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Kapitel 2
ОглавлениеNovember
Ach du Scheiße.
Xavier stoppte seinen Laufschritt und starrte geradeaus. Er war ohnehin spät dran. Nur mit Mühe war er seinem Gärtnereijob entkommen und die Beschwerden seines Vorarbeiters, dass sein Stundenplan so begrenzt war, klangen noch in seinen Ohren nach. Aber er erstarrte, als er am anderen Ende des Flurs Dr. Trent Cavendish sah, wie er mit der Krankenschwester sprach, die für Xavier verantwortlich sein würde, während er an der Poliklinik sein Praktikum absolvierte. Der weiße Mantel stand ihm gut.
Trent entdeckte ihn und drehte sich mit einem erstaunten Ausdruck in seine Richtung.
„Hi“, sagte er, als Xavier zögernd näherkam. „Bist du hier, um mit mir zu reden? Ich ziehe hier noch ein paar Stunden meine Runden.“
Xavier war sprachlos. Er hatte nie im Leben damit gerechnet, seinen Ex im Ambulatorium zu treffen. Ihm war klar gewesen, dass Trent ihm irgendwann über den Weg laufen würde, wenn er Praxisstunden in den diversen Abteilungen des Krankenhauses leistete. Er hatte angenommen, dass diese unangenehme Begegnung in der Chirurgie passieren würde, nicht hier.
„Arbeitest du hier oder ist das eine Konsultation?“, fragte Xavier.
Er ist sicher nur für eine chirurgische Konsultation hier …
„Ich bin als Allgemeinmediziner hier tätig.“
„Aber …“
Als Trent sein Medizinstudium begonnen hatte, war er Feuer und Flamme gewesen, Chirurg zu werden. Er war ehrgeizig und entschlossen. Die frei zugängliche Ambulanz, die das Krankenhaus vor einem Jahr eröffnet hatte, nachdem das Hauptambulatorium der Gemeinde wegen des Verdachts auf Versicherungsbetrug in Misskredit geraten war, war so ziemlich der letzte Ort, an dem Xavier ihn erwartet hätte.
„Hast du hier einen Termin, Xavier?“, fragte Trent, der seine Verwirrung falsch interpretierte. „Dann musst du am Empfang einchecken.“
„Oh, du bist Xavier!“ Die Krankenschwester mit dem Namensschild Hayleigh lächelte ihn an. „Ich habe dich erwartet. Das Schwesternzimmer ist gleich da hinten“, sagte sie und deutete über ihre Schulter.
„Du arbeitest hier?“, fragte Trent überrascht.
Xavier hatte nicht genug Zeit gehabt, um seine Jeans und seine Jacke gegen den Kittel zu tauschen, den er im Krankenhaus trug. Dazu schleppte er einen Rucksack mit seinem Laptop und einem Haufen Bücher herum, die er am Abend für den Unterricht brauchen würde. Also konnte er Trent keinen Vorwurf für das Missverständnis machen, aber der ganze Groll der Vergangenheit kam wieder hoch und brachte ihn auf die Palme.
„Xavier ist unser Azubi“, sagte Hayleigh. „Ich glaube, ich habe erwähnt, dass wir heute einen erwarten.“
„Ja richtig.“
„Ich kann ja nicht immer als Landschaftsgärtner arbeiten“, sagte Xavier angespannt. Du wirst am Ende für den Rest deines Lebens Rasen mähen. Trents zornige Worte bei ihrer Trennung vor all den Jahren hallten aus Xaviers Erinnerung.
Trent zuckte zusammen. Er erinnerte sich offenbar auch an die Worte, die er Xavier entgegen geschleudert hatte, als sie beide achtzehn waren.
Hayleigh bemerkte die Spannung zwischen ihnen nicht. „Hast du dort solche Arme bekommen? Solche Muskeln sieht man nicht an vielen Krankenpflegern oder auch bei Ärzten. Die werden sicher gut ankommen.“
Xavier musste über Trents entrüsteten Blick beinahe lachen. Er wusste nicht, ob es daran lag, dass Hayleigh unterschwellig mit ihm flirtete, oder daran, dass sie angedeutet hatte, der Rest der Belegschaft, Trent eingeschlossen, wäre irgendwie mangelhaft ausgestattet. In jedem Fall genoss er es, Trent zu ärgern.
