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Kapitel 3

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Xavier sank im Wohnzimmer auf einen Stuhl und legte die Hände um die Tasse mit heißem Tee, die seine Oma ihm anbot. Er lächelte müde. „Danke.“

Er schloss die Augen und sein Körper saugte die Wärme der Tasse auf, nachdem er in der eisigen Kälte die Auffahrt vor dem Haus seiner Großmutter freigeschaufelt und mit Salz bestreut hatte. Es hatte einen Schneesturm gegeben. Keinen großen, aber das Letzte, was seine Oma brauchte, war ein Sturz auf glattem Boden. Er hatte gesehen, wie das bei Leuten ihres Alters endete, und es ging selten gut aus.

Seine Großmutter schüttelte den Kopf. „Du arbeitest zu hart, Liebling.“

Er sah auf und bemerkte die fleckige Schürze, die sie immer trug, wenn sie am Sonntag das Essen kochte. Ihr blondes Haar war elegant silbrig ergraut. Nicht wie die melierte Mischung, gegen die viele Frauen ankämpften, indem sie ihr Haar färbten. Ihre blauen Augen waren vielleicht ein wenig trüber geworden, aber ihr Verstand und ihre Zunge waren so scharf wie immer.

„Da redet die Richtige“, neckte er sie. „Du kochst da drinnen wahrscheinlich wieder auf wie für ein Fest. Du weißt, dass es Twyla und mir nichts ausmache würde, wenn du mal einen Sonntag auslässt.“

„Ach was“, winkte sie ab. „Es ist eine Tradition. Eine Familie braucht gute Traditionen, die sie zusammenhält. Vergiss das nicht.“

„Du sagst das, als ob ich je eine eigene Familie haben würde. Ich bin dreißig, Oma. Der Zug ist vor einer langen Zeit abgefahren.“

Nämlich etwa, als ich achtzehn war.

Der Gedanke beunruhigte ihn und er schob ihn zur Seite. Er hatte seine Familie nicht derjenigen vorgezogen, die er vielleicht mit Trent gegründet hätte. Es war überhaupt nie als eine Wahl zwischen zwei Dingen gedacht gewesen. Trent hatte eine erzwungen.

Seine Oma verpasste ihm eine Kopfnuss.

Er zuckte zusammen. „Autsch.“

„Sag sowas nicht, Xavier. Du bist doch noch jung. Und jetzt geh dich waschen. Das Essen ist gleich fertig.“

„Ja, Oma“, sagte er leise und fühlte sich augenblicklich in seine Kindheit versetzt. Xaviers Eltern hatten jung geheiratet. Seine Mutter, Omas Tochter, war eines Tages mit einem anderen Mann abgehauen und hatte ihren Mann und die Kinder zurückgelassen. Sie hatte nie auch nur eine Geburtstagskarte geschickt. Aber seine Oma war auch schon der Mittelpunkt der Familie gewesen, bevor sein Vater an Krebs gestorben war.

Tyrel James hatte sein Leben lang hart gearbeitet. Er hatte seine Kinder geliebt und unterstützt, auch nachdem ihre Mutter sie verlassen hatte. Und er hatte seiner Schwiegermutter erlaubt, ein Teil ihres Lebens zu sein, obwohl ihre Tochter ihn betrogen hatte.

Als er gestorben war, war es nur natürlich gewesen, dass seine Oma sie aufgezog. Er war im Laufe der Jahre oft damit aufgezogen und dafür kritisiert worden, dass er bei einer weißen Frau aufwuchs. Ihm war gesagt worden, er würde sich zu sehr wie ein weißer Junge anhören und verhalten. Man hatte ihm vorgeworfen, er würde wie irgendein reicher Yuppy klingen, weil er seine Oma ‚Großmutter‘ nannte. Sie sagten ihm, er könne sich gar nicht vorstellen, was es heißt, ein echter Schwarzer Mann zu sein, obwohl jeder Mensch, dem er begegnete, zuerst den Schwarzen in ihm sah. Je nachdem, welche Vorurteile die Leute hatten, behandelten sie ihn dann entsprechend.

