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KAPITEL EINS

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Die erste Unterrichtsstunde des Tages war immer die Schlimmste. Die Studenten schoben sich in den Hörsaal der Columbia Universität wie lebensunfähige, halbtote Zombies, ihre Sinne getrübt von nächtelangem Lernen oder einem Kater oder einer Kombination von beidem. Sie trugen Jogginghosen und ihre T-Shirts von gestern und klammerten sich an Styroporbecher, die mit Soja Mokka Latte oder hausgemachtem, hellgerösteten Filterkaffee gefüllt waren oder was auch immer es war, was die Kinder heutzutage tranken.

Professor Reid Lawsons Job war es zu unterrichten, aber er erkannte auch die Notwendigkeit für einen morgendlichen Energieschub – eine mentale Stimulierung, die das Koffein unterstützte. Lawson gab ihnen einen Moment Zeit ihre Plätze zu finden und es sich bequem zu machen, während er seinen sportlichen Tweed Mantel auszog und über die Lehne seines Stuhls legte.

„Guten Morgen“, sagte er laut. Die Begrüßung ließ mehrere Studenten aufschrecken, die ganz plötzlich zu ihm aufsahen, als hätten sie nicht bemerkt, dass sie in ein Klassenzimmer gelaufen waren. „Heute werden wir über Piraten sprechen.“

Das erregte etwas Aufmerksamkeit. Müde Augen schauten ihn an und blinzelten durch den Schleier des Schlafentzugs und versuchten herauszufinden, ob er wirklich gerade „Piraten“ gesagt hatte oder nicht.

„In der Karibik?“, witzelte ein Zweitsemester in der ersten Reihe.

„Genau genommen, im Mittelmeer“, korrigierte ihn Lawson. Mit hinter dem Rücken verschränkten Händen ging er langsam auf und ab. „Wie viele von Ihnen haben Professor Truitts Kurs zu Antiken Imperien belegt?“ Ungefähr ein Drittel der Klasse hob die Hand. „Gut. Dann wissen Sie auch, dass das ottomanische Reich für, oh, fast sechshundert Jahre eine Weltmacht war. Was Sie vielleicht nicht wissen, ist, dass die ottomanischen Korsaren oder auch genannt, die Barbaresken-Piraten, für den Großteil dieser Zeit Raubzüge auf den Meeren geführt haben, von der Küste Portugals durch die Straße von Gibraltar und in weiten Bereichen des Mittelmeers. Was denken Sie, was sie wollten? Irgendjemand? Ich weiß, dass Sie am Leben sind.“

„Geld?“, fragte ein Mädchen in der dritten Reihe.

„Schätze“, sagte der Zweitsemester von vorn.

„Rum!“, rief ein männlicher Student von hinten aus dem Klassenzimmer und löste damit ein Kichern in der Klasse aus. Reid grinste auch. Es gab also doch etwas Leben in dieser Gruppe.

„Alles gute Ideen“, sagte er. „Aber die Antwort ist, ‚Alles oben genannte’. Sehen Sie, die Barbaresken-Piraten hatten es hauptsächlich auf europäische Handelsschiffe abgesehen und sie würden alles nehmen – und ich meine wirklich alles. Schuhe, Gürtel, Geld, Hüte, Waren, das Schiff selbst … und seine Crew. Man glaubt, dass in den zwei Jahrhunderten von 1580 bis 1780 mehr als zwei Millionen Menschen von den Barbaresken-Piraten gefangen genommen und versklavt wurden. Sie brachten alles zurück in ihr nordafrikanisches Königreich. Das ging für Jahrhunderte so weiter. Und was denken Sie, taten die europäischen Nationen dagegen?“

„Erklärten Krieg!“, rief der Student von hinten.

Ein unscheinbares Mädchen mit einer Hornbrille hob leicht seine Hand und fragte, „Haben sie einen Friedensvertrag ausgehandelt?“

„So ungefähr“, antwortete Reid. „Die Machthaber von Europa stimmten zu, den Barbaresken Nationen Tribut zu zahlen, in der Form von riesigen Summen von Geld und Waren. Ich meine damit Portugal, Spanien, Frankreich, Deutschland, England, Schweden, die Niederlande … Sie alle bezahlten die Piraten, damit sie sich von ihren Booten fernhielten. Die Reichen wurden reicher und die Piraten zogen sich zurück – überwiegend. Aber dann zwischen dem späten achtzehnten und dem frühen neunzehnten Jahrhundert passierte etwas. Es gab ein Ereignis, welches der Katalysator für das Ende der Barbaresken-Piraten werden würde. Möchte irgendjemand eine Vermutung äußern?“

Niemand sprach. Rechts von ihm, sah Lawson einen Studenten, der in seinem Telefon suchte.

