihren Kindern.«
»Hoffentlich!«, erwiderte Denise von Schoenecker ungewöhnlich hart.
»Sie zweifeln daran?«
»Ich halte nicht viel von Frauen, die ihren Kindern den Vater nehmen, um selbst ein neues Glück zu finden. Ich bin sehr altmodisch, Herr Calder. Aber ich habe damit gemeint, dass Frau Durand sich einige Wochen hier erholen sollte.«
»Das ist eine ausgezeichnete Idee!«, rief Tom liebenswürdig.' »Es ist heute nicht so leicht, in der Großstadt eine passende Wohnung zu finden. Und schon gar nicht mit Kindern.«
»Leider!« Denise erhob sich. »Ich werde die Kinder holen lassen.« Sie klingelte und bat die danach eintretende Praktikantin, Erika und Bernd Durand zu rufen. »Ich darf doch voraussetzen, dass Frau Durand Ihnen ausdrücklich die Erlaubnis gegeben hat, mit ihren Kindern offen zu sprechen?«
»Wofür halten Sie mich?«, stellte Thomas Calder eisig die Gegenfrage. »Sie scheinen zu vergessen, dass ich nicht nur Frau Durands zukünftiger Ehemann sein werde, sondern auch ihr Anwalt bin.«
Denise ging ihm voraus in den Park hinaus. Der Gedanke, dass dieser großspurige Mann den Kindern in ihrem Salon die folgenschwere Eröffnung machen würde, war ihr unerträglich. Sie suchte nach einem Vorwand, um ihn daran zu hindern, aber sie wusste, dass sie kein Recht zu irgendwelchen Eingriffen hatte. Bernd und Erika waren in ihre Obhut gegeben worden, aber zu bestimmen hatte sie über die Kinder nicht.
Als Denise die hellen Stimmchen hörte, kehrte sie hastig in das Haus zurück. Ich darf diese junge Frau nicht verurteilen, dachte sie. Ich kenne die Gründe nicht, die sie zu der Scheidung drängen. Es sei denn, meine Ahnung, dass sie die Strafe für ihren Mann auf sich genommen hat und nun verständlicherweise verbittert ist, wäre richtig.
Doch dann schüttelte sie über sich selbst den Kopf. Warum sollte Barbara Durand verbittert sein, überlegte sie weiter, wenn sie die Schuld freiwillig auf sich genommen hatte? Oder hatte ihr Mann sie dazu gezwungen?
Denise sah den zuverlässig aussehenden Mann im stillen vor sich. Sie konnte nicht glauben, dass er seine Frau für sich büßen ließ, und noch weniger, dass er sie dazu gezwungen haben sollte.
Denise nahm sich vor, einmal unter vier Augen mit Barbara zu sprechen und sie zu bitten, ihr Vertrauen zu schenken und die Wahrheit zu sagen. Vielleicht würde es ihr dann gelingen, den Kindern, die sie liebgewonnen hatte, den leiblichen Vater zu erhalten.
Wenn Barbara Durand aber wirklich am Steuer gesessen und Heidi überfahren haben sollte, dann wäre es in Denises Augen eine Ungeheuerlichkeit gewesen, den Mann zu verlassen, der treu zu ihr gehalten hatte.
Denise von Schoenecker dachte an die vielen Schicksale, mit denen sie schon konfrontiert worden war. Keines davon war so undurchsichtig gewesen wie das von Barbara Durand.
Denise zog die Vorhänge vor die Fenster, als sie Erika und Bernd auf ihren Onkel zulaufen sah. Sie wollte diese Szene nicht sehen. Sie wischte sich die Tränen aus den Augen und begab sich zu den anderen Kindern im Spielzimmer, die bei ihrem Eintritt vor Freude jauchzten.
*
Auch die Geschwister Durand jauchzten in diesem Augenblick. Sie rannten in die ausgebreiteten Arme Thomas Calders hinein. »Onkel Tom! Onkel Tom! Fein, dass du uns schon wieder besuchst! Warum kommt Mutti nie? Wir hätten ihr so viel zu zeigen. Denke dir, Luja gibt mir sogar die Hand.«
»Erstaunlich«, gab Tom zur Antwort, ohne zu wissen, wer Luja überhaupt war.
»Ich habe gar nicht gewusst, dass Affen genauso Hände haben wie wir Menschen«, sagte Bernd.
Aha, ein Affe ist diese Luja also, dachte Calder und tupfte kleine Küsschen auf Erikas Wangen. Bernd drückte er kameradschaftlich die Hand.
»Ich habe eine ganz prima Freundin«, plapperte Erika weiter. »Du kennst doch Heidi, Onkel Tom! Sie kann nun schon ohne Krücken laufen. Aber Barry, unser Bernhardiner, läuft immer neben ihr her. Er will sie beschützen, weißt du! Wenn sie müde wird, hält sie sich an seinem Fell fest. Er knurrt dann nicht einmal. Sag’ ihr ein paar liebe Worte, Onkel Tom!«
Thomas hatte keine Lust, das Mädchen zu sehen. Seine Geduld wurde bereits von Bernd und Erika arg strapaziert.
»Ich habe euch etwas sehr Wichtiges zu sagen«, begann er.
Aber Erika war nicht zu bremsen. »Denke dir, ich habe erfahren, dass Heidi von einem Auto angefahren wurde«, berichtete sie. »Die Frau, die sie verletzt hat, ist davongebraust. Sie hat sich kein bisschen um die arme Heidi gekümmert.« In Erikas Augen schwammen Tränen. »Kannst du dir vorstellen, dass eine Frau so etwas fertigbringt? Sie soll jetzt im Gefängnis sitzen. Ich hätte sie ins Zuchthaus gesteckt. Dort soll es viel schlimmer sein als im Gefängnis.«
»Und ich hätte sie aufgehängt!«, rief Bernd. Breitbeinig stellte er sich vor Tom Calder auf. Seine blauen Augen blitzten kriegerisch. Doch als er Tante Andrea um die Parkmauer biegen sah, zog er den Kopf zwischen die Schultern.
»Was hast du da eben gesagt, Bernd?«, rief die junge Frau und kam näher.
Bernd schwieg und blickte verlegen auf seine Schuhspitzen.
Andrea holte tief Luft. Sie begrüßte den Anwalt nur durch ein Kopfnicken, denn er war ihr genauso unsympathisch wie ihrer Mutter. Dann hielt sie Bernd eine Strafpredigt, die dem Auffassungsvermögen des beinahe Sechsjährigen angepasst war, und schloss mit den Worten: »Dein Vater ist Jurist. Lass dich von ihm belehren. Kein Mensch ist ohne Fehler und Schwächen. Auch du nicht, kleiner Gernegroß! Und ein Mensch, der seine Strafe verbüßt hat, ist wieder frei von Schuld und kann allen Menschen offen in die Augen sehen.«
Hoffentlich erfährt er nie, was seine Mutter getan hat, dachte Andrea dabei und beutelte liebevoll den zerknirschten Buben. Wenn sie es wirklich war! Ich kann es noch immer nicht glauben. Eine Frau, die zu so etwas fähig ist, hält Kaninchen nicht so liebevoll auf dem Arm, sondern legt sie in die Bratpfanne!
Calders Gesicht hatte sich im Zorn gerötet. Was hatte diese junge, vorlaute Person hier für Rechte?, fragte er sich empört. Sie war die Stieftochter der Leiterin des Kinderheimes, die Frau eines Tierarztes, und wurde von den Insassen Tante Andrea genannt. Das war aber auch alles. Er hatte nicht vor, sie Rechte ausüben zu lassen, die in Zukunft ihm zustanden.
Seine Stimme war eisig, als er erwiderte: »Da ich selbst Jurist bin, wie Sie wissen, kann ich Bernd aufklären. Besser noch als sein Vater. In Zukunft übernehme ich die Verantwortung für die Durandschen Kinder. Frau Durand wird sich scheiden lassen und meine Frau werden.« Da er dabei Andrea von Lehn wütend anstarrte, sah er nicht die weit offenen Augen der Kinder.
Erika fand als erste die Sprache wieder. »Was hast du da gesagt, Onkel Tom?«, fragte sie. »Mutti will dich heiraten? Aber sie hat doch unseren Vati!«
»Wie ihr gehört habt, lässt sich eure Mutter scheiden. Warum, wird sie euch selbst erklären. Ich wollte euch nur sagen, dass ich euer Vater werde. Wir werden prima miteinander auskommen«, setzte er burschikos in der Sprache des Jungen hinzu.
»Warum denn nur?«, schluchzte Erika. »Wir haben dich doch auch als Onkel lieb! Musst du unbedingt unsere Mutti heiraten und unser Vater werden? Wir wollen unseren Vati behalten, auch wenn er uns keinen Hund schenkt. Er ist unser Vati!«
Bernd war blass geworden. Er hielt die Fäuste in den Hosentaschen geballt, schluckte ein paar mal tief und stieß dann hervor: »Ich bin keine Heulsuse wie sie! Aber ich will meinen Vati auch nicht hergeben, Onkel Tom. Du bist prima, wirklich! Du könntest zu uns ziehen. Die Wohnung ist groß genug, und Vati könnte dir vielleicht ein Büro geben.«
Ihr armen unschuldigen Lämmchen, dachte Andrea und nahm die Kinder in ihre Arme. »Weint nur, meine Lieblinge. Auch du, Bernd. Deswegen bleibst du doch ein tapferer Bub!« Sie ergriff die Hände der Kinder. »Kommt, wir gehen zu Tante Isi. Sie wird euch alles erklären.« Ohne auf Calders Protest zu hören, führte sie Bernd und Erika ins Haus und zu ihrer Mutter, die sich jetzt im Biedermeiersalon aufhielt. »Hilf ihnen! Er ist brutal mit der Wahrheit herausgerückt«, flüsterte sie Denise ins Ohr.
»Doch nicht, dass ihre Mutter …«
Andrea hatte die Frage verstanden. Sie schüttelte den Kopf. »Herr Dr. Calder hat den Kindern mitgeteilt, dass ihre Mutter sich scheiden lassen will.«
Denise umarmte die verstörten Kleinen und versuchte sie zu trösten. An ihrer Brust weinten sich die Kinder den Kummer vom Herzen.
Hoffentlich werdet ihr nie erfahren, was eure Mutter getan hat, dachte Denise. Dann würdet ihr sie noch weniger verstehen als jetzt.
Vor der Tür des Biedermeiersalons stand Pünktchen und kaute an ihrer Oberlippe. Sie zitterte am ganzen Körper. Sie war zufällig hier vorbeigekommen und hatte jedes Wort, das gesprochen worden war, verstanden. Diese Frau, diese Verbrecherin, dachte sie nun, hat nicht nur Heidi überfahren, sie nimmt Bernd und Erika jetzt auch noch den Vater weg und liefert die beiden diesem hochmütigen Menschen aus.
Erst jetzt spürte Pünktchen, dass sie die Geschwister Durand wirklich gern hatte. Deshalb hätte sie ihnen in Zukunft nicht mehr auszuweichen brauchen. Aber zugleich fürchtete sie, dass die beiden ihre Gedanken über ihre Mutter erraten könnten. Wie ich diese Frau hasse mit dem Gesicht eines Engels!, dachte Pünktchen.
Als der hochgewachsene »Onkel Tom«, auftauchte, huschte sie die Treppe hinauf. In ihrem Zimmer warf sie sich auf das Bett und weinte. Warum nur hatte Tante Andrea diese Frau so verteidigt?, fragte sie sich. Bernd hatte doch recht. Sie hätte aufgehängt werden sollen! Aber wenn er wüsste, dass es sich dabei um seine eigene Mutter handelte …
*
Barbara Durand saß in ihrer Zelle und las noch einmal alle Briefe, die ihre Kinder ihr mit Schwester Regines Hilfe zugeschickt hatten. Immer dann, wenn sie Onkel Tom erwähnten, las sie diese Stellen zweimal, dreimal und beruhigte sich selbst. Nein, die Kinder werden ihren Vater nicht vermissen, dachte sie. Sie hängen an Tom. Frank hat sich auch nie viel um sie gekümmert. Er hatte immer nur seine Karriere im Kopf, seine Klienten.
Aber er hat das für uns getan, überlegte sie weiter, für seine Familie! Ein Gefühlssturm ergriff sie plötzlich. Liebe zu Tom überflutete sie, die jedoch gleich von der Sehnsucht nach Erika und Bernd, ihren süßen Blondschöpfen, verdrängt wurde. Ich kann euch nicht wehtun, meine Lieblinge, dachte Barbara. Ganz, ganz vorsichtig will ich es euch sagen, und wenn ich merke, dass ihr leidet, muss ich auf mein eigenes Glück verzichten. Wenn ich nur genau wüsste, an wem ihr mehr hängt, an eurem Vater oder an Tom! Ihr seid nun schon ein Dreivierteljahr von eurem Vater getrennt, und er hat euch weniger oft besucht als Tom. Dieser hat es verstanden, eure kleinen Herzen zu erobern.
Barbara sprang plötzlich auf und hämmerte wie am ersten Tag ihrer Haft gegen die Zellentür. Sie konnte plötzlich die Trennung von den Kindern nicht mehr ertragen. Sie wollte zu ihnen, und wenn es nur für eine einzige Stunde war. Sie wollte in ihre Augen sehen, wenn sie ihnen sagte, dass sie einen anderen Vater bekommen würden. »Ich muss den Direktor sprechen«, bat sie die Wärterin, die eingetreten war.
»Ich werde Ihre Bitte weitergeben, Frau Durand.«
»Sofort muss es sein!«
Die Wärterin schüttelte den Kopf und schaute die sonst so fügsame Gefangene mitleidig an. »Ich rate Ihnen, den guten Eindruck nicht zu verderben, den Sie bisher gemacht haben. Ich habe gehört, dass Sie frühzeitig entlassen werden sollen.«
»Das ist mir gleichgültig! Ich muss meine Kinder sehen, auch wenn ich die ganze Strafe absitzen muss! Ich muss zu Ihnen«, bettelte und schluchzte Barbara, die völlig die Nerven verloren hatte.
Die Wärterin führte sie zum Stuhl, drückte sie darauf nieder und sprach eindringlich auf sie ein. Endlich verebbte Barbaras Schluchzen. »Verzeihen Sie meinen Ausbruch!«
»Ich verstehe Sie nur allzu gut, Frau Durand. Morgen früh werde ich dem Herrn Direktor Ihre Bitte für einen Kurzurlaub vortragen.«
In dieser Nacht lag Barbara mit weit offenen Augen auf ihrem Bett und starrte zum Viereck des Fensters hinauf. Ihre Gedanken kreisten um ihre Kinder, um Tom und Frank. Gegen Morgen hatte sie sich entschieden: Wenn ich den Kindern einen großen Schmerz zufüge, verzichte ich auf Tom. Dann muss ich das Leben an Franks Seite weiter ertragen!