Letztlich war er mit all dem Mist vor allem deshalb klargekommen, weil seine Oma die einzige Mutter war, die er je hatte. Er würde zu ihr stehen, solange sie lebte.

Er trank seinen Tee aus und ging ins Bad, um sich die Hände zu waschen. Auf dem Rückweg zog er seinem Neffen Beau die Ohrstöpsel aus den Ohren.

„Essen ist fertig. Mach, dass du da reinkommst, bevor Großmutter mit dem Kochlöffel hinter dir her ist.“

Beau zog die Mütze von seinem braunen Haar. Er war groß und schlaksig und geriet mehr nach seinem Vater als nach seiner Mutter. Dann packte Xavier die dreizehnjährige Maggie, warf sie über seine Schulter und lief mit ihr ins Esszimmer, während sie quietschte und auf seinen Rücken trommelte. Als er den Tisch erreichte, warfen seine Großmutter und Twyla ihm tadelnde Blicke zu.

Xavier ließ Maggie hinunter und setzte sich. Beau sah grinsend zu, wie seine Mutter Xavier in die Rippen boxte.

„Du könntest ein besseres Beispiel geben.“

Xavier zuckte mit den Schultern. „Es sind Kids. Lass sie ein bisschen Spaß haben.“

Sie nahmen ihre Plätze ein und reichten Bratkartoffeln, fritierte Hühnchenschnitzel mit weißer Sauce und Brötchen herum. Die Mahlzeiten seiner Oma waren nicht die gesündesten, aber dafür sehr lecker.

„Wie läuft es in der Schule?“, fragte Twyla. „Du machst jetzt Praxisstunden an den einzelnen Abteilungen des Krankenhauses, richtig?“

Er schluckte ein Stück Brot und nickte. „Ja.“

„Was ist denn los?“, erkundigte sich seine Oma sofort. „Ich höre doch an deinem Tonfall, dass etwas nicht stimmt.“

Xavier wich ihrem Blick aus und fühlte sich plötzlich wie ein Schulkind, das bei einer Lüge ertappt wird. Er war an sich nicht der Typ, der Dinge vor anderen verbarg, und er war nie gut darin gewesen, etwas vor seiner Familie geheim zu halten. „Nichts, ich arbeite nur viel.“

„Xavier James, wag es ja nicht, mich anzulügen!“

„Oh oh“, sagte Beau. „Da steckt jemand in Schwierigkeiten.“

„Sei still“, mahnten Twyla und seine Großmutter gleichzeitig. Der Junge senkte den Kopf und schaufelte mehr Kartoffeln in sich hinein. Xavier wünschte, er könnte dasselbe tun.

Seine Oma hob den Kopf und las in seinem Ausdruck offenbar etwas, das ihren Ton sanfter werden ließ. „Was ist denn passiert, Liebling?“

Es grenzte schon an ein Wunder, dass er es geschafft hatte, es so lange für sich zu behalten, das war Xavier klar. Er war wirklich durcheinander gewesen, nachdem er Trent vor ein paar Monaten in dem Club gesehen hatte. Er räusperte sich nervös. „Trent ist zurück.“

„O Scheibe!“, rief Twyla. Seit Beau alt genug war, um ihre Flüche nachzuahmen und frech zu sein, wenn sie ihn ermahnte, griff sie zu alternativen Ausdrücken. Das klang immer ziemlich lahm und ein Lächeln schlich sich auf Xaviers Lippen.

Seine Oma war nicht amüsiert. Sie schien auch nicht überrascht zu sein.

„Das hatte ich angenommen, als er hier war und nach dir gefragt hat“, sagte sie sachlich.