„Ich sollte meine Sachen verstauen, damit ich anfangen kann“, sagte Xavier. Er streckte Trent die Hand hin, als würden sie einander zum ersten Mal begegnen. „Ich freue mich darauf, mit Ihnen zu arbeiten, Doktor Cavendish.“
Xavier war stolz auf sich, weil er so cool geblieben war. Er war vielleicht kühl und distanziert, aber er war wenigstens nicht leicht rumzukriegen. Seine Freunde behaupteten, er sei übertrieben nachgiebig. Aber wenn Trent seine Vergebung wollte, würde er dafür arbeiten müssen.
Trent spielte mit und ergriff seine Hand. Xaviers Arm kribbelte von der Berührung. Die Chemie zwischen ihnen war noch da, aber das hatte er schon gewusst, als Trent ihn im Sommer in dem Nachtclub berührt hatte.
„Es ist gut, dich zu sehen, Xavier. Lass mich wissen, wenn ich etwas tun kann, um deine Zeit bei uns angenehmer zu gestalten.“
Sein Ton war neutral, aber Xavier konnte nicht umhin, zwischen den Zeilen zu lesen. Er senkte den Blick und kämpfte dagegen an, rot zu werden. Er war noch nie so dankbar gewesen, dass sein Hautton wenig davon zeigte.
„Danke“, murmelte er, bevor er sich verdrückte, um seine Sachen wegzupacken und danach mit Hayleigh Patienten aufzusuchen.
Trents Reaktion auf sein abweisendes Verhalten verwirrte und verunsicherte ihn. Statt den Köder zu schlucken, hatte er seltsam aufrichtig geklungen, als er Xavier seine Hilfe angeboten hatte. Das war nicht der Trent von vor zwölf Jahren, an den er sich erinnerte.
Am Tag ihrer Abschlussfeier war es unter der Sonne von Kansas sengend heiß gewesen. Und unter ihren akademischen Hüten und Umhängen ihrer Highschool. Xavier und Trent stahlen sich vom Sportplatz davon, auf dem die Feier stattgefunden hatte, um einen Moment allein sein zu können. Trent wollte ihn küssen, aber Xavier hielt es kurz. Sie mussten reden und das würde nicht passieren, wenn sie zu knutschen anfingen.
„Ich muss dir etwas sagen“, stellte Xavier nachdrücklich fest.
„Was?“, fragte Trent mit einem Lächeln. In Gedanken war er offenbar schon ein paar Schritte weiter, als er eine Hand auf Xaviers Taille legte.
„Ich kann in diesem Herbst nicht mit dir aufs College gehen.“
Trent trat zurück. „Was? Warum?“
„Meine Familie braucht mich. Twaylas Mann hat sich abgesetzt und du weißt doch, dass sie zwei kleine Kinder hat. Und Großmutter hat nach einem Ohnmachtsanfall gerade erst die Diagnose bekommen, dass sie Diabetes hat. Vielleicht nächstes Jahr …“
„Soll das ein Witz sein, Xavier? Wir reden hier über dein Leben! Dass deine Schwester mit irgendeinem Arschloch zwei Kinder in die Welt gesetzt hat, ist nicht dein Problem. Was ist mit deiner Zukunft? Was ist mit mir?“
„Mit dir?“
Trent schubste ihn. „Ja, mit mir, deinem Freund? Ich dachte, wir ziehen das zusammen durch. Ich dachte, wir wollen dasselbe.“
„Das tun wir auch!“, sagte Xavier und fühlte sich schuldig. „Es ist ja nicht für immer, Trent. Aber ich kann jetzt gerade nicht weg. Sie brauchen mich.“
„Ich brauche dich auch, aber ich schätze, das ist nicht so wichtig wie die falschen Entscheidungen deiner Schwester.“
„Lass meine Schwester aus dem Spiel.“
„Verdammt, Xavier! Du wirfst deine Zukunft weg und wirst am Ende für den Rest deines Lebens Rasen mähen. Wenn du das willst, dann bleibt für uns nicht viel übrig, nicht wahr? Du bist einfach nur ein weiterer Kleinstadtersager, der keine Ambitionen hat. Und ich date keine Verlierer.“
„Das glaube ich jetzt nicht …“ Xaviers Stimme versagte. Er biss die Zähne zusammen und kämpfte gegen die Emotionen an, die aus ihm heraussprudeln wollten. „Ich liebe meine Familie und sie brauchen mich. Was hat das alles für einen Sinn, wenn man die Menschen, die man liebt, einfach im Stich lässt?“
„Aber du lässt mich im Stich, nicht wahr? Du lässt all deine Pläne im Stich. Unsere ganze Beziehung war eine Lüge. Alles, was wir einander versprochen hatten.“ Trent brach ab und fuhr sich frustriert durch die Haare. „Vergiss es einfach. Wenn du aussteigst, bin ich auch draußen.“
„Komm schon, Trent, wir können doch für ein Jahr eine Fernbeziehung führen. Und dann vielleicht …“
„Vielleicht?“, fauchte Trent. „Du stellst auch schon das nächste Jahr in Frage? Nein, Xavier. Genau so kommen Leute nie aus Kleinstädten raus. Ich werde nicht warten. Es ist jetzt oder nie.“
„Ich schätze, dann ist es nie“, flüsterte Xavier.