Gegen zehn Uhr wurde die Post gebracht. Ein Eilbrief von Tom! Er teilte ihr mit, dass er ihr die schwere Aufgabe, die Kinder aufzuklären, nach reiflichem Überlegen abgenommen habe. »Ich fühle mich verpflichtet, Dir alles abzunehmen, was Dich belastet, meine Liebste«, schrieb er. »Du kannst frohen Mutes in die Zukunft sehen. Sie waren ein bisschen verwirrt, die lieben Kleinen, aber dann haben sie mich abgeküsst, und bald war ihnen die Schimpansin Luja wichtiger als ihr bisheriger und ihr zukünftiger Vater.« Tom verlor sich noch in launige Einzelheiten über die Erlebnisse der Kinder im Tierheim Waldi Co., sodass Barbara zugleich lachte und weinte. Sie wissen es also!, dachte sie. Tom hat für mich entschieden. Er wusste, wie schwer es mir fallen würde, ihnen meinen Entschluss mitzuteilen. Wie gut er ein Mutterherz kennt! Lieber, lieber Tom! Nie werde ich dir das vergessen. Wenn ich noch einen Beweis deiner Liebe gebraucht hätte, damit hättest du ihn mir gegeben. Nun werde ich die Geduld aufbringen, hier auszuharren, bis ich heimkehren darf zu euch dreien!
Barbara sagte der Wärterin, dass sie nicht mehr auf einem Kurzurlaub bestehe. Nach dem Mittagessen schrieb sie zwei lange Briefe an die Kinder und an Tom sowie einen kürzeren Brief an Frank, in dem sie ihn bat, zu ihr zu kommen. Sie habe mit ihm zu sprechen.
Am folgenden Tag stand Frank vor ihr. Blass, mit müden Zügen, glanzlosen Augen. Er schaute sie bittend an. »Endlich lässt du mich zu dir, Barbara. Darf ich es als Zeichen dafür werten, dass du mir verziehen hast?«
»Ja, ich habe dir verziehen, Frank. Aber vergessen kann ich es nicht.«
Der kurz aufgeflackerte Glanz in seinen Augen erlosch.
»Lass mich weitersprechen, ehe du mir antwortest, Frank«, bat Barbara. »Ich bin nicht mehr die Frau, die vor neun Monaten hierherkam. Ich habe über dich und mich nachgedacht. Ich bin mir bewusst, dass ich dich daran gehindert habe, die Wahrheit zu sagen. Aber – und das ist ausschlaggebend, Frank – du hättest es auch ohne meine Erlaubnis tun können.« Sie unterbrach sich, ihre Stimme wurde sehr leise. »Ich habe mir vorgenommen, dir keine Vorwürfe mehr zu machen, Frank. Verzeih mir also, dass ich das gesagt habe. Ich will es kurz machen. Ich kann nicht mehr mit dir leben, ich kann nicht mehr deine Frau sein. Ich bitte dich um die Scheidung. Meine Freiheit wünsche ich als Gegengabe für die hier verbrachten Monate.« Wieder war die Bitterkeit stärker in ihr als der gute Wille, ihn zu schonen.
Frank schaute sie an, als habe sie den Verstand verloren. »Du willst dich von mir scheiden lassen?«, fragte er. »Welchen Grund hast du? Ich meine, wie willst du es begründen … Er, der sonst ein so gewandter Redner war, begann nach Worten zu suchen. Ungeheure Erregung sprach aus seinem angespannten Gesicht. »Willst du vielleicht jetzt doch noch die Wahrheit sagen, erklären, dass ich am Steuer gesessen habe? Dann allerdings wirst du keine Schwierigkeiten haben, mich loszuwerden.«
»Nein, das werde ich nicht tun, Frank. Ich werde schweigen wie bisher. Es bleibt unser Geheimnis. Man sagt, dass ein Geheimnis zwei Menschen aneinander bindet. Doch uns trennt es. Ich liebe Tom Calder, weil ich dich nicht mehr lieben kann.«
»Die Kinder! Hast du sie vergessen? Willst du auf sie verzichten?«
»Natürlich nicht!«, rief sie erregt. »Ich hoffe, du hast so viel Anstand, dass du sie mir überlässt.«
»Ich kann nicht dich und auch sie verlieren, Barbara!«
»Du hast dich nie viel um sie gekümmert!«
»Ich habe für unsere gemeinsame Zukunft gearbeitet. Ihr solltet es schön haben bei mir, du und unsere Kinder.«
Die Kehle wurde ihr eng, aber ihre Augen blieben trocken. Die Monate der Einsamkeit, des Gehorsams hatten sie hart gemacht. Als er sich weigerte, auf die Kinder zu verzichten, schwanden ihre guten Vorsätze, ihn zu schonen und ihm keine Vorwürfe zu machen. »Du hast keinen Anspruch mehr auf ein Kind! Du hast ein Kind liegenlassen, hilflos, und hast dich davongemacht wie ein Verbrecher. Damals starb meine Achtung vor dir. Eine Liebe ohne Respekt aber ist demütigend. Ich habe langsam aufgehört, dich zu lieben. Zuerst habe ich mich dagegen gewehrt, aber …«
»Dann kam Calder mit seinen süßen Schmeicheleien!«, unterbrach er sie. »Er hat dich damit eingewickelt. Er hat dich mürbe gemacht. Er will über mich triumphieren. Nicht nur die Frau nimmt er mir Weg. Auch meine Kinder will er an sich reißen. Du siehst nur sein schillerndes Äußeres und lässt dich davon blenden. Gut, du kannst zu ihm gehen, wenn du willst. Aber die Kinder liefere ich diesem Lumpen nicht aus.«
»Mäßige dich!« Barbara sprang vom Stuhl auf. Ihre strapazierten Nerven rissen nun völlig. »Durch dich bin ich zur Zuchthäuslerin geworden. Ein Jahr meines Lebens ist verloren. Kommst du nicht billig weg, wenn ich dich mit den Kindern verlasse? Du schämst dich nicht, über Tom, an dem nichts auszusetzen ist, schlecht zu sprechen. Erika und Bernd sind bei ihm besser aufgehoben als bei einem Mann, der sich vor der Verantwortung drückt. Tom hätte mich nicht ins Gefängnis gehen lassen, auch wenn ich schuldig gewesen wäre. Er hätte sich schützend vor mich gestellt. Er liebt mich, und ich liebe ihn mehr, als ich dich jemals geliebt habe. Das wird mir erst jetzt klar.«
»Die Einsamkeit hat dich um deine Vernunft gebracht, Barbara!«, rief er beschwörend. »Warte, bis du wieder ein geregeltes Leben führst. Übereile nichts! Ich bitte dich im Namen der Kinder darum.«
»Sie wissen es bereits, Frank.«
»Du hast es ihnen geschrieben?«
»Nein! Tom hat es ihnen gesagt. Vorgestern! Sie sind weiter glücklich in Sophienlust mit all den Freunden und Tieren. Du hast ihnen nicht den sehnlichst gewünschten Hund erlaubt. So etwas vergessen Kinder nicht. Bei Tom werden sie Tiere haben dürfen.«
»Er hat ein Haus! Wir haben nur eine Wohnung!«
»Das war nicht der Grund deiner Ablehnung.«
Sie zankten, sie stritten um Kleinigkeiten. Sie warfen sich gegenseitig Geringfügigkeiten vor und verbissen sich darin. Zuletzt waren beide zu Tode erschöpft.
»Besitze nur wenigstens so viel Anstand und bezahle deine Rechnung«, schloss Barbara und sank auf den Stuhl, die Hände vor das Gesicht schlagend.
Nie hatte Frank sie mehr geliebt als in diesem Augenblick, da er wusste, dass er sie für immer verloren hatte. Der Schmerz verursachte ihm Übelkeit. Er gab seinen Widerstand auf, er kapitulierte.
»Indem du die Strafe auf dich genommen hast, hast du dich von mir freigekauft für ein Leben an Calders Seite. Ich werde also bezahlen. Leb’ wohl!«
Er wandte sich um, riss die Tür auf, sodass die Wärterin, die auf dem Stuhl vor der Tür saß, hochschnellte. Er rannte an ihr vorbei und verschwand.
Barbara schaute ihm nach. Der Atem stockte ihr. Sie legte die Hand auf das Herz, das hämmerte. Sei still, sagte sie laut. Es wird vorbeigehen. Eine Wunde auszubrennen tut nun einmal weh. Aber sie heilt dadurch schneller als bei einer zaghaften Behandlung.
Barbara stand noch immer wie eine Statue, als die Wärterin leise eintrat. »Ihr Mann war sehr aufgeregt, Frau Durand.«
»Ich habe ihm gesagt, dass ich mich scheiden lassen will.«
Die Wärterin starrte sie verblüfft an. »Natürlich will er sich von Ihnen scheiden lassen«, meinte sie. »Oder wünschen tatsächlich Sie die Scheidung?«
Ein bitteres Lächeln glitt über Barbaras Züge. »Ja, ich wünsche sie. Das wird niemand verstehen. Man wird sagen, dass ich allen Grund zur Dankbarkeit hätte. Aber der Mann, auf den es mir ankommt, begreift mich. Und meine Kinder leiden nicht unter der Trennung. Das ist die Hauptsache.«
»In diesen Mauern ist schon manche Ehe zerbrochen, Frau Durand«, mahnte die Wärterin. »Sie sollten mit dieser Entscheidung warten, bis Sie wieder ein normales Leben führen. Nur dann können Sie einen wirklichen Entschluss fassen.«
Barbara schüttelte den Kopf. »Die Würfel sind gefallen. Meine Kinder selbst haben mir die Gewinnzahlen in die Hand gegeben. Sie werden glücklich sein wie ich auch.«
Hätte Barbara in diesem Moment Erika und Bernd gesehen, wäre ihr die Zukunft nicht mehr so rosig erschienen. So aber schrieb sie noch am gleichen Abend einen Brief an Frau von Schoenecker und bat um Mitteilung, ob sie das Angebot aufrechterhalte, dass sie sich für einige Wochen bei ihr erholen könne. Sie bat auch um Verständnis für ihre Scheidung, ohne Frank im geringsten zu belasten.
*
Denise von Schoenecker las den Brief immer wieder. Sie versuchte dabei, zwischen den Zeilen zu lesen. Der Anblick von Erika und Bernd schnitt ihr ins Herz. Seit der Nachricht von der beabsichtigten Scheidung waren die Kinder sehr still geworden. Sie klammerten sich aneinander, hatten gebettelt, wieder gemeinsam in einem Zimmer schlafen zu dürfen. Sie suchten ganz offensichtlich aneinander Halt.
Andrea half ihrer Mutter, die verstörten Kleinen abzulenken. Vergeblich! Nie mehr fragten sie nach ihrem Vater. Nur nach der Mutter. Und das pausenlos.
»Warum kommt Mutti nicht? Warum hat sie es uns nicht selbst gesagt? Sie kann uns doch nicht einfach unseren Vati wegnehmen. Wir haben ihn doch lieb, lieber als Onkel Tom, auch wenn er uns keinen Hund geschenkt hat. Er kann so schön singen«, erklärte Erika weinend und schaute ihre Bruder beschwörend an, der mit verschlossenem Gesicht schwieg. »Kannst du dich noch erinnern, wie er uns das Lied vom herzigen Veilchen vorgesungen hat, als Mutti eine Nacht nicht heimkam? Ich möchte wetten, er hat selbst geweint, weil es ein so trauriges Lied ist. So traurig, wie ich jetzt bin.«
»Ich will über Vati nicht sprechen«, trotzte der Bub. »Ich will, dass Mutti kommt.«
Denise von Schoenecker entschloss sich, an die Behörde eine Eingabe zu machen, in der sie den Antrag von Rechtsanwalt Dr. Calder unterstützte. »Die Kinder nehmen Schaden an ihrer Entwicklung, wenn sie nicht bald wieder unter die Obhut ihrer Mutter kommen«, schrieb sie. Außerdem telefonierte sie mit dem leiblichen Vater der Kinder. Von ihm erfuhr sie, dass er auf einen Besuch seiner Kinder verzichte. »Ich handle im Interesse der Kinder«, erklärte Frank Durand. »Meine Frau hat mir gesagt, dass sie unter der Scheidung nicht leiden würden.«
Denise seufzte und schwieg. Sie hatte kein Recht, Vorsehung zu spielen. Aber sie hatte sich noch selten so hilflos gefühlt und so ratlos. Sie konnte nichts anderes tun, als auf Barbaras Entlassung zu warten und inzwischen die Kinder so gut wie möglich zu trösten. Sie hoffte jedoch, dass die Mutter selbst zur Besinnung kommen würde, wenn sie ihre verstörten Kleinen sehen würde.
»Ich kann Frau Durand nicht begreifen«, sagte sie zu Andrea. »Aber wir müssen warten, bis sie entlassen wird. Brieflich könnten wir mehr verderben als nützen.«
Andrea stimmte ihr seufzend zu.
*
Sechs Wochen später wurde Barbara entlassen. Hanni brachte ihr die gewünschte Kleidung in das Gefängnis.
Barbara lächelte dem bedrückten Mädchen zu, als sie sagte: »Mein Mann ist nun ganz auf Sie angewiesen, Hanni. Sie werden sicher weiter gut für ihn sorgen.«
»Und ob!«, rief das Mädchen in ausbrechendem Zorn. »Immer hat er Ihnen die Stange gehalten, wenn jemand etwas Ungutes über Sie gesagt hat. Nie hat er geklagt, wenn er Klienten verlor, die nichts mit einem Anwalt zu tun haben wollten, dessen Frau im Gefängnis sitzt. Und Sie belohnen seine Treue damit, dass Sie von ihm zu einem anderen Mann weggehen. Zu diesem Calder! Undankbar sind Sie! Man hätte Sie noch viel länger einsperren sollen!«
Barbara unterdrückte mit einem tiefen Atemzug ihre aufkeimende Wut. So wie sie werden viele denken!, überlegte sie. Aber ich muss es ertragen. Das ist der Preis, den ich für mein Glück an Toms Seite bezahlen muss. So wie Frank bezahlt, indem er mich freigibt und die Schuld an der Scheidung auf sich nimmt. Laut sagte sie: »Es gibt Dinge, die Sie nicht verstehen, Hanni. Aber ich schätze Ihre Treue meinem Mann gegenüber. Leben Sie wohl! Packen Sie alle diese Gegenstände ein, die ich hier aufgeschrieben habe, und schicken Sie nach Sophienlust.
Adieu!«
Hanni ging mit zuckenden Schultern. Als Barbara dann mit ihrem Köfferchen in der Hand auf die Straße trat, sah sie Thomas auf sich zueilen. Die Kehle wurde ihr eng. Sie begann zu rennen.