Xavier schnappte nach Luft. „Wann war das?“

Seine Oma neigte den Kopf und dachte nach. „Oh, vor ein paar Monaten. Mindestens.“

„Oma“, stöhnte Xavier. „Warum hast du mir das nicht gesagt?“

Ihre Lippen wurden schmal. „Weil ich dich kenne, Xavier. Du bist zu nachgiebig. Ich habe dem Jungen gesagt, er soll vorsichtig mit dir sein. Du warst seinetwegen den ganzen Sommer nach der Highschool am Boden zerstört.“

Beau sah auf und beobachtete Xavier neugierig, war aber klug genug, keine Bemerkung zu machen. Maggie war zu sehr drauf konzentriert, auf den Fernseher im Nebenzimmer zu schielen, um ihm Beachtung zu schenken.

„So schlimm war es nicht“, murmelte Xavier.

Seine Großmutter und Twyla schnaubten. Offensichtlich war kein besserer Lügner aus ihm geworden.

„Kommst du wieder mit ihm zusammen?“, fragte Twyla plump.

„Nein!“ Großer Gott, warum fühlte er sich wieder wie ein Achtjähriger? „Er ist Arzt. Wir begegnen uns an der Klinik. Es war seltsam“, erklärte er. „Als ich ihn gesehen habe, sind eine Menge alter Erinnerungen hochgekommen, das ist alles.“

Der Blick seiner Großmutter wurde sanfter. „Trent schien so ein netter Junge zu sein, als ihr zusammen wart, aber er ist vom Weg abgekommen. Sei bloß vorsichtig. Ich erinnere mich noch, wie fertig du warst, auch wenn du etwas anderes behauptest.“

Xavier stocherte in seinen Kartoffeln. „Ich weiß.“

„Er ist einfach ein privilegierter weißer Typ, der zu dumm war, etwas Gutes zu schätzen, als er es hatte“, sagte Twyla und der Zorn in ihrer Stimme ging über ihre Gefühle für Trent und Xavier hinaus. Er war ziemlich sicher, dass sie sich auch auf ihren Exmann Justin bezog, der sie verlassen und wieder geheiratet hatte. „Ich hoffe, du hast ihm wenigstens die Meinung gesagt.“

„Habe ich“, sagte Xavier rasch und hoffte, dass die Unterhaltung nicht in eine Schimpftirade ausarten würde. Auch nach all den Jahren hegte Twyla noch immer einen gewaltigen Groll auf ihren Mann. Darüber stand Xavier kein Urteil zu, denn er und Trent waren nur ein jugendliches Pärchen gewesen, und er war auch noch mächtig sauer auf Trent.

Maggie lehnte sich vor, um einen besseren Blick auf den Fernseher zu haben und stieß ihr Milchglas um, dessen Inhalt sich über den Tisch ergoss.

Twyla sprang auf. „So eine Schande! Pass doch auf, Maggie.“

„Tut mir leid!“

Twyla holte ein Tuch und bemühte sich, die Milch aufzuwischen, während Xavier sich ein wenig entspannte.

„Also, dieser Trent war dein Lover oder wie?“, fragte Beau.

Die Kinder wussten, dass er schwul war, seit sie ganz klein waren. Es war eine Tatsache, die sie einfach akzeptierten.

Xavier nickte und schob einen großen Bissen in den Mund, um nicht weiterreden zu müssen. Er betete, dass sie das Thema wechseln würden, und seine Oma begann, von den Damen zu erzählen, mit denen sie jede Woche Karten spielte. Dann erzählte sie von ihren Ausflügen zum YMCA, wo sie Wasseraerobic machte. Und als Twyla mit dem Saubermachen fertig war, hatte auch sie sich wieder beruhigt.

Xavier konnte es ihr wirklich nicht übelnehmen, dass sie verbittert war. Justin war ein übler Bursche gewesen, hatte zu viel getrunken und sie auch zuvor schon betrogen, ehe er sie wegen einer anderen Frau verlassen hatte.