„Sieht so aus.“
Xavier schüttelte die Erinnerung ab und steckte seine Sachen in einen Spind. Er musste sich auf wichtigere Dinge als Trents Verhalten konzentrieren. Er konnte immer schon sehr charmant sein, wenn er etwas wollte. Und er hatte sehr direkt gesagt, dass er mit Xavier Sex wollte, als er ihn vor Monaten in dem Nachtclub erkannt hatte. Aber Xavier würde sich nicht als bequemer Fick zur Verfügung stellen. Sich auf die Chance zu stürzen, wieder mit Trent zusammen zu sein, war unter seiner Würde.
Der Mann war seine erste Liebe und seine längste, ernsthafteste Beziehung gewesen. Er hatte Xavier auch mehr verletzt als all die Typen, die danach gekommen waren und ihn fallengelassen hatten.
Er hatte einfach verdammtes Pech mit Männern. Es war besser, sich auf die Krankenpflege zu konzentrieren.
***
Trent beobachte, wie Xavier James davon ging. Ein Muster, das sich scheinbar wiederholte. Er hielt sich an der Geschichte fest, dass Xavier gegangen war. Aber Trent musste zugeben, dass er es war, der ihre Beziehung in einem Anfall von Zorn über Bord geworfen hatte. Er hatte sich betrogen gefühlt, als Xavier ihre Pläne, gemeinsam aufs College zu gehen, durcheinander gebracht hatte. Er war zu dieser Zeit bis zur Besessenheit auf seine Zukunft ausgerichtet gewesen und im Rückblick war ihm selbst das Aufrechthalten einer Beziehung mit jemandem zu Hause unmöglich erschienen.
Er war achtzehn und unreif gewesen. Er hatte Prioritäten wie Familie nicht verstanden, weil sein Elternhaus eine kalte, leere Hülle gewesen war. Mit Eltern, die lieber reisten, als ihre Zeit mit einem Teenager zu verbringen. Sie waren schon Nestflüchter gewesen, als er das Nest noch gar nicht verlassen hatte.
Xavier sah gut aus. Er war viel konservativer gekleidet als er es im Club gewesen war, und er hatte eine andere Frisur. Statt Locken, die beinahe schon ein Afro waren, hatte er nun Dreadlocks. Wenn man bedachte, wie dicht sein Haar gewesen war, hatte er es in kurzer Zeit auf eine ganz beachtliche Länge gebracht. Auch mit dem veränderten Aussehen und ohne Spitze und Lippgloss fand Trent ihn verdammt attraktiv.
Insofern Xavier nicht ein wenig auftaute, würde es die reine Folter sein, Woche für Woche neben ihm arbeiten zu müssen. Wenn er ihn nur dazu überreden könnte …
„Doktor?“, unterbrach Hayleigh seine Gedanken. „Der Patient in Untersuchungsraum 2 ist dran.“
Er nickte und kam wieder in die Gänge. „Ich bin gleich da.“
Er schob seine Bedenken in Hinblick auf Xavier vorsichtig zur Seite und konzentriere sich auf seine Arbeit. Denn sie war wichtig. Die Patienten, die in die Poliklinik kamen, hatten oft keine regelmäßige medizinische Versorgung. Deshalb war es unbedingt nötig, dass Trent bei den Untersuchungen besonders aufmerksam war. Denn ohne Vorsorgeuntersuchungen, konnte er leicht tiefer liegende gesundheitliche Probleme übersehen.