»Tom! Liebster!« Dann weinte sie an seinem Hals. »Ich bin frei! Ich bin wieder frei!« Sie wankte, und er hielt sie fest. »Schnell! Fahren wir zu den Kindern. Ich kann es kaum noch erwarten, sie in meine Arme zu schließen.«
Stumm vor Glück saß Barbara neben ihm im Wagen. Erst als sie in die Straße nach Maibach einbogen und die Stelle passierten, an der das Unglück geschehen war, sprach sie. »Hier war es, Tom.«
»Ich weiß es.«
»Wirst du es mir niemals vorwerfen?«
»Natürlich nicht, Barb. Ich weiß mehr, als du ahnst.«
Er weiß es, dachte sie. Aber sie hielt sich an den Schwur, den sie sich selbst gegeben hatte, die Wahrheit zu verschweigen, die Schuld weiter still zu tragen. Mehr konnte sie für Frank nicht mehr tun.
»Ich finde es großzügig von Frau von Schoenecker, dass sie mir angeboten hat, in Sophienlust zu bleiben, bis die Scheidung ausgesprochen ist.«
»Ganz so recht ist es mir nicht, Barb. Diese hochnäsige Dame ist mir unsympathisch.«
Barbara fühlte einen Stich, unterdrückte aber das Missbehagen. »Ich sehe keine bessere Lösung, Tom. Im September kommt Bernd zur Schule. Ein Leben im Hotel wäre unzumutbar für die Kinder.«
»Und mein Haus steht leer«, brummte er.
Sie lächelte ihn an. »Wie gern würde ich sofort zu dir kommen, Tom. Aber du weißt als Jurist doch selbst, dass dies die Scheidung erschweren würde.«
Kurz vor Bachenau fuhr Tom den Wagen an den Straßenrand und hielt. Er zog Barbara an sich. »Liebst du mich wirklich, Barb? Ich muss es noch einmal von dir hören, jetzt, wo du wieder frei bist.«
»Ich liebe dich, Tom. Ich hatte Zeit genug, über meine Gefühle für dich nachzudenken.«
»Was hat dich von Frank getrennt? Schließlich hat er sich wie ein Ehrenmann benommen und zu dir gehalten«, bemerkte Tom scheinheilig.
Sie hob das Gesicht zu ihm empor. »Du darfst mich nie mehr danach fragen, denn ich kann und will dir darauf keine Antwort geben, Tom. Es muss dir genügen, dass ich ihn nicht mehr liebe und dass dir mein Herz gehört. Ich hoffe sehr, dass die Kinder genauso fühlen wie ich.«
Er pirschte sich vorsichtig an das Thema heran, das ihm besonders am Herzen lag. »Dein Scheidungsanwalt hat sich mit mir in Verbindung gesetzt, Barb. Er sagte mir, dass du auf Alimente für Erika und Bernd verzichtet hättest. Verstehe mich recht! Selbstverständlich komme ich für den Unterhalt der beiden Kinder auf, denn ich betrachte sie heute schon als meine Kinder. Aber hast du auch bedacht, dass sie dir später vorwerfen könnten, dass du ihre Interessen nicht genügend gewahrt hast? Du könntest das Geld, das Frank bezahlen müsste, für sie anlegen.«
»Ich habe Vermögen, wie du weißt.«
Er drückte sie noch enger an sich. »Das weiß ich, Liebste! Aber wie hoch es ist und ob es den Verzicht rechtfertigt, ist mir unbekannt.«
Sie murmelte an seinem Hals. »Ich nehme Frank seine Kinder weg, Tom. Der Gedanke, dass ich sie trotzdem durch ihn ernähren ließe, wäre mir unerträglich. Ich verspreche dir, dass du für sie materiell nicht aufkommen musst.«
»Aber das steht doch überhaupt nicht zur Debatte, mein Liebling. Ich lasse mir die Ausübung der Rechte eines Vaters nicht nehmen. Aber ich habe dabei auch das Interesse der Kinder zu wahren. Das halte ich ganz einfach für meine Pflicht, Barb! Du bist eine Frau und handelst rein gefühlsmäßig. Das ist es, was ich an dir so liebe. Aber ein Mann, der diesen Namen verdient, muss auch die Vernunft walten lassen. Ich übernehme die Verantwortung für dich, Erika und Bernd und bin mir dessen voll bewusst.«
Sie klammerte sich an ihn. »Ich bin schwach, Tom. Denke du für mich, handle für mich. Ich sehne mich danach, beschützt zu werden. Frank konnte mir dieses Gefühl nicht mehr geben. Warum, das weiß ich nicht.«
»Oder du willst es nicht sagen«, unterbrach er sie leise.
Sie begann zu weinen. »Quäle mich nicht, Tom! Tue alles, was du für recht hältst. Für mich und die Kinder! Fast ein Jahr lang haben mich andere Menschen dirigiert. Jetzt hieß es aufstehen, dann essen, arbeiten, schlafen gehen. Dies anziehen, jenes! Spazieren gehen, Licht löschen, Buße tun! Ich habe mein Selbstbewusstsein verloren. Nur du kannst es mir wieder geben. Ich bin im Moment unfähig, Verantwortung zu übernehmen. Sie haben mich entmündigt, zum Kind gestempelt! Ich gebe mich vorbehaltlos in deine Hände.«
Sie sah nicht den Triumph in seinen Augen. Sie hörte nur den schnellen Schlag seines Herzens, das im gleichen Takt mit dem ihrigen schlug. Sie fühlte sich hilflos, allen Winden des Lebens ausgesetzt und glaubte, nur an seiner Brust einen Halt zu finden für sich und ihre Kinder. Sie hatte sich selbst aufgegeben.
Um diese Zeit saß Frank Durand in seinem Büro und diktierte seiner Sekretärin einen Schriftsatz. Er musste dabei seine ganze Kraft aufbieten, um seine innere Erregung zu meistern.
Ilse Stark hielt den Blick auf den Stenogrammblock geheftet. Sie wusste, dass die Frau ihres Chefs an diesem Tag entlassen wurde, dass er sie nicht abgeholt hatte, dass die Scheidung lief.
Die Sekretärin konnte diese Frau nicht verstehen. Sie war der Ansicht, Barbara Durand musste ihrem Mann, der keinem erlaubt hatte, ein abfälliges Wort über sie zu sagen, unendlich dankbar sein. Immer hatte er sie verteidigt, ohne Rücksicht darauf, ob es ihm geschäftlich geschadet hatte.
Bis jetzt hatte Ilse Stark auch die Liebe zu ihrem Chef stets unterdrückt. Verheiratete Männer waren für sie tabu. Aber Frank Durand würde nun nicht mehr lange gebunden, sondern frei sein. Sein leidvolles Gesicht und die bevorstehende Scheidung ließen ihre Liebe zu ihm nun aufflammen.
»Seltsam, dass Sie Stark heißen«, unterbrach Frank Durand plötzlich sein Diktat. »Sind Sie auch so stark, wie Ihr Name ausdrückt? Ich nehme es an. Sie haben einen energischen Zug um den Mund.«
Ihr Herz raste. »Ich gebe mir Mühe, meinem Namen alle Ehre zu machen«, versuchte sie zu scherzen. Aber der Ton ihrer Stimme strafte sie Lügen. Die Zuneigung stand in ihren Augen.
Er nahm seinen Blick von ihr, setzte das Diktat fort, als sei kein persönliches Wort zwischen ihnen gefallen. Aber ihr Name ließ ihm keine Ruhe. Stark! Ich muss stark sein!, dachte er. Ob sie schon bei den Kindern ist? Sie hat mir gesagt, dass er sie abholen würde. Ob sie ihm eines Tages die Wahrheit sagen wird? Dann wird er alles unternehmen, um mich zu ruinieren. Aber Barbara wird es nicht zulassen. Sie ist im Gefängnis hart geworden.
Sie, die vorher so Weiche, Nachgiebige, Selbstlose, ist egoistisch geworden. Wie aber hätte ich mich verändert, wenn ich eingesperrt gewesen wäre? Ich habe kein Recht, Barbara zu verurteilen. Ich muss ihrem Wort, dass sie schweigen werde, vertrauen.
Als die Sekretärin gegangen war, nahm Frank die Akte seiner Scheidung vor. Er studierte die Anklagen des Gegenanwaltes und verstand es dabei, zwischen den Zeilen zu lesen. Mit Barbara hatte er vereinbart, dass er die Schuld an der Entfremdung auf sich nehmen würde. Er selbst hatte sich an diese Abmachung gehalten. Aber hier standen Details, die ihn diffamierten. Sie kamen von dem Kollegen, der Barbara vertrat. Frank vermutete, dass dahinter die Hetze von Calder stand. Zorn und Schmerz erfüllten ihn. Doch der Gedanke an seine Schuld veranlasste ihn, sich vor dem Schicksal zu beugen. Aber das Bild des kleinen blonden Mädchens, das im Gewittersturm über die Straße und direkt vor seinen Wagen gerannt war, suchte ihn immer öfter heim.
Frank ertrug die Stille seines Büros nicht mehr. Er schloss den Aktendeckel und eilte mit einem kurzen Gruß an Ilse Stark vorbei hinaus auf die Straße.
An diesem Tag betrank er sich zum ersten Mal bewusst, um das Denken auszulöschen und Barbara und seine Kinder zu vergessen.
*
Erika und Bernd standen vor Freude ganz still, als sie ihre Mutter aus dem Auto steigen sahen. Endlich kam wieder Leben in sie. »Mutti! Mutti!«, riefen sie und rannten in Barbaras Arme. »Onkel Tom!« Die Kinder vergaßen in diesem so lange ersehnten Augenblick ihren Kummer um den Vater. Die alte Zuneigung zu Tom Calder flammte wieder in ihnen auf. Auch er bekam Küsschen von den glückseligen. Kindern.
Barbara fühlte eine ungeheure Erleichterung. Sie hatte bis zu diesem Moment selbst nicht gewusst, dass in ihr noch ein Rest von unterschwelliger Spannung und Angst genistet hatte. Nun aber wusste sie, sie durfte glücklich sein, sie durfte sich auf die Zukunft an Toms Seite freuen, denn ihre Kinder freuten sich mit ihr. Tränen stürzten aus ihren Augen. Sie umarmte Erika und Bernd gleichzeitig, drückte sie an sich und lachte dabei.
»Wie bringst du es nur fertig, gleichzeitig zu lachen und zu weinen, Mutti«, meinte Bernd und strampelte sich frei. »Die Heulsuse hat immer nur geweint, seitdem Onkel Tom uns gesagt hat, dass er unser Vati werden will. Sogar Tante Isi hat ihm geglaubt. Aber das war doch sicher pur ein Spaß. Nicht wahr? Onkel Tom scherzt gern mit uns.«
Der Bub kicherte vor sich hin. Aber dabei rollten ihm, genauso wie der Mutter, die Tränen über die runden Wangen. In seinen Augen stand zugleich Angst.
Barbara erstarrte. Sie hatte das Gefühl, ihr Herz bleibe stehen. Sie kannte Bernd gut genug, um zu wissen, dass er mit dem Kichern seinen Kummer vor ihr verbergen wollte. Er litt und mit ihm Erika, die still auf ihrem Arm saß und sie mit ebenso großen Augen fragend anschaute wie Bernd.
Unter dem Blick der Kinderaugen verflüchtigte sich Barbaras Glück. Entsetzen über das, was sie den Kindern angetan hatte, blieb zurück. Mit einem Schlag wurde ihr bewusst, dass sie das Liebste, was sie besaß, ihre Kinder, unglücklich gemacht hatte, um selbst glücklich zu sein.
Ihr war trostlos zumute. Sie setzte Erika behutsam auf den Rasen, schaute Tom an und schüttelte stumm den Kopf.
Thomas Calder bekam einen roten Kopf. Er wandte sich an die Kleinen und bemühte sich, gütig zu sprechen, aber seine Stimme zitterte vor Wut. Die Kinder fühlten es. Nur Barbara nicht. Sie war fassungslos.
»Es war kein Scherz von mir«, sagte er und ergriff die Hände der Kinder. »Eure Mutti wird es euch noch ganz genau erklären. Jetzt aber lasst mich ein paar Minuten mit ihr allein. Ihr seht, dass sie sehr traurig ist, und das wollt ihr doch ganz gewiss nicht.«
»Nein!«, riefen die beiden zur gleichen Zeit und schauten ihre Mutter schuldbewusst an.
»Du sollst nicht mehr weinen, Mutti«, bettelte Erika. »Lache wieder wie vorhin. Du siehst dann so hübsch aus! Und wenn du willst, dass wir mit dir zu Onkel Tom gehen, dann tun wir es auch. Wir wollen eine fröhliche Mutti haben.«
Barbara bemühte sich um der Kinder willen um ein Lächeln. Es gelang ihr sogar. Sie ließ auch zu, dass Tom die Kinder in das Haus führte. Zu Frau von Schoenecker.
»Würden Sie so freundlich sein und sich der Kinder annehmen?«, bat er. »Ich muss mit meiner zukünftigen Frau unbedingt einen Moment allein sprechen.«
Denise nahm Erika und Bernd an die Hand und führte sie in den Wintergarten, ihrem Lieblingsraum. Ihr Blick aber irrte immer wieder unruhig zu den großen Fenstern. Sie sah Barbara Durand draußen stehen. Thomas Calder sprach auf sie ein.
Plötzlich zuckte Denise zusammen. Pünktchen näherte sich langsam dem Paar und lauschte offensichtlich der Unterhaltung. Die beiden waren so vertieft in ihr Gespräch, dass sie das Mädchen nicht bemerkten, das unter dem schützenden Vordach stehengeblieben war.
Denise von Schoenecker eilte beunruhigt hinaus. Pünktchen aber war inzwischen verschwunden, hatte sich aufgelöst wie ein Geist.
Denise kehrte zu den Kindern zurück, beschäftigte sie, um sie abzulenken, und zog die anderen Kinder mit ins Gespräch. Eine innere Unruhe aber setzte ihr zu.
Kann ich mich wirklich felsenfest auf Pünktchen verlassen?, überlegte sie. Die Kinder weinen um ihren Vater. Ich muss verhindern, dass sie auch noch um die Mutter weinen müssen. Am besten wäre es, wenn die Kinder Sophienlust verlassen würden. Aber sie waren glücklich hier. Wie würden sie sich gerade jetzt, in der kritischen Zeit, allein mit der Mutter fühlen? Sie würden allzu sehr merken, dass sich diese einem anderen Mann in Liebe zugewendet hatte. Sie könnten eifersüchtig auf den Stiefvater werden.
Denise seufzte. Was nur weckt immer noch mein Mitleid für Frau Durand?, fragte sie sich. Sie verdient es doch gar nicht, denn unter ihrem Verbrechen scheint sie nicht mehr zu leiden. Sie hat auch noch gar nicht nach Heidi gefragt.
Denise zog die Gardinen vor, um Barbara Durand und Thomas Calder nicht mehr zu sehen. Sie tat es, ohne zu ahnen, dass Barbara in diesem Augenblick unglücklicher war als je zuvor. Franks unverständliches Verhalten, seine Feigheit, das Dahinsterben ihrer Liebe, das Vegetieren im Gefängnis hatten sie beschwert. Aber einen solchen Schmerz wie in dieser Stunde hatte sie bisher niemals empfunden.
»Ich kann den Kindern nicht so wehtun«, sagte sie eben flehend und hielt sich an Tom fest.