Seine Situation mit Trent war zwar auch beschissen gewesen, aber anders. Er hatte Trent wirklich etwas bedeutet. Daran hatte er auch in all den Jahren, die er zornig und verletzt gewesen war, nie gezweifelt.

***

Trent verbrachte das Wochenende allein. In Jogginghosen. Vor dem Fernseher.

Ja, du hast definitiv ein neues Kapitel aufgeschlagen. Kein sehr aufregendes Kapitel …

In gewisser Weise unterschied sich sein Leben in Ashe massiv von dem in Kansas City, in anderer Hinsicht war es beängstigend ähnlich.

Vor dem Umzug wäre er mit Freunden etwas trinken und danach in einen Club gegangen. Danach hätte er in einer schwulen Bar jemanden abgeschleppt. Er war geoutet, aber seine Freunde hatten kein besonderes Interesse an der Szene und er keine Lust, ihnen in seinem Liebesleben einen Logenplatz zu geben.

Er hatte auf eine große Veränderung gehofft, als er nach Ashe gekommen war, und er hatte sie bekommen. Statt in Clubs zu gehen, sah er nun meistens fern, las und aß allein langweilige Mahlzeiten. Für eine Person zu kochen, war verdammt deprimierend. Als er kein Single-Menü mit Hühnerbrust mehr sehen konnte, flüchtete er sich in ungesunde Snacks.

Auch in Ashe war er immer noch allein und sein Leben leer. Das hatte sich nicht geändert. Und seit er Xavier gesehen hatte – nicht nur sexy zurechtgemacht in dem Club, sondern den echten, alltäglichen Krankenpfleger – war ihm die Leere noch schmerzlicher bewusstgeworden.

Trent schüttelte die Melancholie ab und ging in die Küche, um sich eine Cola und eine Tüte Jalapeno-Chips zu holen. Er warf einen Blick auf seine nackte Brust und entschied sich für einen kleinen Umweg ins Schlafzimmer, um ein T-Shirt anzuziehen. Allein zu wohnen, bedeutete, dass er so schlampig angezogen sein konnte, wie er wollte, oder auch gar nicht, wenn ihm danach war. Aber Kartoffelchips und eine behaarte Brust waren keine gute Kombination.

Fünfzehn Minuten und zu viele fettige Chips später, mitten in einer verstörenden, aber recht erheiternden Reality-Show über zwanghafte Sammler (Hey, immerhin ging er nicht in den Folgen einer zwanghaften Kaufwut unter) klingelte sein Telefon.

Er griff danach, warf einen Blick auf das Display und zuckte zusammen. Das würde kein angenehmes Gespräch werden, aber er wies niemals einen Anruf von Helen ab.

Trent und Helen verband die Trauer um seinen besten Freund und ihren Ehemann, Byron Ritter. Er hatte nie wirklich darüber nachgedacht, wie sehr sich in seinem Leben alles um seine Karriere drehte – ohne eine Beziehung und ohne eine Verbindung zu seiner Familie –, bis Byron starb. Ein Chirurg wie er, aber einer, der alles hatte, was Trent fehlte. Byron hatte eine Frau und zwei Kinder hinterlassen. Ein ganzes Leben außerhalb des Operationssaals. Und er hatte sich dieses Leben selbst genommen. Im Abschiedsbrief, den er vor seinem Selbstmord hinterlassen hatte, stand zwar, dass er mit den Schuldgefühlen wegen eines Patienten, den er verloren hatte, nicht leben konnte, aber Trent wusste, dass mehr dahinter war als das. Byron war schon eine lange Zeit ausgebrannt gewesen und hatte es nicht über sich gebracht, mit der Arbeit aufzuhören.