Wenn er ehrlich war, hatte er nicht gedacht, dass ihm der Job besonders Spaß machen würde. Er hatte ihn als Ausweg aus einem Leben gesehen, in dem er sich auf die ganz falschen Dinge konzentriert hatte. Aber die Arbeit im Ambulatorium ließ ihn mit einer ganz neuen Wertschätzung an die Zeiten denken, als Xavier über seine Träume gesprochen hatte, mehr weitreichende Versorgungsarbeit in die Gemeinde zu bringen. Selbst mit ‚Medicaid‘ und anderen staatlichen Gesundheitskonzepten, gab es Lücken in Flächendeckung und Erreichbarkeit. Es würde immer Leute geben, die durch das Raster fielen.
Trent schob den Vorhang zur Seite, betrat Untersuchungsraum 2 und lächelte die Frau mittleren Alters an, die an dem Tisch saß.
„Wo liegt denn das …“
Ein heftiges, rasselndes Husten unterbrach ihn.
„Ah, ich sehe schon“, sagte er sanft. „Wie lange geht das schon so?“ Er schnappte sich einen Hocker mit Rädern und rollte herüber, während er Hayleighs Aufzeichnungen über die Symptome checkte. Dann machte er sich an die Arbeit, die ebenso bedeutend war wie Chirurgie.
Manchmal juckte es ihn in den Fingern, weil er es vermisste, ein Skalpell zu halten, aber damit konnte er leben. Seelisch ging es ihm so viel besser damit, Leuten zu helfen, ohne die Belohnung eines sechsstelligen Einkommens und die Anerkennung für eine neue Operationstechnik.
Die Rückkehr nach Ashe hatte ihm noch nicht annähernd alles gebracht, was er wollte. Aber es war die richtige Entscheidung gewesen, dessen war er sich sicher.
***
Hayleigh hielt Xavier auf Trab. Sie wogen Patienten ab, überprüften ihren Puls und ihren Blutdruck. Sie machten Notizen über ihre gesundheitlichen Sorgen und gaben sich Mühe, ein wenig gründlicher zu sein, als Xavier es von seinen eigenen Arztbesuchen in Erinnerung hatte. Als er sie darauf ansprach, betonte Hayleigh, dass ihre Patienten keinen Hausarzt hatten. Da sie keinen regelmäßigen Zugang zu medizinischer Versorgung hatten, mussten auch die schwächsten Symptome sorgfältig notiert werden.
Das war einleuchtend. Es machte Xavier ein wenig traurig, dass Menschen in Zeiten wie diesen ohne Vorsorge auskommen mussten, von der ihr Überleben abhängen konnte. Für viele von ihnen würde eine ernste Diagnose wie Krebs viel zu spät kommen, um ihr Leben noch retten zu können. Er hatte das bei seinem eigenen Vater erlebt, was einer der Gründe war, warum er in dieser Klinik arbeiten wollte. Gemeindevorsorge war sein Schwerpunkt geworden, weil sein Vater nur drei Monate nach einer Krebsdiagnose gestorben war, als Xavier acht Jahre alt war. Tyrel James hatte es immer aufgeschoben, zum Arzt zu gehen, bis er in einem wirklich schlimmen Zustand war. Doch da war es schon zu spät. Das war einer der Gründe, warum Xavier ursprünglich Arzt werden wollte. Damit er dieses Schicksal dem Vater eines anderen kleinen Jungen vielleicht ersparen könnte.
Nach seinem Schulabschluss hatte seine Familie ihn gebraucht und sie brauchte ihn immer noch. Er hatte ohnehin nicht die finanziellen Mittel, um Medizin zu studieren. Seine Oma hatte zwar ein wenig Geld für seinen Collegebesuch angespart, aber es war nicht annähernd genug. Er hatte nicht geschafft, sich für das Stipendium zu qualifizieren, das er unbedingt gebraucht hätte, und er war sich nicht einmal sicher, ob er überhaupt so viel an Darlehen hätte auftreiben können, um ein Studium zu finanzieren.