»Sei vernünftig, Barb. Du liebst doch deinen Mann nicht mehr. Wenn du der Kinder wegen bei ihm bleibst, wird eure Ehe ein Martyrium. Die Kinder werden die Kälte bald spüren. Sie werden frieren bei dir und Frank.« Tom sprach immer eindringlicher, denn Barbara gab keine Antwort. »Du darfst die Kleinen nicht so ernst nehmen! Du hast doch selbst eben erlebt, wie unberechenbar sie sind. Nur damit du wieder lachst, wollten sie gern zu mir kommen.«
»Von ›gern‹ haben sie nichts gesagt, Tom.«
Er fühlte Ungeduld, zügelte sich aber. Er musste Barbara besitzen. Ihr unvorhergesehener Widerstand fachte seine Gier noch stärker an als ihre Ergebenheit auf dem Weg hierher. Er führte sie in den schützenden grünen Dom des Parkes. Eine Drossel spottete, ein Eichhörnchen kletterte kopfüber einen Baumstamm hinab, streifte sie beinahe, verschwand keckernd im Laub. Die Augustsonne neigte sich dem Horizont zu, ihre Strahlen fielen schräg in den Wald ein und verzauberten ihn zu einer Symphonie von Grün, Gold und den ersten Rottönen des nahenden Herbstes.
Tom nahm Barbara in die Arme und küsste ihr die Worte vom Mund. Seine Hände wurden zärtlich, versuchten ihre Triebe zu wecken. Der Blick seiner samtbraunen Augen umschmeichelte sie, hüllte sie ein, ließ sie das Weinen der Kinder um ihren Vater vergessen. Und die Worte, die er ihr ins Ohr flüsterte, schwemmten ihren letzten Widerstand hinweg. »Keine Ehe, in der Kinder sind, dürfte geschieden werden, Barb, wenn die Eltern die Tränen der Kleinen so ernst nehmen würden wie du. Die Kinder weinen ein bisschen, werden aber hinterher die glücklichsten Wesen sein. Ich biete ihnen alles, was sie sich wünschen. Tiere, einen großen Garten, ein schönes Haus. Du hast es ja gesehen! Sie werden sich pudelwohl darin fühlen.« Die Erinnerung an seine horrenden Schulden zuckte dabei durch sein Gehirn und spornte ihn an, noch anfeuernder zu sprechen.
Barbara ließ sich verzaubern, verhexen, betören. Mächtig flammte die Liebe zu Tom in ihrem Herzen auf. Sie begann seine Küsse zu erwidern. Ihre Lippen streiften seine wunderschönen Samtaugen. Dann sagte sie: »Es bleibt bei meinem Entschluss, Liebster. Ich könnte ja ohne dich nicht mehr leben. Die Kinder wollen eine glückliche Mutti! Und glücklich kann ich nur wieder bei dir werden, Tom.«
Als der Gong zum Abendessen rief, kehrten sie langsam in das Haus zurück. Auch Thomas Calder nahm diesmal an dem gemeinsamen Essen teil. Er saß zwischen Erika und Bernd, scherzte mit ihnen und den anderen Kindern, sodass sie lachten. Nur Pünktchen lachte niemals. Ihre blauen Augen in dem sommersprossigen Gesicht blickten Barbara Durand unentwegt an.
Barbara fühlte ein kurzes Unbehagen. Doch sie schüttelte es ab und wandte sich wieder Denise von Schoenecker zu, die sie eben um eine Unterredung unter vier Augen bat. »Nach dem Essen, bitte«, fügte Denise hinzu.
»Gern, Frau von Schoenecker. Herr Calder will sofort nach Stuttgart zurückfahren.«
Barbara verabschiedete Tom vor dem Parktor. Da kamen die Kinder angerannt und kletterten an ihm hoch. »Du bist uns doch nicht böse, weil wir wegen Vati geweint haben?«, fragte Erika.
»Nein, mein Liebling.« Er drückte das kleine blonde Mädchen an sich.
»Ich habe mit Bernd sehr ernst gesprochen, Onkel Tom. Weißt du, er ist ein Jahr älter als ich, aber die Mädchen sind immer gescheiter. Wir haben ausgemacht, dass wir zu dir Papi sagen, wenn du uns einen süßen kleinen Hund schenkst.« Erika strahlte ihn an. »Du bist dann unser Papi, und Vati bleibt unser Vati.«
»Du kleine Erpresserin!«, entgegnete er lachend.
»Ist das etwas Liebes?«
Er nickte und gab ihr einen Klaps auf das Hinterteil, als sie in seinen Armen strampelte.
»Lass mich los, Papi! Ich will es Heidi sagen. Sie ist meine beste Freundin. Bis jetzt haben wir es niemandem gesagt außer Tante Isi und Tante Andrea.« Erikas tiefblaue Kinderaugen wurden plötzlich ernst. »Nein, Heidi würde traurig sein, wenn ich ihr sagen würde, dass ich zwei Väter habe. Sie hat nämlich überhaupt keinen Vati. Ist das nicht schrecklich traurig, Mutti?«
Barbara war gerührt. Wie zartfühlend war die knapp Fünfjährige. Sie beugte sich zu Erika hinab und erwiderte: »Du kannst deiner Freundin sagen, dass sie uns oft in Stuttgart besuchen darf. Und dass euer Onkel Tom auch für sie ein Ersatzpapi sein wird. Du hast doch nichts dagegen einzuwenden, Tom?«
»Nein!« Thomas Calder schüttelte den Kopf. Doch zugleich war er entschlossen, derart unerfreuliche Besuche zu verhindern. Später! Aber zunächst musste er Barbara und ihr Vermögen besitzen.
Tom fuhr davon und winkte mit der Hand aus dem Fenster Barbara hob die Rechte, die Kinder schwenkten ihre Taschentücher.
»Er ist eigentlich sehr lieb, Mutti«, meinte Bernd nachdenklich, als sie zum Haus zurückgingen.
»Wir werden uns schon an ihn gewöhnen«, erklärte die resolute Erika.
Barbara unterdrückte ein Lächeln. Tom hatte recht! Sie hatte die erste Reaktion der Kinder zu ernst genommen.
Das sagte Barbara kurz darauf auch Denise von Schoenecker, als sie ihr im Salon gegenübersaß. »Ich handle nicht übereilt«, fügte sie hinzu. »Ich habe mir alles in schlaflosen Nächten überlegt. Ich habe an die Kinder gedacht. In erster Linie an sie! Mit meinem Mann kann ich nicht mehr zusammenleben. Ersparen Sie mir Einzelheiten.«
Denise nickte stumm. Doch wieder fühlte sie eine gewisse Unsicherheit dieser jungen Frau gegenüber, die Ahnung, dass sie ein Geheimnis vor ihr verberge. Denise war überzeugt, dass Barbara Durand keine leichtfertige Frau war, keine Undankbare, die jenen Mann im Stich ließ, der in der schwersten Zeit treu zu ihr gehalten hatte. Aber wusste sie denn, was zwischen dem Ehepaar vorgefallen war? Hatte Frank Durand seiner Frau vielleicht doch Vorwürfe gemacht und nur nach außen hin den vergebenden Ehegatten gespielt? Denise erinnerte sich genau an den dunkelhaarigen schlanken Mann mit den schief ergrauen Augen, der so selten seine Kinder besucht hatte. Trotz seiner Ablehnung, Heidi Holsten zu sehen, war er ihr sympathisch gewesen. Sie hatte gespürt, dass dieser Mann unter der Tat seiner Frau litt, dass ihm der Anblick des verletzten Mädchens unerträglich war. Deshalb hatte sie ihn auch nicht dazu gedrängt. Und er hatte nur verzeihende Worte für sie gehabt, sie gegen ihre stummen Vorwürfe verteidigt.
Denise kehrte in die Gegenwart zurück, als Barbara sagte: »Darf ich Heidi Holsten sehen? Erika scheint sehr an ihr zu hängen.«
»Die beiden sind unzertrennlich. Sie sehen einander nicht nur äußerlich ähnlich wie Schwestern. Sie sind einander auch im Wesen ähnlich.«
»Heidi soll oft zu uns kommen, so bald ich erst mit Herrn Calder verheiratet bin. Er liebt Kinder sehr!«
Denise bezweifelte das, rein gefühlsmäßig, Calder hatte sich um die Kinder gekümmert, sie beschenkt und sie, für ihren Geschmack, zu sehr verwöhnt. Ihr war oft gewesen, als habe er sich damit die Zuneigung der Kinder erkaufen wollen, um über diese Brücke die Zuneigung der Mutter zu gewinnen.
Ich muss gegen diese Vorurteile an kämpfen, dachte Denise, während sie sich erhob und Barbara in das Zimmer führte, das sie während ihres Aufenthaltes auf Sophienlust bewohnen sollte. Es war ein mittelgroßer Raum mit freundlichen Birkenmöbeln, Spannteppich in hellem Blau und Vorhängen im selben Farbton.
»Wie hübsch es hier ist«, murmelte Barbara und lehnte sich aus dem geöffneten Fenster. Vergessen war die luxuriöse Einrichtung ihrer Frankfurter Wohnung, vergessen die karge Zelle. Die Vergangenheit fiel ab von ihr. Nur die Zukunft zählte noch. Die Kinder hatten sich nicht mehr gegen Tom als Vater gesträubt. Und sie, sie liebte ihn!
*
Doch das wunschlose Glück, das Barbara Durand in diesem Moment empfand, sollte nur von kurzer Dauer sein. Im Sophienluster Wintergarten braute sich ein Unwetter zusammen, während Barbara sich umzog und sich darauf vorbereitete, zum ersten Mal dem Kind gegenüberzutreten, das ihr Mann nach dem Unfall hilflos hatte liegenlassen. Jenes Kind, für das sie unschuldig viele Monate Haft auf sich genommen hatte.
Die Kleinen vergnügten sich mit Habakuk, dem Papagei. Sie bewunderten die Fische im Aquarium und versuchten, dem Wellensittich einige Worte beizubringen.
Bernd war still und in sich gekehrt. Umso redseliger war dagegen Erika. Sie saß neben Heidi, den Arm um deren Schulter gelegt. »Gefällt dir mein Onkel Tom?«, fragte sie.
»Sehr gut.«
»Weißt du, er wird mein Papi. Ich weiß es schon lange, aber vorher war ich so schrecklich traurig und konnte nicht glauben, dass ich meinen Vati hergeben soll. Darum habe ich es dir nicht gesagt, Heidi. Jetzt aber ist Mutti wieder bei uns, weißt du. Sie hat viel lernen müssen.«
»Pff!«, ertönte es da aus der Ecke in der Pünktchen mit einem Buch saß. Ihre blauen Augen blitzten die beiden kleinen Mädchen an.
Erika ließ sich dadurch nicht stören. »Bernd und ich haben nun unsere Mutti wieder. Da können wir dafür unseren Vati hergeben.«
»Behaltet ihn doch lieber!«, rief Pünktchen aus ihrer Ecke.
Bernd mischte sich jetzt ein. »Erika redet Unsinn«, erklärte er. »Wir behalten Vati und nehmen Onkel Tom als Papi noch dazu. Das ist ganz einfach. Mädchen machen immer Geschichten wegen nichts!«
»Dich geht das überhaupt nichts an«, schimpfte Erika, deren Stolz schon lange getroffen war, zu Pünktchen hinüber. »Bis jetzt war ich immer zu klein für dich. Nie hast du dich mit mir abgegeben, du hochnäsiges Ding. Und wenn du noch einmal pff machst, sage ich es Nick. Dann wird er dich noch weniger mögen als jetzt schon mit deinen Sommersprossen.«
Wie herzlos konnten Kinder im Zorn sein! Die Sommersprossen auf Pünktchens Nase zuckten vor Erregung. Pünktchen sprang auf, stellte sich vor die trotzig blickende Erika und schaute verächtlich zu ihr hinunter. Vergessen waren die Versprechungen, die sie Denise von Schoenecker gegeben hatte. Die Wut, die sie auf Barbara Durand hatte und auf ihre Kinder übertrug, kochte in ihr. Erikas Bemerkung hätte sie sonst lachen lassen. Doch nach allem, was sie an diesem Abend gehört hatte, war sie nicht mehr imstande, ihr Temperament zu zügeln.
»Du Unschuldslamm glaubst, deine Mutter hätte viel lernen müssen. Ich weiß aber, wo sie war!« Eine letzte Hemmung hinderte Pünktchen noch, die Wahrheit sofort herauszuschreien.
Heidis weit geöffnete Augen ließen sie den Mund wieder zuklappen. Sie wollte ihren Liebling nicht an das Unglück erinnern.
»Auf der Uni war sie und hat studiert. Sie wird bald eine Frau Doktor sein!«, schrie Bernd und postierte sich kriegerisch vor Pünktchen.
Das Mädchen schob ihn weg. Bernd aber war ein tapferer Bub, der auch vor so großen Mädchen wie Pünktchen keine Furcht kannte. »Du gönnst meiner Mutti nur den Onkel Tom nicht, weil Nick davonläuft, so bald du auftauchst.«
Das war zu viel für Pünktchen! Nick, der von ihr angebetete zukünftige Erbe von Sophienlust, sollte vor ihr davonlaufen?
Pünktchen ballte die Fäuste, blitzte Bernd an und schrie: »Ich bin nicht wie deine Mutter, die sich diesem Onkel Tom an den Hals wirft. Vermutlich lässt nicht sie sich scheiden, sondern euer Vater. Mit Recht, kann ich nur sagen! Welcher Rechtsanwalt will schon eine Frau haben, die im Gefängnis saß? Sie war es, die dich überfahren hat. Heidi!«
Der Mund der kleinen Heidi Holsten öffnete sich zu einem Schrei. Pünktchen brach in die Knie und umfasste die Kleine. »Verzeih mir, Heidi, aber ich musste es sagen. Ich habe nicht mehr mitansehen können, wie Bernd und Erika die Frau anhimmeln, die es nicht verdient. Sie hat dich im Stich gelassen, mein Kleines. Aber nun bist du ja wieder gesund und musst nicht mehr weinen. Komm, ich bringe dich in dein Zimmer, Heidi. Ich werde Schwester Regine bitten, Erika anderswo unterzubringen. Niemand kann dir zumuten, weiterhin das Zimmer mit ihr zu teilen. Du darfst heute Nacht vielleicht auch zu mir kommen. Ich werde sehr lieb zu dir sein, Heidi. Ich habe dich doch so gern. Alle haben wir dich heb, Schätzchen. Nicht mehr weinen!
Ich kann es nicht ertragen.« Auch Pünktchen begann nun zu schluchzen. Ihre Worte bereute sie bereits bitter.
Erika und Bernd klammerten sich aneinander. Ihre blauen Augen waren vor Entsetzen aufgerissen, ihre Mienen verzerrt. So fand Barbara ihre Kinder, als sie mit Denise von Schoenecker den Wintergarten betrat.
Denise wusste sofort, was geschehen war. Pünktchen hatte das Schweigen gebrochen! Sie kniete nun mit zuckenden Schultern vor Heidi.