„Die Leute würden sagen, dass ich egoistisch bin, weil ich meine Fähigkeiten nicht dazu einsetzten will, um Leben zu retten“, hatte er eines Abends nach mehreren Drinks zu Trent gesagt. „Und wie sollte ich es Helen erklären? Sie hat während meines Medizinstudiums so große Opfer gebracht. Sie hat ihre eigene Ausbildung aufgegeben, in zwei Jobs gearbeitet und wir haben einander kaum gesehen. Ich kann nicht weg. Ich kann einfach nicht …“

Bis er es eines Tages doch schaffte, nur auf eine Weise, die sich niemand gewünscht hatte.

Sein Tod war schockierend und traurig gewesen und er hatte Trent die Augen geöffnet.

Wenn Byrons Leben, das so voller Dinge war, für die es sich zu leben lohnte, nicht genügt hatte, was sagte das dann über Trents Leben aus? Er hatte den Mann, den er liebte, zurückgelassen und nie versucht, ihn zu ersetzen. Er hatte die Kluft zwischen sich und seinen Eltern von Jahr zu Jahr größer werden lassen. Wenn Trent sein Leben nüchtern betrachtete, dann mangelte es an allem. Deshalb auch sein überhasteter Umzug nach Ashe, um wieder mit Xavier in Kontakt zu kommen, und sich ein neues, erfüllteres Leben aufzubauen. Es war vielleicht ein bisschen früh für eine Midlife-Crisis, aber Trent war den Gleichaltrigen immer voraus gewesen.

Er drückte die Stummtaste auf der Fernbedienung und nahm den Anruf an. „Helen, hi. Wie geht es dir?“

„Es tut mir leid, dass ich dich störe, Trent“, sagte sie und klang traurig und erschöpft. „Ich musste nur einfach mal eine freundliche Stimme hören.“

Wie immer, wenn sie miteinander sprachen, kamen bei Trent Schuldgefühle auf. Er hatte die Stadt verlassen, als sie jede Unterstützung gebraucht hatte, die sie nur kriegen konnte. Byron, Helen und die Kids waren viele Jahre lang Freunde und eine Art Ersatzfamilie für ihn gewesen. Nun, da Byron nicht mehr da war, fühlte er sich für sie verantwortlich.

„Du störst nicht“, sagte er sanft. „Sind die Kinder okay?“

„Es war schwer“, sagte sie. „Katy fragt mich immer noch, wann er nach Hause kommt. Ich habe es so oft erklärt …“

Ihre Stimme versagte und Trent fühlte, wie sich sein Herz zusammenzog.

„Es tut mir leid“, sagte er rau. „Ich hätte nicht einfach so abhauen sollen.“

„Nein, da gibt es nichts, wofür du dich entschuldigen müsstest. Hätte Byron seinen Job verlassen, hätte es ihm vielleicht das Leben gerettet. Wenn eine Veränderung in deinem Leben dich vor dem Schmerz bewahrt, den er empfunden haben muss, dann musst du das tun. Kümmere dich zuerst um dich.“

Ihre freundlichen Worte bewirkten nur, dass er sich noch egoistischer fühlte. Byron war gestorben und was hatte Trent getan? Er war wegen seines eigenen Lebens ausgeflippt. Ganz schön egozentrisch, Cavendish, nicht wahr?

„Ich wünschte, ich könnte für dich da sein“, sagte er. „Ich bin nämlich nicht sicher, was ich hier mache. Ich jage hinter einem Ex her, der sich wahrscheinlich wünscht, ich würde einfach wieder aus seinem Leben verschwinden. Aber du hast mich nicht angerufen, um meine Geschichten zu hören.“

Er konnte ein Lächeln in ihrer Stimme hören, als sie wieder sprach. „Das hätte Byron gefallen. Hätte er es gewusst, hätte er dich ermutigt, deiner ersten Liebe zu folgen.“

„Genau deshalb wusste er es nicht.“

Sie lachte. „Ja, er konnte ein bisschen aufdringlich sein.“

Trent hatte Helen nur deshalb von seiner Vergangenheit mit Xavier erzählt, weil er wollte, dass sie verstand, warum er in einer so schwierigen Zeit wegging. Sie war bemerkenswert unterstützend gewesen, wenn man bedachte, dass sie um ihren Mann trauerte und mit zwei schwer erschütterten Kindern umgehen musste.