Er hatte diese Bedenken damals aber nicht mit Trent geteilt, denn als sein Ex damit begonnen hatte, Xaviers Familie zu beleidigen, hatte er ihm nicht noch mehr Munition liefern wollen. Geld hin oder her, Xavier hätte sich immer für seine Familie entschieden.
Er brachte auf Hayleighs Anweisung noch eine Urinprobe ins Labor und beendete seine Schicht, ohne Trent noch einmal über den Weg zu laufen.
Ein Glück, denn er würde eine Zusammenarbeit mit Trent sehr viel besser bewältigen, wenn ihre Interaktion auf ein Minimum beschränkt blieb.
Ihre erste Begegnung im Club hatte ihn bereits aus der Bahn geworfen. Er war so durch den Wind gewesen, dass er eine Woche später sogar versucht hatte, bei seinem Mitbewohner zu landen, weil er gehofft hatte, Trent so aus dem Kopf zu bekommen. Dabei hatte er fast seine Freundschaft mit Zane aufs Spiel gesetzt, und er würde Trent keinesfalls noch einmal erlauben, ihn so durcheinander zu bringen.
In seiner Freitagnachmittagsschicht geriet er doch in die Zwangslage, sich mit Trent unter vier Augen auseinandersetzen zu müssen. Er hatte wie üblich seine Praxisstunden absolviert, sich abgemeldet und war noch rasch zur Toilette gegangen, ehe er seine Sachen holen wollte.
Trent stand an einem der Pinkelbecken mit seinem Schwanz in der Hand. Er hatte sich aber ein wenig von der Tür weggedreht, sodass Xavier nichts sehen konnte. Das änderte aber nichts an der Tatsache, dass der Mann vor ihm stand und seinen Schwanz in der Hand hielt.
Xaviers Schuh quietschte auf dem Fliesenboden. Sein Schuh, nicht seine Stimme. Er würde bis zu seinem Lebensende an dieser Version der Geschichte festhalten.
Trent sah auf und ihre Blicke begegneten sich im Spiegel.
Verdammt. Mir ist einfach keine Pause vergönnt.
Trent hatte den weißen Mantel abgelegt und sich umgezogen. Nun trug er Jeans, die seinen Hintern betonten und ein Henley-Shirt, das sich vorteilhaft an seinen Oberkörper schmiegte. Er sah verdammt gut aus. Eigentlich genauso gut wie im letzten Sommer in dem Nachtclub. Xavier fragte sich für einen Moment, ob Trent vorhatte, auszugehen. Es war ein Wochentag, aber davon ließen sich manche Leute nicht abhalten. Zum Teufel, vielleicht hatte Trent ja jede Nacht einen anderen Kerl. Bei dem Gedanken verkrampfte sich Xaviers Magen.
Das Geräusch eines Reißverschlusses holte ihn aus der Abwärtsspirale seiner Gedanken, die er ohnehin nicht allzu genau erforschen wollte.
„Ich wollte nur …“ Xavier deutete auf die Kabinen, drehte sich am Absatz um und eilte auf eine zu.
Kaum dass er drinnen war, schlug er sich auf die Stirn. „Ich bin so dämlich“, flüsterte er, weil er nicht wollte, dass sein Ex dachte, er wäre verrückt genug, auf dem Klo Selbstgespräche zu führen. Er verdrehte die Augen, ermahnte sich in Gedanken, öffnete rasch seinen Reißverschluss und erledigte das Geschäft, das ihn hergeführt hatte.
Als er die Tür öffnete, stand Trent direkt vor ihm.
„Bist du für heute fertig?“, erkundigte er sich.
Xavier nickte, weil ihm die Worte fehlten, als sein Blick über Trents Körper wanderte. Seine breiten Schultern und die starke Brust unterschieden sich so sehr von der Vergangenheit. Trents Shirt betonte seine Oberarme und Brustmuskeln und brachte seinen schlanken aber trainierten Körper gut zur Geltung.
Sein selbstzufriedenes Lächeln machte deutlich, dass Xavier ihn nicht besonders unauffällig gemustert hatte.
Er wartete darauf, dass Trent sich zur Seite bewegte, aber das tat er nicht. Ihre Blicke trafen sich und er betrachtete Xavier aufmerksam.
„Kann ich etwas für Sie tun, Doktor?“, fragte er in seinem besten professionellen Tonfall.