Bernd und Erika schauten die Mutter entgeistert an. Die anderen Kleinen mochten wohl nicht alles begriffen haben. Sie schwiegen. Nur ein Dreijähriger kicherte.
Denise klingelte unverzüglich nach Schwester Regine und der Heimleiterin, Frau Rennert. Dann hielt sie Barbara zurück, die zu ihren Kindern laufen wollte. »Warten Sie! Schonen sie die unschuldigen Herzen!«
Schwester Regine führte die Kinder hinaus, die ihr plappernd im Gänsemarsch folgten. Frau Rennert nickte Denise von Schoenecker zu und zog Pünktchen sanft hoch. »Komm. Armes, ich bringe dich auf dein Zimmer.«
Denise hielt noch immer die zitternde Barbara fest, bis auch Pünktchen den Wintergarten verlassen hatte. Dann gab sie die junge Frau frei.
Barbara stürzte zu ihren Kindern, breitete die Arme aus und rief: »Erika! Bernd!« Sie schluchzte. »Wer hat euch etwas angetan?«
Die beiden Kinder blieben stocksteif stehen, hielten sich umklammert. Sie rührten sich nicht, schauten ihre Mutter nur unverwandt an.
So wie vorher das verzweifelte Pünktchen vor Heidi gekniet hatte, ließ sich Barbara jetzt vor ihren Kindern nieder, umfing sie und bat: »Sagt doch etwas!«
Da hörte sie hinter sich die zarte Stimme eines Kindes: »Sie sind erschrocken, weil Pünktchen ihnen gesagt hat, dass Sie mich überfahren haben.«
Heidi Holsten! Barbara fuhr hoch, wandte sich um, schaute das blonde Kind an, das ihrer Erika so sehr ähnelte. Nur die Frisur war ganz anders. Kurze Rattenschwänzchen hinter den Ohren, das Gesichtchen etwas runder, die Augen größer, aber vom selben tiefen Blau. Heidi hatte ihre Arme um den Hals von Denise geschlungen, die sie sofort auf die Arme genommen und sie an ihr Herz gedrückt hatte.
Stille herrschte! Habakuk wiegte sich auf der Stange hin und her, lautlos. Der Wellensittich klammerte sich an das Gitter, die Kanarienvögel saßen still in ihrer Voliere. Schildkröten lagen unbeweglich im großen Terrarium. Die exotischen Pflanzen, die an einen Dschungel mahnten, verstärkten den Eindruck des Geisterhaften, Beängstigenden. Und doch war nichts gespenstisch in diesem hellen Raum mit den freundlichen Korbmöbeln rund um die tragende Säule in der Mitte. Übernatürlich wirkten nur die beiden bewegungslosen Kinder, der Blick ihrer Augen, die nichts Kindliches mehr an sich hatten in dieser Minute. Erschütternd alt wirkten die leidvollen Gesichtchen.
Barbara fühlte, dass die Weichen ihres Lebens jetzt, in diesem Augenblick, gestellt wurden. Ein Wort der Verachtung – und sie würde die Wahrheit sagen. Sie hielt den Atem an, wandte sich wieder Erika und Bernd zu. Sie wusste, die Liebe ihrer Kinder zu verlieren, würde über ihre Kraft gehen. Sie würde reden, die Wahrheit hinausschreien, um sich die Zuneigung und das Vertrauen ihrer Liebsten zu erhalten.
Barbara wartete mit pochendem Herzen, gab Heidi keine Antwort. Doch die beiden sagten nichts, nicht ein einziges Wort. Sie ließen sie nur nicht aus den Augen. Aber als sie auf sie zutrat, wichen sie zurück.
Barbara vereiste innerlich. Ein ungeheuerlicher Schmerz durchzuckte ihr Herz, sodass sie die Hand darauf presste.
In diesem Augenblick erklang wieder Heidi Holstens Stimmchen hinter ihr: »Ihr müsst eurer Mutti verzeihen, weil sie eure Mutti ist und weil ich euch liebhabe. Du, Erika, bist meine allerbeste Freundin und bleibst es auch.«
Liebe, überwältigende Liebe zu diesem zarten, geprüften Kind trieb der sonst so gelassenen Denise die Tränen in die Augen. »Mein kleiner Engel«, flüsterte sie und drückte Heidi noch inniger an sich.
Barbara Durand wartete noch immer auf ein erlösendes Wort aus dem Mund ihrer Kinder. Endlich fragte Bernd: »Ist es wirklich wahr, dass du Heidi überfahren hast?«
Barbara nickte, ohne zu überlegen.
Erika kam auf sie zu, stellte sich vor sie hin und erklärte: »Wenn das wahr ist, kann ich dich nicht mehr liebhaben. Denn Heidi ist meine beste Freundin.«
Da strampelte Heidi Holsten auf den Armen Denise von Schoeneckers. »Das darf Erika doch nicht sagen, Tante Isi. Ich wäre froh, wenn ich eine Mutti hätte. Ich bin doch wieder gesund, und Tante Anja hat gesagt, dass ich selbst schuld war, weil ich über die Straße gerannt bin.« Die Stimme der Kleinen war schrill vor Aufregung.
Denise ließ Heidi auf den Boden gleiten, die zu Erika rannte und sie am Arm rüttelte, wobei sie forderte: »Gleich musst du dich entschuldigen, Erika. Ich bin ja froh, dass du mich so liebhast, aber eine Mutti bleibt immer eine Mutti. So ist es doch, Tante Isi?«
Denise nickte. Sie hütete sich, die Durandschen Kinder zu beeinflussen. Denn sie wusste, sie mussten von selbst den Weg zum Herzen der Mutter zurückfinden. Jedes Drängen konnte nur Schaden stiften.
Barbara schien derselben Meinung zu sein. Sie schwieg und bat auch nicht mehr um ein Wort des Verständnisses.
»Warum hast du das getan, Mutti?«, fragte Bernd endlich.
Mit dieser Frage war das Eis gebrochen. Barbara sprudelte ihre Verteidigung hervor, ohne sich bewusst zu sein, dass sie damit ihren Mann, den sie doch zu verachten glaubte, verteidigte. Als es ihr schließlich doch bewusst wurde, stockte sie. Ihr Herz begann zu flattern.
In diesem Moment hob Erika die Ärmchen und meinte lachend: »Ich will dir einen Kuss geben, Mutti. Du hast dich ganz heiser geredet. Dabei haben Bernd und ich ausgemacht, dass du uns heute Abend wieder das Lied vom armen Veilchen vorsingst. Ja?«
Auch Bernds Gesicht hatte sich jetzt aufgehellt. Er knuffte Heidi liebevoll und meinte: »Du bist prima heraus! Pass auf, unsere Mutti wird dich noch mitnehmen zu Onkel Tom. Schau, wie lieb sie dich anguckt. Jetzt ist mir auch klar, warum du damals eine Nacht nach Maibach gefahren bist, Mutti, und uns mit Vati allein gelassen hast. Warum hast du uns nicht gesagt, dass du ins Gefängnis musst? Wir hätten dich doch dort oft besucht. Das muss wahnsinnig interessant sein, Mutti. Hast du auch ein Kleid mit Streifen angehabt und wie ein Zebra ausgesehen?«
Barbara fand keine Worte. Sie drückte ihren Sohn nur an sich.
In die Stille hinein sagte Denise: »Nun geht schlafen, Kinder: Alle miteinander.«
Nachdem Erika und Bernd Barbara gute Nacht gesagt hatten, schlang auch Heidi die Arme um Barbaras Hals und wünschte ihr eine gute Nacht.
Als die beiden Frauen allein waren, meinte Denise: »Wir sollten zu Pünktchen gehen. Sie wird heute Nacht das unglücklichste Kind auf Sophienlust sein.«
*
Pünktchen, die bereits das Gymnasium besuchte, hatte ein Zimmer für sich allein, damit sie ungestört ihre Schularbeiten machen konnte. Als Denise von Schoenecker und Barbara Durand eintraten, wandte sie sich vom Fenster ab. In ihren blauen Augen stand die Bitte um Verzeihung.
»Du musst dich nicht verteidigen, Pünktchen«, sagte Barbara und setzte sich auf den angebotenen Stuhl, während Denise das Zimmer wieder verließ. Die Herrin von Sophienlust wusste, diese Stunde gehörte den beiden allein.
Pünktchen ließ Barbara sprechen. Mit gesenkten Lidern hörte sie aufmerksam zu. Manchmal zuckte Schmerz in ihrem Gesicht auf. Endlich sagte sie: »Ich habe Sie für eine unbarmherzige Frau gehalten. Nie kam mir der Gedanke, dass Sie darunter gelitten haben könnten. Ich wollte Tante Isi nicht glauben, dass Sie unglücklich sind. Ich dachte, Sie seien nur wegen der Gefängnisstrafe unglücklich.«
»Nein, Pünktchen! Eine solche Schuld brennt, raubt den Schlaf und lässt dem Menschen weder bei Tag noch bei Nacht Ruhe. Man fühlt Schrecken vor sich selbst. Das Bewusstsein, so sehr versagt zu haben, ist schwer zu tragen. Tief innerlich drängt es normalerweise jeden schuldig gewordenen Menschen nach Sühne. Deshalb habe ich mich der Polizei gestellt, wenn auch sehr spät. Die Panik hatte mich verwirrt und am richtigen Handeln gehindert. Aber glaube mir, es gibt auch nach der entsetzlichsten Tat ein neues Leben, wenn man für sich selbst keine Entschuldigung mehr sucht, sondern büßt.«
Dabei dachte Barbara: Ob Frank so denkt, wie ich eben behauptet habe?
Wie muss er dann leiden, da ich ihm die Buße in meiner Selbstgerechtigkeit versagt habe? Bin ich vielleicht mehr zu verurteilen als er?
Pünktchen riss Barbara aus ihren Gedanken. »Verzeihen Sie mir, Frau Durand«, bat sie.
»Ich habe dir nichts zu vergeben, Pünktchen, denn ich habe kein Recht, dir böse zu sein. Sicher hätte ich genauso gehandelt wie du.« Zugleich dachte Barbara: Auf meine Weise war ich viel grausamer als du, Pünktchen. Du hast einer Fremden eine böse Tat vorgeworfen, aber ich meinem Mann, dem Vater meiner Kinder …
Später saß Barbara an Erikas Bett und sang das Lied vom armen Veilchen. Heidi hörte genauso aufmerksam zu wie Bernd, der im Schlafanzug in das Zimmer der beiden Mädchen gekommen war.
»Ist nun alles wieder gut, Mutti?«, fragte der Junge und Barbara nickte.
Die Kinder atmeten auf, als sie das Lächeln auf dem Gesicht der Mutter sahen. Ja, es war alles wieder gut! Ihre kleine Welt war wieder heil, denn die Mutter lachte und trug ihnen nichts nach.
»Ich finde es prima, dass Onkel Tom dich trotzdem heiraten will«, brummte Bernd in seiner kindlichen Aufrichtigkeit. »Ich glaube, jetzt habe ich ihn noch lieber als zuvor. Pünktchen hat wohl recht gehabt, Mutti! Vati hat dich nicht mehr haben wollen.«
»Nein, Bernd, das ist nicht der Grund. Wenn ihr etwas älter seid, werde ich es euch erklären. Euer Vati ist ein grundanständiger Mensch. Ihr solltet ihn liebbehalten. Ihr dürft ihn auch besuchen, sooft ihr wollt.«
Barbara staunte über sich selbst. Denn durch ihren Anwalt hatte sie Frank bitten lassen, auf ein Besuchsrecht zu verzichten, um die jungen Seelen der Kinder zu schonen. Was nur ging in ihr vor?
Barbara grübelte darüber nach in dieser schlaflosen Nacht. Am Morgen hatte sie den Entschluss gefasst, mit Frank persönlich zu sprechen und ihren Teil Schuld an der Scheidung auf sich zu nehmen. Sie wollte sich ohne Bitterkeit von Frank trennen und an Toms Seite ein neues Leben beginnen. Die Großmut der Kinder hatte sie beschämt. So wie die Kinder ihr, der vermeintlichen Verbrecherin, verziehen hatten, wollte sie auch Frank vergeben.
Als die Sonne in dunstigen Schleiern am Horizont hochstieg, schlummerte Barbara ein. Später frühstückte sie gemeinsam mit den Kindern und bat danach Frau von Schoenecker um eine Aufgabe. Sie wollte nicht tatenlos herumsitzen.
Denise übertrug ihr gern die Aufsicht über die Kinder, die an diesem Tag das Tierheim Waldi Co. besuchen wollten. Ein klarblauer Himmel wölbte sich über der kleinen Schar, die nach Bachenau wanderte und dort von Tierpfleger Helmut Koster empfangen wurde. Die Kinder gingen von Gehege zu Gehege, fütterten die Tiere und blieben später bei Andrea von Lehn zum zweiten Frühstück.
Andrea wusste von ihrer Mutter, was am Tag zuvor vorgefallen war. Doch sie berührte das Thema nicht, sondern bemühte sich, ihre inneren Vorbehalte Barbara Durand gegenüber abzubauen. Ganz gelingen aber wollte ihr das nicht. Noch immer konnte sie das Verhalten dieser jungen mütterlichen Frau genauso wenig begreifen wie deren Entschluss, sich vom Vater ihrer Kinder zu trennen.
*
In Stuttgart konnte dagegen Isabelle Camenzind nicht begreifen, dass Thomas Calder sich von ihr trennen und diese Vorbestrafte heiraten wollte.
Isabelle zog alle Register, um den Rechtsanwalt weiter an sich zu binden. Noch nie hatte sie einen so großzügigen Liebhaber besessen wie ihn. Einen solchen Goldesel wollte sie nicht ohne Widerstand hergeben.
Tom war zwar gegen Isabelles Reize nicht immun geworden, aber die Vernunft gebot ihn zur Vorsicht. Isabelle konnte ihm Schwierigkeiten bei Barbara bringen, die auf eine so reizende Art altmodisch und damit genau das Richtige für einen Juristen war, zu dem die Klienten Vertrauen fassen mussten. Wie viele Männer verdankten ihre Erfolge ihren Frauen!
Isabelle saß auf der Lehne von Toms Sessel und spielte mit ihren Handschuhen. Ein betörender Duft ging von ihr aus und umschmeichelte seine Nase. Tom fühlte sich schwach werden. Nur der Gedanke an den Schuldenberg, der mit Barbaras Geld abgetragen werden sollte, ließ ihn zurückhaltend bleiben.
»Du liebst sie, Darling?«
»Ja, Isabelle! Schon als Gymnasiast war ich in sie verliebt. Aber Durand hat sie mir vor der Nase weggeschnappt.«
»Und das musst du natürlich korrigieren. Deine Eigenliebe verträgt es nicht, einmal im Leben Nummer Zwei gewesen zu sein.«
»Du bist recht gescheit, Schnurrkatze. Aber nicht allein Rachgier ist der Motor in mir. Ich bin tatsächlich verrückt nach Barbara.«
»Du warst auch einmal verrückt nach mir, Darling.«
»Auf andere Weise, Isabelle«, sagte er und streifte dabei ungeniert ihren wohlgeformten Körper.