„Wie ist es, nicht mehr im OP zu sein?“, fragte sie nach einer Minute.

„Ehrlich? Irgendwie ist es toll. Ich bekomme meine Patienten zu sehen, wenn sie bei Bewusstsein sind“, scherzte er. „Es hat sich herausgestellt, dass es echte Menschen sind, stell dir das vor.“

Tatsächlich vermisste er den OP, aber das würde er Helen nicht sagen. Vor allem vermisste er das Gefühl, etwas reparieren zu können. Jetzt verlangte sein Job, dass er Probleme diagnostizierte. Das war auch wichtig, aber Chirurgie war aktiver. Außerdem fehlte ihm das Gefühl von Stolz und Macht, das sie ihm verliehen hatte. Obwohl er sich nicht sicher war, ob das so gut für ihn gewesen war. Es war dieses Bedürfnis, sich zu beweisen, das ihn dazu gebracht hatte, seinen Ehrgeiz über alles zu stellen, sogar über sein eigenes Glück.

Er hatte sich betrogen gefühlt, als Xavier ihre Pläne eines gemeinsamen Studiums aufgab, weil seine Familie ihn brauchte. Nun sah er, dass Xavier geerdet und in einer Weise mit dem Leben verbunden war, die Trent nie erfahren hatte.

„Du sagst mir, wenn du etwas brauchst?“, fragte er Helen.

„Das werde ich. Es hilft mir schon, nur mit dir zu reden und zu wissen, dass du ihn auch vermisst.“

„Er hat dich geliebt“, sagte Trent. „Das weiß ich.“

„Es ist nur schwer. Ich schwanke zwischen Trauer und Zorn. Wie konnte er uns nur so im Stich lassen, Trent? Wie konnte er das den Kindern antun?“

„Ich weiß es nicht“, gab Trent zu. „Ich wünschte, ich hätte die Anzeichen gesehen.“

Sie lachte bitter. „Ich bin seine Frau und ich habe die Anzeichen nicht gesehen. Mach dir keine Vorwürfe. Er hat offenbar viele seiner Gefühle verborgen.“

Sie hatten diese Unterhaltung schon oft geführt, als sie versucht hatten zu verstehen, wie Byron an diesen Punkt kommen konnte, ohne dass sie es bemerkt hatten.

„Ich versuche mir nicht die Schuld daran zu geben, wenn du es auch versuchst“, sagte Helen.

„Abgemacht.“

Lange, nachdem sie das Gespräch beendet hatten, starrte Trent noch immer auf den stummen Fernseher. In vielerlei Hinsicht hatten seine und Byrons Situation nichts gemeinsam. Und doch hatte der Tod seines Freundes Trent zutiefst erschüttert. Er hatte zusammen mit seinem Gott-Komplex offenbar ein Allmächtigkeitsgefühl entwickelt. Was der Grund dafür war, warum er in Ashe nicht als Chirurg, sondern als Allgemeinmediziner in der neuen Poliklinik angefangen hatte.

Die Chirurgie machte ihn süchtig. Er fühlte sich wie ein Gott, wenn ein Leben rettete. Er fühlte sich wie ein Rockstar, wenn die Angehörigen seiner Patienten ihn mit Lob überschütteten. Aber es nagte auch an ihm und fraß all seine Energie auf.

Obwohl Byron nicht etwa einem Unfall zum Opfer gefallen war, sondern sich das Leben genommen hatte, war Trent plötzlich überzeugt, dass ihm die Zeit davonlief. Er wollte mehr als eine erfolgreiche Karriere und das Lob von Fremden.

Er wollte jemanden, der ihn so sehr liebte, wie Helen Byron geliebt hatte.

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