„Oh ja“, antwortete Trent, legte eine Hand in Xaviers Nacken und zog ihn zu sich. Xavier gelang es nicht, sich zu wehren. Er überließ Trent seinen Mund und atmete scharf ein, als dessen Lippen seine eigenen nach mehr als zehn Jahren zum ersten Mal wieder berührten. Es war neu, aber auch vertraut. Trent schmeckte noch genauso wie früher. Eine Erinnerung an Stunden, die sie nach dem gemeinsamen Lernen bei ihm oder bei Trent zu Hause küssend verbracht hatten, drängte an die Oberfläche. Meist war es Trents Haus gewesen, denn seine Eltern waren nicht oft da, und sie konnten ungehindert knutschen.
Dieses flüchtige Bild von ihnen, umschlungen in Trents Kindezimmer, reichte aus, um Xavier wieder zur Vernunft zu bringen.
Er zog sich zurück, obwohl seine Lippen vor Sehnsucht nach mehr Kontakt brannten.
„Geh mit mir etwas trinken“, sagte Trent.
„Ich kann nicht.“
„Bitte, Xav. Gib mir eine Chance, es wiedergutzumachen.“
Xavier unterdrückte ein Lachen. „Geht es darum? Für mich hat es eher danach ausgesehen, als wolltest du mir an meine Krankenpflegerwäsche gehen, Doktor.“
Trent kicherte und sah selbst dann noch verlegen aus, als er Xavier von Kopf bis Fuß musterte. „Sogar dieses Zeug sieht an dir gut aus. Ich hätte es nicht für möglich gehalten.“
Xavier lachte. „Tut es nicht. Der Kuss hat dir nur das Hirn vernebelt.“
„Das kann ich nicht leugnen“, sagte er und der Klang seiner Stimme wurde tiefer und intimer. „Verdammt, du würdest jeden schwulen Mann durcheinanderbringen. Wie kommt es, dass du noch Single bist, Xavier?“
Xavier verspannte sich. Er hatte sich von Trents Aussehen und seiner rauen Stimme ablenken lassen. Aber er würde nicht zulassen, dass das so weiterging.
„Es liegt jedenfalls nicht daran, dass ich es nicht versuche“, erklärte er direkt. „Ich war seit dir mit vielen Männern zusammen, Trent. Und es werden noch mehr werden. Aber du und ich? Das ist vorbei.“
Trents Augen blitzten auf und auch an diesen Blick erinnerte er sich von ihrem letzten Schultag. Trent war sauer.
„Der Kuss hat etwas anderes gesagt.“
„Wir müssen zusammen arbeiten“, sagte Xavier steif. „Ich schlage vor, du bleibst professionell, Doktor Cavendish. Wenn du auf der Suche nach einem Fickpartner bist, dann such ihn dir woanders.“
„Ich bin nicht …“ Er brach ab, als Xavier endlich den Versuch aufgab, auf Abstand zu bleiben, und sich an Trent vorbeizwängte. „Verdammt, Xav! Es ist nicht fair, dass du unsere Jobs ins Spiel bringst.“
„Das klingt nach Karma, oder?“, sagte Xavier, als er das Wasser anstellte und seine Hände unter den Strahl hielt. „Du hast mich deiner Karriere wegen verlassen und jetzt kannst du mich aus demselben Grund nicht zurückhaben.“
„Ich glaube nicht, dass das auch nur ansatzweise der Grund ist.“
„Glaub, was du willst, aber bleib professionell, okay? Ich will keine Beschwerde einreichen müssen.“
Trent trat einen Schritt zurück und sah verletzt aus. Xavier beobachtete ihn im Spiegel, aber er drehte sich nicht zu ihm, um Blickkontakt herzustellen. Er seifte sich die Hände ein, spülte sie ab und trat zur Seite, um sie mit einem Papierhandtuch zu trocknen, als Trent wieder das Wort ergriff.
„Das würdest du wirklich tun?“, fragte Trent und klang hilflos. „Ich versuche doch nur, die Dinge wieder in Ordnung zu bringen.“
„Das behauptest du die ganze Zeit“, sagte Xavier und sah ihn endlich an. Er nahm all seine Selbstsicherheit zusammen und zuckte so beiläufig mit den Schultern, als würde ihn diese Unterhaltung nicht gerade innerlich zerreißen. „Du wirst einen Weg finden müssen, wie du das tun kannst, ohne mit mir zu schlafen.“
***
Trent stand ausgehfertig in einer öffentlichen Toilette und sah Xavier hilflos nach. Sein Ex hatte ihn heftig abblitzen lasse. Er hatte ihn nicht nur zurückgewiesen, er hatte ihm verboten, auch nur zu versuchen, ihn zurückzugewinnen.