Isabelle begriff. Wut stieg in ihr auf. »Soll das bedeuten, dass du mich nur als Bettkatze missbraucht hast?«
»Ich denke, wir hatten beide Vergnügen daran, Isabelle. Du hast immer gewusst, dass eine Heirat niemals infrage kommt. In meiner Position kann ich es mir nicht leisten, eine Frau an mich zu binden, die nicht den allerbesten Ruf hat. Verzeih meine Offenheit, aber du hast sie herausgefordert.«
»Deine Unverschämtheit hat sie herausgefordert, mein Lieber!«, sagte sie lässig. Sie stand auf, blieb vor ihm stehen und musterte ihn verächtlich, so, wie er sie zuvor gemustert hatte. »Du musst mir nichts vormachen. Ich habe mich nach Frau Durands Verhältnissen erkundigt, nachdem du ihre Kinder so oft besucht hast. Da ich weiß, dass du Kinder nicht ausstehen kannst, wurde ich hellhörig. Barbara Durand ist eine ausgezeichnete Partie für einen bis an den Hals verschuldeten Mann, der auf Reputation achten muss. Du bist ein Mitgiftjäger, mein Darling!«, höhnte sie.
»Werde bitte nicht ordinär!«, fuhr er hoch.
»Wir zwei müssen uns doch kein Theater vorspielen, Darling.« Ihre Stimme wurde zuckersüß, und triefte nun vor Hohn. »Du spielst den Weltmann, und deine elegante Erscheinung unterstützt dich dabei. Aber im Grunde deines Herzens bist du ein bösartiger Spießer, nachtragend, geldsüchtig, eitel, eingebildet. Mir hast du von deinem großartigen Elternhaus erzählt. Dabei war dein Vater ein einfacher Arbeiter, der seinen einzigen Sohn unter Opfern studieren ließ. Da staunst du, was?«
Tom war aufgesprungen. Isabelle hatte ihn tödlich beleidigt. »Ich wollte dir eine anständige Abfindungssumme bezahlen, aber damit ist es jetzt aus. Verlasse mein Haus, und zwar schleunigst! Wenn du die Absicht hast, gegen mich zu intrigieren, dann lass dir sagen, dass es zwecklos ist. Frau Durand ist mir ergeben. Sie wird mir glauben und nicht dir. Außerdem habe ich Dokumente in der Hand, die dich in jeder Gesellschaft unmöglich machen. Ich warne dich also vor jeder rachsüchtigen Handlung.«
»Mein kleiner Anwalt betätigt sich also auch als Erpresser! Für wie töricht hältst du mich, Thomas Calder? Diese Papiere habe ich dir längst gestohlen. Ebenso die Unterlagen, die du gegen Rechtsanwalt Durand gesammelt hast. Wie willst du beweisen, dass er selbst dieses Kind überfahren hat und nicht seine Frau? Das hattest du doch vor, Darling, nicht wahr? Ein angesehener Jurist kann es sich nicht leisten, eine Vorbestrafte zu heiraten. Du siehst, ich habe dich sehr genau erkannt. Das kommt daher, dass ich vermutlich an deiner Stelle genauso gehandelt hätte wie du. Ich bin dasselbe Biest! Du machst dieses törichte Frauchen von dir abhängig, indem du es zur Dankbarkeit für deine Großmut zwingst. Doch dann, wenn du Barbara Durand an die Kette gelegt hast, wirst du die ganze Sache auffliegen lassen. Dann wirst du nachweisen, dass sie für ihren Mann ins Gefängnis gegangen ist. Die Zeitungen werden sich vor Rührung über dieses Opfer überschlagen. Und sie ist dann deine Frau! Du hast dich ihr und ihrer Kinder angenommen! Dein Name wird im ganzen Land bekannt werden, und sentimentale Frauen werden dir ihre Scheidung anvertrauen. Einem Mann, der zu einem solchen Opfer für eine Frau bereit ist, traut man zu, dass er die Interessen einer Frau, die geschieden werden soll, wie ein Löwe verteidigt.«
Thomas war bleich geworden. »Welche Unterlagen meinst du?«
»Den Schriftwechsel zwischen dir und deinem sauberen Kollegen, dem du den Auftrag gegeben hast, nach deiner Heirat mit Barbara Durand den Fall noch einmal aufzurollen. Frau Durand habe deiner Meinung nach das Auftauchen des Kindes vor dem Auto aus der Sicht der Beifahrerin geschildert. Man möge sie unter Eid erneut vernehmen.« »Diebin!«, schrie er. »Erpresser!«, gab sie gefährlich ruhig zurück.
Ein heftiger Streit brach nun zwischen den beiden aus, die sich gegenseitig eigentlich nichts vorzuwerfen hatten. Sie waren einander ebenbürtig. Und da sie das wussten, ließen sie nun jede Maske fallen.
Schließlich war Isabelle Camenzind bereit, zu schweigen, wenn Thomas Calder ihr bis zum ersten September eine Summe von zwanzigtausend Euro in bar bezahlen würde. Dann wollte sie ihm die belastenden Dokumente aushändigen und sich für immer von ihm trennen.
Thomas Calder saß damit in der Falle. Er wusste nicht, woher er diese Summe nehmen sollte. Einen weiteren Bankkredit konnte er nicht erhalten. Das Haus war mit Hypotheken bereits überlastet. Aber Barbara schwamm in Geld. Also musste er versuchen, den Betrag bei ihr lockerzumachen. Aber unter welchem Vorwand? Sie anzupumpen, ließ seine Eitelkeit nicht zu. Später, wenn er mit ihr verheiratet sein würde, konnte er sagen, dass er sich an der Börse verspekuliert hatte. Dann würde sie ihm selbstverständlich unter die Arme greifen.
Nach einer unruhigen Nacht hatte Tom schließlich den rettenden Einfall. Er bat seinen Freund Auenberg, dem er den Auftrag gegeben hatte, die Strafsache Durand erneut aufzugreifen, um den erforderlichen Betrag. Nach zähem Verhandeln unterschrieb er einen Vertrag, dass er die ausgeliehenen fünfundzwanzigtausend Euro mit fünfzehn Prozent Zinsen drei Monate nach der Hochzeit zurückzahlen würde.
Von den damit für ihn verbleibenden fünftausend Euro ließ Tom Barbara ein herrliches Blumenarrangement schicken und den Kindern zwei Dreiräder. Sich selbst gönnte er in weiblicher Gesellschaft ein erlesenes Abendessen im teuersten Speiselokal Stuttgarts. Als er die käufliche Schöne später in seiner Wohnung in den Armen hielt, fühlte er, dass seine Leidenschaft sich schon ganz auf Barbara konzentriert hatte. Er schickte das beleidigte Mädchen mit einer mäßigen Bezahlung weg.
Will ich Barb wirklich nur deshalb haben, weil Frank sie mir damals weggeschnappt hat?, fragte er sich. Kann beleidigte Eitelkeit nach so vielen Jahren noch so wirksam sein?
Tom kannte sich selbst nicht mehr. Da er es hasste, über fruchtlose Probleme zu grübeln, trank er noch ein Glas Sekt, bis der Schlaf ihn übermannte.
Als Barbara ihn am folgenden Morgen anrief und ihm von der Szene im Wintergarten berichtete, tröstete er sie. »Kinder vergessen schnell, Liebste. In einigen Tagen werden sie überhaupt nicht mehr daran denken.«
»Sie tun es schon jetzt nicht mehr, Tom. Aber eines ist mir dabei klargeworden. Ich habe kein Recht, ihnen den Vater ganz zu nehmen. Ich werde Frank durch meinen Anwalt sagen lassen, dass ich ihm das Besuchsrecht nicht mehr streitig mache.
»Du bist die Mutter, Liebste. Die Entscheidung darüber liegt bei dir, nicht bei mir.«
»Danke für dein Verständnis, Tom.«
Bitte sehr, dachte er, während er aufhängte. Sollen sie nur die Ferien bei ihrem Vater verbringen. Dann sparen wir die Kosten und sind die Gören einige Wochen los.
*
Die Scheidung von Frank und Barbara Durand wurde am dritten November ausgesprochen.
In der darauffolgenden Nacht fand Barbara keinen Schlaf. Die Erinnerungen an die gemeinsamen schönen und auch schweren Tage mit Frank quälten sie. Als sie aber die strahlenden Augen ihrer Kinder sah, die jubelnd in den ersten Schnee hinausliefen, wurde ihr Herz ruhig. Die Entscheidung war gefallen. Ihr weiterer Lebensweg an Toms Seite schien bereits festgelegt.
Die verständnisvolle Güte, die Denise von Schoenecker ihr entgegenbrachte, half Barbara, wieder fröhlich zu werden. Sie wurde ihren Kindern und den anderen kleinen Insassen des Heims eine heitere Spielgefährtin, Pünktchen aber eine verständnisvolle ältere Freundin. Das Mädchen hing an ihr und verehrte sie.
»Die Kinder haben etwas sehr Wichtiges gelernt, Frau Durand«, sagte Denise eines Tages zu Barbara und nahm ihr damit den letzten Rest von Bitterkeit, »nämlich Toleranz. Obwohl sie noch zu jung sind, um das ganz zu erfassen, wird es doch in ihrem späteren Leben Früchte bringen.«
Im Dezember musste Barbara nach Frankfurt fahren und ihr früheres Heim aufsuchen. Frank hatte ein Büro in München übernommen und löste den Haushalt auf.
Barbara holte tief Luft, als sie aus dem Lift trat und auf die Klingel drückte. Hanni öffnete ihr und schaute sie geringschätzig an.
»Der Herr Doktor ist extra mit Frau Stark ausgefahren, um Ihnen nicht begegnen zu müssen. Hier im Wohnzimmer sind alle Sachen aufgestapelt, die der Herr Doktor nicht nach München mitnehmen will.«
Barbara ging in das Zimmer. Wehmut erfasste sie, als sie all die unnützen Kleinigkeiten sah, die sie an vergangene Zeiten erinnerten und die zu ihrem persönlichen Besitz gehörten. Sie fand sogar drei feurige Liebesbriefe von Tom, die er ihr zu einem Zeitpunkt geschrieben hatte, als sie bereits mit Frank verlobt gewesen war.
Barbara steckte die Briefe in ihre Handtasche. Dann bezeichnete sie all die Dinge, die sie in ihr neues Leben mit Tom mitnehmen wollte. Hanni nahm den Auftrag, sie zu verpacken und nach Sophienlust zu schicken, mit mürrischer Miene entgegen. Doch Barbara blieb gelassen. »Gehen Sie mit Herrn Durand nach München oder suchen Sie sich eine andere Stellung?«, fragte sie.
»Natürlich bleibe ich bei Herrn Doktor. Er kann doch gar nicht auf mich verzichten. Wenn er erst mit Frau Stark verheiratet ist und die beiden Kinder bekommen, braucht er mich. Sie wird eine richtige Rechtsanwaltsgattin sein, die ihrem Mann in der Praxis hilft.«
»Ich war wohl in Ihren Augen eine allzu bequeme Hausfrau, Hanni?«, meinte Barbara lächelnd.
Da verlor das Mädchen die Nerven. »Immer hab’ ich Sie gern gehabt und war stolz auf Sie. Erst als Sie das Kind überfuhren und liegenließen, konnte ich Sie nicht mehr ausstehen, und dann noch die Scheidung! Aber jetzt bin ich froh darüber. Sie sind es nicht wert, seine Frau zu sein!« Aufschluchzend rannte Hanni in die Küche und ließ ihre ehemalige Herrin einfach stehen.
Barbara horchte tief in sich hinein. Tue ich mir selbst leid?, fragte sie sich. Bäume ich mich noch immer auf gegen die Schuld, die ich für Frank auf mich genommen habe? Nein, ihr Herz blieb ganz still. Sie hatte sich von Frank und ihrer Vergangenheit völlig gelöst und wünschte Frank ehrlichen Herzens Glück an der Seite von Ilse Stark. Sie war ihrer Ansicht nach die passende Gefährtin für ihn.
Leise zog Barbara die Tür ins Schloss und nahm damit Abschied von ihrem bisherigen Leben. Das neue konnte nun ohne Rückschau beginnen. Das Leben mit Tom und den Kindern.
Nun begann für Barbara eine Zeit der Harmonie und des inneren Friedens. Sie machte sich auf Sophienlust nützlich und sprang überall ein, wo helfende Hände benötigt wurden. Ihre Hilfsbereitschaft überwand schließlich auch die Vorbehalte Andrea von Lehns. Die junge Frau war nun zu einer echten Freundschaft bereit. Doch immer, wenn sie Barbara im Umgang mit Tieren beobachtete, festigte sich in ihr die Gewissheit, dass Barbara für ihren Mann ins Gefängnis gegangen war.
Tom kam zweimal wöchentlich von Stuttgart nach Sophienlust. Umgekehrt besuchte ihn Barbara einige Male mit den Kindern in Stuttgart. Bernd und Erika waren von seinem luxuriösen Bungalow begeistert, vor allem aber im Hinblick darauf, dass darin viele Tiere Platz finden würden. Barbara richtete die beiden Gästezimmer für Bernd und Erika ein. Mit jedem Besuch fiel ihr der Abschied von Tom immer schwerer. Sie konnte den Tag der Hochzeit kaum noch erwarten. In vier Wochen, am dritten März, sollte die Trauung stattfinden.
Mitte Februar fuhr Barbara für zehn Tage mit den Kindern in die Schweiz, an den Luganer See. Die Kinder sollten sie noch einige Tage allein genießen können.
»Du bist doch damit einverstanden?«, fragte sie Tom, als sie sich von ihm verabschiedete.
»Am liebsten würde ich euch begleiten, Barb. Aber die Arbeit hält mich hier fest. Rufe mich jeden Abend an, ja?«
Barbara versprach es. Sie wusste nicht, dass die Haushälterin bei diesem Gespräch die Ohren spitzte und das Hotel in Lugano an Isabelle Camenzind weitergab, die sie um diese Information gebeten hatte.
Einen Tag vor Barbara traf Isabelle Camenzind im Splendid ein. Ihre Zwanzigtausend hatte sie bereits in der Tasche. Was also hätte sie daran hindern können, dieser blonden faden Frau ein Licht aufzustecken? Sie tat doch damit nur ein gutes Werk!
Es fiel Isabelle nicht schwer, über die Kinder Kontakt zu der Mutter zu finden. Erika vor allem bewunderte die grünen Augen der fremden Frau aus Deutschland. »Wie eine Smaragdeidechse sieht sie aus, Mutti.«
»Sie ist flotter als du angezogen«, meinte Bernd und schielte zum Nebentisch hinüber, von wo Isabelle ihm ermunternd zulächelte. »Alle Männer drehen sich nach ihr um.«
»Eurem zukünftigen Papa würde es nicht recht sein, wenn ich so auffällig gekleidet herumspazieren würde.«
»Aber er sieht doch auch immer geschniegelt aus, Mutti. Vati war gegen ihn wirklich altmodisch.«
Barbara lächelte. Als ihr Blick zum Nebentisch glitt, grüßte Isabelle und kam angeschlendert. Zum ersten Mal spazierten die beiden Frauen gemeinsam die Promenade am See entlang.