„Mr. Lowell“, sagte er. Der Student sah auf. „Eine Vermutung?“

„Ähem … Amerika passierte?“

Lawson lächelte. „Fragen Sie mich oder ist das Ihre Antwort? Seien Sie selbstbewusst mit Ihren Antworten, dann wird der Rest von uns wenigstens denken, dass Sie wissen, wovon Sie reden.“

„Amerika passierte“, sagte er noch einmal, dieses Mal mit Nachdruck.

„Das stimmt! Amerika passierte. Aber, wie Sie wissen, waren wir zu diesem Zeitpunkt noch eine sehr junge Nation. Amerika war jünger, als die meisten von Ihnen es sind. Wir mussten Handelsrouten mit Europa erschaffen, um unsere Wirtschaft anzukurbeln, aber die Barbaresken-Piraten begannen unsere Schiffe zu stehlen. Als wir sagten, ‚Was zum Teufel, Jungs?’ verlangten sie Tribut. Wir hatten gerade mal so eine Staatskasse, aber es war nicht wirklich etwas darin. Unser Sparschwein war leer. Welche Wahl hatten wir also? Was konnten wir tun?“

„Krieg erklären!“, erklang die bereits bekannte Stimme von hinten aus dem Klassenzimmer.

„Genau! Wir hatten keine andere Wahl, als Krieg zu erklären. Nun, Schweden hatte zu diesem Zeitpunkt die Piraten bereits seit einem Jahr bekämpft und mit ihnen gemeinsam nahmen wir zwischen 1801 und 1805 den Hafen von Tripolis ein und dann die Stadt Darna gefangen, was schlussendlich den Konflikt beendete.“ Lawson lehnte sich gegen den Rand seines Schreibtischs und verschränkte die Arme vor seiner Brust. „Natürlich beschönigt dies viele der Details, aber das hier ist eine europäische Geschichtsstunde, keine amerikanische. Wenn Sie aber die Chance haben sollten, lesen Sie etwas über Leutnant Stephen Decatur und die USS Philadelphia. Aber ich schweife ab. Warum unterhalten wir uns über Piraten?“

„Weil Piraten cool sind?“, fragte Lowell, der inzwischen sein Telefon weggelegt hatte.

Lawson kicherte. „Das kann ich nicht abstreiten. Aber nein, das ist nicht der Grund. Wir unterhalten uns über Piraten, weil der Tripolitanische Krieg etwas repräsentiert, was es nur selten in den Annalen der Geschichte zu sehen gibt.“ Er stellte sich gerade hin und scannte mit den Augen den Raum, wobei er Blickkontakt mit verschiedenen Studenten suchte. Jetzt konnte Lawson zumindest ein Leuchten in ihren Augen sehen, einen Funken, der zeigte, dass die meisten Studenten an diesem Morgen am Leben waren, wenn nicht sogar aufmerksam. „Buchstäblich jahrhundertelang wollte keine der europäischen Mächte sich den Barbaresken-Nationen entgegenstellen. Es war leichter, sie einfach zu bezahlen. Es brauchte Amerika – welches damals für den Großteil der entwickelten Welt ein Witz war – um die Veränderung herbeizuführen. Es brauchte eine Verzweiflungstat von einer Nation, die aberwitzig und hoffnungslos waffentechnisch unterlegen war, um eine Veränderung der Kräftedynamik auf einer der wertvollsten Handelsrouten der Welt zu bewirken. Und darin liegt die Lektion.“

„Leg dich nicht mit Amerika an?“, schlug jemand vor.

Lawson lächelte. „Nun, ja.“ Er hob einen Finger in die Luft, um seinen Punkt zu verstärken. „Aber umso mehr, dass Verzweiflung und die totale Abwesenheit möglicher Optionen, historisch gesehen, zu den größten Triumphen, die die Welt je gesehen hat, führen kann und geführt hat. Die Geschichte lehrt uns wieder und wieder, dass es kein Regime gibt, das zu groß ist, um es zu stürzen, kein Land zu klein oder zu schwach ist, um eine wirkliche Veränderung herbeizuführen.“ Er zwinkerte. „Denken Sie das nächste Mal daran, wenn Sie sich für nichts mehr als einen kleinen Fleck in dieser Welt halten.“

Am Ende der Stunde gab es einen sichtbaren Unterschied zwischen den langsamen und müden Studenten, die das Klassenzimmer betreten hatten und der lachenden, schnatternden Gruppe, die jetzt den Hörsaal füllte. Ein Mädchen mit pinkfarbenen Haaren kam auf dem Weg nach draußen zu seinem Schreibtisch und kommentierte lächelnd: „Großartige Vorlesung, Professor. Wie war der Name des amerikanischen Leutnants, den Sie erwähnt hatten?“

„Oh, das war Stephen Decatur.“

„Danke.“ Sie schrieb es auf und eilte aus dem Klassenzimmer.