Vielleicht war es ein Fehler gewesen, nach Ashe zu kommen. Er hatte auf einen Neubeginn mit Xavier gehofft. Ihm war klar, dass sie vielleicht nicht an die Liebesbeziehung anknüpfen konnten, die sie zwölf Jahre zuvor gehabt hatten, aber er hatte gehofft, wenigstens wieder gut mit ihm auszukommen.
Xavier war nicht sein einziges Ziel gewesen, als er die Chirurgie verlassen und neu angefangen hatte, aber er war ein wesentlicher Anreiz. Was, wenn er den Operationssaal hinter sich gelassen hatte, ausgeglichener und weniger egoistisch geworden war, und am Ende doch allein blieb?
Er konnte den Nachgeschmack von Xaviers Kuss noch immer auf seinen Lippen fühlen.
Zu aufdringlich. Du warst wieder mal größenwahnsinnig, Cavendish.
Nachdem er sich auch die Hände gewaschen hatte, verließ Trent den Waschraum. Er kam sich komisch vor, als er durch die Klinik ging und sich von den Mitarbeitern, die noch da waren, verabschiedete. Er konnte fühlen, wie sie seine lässige Kleidung musterten, die er sonst nie zur Arbeit trug.
Die Schwester am Empfang kicherte. „Haben Sie heute Abend ein heißes Date, Doc? Sie sehen gut aus.“
Trent blieb am Schalter stehen, um nicht unhöflich zu sein. Er überlegte, was er sagen sollte. Auf keinen Fall würde er dazu beitragen, Gerüchte in die Welt zu setzten, die Xavier dann vielleicht zu hören bekam.
„Nein, ich sehe mich nur ein bisschen in Ashe um. Ich bin immer noch neu hier. Vielleicht sehe ich mich in der Buchhandlung um oder gehe ins Kino.“
„Sie führen ja ein aufregendes Leben.“
Trent lachte. „Na ja, ich bin ein genesender Workaholic. Geben Sie mir ein bisschen Zeit, um mich einzuleben.“
Rachel lächelte. „Das werde ich. lassen Sie mich wissen, wenn sie irgendwann was essen gehen wollen.“
„Oh, ähm …“
„Nur als Freunde!“, rief sie und wurde rot. Sie senkte ihre Stimme. „Ich weiß, dass sie mehr auf den neuen Pflegeschüler stehen.“
Trent zuckte zusammen. „Ist das so offensichtlich?“
Sie nickte. „Sie müssen sich keine Sorgen machen, weil wir wissen, dass Sie schwul sind. Ich weiß schon, dass Ashe eine kleine Stadt ist, aber so rückständig sind wir auch nicht. Obwohl manche der Patienten, die hier reinkommen …“
Trent winkte ab. „Ich verberge es nicht. Aber ich möchte nicht, dass irgendjemand denkt, zwischen mir und Xavier würde etwas laufen. Wir haben nur eine gemeinsame Vergangenheit.“
„Oh?“
Toll gemacht, Trent. Jetzt hast du eine ganz neue Runde Gerüchte in Umlauf gebracht. Xavier wird begeistert sein.
„Eine weit zurückliegende Vergangenheit“ fügte er hinzu. „Behalten Sie das bitte für sich. Ich möchte, dass alles professionell bleibt.“ Sie nickte und deutete an, dass ihre Lippen versiegelt wären. Er hoffte, sie würde ihr Wort halten, aber er wusste, wie viel unter den Mitarbeitern getratscht wurde. Er konnte nur die Daumen drücken und hoffen, dass er Xavier nicht noch einen weiteren Grund geliefert hatte, um auf ihn sauer zu sein.
Er schaffte es endlich nach draußen. Seine Nerven vibrierten immer noch von all dem Adrenalin, das in den letzten zwanzig Minuten durch seinen Körper geflossen war, als Xavier seinen Puls erst zum Rasen gebracht und er sich selbst dann zum Narren gemacht hatte.