Isabelle steuerte sofort gerissen auf ihr Ziel zu. »Ach, Sie kommen aus Frankfurt! Ich kenne diese Stadt sehr gut. Auch einen Anwalt dort. Ich verkehre viel in Juristenkreisen. Ich war lange mit einem Anwalt aus Stuttgart befreundet. Leider bin ich nicht sehr wohlhabend. Mein Freund hat deshalb nach einer reichen Erbin gesucht, um aus seinem finanziellen Schlamassel herauszukommen.«
Isabelle plauderte, lachte zwischendurch, machte Bemerkungen über die wunderschöne Aussicht und kam immer wieder auf ihr Thema zurück. Sie machte ihre Sache so gut, dass Barbara zunächst keinen Verdacht schöpfte. Denn Toms Name war noch nicht gefallen.
Barbara horchte erst auf, als Isabelle seufzend meinte: »Anfang März will er die andere heiraten. Was heißt aber hier, er will! Er muss es tun. Er ist es seinem Namen schuldig. Wenn erst die Kuckucke des Gerichtsvollziehers unter seinen unbezahlten Persern kleben, ist es aus mit seiner Karriere. Ich habe mich hierhergeflüchtet, um nicht in seiner Nähe zu sein, wenn er heiratet. Es tut zu weh hier drinnen!« Sie legte die Hand auf ihr Herz und seufzte noch einmal abgrundtief.
Barbara holte tief Luft. Aber sie stellte keine Frage, denn sie hatte Angst, den Namen Calder zu hören. »Ich glaube, es ist Zeit, mich um die Kinder zu kümmern«, erklärte sie. »Sie turnen mir zu waghalsig auf dem Geländer herum. Ein Bad wäre jetzt nicht das Richtige.«
»Wie beneide ich Sie um Ihre hübschen, lebhaften Kinder! Die Frau, die mein Freund heiraten will, hat auch zwei. Sie ist geschieden, und denken Sie, sie wurde erst vor einigen Monaten aus dem Gefängnis entlassen. Sie soll ein Kind überfahren haben. Aber nicht sie ist die Schuldige, sondern ihr Mann, wie mir mein Freund erzählt hat. Den Namen seiner Zukünftigen hat er mir nie verraten. Im Grunde tut sie mir leid, denn sie weiß natürlich nicht, dass er sie nur ihres Geldes wegen heiraten will.«
Barbara vergaß die waghalsigen Spiele ihrer Kinder. Sie starrte in die grünen Augen, die ihren Blick keck erwiderten.
Isabelle plauderte in ihrer gerissenen Art unentwegt weiter. Sie lachte und klagte in einem Atemzug. »Zuerst wollte ich nicht glauben,, dass er tatsächlich eine Vorbestrafte heiraten wolle. Das wäre ja noch schlimmer, als mich zu heiraten, dachte ich. Dann aber kam ich dahinter, dass er sie reinwaschen will, so bald er mit ihr verheiratet ist. Ich habe ganz zufällig einen Brief von ihm an Dr. Auerberg gelesen. Diesen Kollegen hat er beauftragt, die Sache noch einmal aufzurollen und den geschiedenen Mann zu zwingen, unter Eid auszusagen.
Barbara wurde plötzlich innerlich ganz ruhig. »Dann wissen Sie auch, dass ich die zukünftige Frau Dr. Calders bin. Sie müssen meinen Namen in diesem Brief doch gelesen haben. Wie lautet er?«
Isabelle wusste stets genau, wann sie zu kapitulieren hatte. Sie gab es nun auf, die Unwissende zu spielen. »Ja, ich weiß, wer Sie sind«, gestand sie. »Ich habe Ihre Gesellschaft gesucht, um Sie vor Tom zu warnen. Ich war nur eine von seinen vielen Geliebten, aber mir hat er ziemlich viel anvertraut. Und was er mir nicht sagte, habe ich durch seine Haushälterin erfahren. So auch das Hotel hier. Nun wissen Sie Bescheid.«
»Sie sind sehr rachsüchtig, Frau Camenzind.«
Isabelle lachte. »Er hat mich immer Schnurrkatze genannt. Und so unrecht hatte er nicht. Ich spiele genauso gern wie diese lieben Tierchen mit einer kleinen Maus. In Ihrem Falle aber möchte ich, dass das arme Mäuslein entkommt.« Und mit einem Blick auf die noch immer am Seegeländer turnenden Kinder fügte sie hinzu: »Sie sind entzückend! Ich würde Ihnen Tom Calder nicht als Vater wünschen.«
»Was ich für meine Kinder für gut halte, das müssen Sie schon mir überlassen, Frau Camenzind«, sagte Barbara eisig. Sie stand auf. »Ich werde Herrn Calder von diesem Gespräch berichten. Eines aber möchte ich Ihnen deutlich zu verstehen geben: Ich habe dieses Kind überfahren! Nicht mein Mann ist der Schuldige, sondern ich Wenn Herr Calder vorhat, mich reinzuwaschen, dann kann ich das nur als Zeichen seiner Liebe werten. Guten Tag!«
Barbara ging langsam zu Erika und Bernd. Sie lachte mit ihnen, ließ die beiden noch einige Minuten gewähren und kehrte dann mit ihnen in das Hotel zurück. Sie aß mit ihnen zu Abend und erwiderte den spöttischen Gruß Isabelle Camenzinds gelassen. Die Kinder merkten nicht, welcher Sturm in der Seele ihrer Mutter tobte. Erst als Barbara ihnen das Lied von dem armen Veilchen vorsang zitterte ihre Stimme.
»Es sank und starb und freut’ sich noch: und sterb’ ich denn, so sterb’ ich doch durch sie, durch sie, zu ihren Füßen doch.
Das arme Veilchen! Es war ein herziges Veilchen!«
Erika setzte sich im Bett auf und schlang die Arme um den Hals der Mutter, als sie fragte: »Willst du wieder weinen, Mutti? Hast du so viel Mitleid mit dem Veilchen? Es ist doch glücklich! Auch Heidi ist froh, dass du sie überfahren hast. Weißt du, was sie zu Bernd und mir gesagt hat, als wir weggefahren sind?«
»Nein, mein Liebling.«
»Sie hat gesagt, wenn deine Mutti mich nicht überfahren hätte, dann wärt ihr nie nach Sophienlust gekommen und niemals meine Freunde geworden. Eure Mutti habe ich beinahe so lieb wie Tante Isi und Tante Andrea. Mutti, du kommst mir vor wie die Schäferin. Die wollte das Veilchen doch auch nicht zertreten. Sie hat nur nicht aufgepasst, genauso, wie du am Steuer. Sogar Pünktchen hat gesagt, dass so etwas jedem Erwachsenen passieren kann und dass sie selbst nie ein Auto haben möchte. Du musst also nicht weinen wegen Heidi, Mutti!«
Barbara dachte, du tröstest mich, mein kleiner Liebling, und doch sind deine Worte für deinen Vati bestimmt. Du weißt es nur nicht und wirst es niemals erfahren. Zugleich dachte sie: Welch’ ein Segen, Kinder zu haben! Auch wenn ich Tom verlieren sollte, weil er nicht mich, sondern mein Geld liebt, bleiben mir die Kinder. Ich will ihnen eine fröhliche Mutter sein. Ich kann ihnen nichts Wertvolleres für das Leben mitgeben als eine glückliche Kindheit. Das wird sie stark machen für die Härte des Lebens.
Barbara lächelte. Sie lachte sogar. Und die Kinder waren fröhlich mit ihr, voller Vertrauen.
Erst in ihrem Zimmer verließ Barbara die Kraft. Sie haderte mit ihrem Schicksal, mit sich selbst. Bin ich so schwach, dass mich jeder Windstoß umblasen kann?, fragte sie sich. Warum glaube ich dieser rachsüchtigen Person? Ich muss mit jemandem darüber sprechen. Ich ersticke sonst.
Es trieb Barbara zu Denise von Schoenecker. Zu einem Herzen, an dem sie sich ausweinen konnte, das ihr die Kraft gab, ihre Kinder mit ihren Problemen nicht zu belasten.
Als Barbara zwei Tage danach in Sophienlust eintraf, ließ Denise sie weinen und sprechen. Barbara hörte draußen die fröhliche Begrüßung, erkannte Heidis Stimmchen: »Bin ich froh, dass ihr wieder da seid! Kommt, ich will euch das Kätzchen zeigen, das ich damals miauen hörte. Es hat inzwischen fünf süße Kinderchen bekommen. Alle rabenschwarz!«
Die Erinnerung an den Unglückstag überfiel Barbara. Sie schaute in die wunderschönen gütigen Augen von Denise und wusste, dass ihr Geheimnis in der Brust dieser Freundin so gut verwahrt sein würde wie in ihrer eigenen. So sagte sie nun die Wahrheit. Die ganze Wahrheit. Sie schonte sich selbst nicht und fand für Frank viele Entschuldigungen. »Ich habe ihn daran gehindert, die Wahrheit zu sagen. Er glaubt, ich hätte seine Strafe auf mich genommen und ihn zu demütigen und loszuwerden. Aber ich habe ihn doch geliebt! Die Verachtung erst hat meine Liebe zerstört.«
Denise von Schoenecker sprach sanft, aber sie ließ sich nicht von Mitleid hinreißen. »Ein Opfer, das man ungern bringt, ist keines mehr, sondern eine Anmaßung, Barbara. Ich darf Sie doch so nennen?« »Ja!«
»Ich bin erleichtert, dass sich meine und meiner Tochter Ahnung nun doch bestätigt. Wollen Sie es Ihren Kindern und Heidi sagen?«
»Nein!«, wehrte Barbara ab. »Sie haben mir vergeben. Warum soll ich sie erneut in Verwirrung stürzen?«
»Sie lieben Ihre Kinder sehr?«
»Über alles!«
»Und Herrn Calder?«
»Noch immer! Ich kann nicht glauben, dass er ein Schuft ist, wie Frau Camenzind behauptet hat.«
»Sie haben die Pflicht, sich zu vergewissern, was Wahrheit und was üble Nachrede ist, denn Sie entscheiden nicht nur für sich allein, sondern auch für Ihre Kinder. Wenn er Ihren geschiedenen Mann ruinieren will, aus Rachsucht, haben Sie ihm gegenüber Pflichten. Denn er ist und bleibt der Vater Ihrer Kinder. Sie können sich am besten bei dem Anwalt erkundigen, der Ihren geschiedenen Mann zum Eid zwingen soll.«
»Es widerstrebt mir, Frau von Schoenecker.«
»Soll ich es für Sie tun?«
Barbara zögerte. Und doch fühlte sie, dass sie kein Recht hatte, die Augen vor den Dingen zu verschließen, nur weil ihr Herz schmerzte, weil sie Angst vor der Wahrheit hatte. Sie dachte an Erika und Bernd, die sie Tom anvertrauen wollte, und gab nach einem heftigen inneren Kampf schließlich ihre Zustimmung.
»Ich habe noch eine Bitte«, meinte Denise nachdenklich, »die Sie mir selbstverständlich abschlagen können. Meine Stieftochter Andrea hängt an Ihnen und leidet darunter, dass sie Ihnen diese Zuneigung nicht vorbehaltlos entgegenbringen kann. Darf ich das, was Sie mir anvertraut haben, an sie weitergeben? Ich weiß, dass sie genauso schweigen wird wie ich.«
»Sagen Sie es Frau von Lehn.«
Barbara fühlte sich nach diesem Gespräch unendlich erleichtert, bis die Nacht einfiel und sie bedrängte. Dann kam sie sich wie eine Verräterin vor.
*
»O Mutti, wie froh bin ich, dass wir uns in Frau Durand nicht getäuscht haben!« Andrea umarmte ihre Mutter erfreut, als Denise ihr berichtete. Und dann gingen die beiden Frauen zielbewusst vor. Andrea vor allem nahm die Nachforschungen in ihre kleinen energischen Hände. Sie schrieb, sie telefonierte, sie fuhr nach Stuttgart und spitzte die Ohren.
Das Ergebnis ihrer Bemühungen war niederschmetternd. Isabelle Camenzind hatte nicht übertrieben, sondern eher das Gegenteil getan! Calder hatte einen üblen Ruf. Andrea und Denise erschraken vor der Höhe seiner Schulden. Sie erfuhren auch von dem Kredit von Fünfundzwanzigtausend Euro, den er mit Barbaras Geld zurückzahlen wollte, so bald sie seine Frau geworden war. Er erpresste Klienten, die selbst erpresst wurden. Er war ein Tänzer am Abgrund der Kriminalität. Es wäre ein Verbrechen gewesen, diesem Mann die Kinder auszuliefern.
Denise und Andrea brachten das Barbara schonend bei.
»Ich fahre nach Stuttgart und spreche mit ihm«, erklärte Barbara daraufhin. Sie verschmähte den leichteren Weg, ihm zu schreiben. Sie wollte sich ihm nun stellen. Und zum ersten Mal spürte sie etwas von der alten Kraft, die noch in ihr schlummerte.
Als Barbara sich von den beiden Frauen, die ihre Freundinnen geworden waren, verabschiedete, sagte sie mit einem wehmütigen Lächeln: »Heute Nacht habe ich ein Wort von Marie von Ebner-Eschenbach gelesen. Es lautet: ›Wie teuer du auch eine schöne Illusion bezahlst, du hast doch einen guten Handel gemacht.‹ Ich war einige Monate glücklich. Mit Herrn Calders Hilfe habe ich meinen Gefängniskomplex überwunden. Und nie mehr kann ich im Leben unglücklich sein, solange ich meine Kinder glücklich weiß. Sie werden die Tatsache, dass ihr Onkel Tom nicht ihr zweiter Vater wird, mit derselben Unbekümmertheit hinnehmen wie meine Scheidung.«
Diesen Trost nahm Barbara auf den Weg nach Stuttgart mit. Reife lag auf ihrem Gesicht, und diese Reife spürte Thomas Calder, als Barbara ihm schonungslos erzählte, was in Lugano geschehen war und was sie inzwischen erfahren hatte.
»Du hast dich aufhetzen lassen! Ich liebe dich! Ich habe dich immer geliebt«, erwiderte Tom verzweifelt.