Trent war unsicher, was er als Nächstes tun sollte. Er überlegte kurz, seine Hoffnungen auf Xavier zur Seite zu schieben und tatsächlich auszugehen. Er war schon dafür angezogen und er hatte es satt, seine Nächte allein zu verbringen.
Die gleiche Einsamkeit hatte ihn im Juni in den Eros getrieben. Er war mit realistischen Erwartungen bezüglich seines Ex nach Ashe gezogen. Er hatte viel wiedergutzumachen und ihm war klar gewesen, dass das nicht über Nacht passieren würde. Dass es vielleicht nie passieren würde. Deshalb hatte er Xavier nicht sofort aufgesucht. Bei dem Umzug war es nicht nur um Xav gegangen, sondern auch um Trents mentales und emotionales Wohlbefinden.
Er hatte vorgehabt, sich erst in seinem neuen Job einzuleben, sein Gleichgewicht zu finden und erst danach Xavier aufzusuchen.
Allerdings war er in einer Sommeracht einfach durchgedreht und in alte Gewohnheiten verfallen. Er hatte überlegt, sich über Grindr eine schnelle Affäre zu suchen, war dann aber zum Schluss gekommen, dass er nach Wichita fahren müsste, um jemanden zu finden. Außerdem war es ihm lieber, Männer persönlich zu treffen. Wenn man unangenehme Überraschungen vermeiden wollte, war es leichter, jemanden richtig einzuschätzen, der einem in einer Bar gegenüberstand, als ein Foto auf einem Bildschirm.
Also hatte er im Internet nach schwulen Nachtclubs gesucht und Club Eros ausgewählt. Dort hatte er einen Typen gesehen, der alle seine Knöpfe drückte. Sogar Knöpfe, von denen ihm nicht mal bewusst gewesen war, dass er sie hatte. Xavier war aber auch so verdammt sexy. Im Vergleich zu dem braven Basketballspieler, mit dem er in der Highschool zusammen gewesen war, hatte sein Ex sich ganz schön entwickelt. Und doch hatte er immer noch etwas von dieser gutmütigen Ausstrahlung. Als er ihn in Krankenhauskleidung und mit Patienten gesehen hatte, war Trent klar geworden, dass Xavier genau die richtige Haltung für einen Krankenpfleger hatte. Er war von Natur aus fürsorglich und hatte sich jahrelang um seine Familie gekümmert. Er hatte einfach immer ein großes Herz gehabt.
Xavier in dem Club zufällig über den Weg zu laufen, war ihm wie Schicksal erschienen. Trent war zu forsch aufgetreten und es hatte sich bitter gerächt. Genau wie heute.
Nein, er konnte Xavier nicht zurückgewinnen, indem er ihn nach Hause abschleppen wollte, oder indem er ihn in einer Toilette küsste.
Großer Gott, du könntest ein bisschen mehr Stil an den Tag legen.
Die letzten Worte, die er mit Xavier ausgetauscht hatte, fielen ihm wieder ein. Weil er sich nun auf mehr als nur auf die Enttäuschung der Zurückweisung konzentrieren konnte, gelang es ihm, zwischen den Zeilen zu lesen.
Ich versuche doch nur, die Dinge wieder in Ordnung zu bringen, hatte Trent gesagt.
Du wirst einen Weg finden müssen, wie du das tun kannst, ohne mit mir zu schlafen, hatte Xavier gesagt.
Da hatte er seine Antwort. Xavier hatte nicht gesagt, es wäre unmöglich, die Dinge in Ordnung zu bringen. Vielleicht wollte er sehen, dass es Trent um mehr als um Sex ging. Denn er hatte ihn beide Male, als sie allein gewesen waren, heftig angebaggert.
Es war Zeit für eine neue Taktik. Er musste einen Weg finden, mit Xavier auf eine bedeutungsvollere Weise wieder in Kontakt zu kommen. Er musste sich seine Vergebung verdienen.
Er lächelte grimmig, als er seinen Audi startete. Er würde einen Weg finden, Xavier zu beweisen, dass er ein anderer Mensch war, was auch immer dazu nötig wäre.
Ein Teil dessen war natürlich, sich auch wirklich zu ändern.
Keine Affären mehr, Cavendish. Du solltest dich mal besser wieder mit deiner rechten Hand anfreunden.