»Geliebt? Nein, Tom, du wolltest mich nur Frank wegnehmen. Das hast du geschafft. Du bist nachtragend und rachsüchtig. Ich darf die Augen davor nicht verschließen. Mein Glück ist wichtig für mich, wichtiger aber noch das meiner Kinder. Ich habe sie in die Welt gesetzt, ungefragt, ob sie geboren werden wollen. Dafür zu sorgen, dass das Leben für sie ein Geschenk wird, das ist meine Verantwortung und meine Aufgabe.«
Er leugnete, er log, er bettelte und zuletzt schrie er sie an: »Ob du mich nun heiratest oder nicht! Ich werde Frank ruinieren!«
»Und wie willst du das tun, Tom?«
»Indem ich ihn zum Eid zwinge.«
»Nein, Tom! Das kannst du nicht. Ich habe mich erkundigt. Nur ich könnte den Prozess noch einmal aufrollen und ich, ich habe kein Recht dazu. Ich habe Heidi Holsten überfahren.«
»Du lügst!«
»Und wenn ich lügen würde? Hast nicht auch du gelogen? Hast du ein Recht, mir etwas vorzuwerfen?« Sie öffnete ihre Tasche, zog das Scheckbuch heraus, kritzelte hastig. »Hier hast du fünfundzwanzigtausend Euro, Tom. Das ist die Rechnung, die ich bezahle für meinen Egoismus. Ich will nicht, dass der Mann, den ich liebe, vor die Hunde geht.«
Barbara ging. Mit straffem Rücken. Sie schaute sich nicht ein einziges mal um.
Tom hielt den Scheck wutentbrannt in der Hand. Er wollte ihn zerreißen, aber er besann sich im letzten Augenblick. Ein hämisches Grinsen verzerrte sein Gesicht, sodass er in diesem Moment nicht mehr schön und attraktiv war. Er setzte sich hinter das Steuer seines Wagens und löste den Scheck ein, ehe Barbara ihre Dummheit bereuen konnte.
Doch daran dachte Barbara nicht. Mit diesem Geld, das Tom angenommen hatte, war der Träger ihrer Liebe eingestürzt. Wie damals, als Frank das Kind hatte liegenlassen. Ich habe Frank überwunden, dachte sie, ich werde auch die Liebe zu Tom verkraften. Sie wird sich selbst verzehren wie eine brennende Kerze. Ich muss nur Geduld haben. Ich habe ja meine Kinder, Heidi Holsten, Pünktchen, Denise von Schoenecker, Andrea von Lehn, Anja Frey, Schwester Regine, Frau Rennert. Ich bin reich an Freunden! Wie werden es Erika und Bernd aufnehmen, dass Onkel Tom nicht ihr Papi wird?
Die Kinder nahmen es gelassen hin. »Eigentlich brauchen wir ihn gar nicht, Mutti. Heidi und Pünktchen und alle anderen haben ja auch weder einen Vater noch eine Mutti und sind doch glücklich hier.«
»Dann braucht ihr mich eigentlich auch nicht?«, scherzte Barbara und spürte doch einen scharfen Schmerz.
Die Kinder warfen sich in ihre Arme. »Wie kannst du nur so etwas sagen!«, rief Bernd vorwurfsvoll. »Du bist doch die Mutti von allen hier geworden. Für Tante Isi und Tante Andrea sind einfach zu viele Kinder da. Wir brauchen dich hier, vor allem Heidi und Pünktchen.«
Sie brauchen mich! Sie lieben mich! Das war ein großer Trost für Barbara, Balsam für die Wunde, die Tom aufgerissen hatte. Sie heilte nur langsam.
*
Es kam der dritte Mai, Erikas sechster Geburtstag! Noch immer wohnte Barbara mit ihren Kindern auf Sophienlust. Am ersten Juni aber sollten sie eine Wohnung in einem alten Haus in Wildmoos beziehen, das mitten in einem großen Garten stand. Es lag nur einige Gehminuten von der Villa Dr. Anja Freys entfernt.
Die Kinder waren traurig, dass sie Sophienlust nun verlassen sollten. Aber sie hatten eingesehen, dass Waisen mehr Anspruch hatten auf die Zimmer, die sie jetzt bewohnten, als sie selbst.
Tiefblau wölbte sich an diesem Maitag der Himmel über dem Land. Erika war zappelig vor Freude. Barbara wollte mit ihr und Bernd zum Teich wandern und dort ein Picknick abhalten. Nach dem Mittagessen sollten sich die kleinen Freunde dazugesellen. Dann würden sie Erikas Festtag gemeinsam feiern.
Ein kleiner Schatten lag jedoch auf der Freude. »Dass Vati aber auch gar nichts geschickt hat, Mutti!«, beschwerte sich Erika.
Barbara tröstete ihre Tochter. »Er hat jetzt viel zu tun, Erika. Du weißt doch, dass er sich eine neue Praxis in München eingerichtet hat. Vielleicht hat die Post auch ein bisschen gebummelt, und das Päckchen kommt noch.«
»Er braucht mir ja gar nichts zu schenken. Nur schreiben hätte er sollen. Wenn ich auch ein geschiedenes Kind bin, sollte ein Vater seine Tochter doch nicht ganz vergessen.«
Es ist meine Schuld, dachte Barbara. Ich habe zu heftig um euch gekämpft, damit ihr allein mir und Tom bleibt. Nun ist euer Vati gekränkt, auch wenn ich ihm das Besuchsrecht nicht mehr streitig gemacht habe. Es ist auch besser so. Ihr werdet ihn im Laufe der Jahre wohl vergessen. Er aber gründet eine neue Familie. Ilse Stark ist noch jung. Er wird Kinder mit ihr haben, und ich darf es ihm nicht übelnehmen, wenn er euch darüber vergisst.
Barbara schob die unangenehmen Erinnerungen von sich und spazierte mit Bernd und dem Geburtstagskind zum Teich. Erika trug ein Buch über Insekten unter dem Arm, aus dem die Mutter vorzulesen versprochen hatte.
»Ob wir ein paar lustige Grünfräcke finden, Mutti?«
»Du meinst Laubfrösche? Vielleicht!«
»Die haben die Enten alle längst gefressen !«, rief Bernd.
»Du bist einfach grausam«, ärgerte sich Erika über den Bruder. »Ein paar werden sie doch noch übriggelassen haben. Es ist so hübsch, wenn sie quaken.«
»Kröten quaken auch.«
»Die mag ich nicht. Die sind hässlich.«
»Du bist auch hässlich, und ich mag dich doch«, entgegnete Bernd grinsend und rannte los. Doch plötzlich blieb er wie gebannt stehen.
Erika vergaß ihren Protest. Auch sie starrte auf den Mann, der dort am Teich stand. Groß, schlank, mit einem blauen Hemd und hellen Cordhosen. Unter dem Arm trug er ein Päckchen.
Auch Barbara verharrte vor Schreck. Frank! Dort stand Frank!
Die Kinder rannten auf den Vater zu, hingen an seinem Hals. Barbara hörte ihre Freudenschreie: »Vati! Endlich! Und ich habe gedacht, du hättest meinen Geburtstag vergessen!«
»Wie könnte ich das, mein Kleines«, erklang nun Franks dunkle Stimme. Er schaute Barbara über die hellblonden Haarschöpfe der Kinder hinweg an. Um seinen Mund lag ein bittendes Lächeln, das erstarb, als Barbara sich näherte.
»Frank«, sagte sie und reichte ihm die Hand.
»Siehst du, er hat meinen Geburtstag doch noch gewusst, Mutti«, triumphierte Erika und zerrte an dem in rotes Papier eingewickelten Paket. »Es hat die gleiche Farbe wie mein Kleid«, sprudelte sie aufgeregt weiter. Und dann saß sie ganz still auf der Wiese. Sie hielt einen Spaniel aus Samt im Arm.
»So bald ihr mit eurer Mutter die neue Wohnung bezieht, kommt der lebendige Spaniel nach, Erika«, erklärte Frank.
»Der ist aber auch süß, Vati«, meinte die Kleine.
Bernd pflanzte sich breitbeinig vor seinem Vater auf. »Zu meinem Geburtstag musst du mir aber nicht erst ein Plüschtier schenken, Vati. Das ist etwas für dumme Mädchen! Mir schenkst du gleich einen richtigen Bernhardiner, ja? So einen großen wie Barry, der immer um Heidi herumscharwenzelt. Weißt du, das ist die Heidi Holsten, die Mutti zum Glück überfahren hat. Sonst wären wir nie nach Sophienlust gekommen.«
Frank war bleich geworden unter der Sonnenbräune. Seine Lippen formten stumm die Frage: Sie wissen es?
Barbara nickte. »Später«, hauchte sie.
Frank riss sich zusammen. »Du scheinst mir zu bescheiden zu sein, mein Sohn«, spöttelte er gutmütig. »Warum wünschst du dir nicht gleich einen Elefanten?«
»Die stinken«, gab Bernd unverfroren zurück, und dann rannte er wie ein junges Böcklein los. Erika hinter ihm her. Die beiden Kinder mussten ihre Freude über das Wiedersehen mit dem Vater auf ihre Weise austoben.
»Woher wusstest du, dass wir hier am Teich sind, Frank?«
»Ich hatte angerufen, um mit Erika zu sprechen. Frau von Schoenecker sagte mir, wo ich euch finden würde.«
»Bist du extra zu Erikas Geburtstag hergekommen?«
»Nein, Barbara! Der Kriminalinspektor von Maibach hatte mich aufgefordert, zu ihm zu kommen. Bei der Staatsanwaltschaft ist eine Anzeige eingegangen, dass ich damals am Steuer gesessen hätte. Endlich, endlich habe ich mir die Wahrheit von der Seele reden können, Barbara.«
»Tom! Er hat dich also doch angezeigt?«, fragte sie tonlos. Frank nickte.
»Du hättest kein Geständnis ablegen sollen. Tom hat die Wahrheit nur vermutet, aber nicht gekannt, Frank.«
»Du hast es ihm nicht gesagt, Barbara?«
»Nein!«
»Du musst den Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens stellen.«
»Das weiß ich selbst! Ich bin schließlich auch Juristin, Frank!«, rief sie erregt. »Aber ich werde es nicht tun. Die Kinder sollen ihren Frieden behalten. Alles ist vergangen, vorbei, vergessen, verziehen, Frank. Die Tat ist gesühnt. Durch wen, das ist gleichgültig. Rühre nicht mehr daran. Um der Kinder willen bitte ich dich darum.« Barbara bekam feuchte Augen. »Du hast auch mir viel zu verzeihen, Frank. Inzwischen ist mir klargeworden, dass ich nicht selbstlos war. Frau von Schoenecker hat mir die Augen über mich selbst geöffnet. Vergib mir, Frank, und beginne nun genauso ein neues Leben, wie ich es mit den Kindern getan habe. Ich bin nicht glücklich, aber ich bin zufrieden. Sag’ es deiner zukünftigen Frau. Du weißt, ich mochte Ilse Stark immer und habe sie stets geschätzt.« »Wie bitte?«
Barbara stutzte, wiederholte Hannis Behauptung.
Frank lachte. »Das hat sie nur gesagt, um dich zu kränken, Barbara. Es stimmt, dass Ilse Stark heiratet. Aber sie heiratet nicht mich.«
»Nicht dich …?«
»Nein, Barbara. Ich liebe eine andere Frau.« »Ach so!«
Und dann sah sie seinen Blick und wieder dieses bittende Lächeln um seinen Mund. Nun wusste sie, wer die Frau war, die er liebte. Noch immer liebte! Sie selbst.
Aus weiter, weiter Ferne drang das Quaken der Frösche an ihr Ohr. Ein Specht hämmerte, der Wind harfte in den Bäumen. Und dann hörte sie seinen Atem, leise zuerst, dann lauter, und zuletzt das Pochen des Herzens, an dem sie lag. Als er sie küssen wollte, wandte sie ihr Gesicht ab. »Nicht, Frank!«
»Ich verstehe dich, Barbara, wenn es mir auch weh tut. Aber glaube mir, ich habe dich immer geliebt. Ich habe dich freigegeben als Ausgleich für das, was ich dir angetan habe. Ich habe mich bemüht, dich zu vergessen. Ständig an Dankbarkeit erinnert zu werden, ist unerträglich. Aber ich bin vor Sehnsucht nach dir und den Kindern fast umgekommen. Als dann Thomas Calders Brief kam, in dem er dich und Frau von Schoenecker beschimpfte, wusste ich, dass du diesen Mann nicht mehr liebtest. Erinnerst du dich noch daran, dass du einmal gesagt hast, du könntest nicht lieben, ohne Respekt zu empfinden? Verachtest du mich noch immer?«
»Nein, Frank! Wir haben beide Fehler gemacht. Lass mir Zeit! Ich bitte dich darum.«
»Ich werde warten, Barbara.«
»Danke, Frank.«
Barbara ließ es nun zu, dass er sie in die Arme nahm und zart auf das blonde Haar küsste.
Die Kinder kamen wieder herbeigelaufen. Gemeinsam leerten sie den Picknickkorb, und dann lagen sie bäuchlings auf der Wiese, während Frank ihnen aus dem Insektenbuch vorlas.
Bernd gähnte, streckte sich aus und meinte: »Müde bin ich, Vati. Eigentlich sehe ich nicht ein, warum wir mit Mutti nicht bei dir in München wohnen sollen. Onkel Tom hat inzwischen eingesehen, dass er sich zu einem Vater nicht eignet. Du aber bist und warst doch immer unser Vati. Oder?«
»Ja, Bernd!« Über den Kopf des Buben hinweg baten seine Augen Barbara um Zustimmung. Doch die ihren flehten um Geduld.
Knapp zwei Monate später übersiedelte Barbara Durand mit Bernd und Erika zu ihrem Mann nach München. Sie hatten sich in aller Stille wieder trauen lassen. Die Kinder hatten die Nachricht, dass sie nun für immer bei ihrem Vati wohnen würden, mit Jubel aufgenommen. Ihre Begeisterung hatte den Höhepunkt erreicht, als sie gehört hatten, dass Heidi und Pünktchen während der Ferienzeit ihre Spielkameraden sein würden.
»Mutti, wenn du damals unsere Heidi nicht überfahren hättest, säßen wir jetzt allein hier in dem wunderschönen Garten. Mich stört nur, dass Pünktchen mich unbedingt auf die Schule vorbereiten will. Ich sage dir, sie ist grässlich ehrgeizig für mich.«
»Weil sie dich liebhat, Bernd.«
»Unsinn! Hinter Nick ist sie her, Mutti. Oder hat sie vielleicht uns alle beide gern?«
»Das ist gut möglich, Bernd.« Barbara sagte es nachdenklich und dachte: Ich hatte Frank lieb und dann Tom. Aber nun spüre ich, wie die alte Liebe zu Frank wieder in mir erwacht ist. Es ist, als hätte ich all diese bösen Monate hindurch geschlafen. Frau von Schoenecker hat mich aufgeweckt. Sie hat mir meine Selbstgerechtigkeit ausgetrieben und mich Demut vor den menschlichen Schwächen gelehrt, die Einsicht, dass das, was dem einen geschieht, auch allen anderen geschehen kann. Auch mir!
Es trieb Barbara in das Haus zurück. Zu Frank! Und der Kuss, den sie ihm gab, kam zum ersten Mal aus vollem Herzen. Sie hatte vergessen und vergeben und war bereit zu einem neuen, reiferen Leben.