„Professor?“

Lawson blickte auf. Es war der Zweitsemester aus der ersten Reihe. „Ja, Mr. Garner? Was kann ich für Sie tun?“

„Ich habe mich gefragt, ob ich Sie um einen Gefallen bitten kann. Ich bewerbe mich für ein Praktikum beim Museum für Natürliche Geschichte und äh, könnte ein Empfehlungsschreiben gebrauchen.“

„Sicher, kein Problem. Aber ist Ihr Hauptfach nicht Anthropologie?“

„Ja. Aber, äh… ich dachte, ein Brief von Ihnen wäre etwas gewichtiger, wissen Sie? Und, äh …“ Der Junge schaute auf seine Schuhe. „Dies hier ist sozusagen mein Lieblingsfach.“

„Ihr Lieblingsfach bis jetzt.“ Lawson lächelte. „Ich mache es gern. Ich habe morgen etwas für Sie fertig – oh, genau genommen, habe ich heute Abend eine wichtige Verpflichtung, die ich nicht verpassen kann. Wie klingt Freitag?“

„Keine Eile. Freitag wäre fantastisch. Danke, Professor. Bis dann!“ Garner eilte aus dem Hörsaal und ließ Lawson hinter sich allein.

Er blickte sich im leeren Auditorium um. Dies war seine liebste Tageszeit, zwischen den Unterrichtsstunden – die gegenwärtige Zufriedenheit der vergangenen Stunde gemischt mit der Vorfreude auf die nächste.

Sein Handy piepte. Es war eine SMS von Maya. 17:30 Uhr zu Hause?

Ja, antwortete er. Ich würde es nicht verpassen. Die „wichtige Verpflichtung“ an diesem Abend war der Spieleabend bei den Lawsons zu Hause. Er wusste die Qualitätszeit mit seinen beiden Mädchen sehr zu schätzen.

Gut, schrieb seine Tochter zurück. Ich habe Neuigkeiten.

Was für Neuigkeiten?

Später, war ihre Antwort. Er runzelte wegen der ungenauen Nachricht seine Stirn. Plötzlich würde sich der Tag sehr lang anfühlen.

*

Als der Unterrichtstag zum Ende kam, packte Lawson seine Kuriertasche, zog seinen Daunenwintermantel an und eilte zum Parkplatz. Februar in New York war typischerweise bitterkalt und in der letzten Zeit war es sogar noch schlimmer als sonst. Das kleinste bisschen Wind war regelrecht eisig.

Er startete den Motor des Autos und ließ ihn für ein paar Minuten warm laufen, rieb sich die Hände und blies warmen Atem auf seine gefrorenen Finger. Dies war sein zweiter Winter in New York und es schien nicht so, als würde er sich in der Kälte akklimatisieren. In Virginia hatte er gedacht, fünf Grad im Februar waren eisig. Zumindest schneit es nicht, dachte er. Ein Hoffnungsschimmer.

Die Fahrt vom Columbia Campus nach Hause war nur elf Kilometer weit, aber der Verkehr zu dieser Tageszeit war dicht und andere Autofahrer waren generell irritierend. Reid überkam dies mit Hörbüchern, auf welche ihn seine ältere Tochter vor kurzem gebracht hatte. Momentan arbeitete er sich seinen Weg durch Umberto Ecos Der Name der Rose, obwohl er heute die Worte kaum wahrnahm. Er dachte an Mayas kryptische Nachricht.

Das Haus der Lawsons war ein braun verklinkerter, zweistöckiger Bungalow in Riverdale am nördlichen Ende der Bronx. Er mochte die rustikale vorstädtische Nachbarschaft – die Nähe zur Innenstadt und zur Universität und die gewundenen Straßen, die weiter südlich in breite Boulevards übergingen. Die Mädchen liebten es auch und wenn Maya an der Columbia Universität angenommen werden würde oder an ihrer Zweitwahl der NYU, musste sie nicht von zu Hause ausziehen.

Reid wusste sofort, dass etwas anders war, als er das Haus betrat. Er konnte es in der Luft riechen und er hörte die gedämpften Stimmen, die aus der Küche am Ende des Flurs erklangen. Er legte seine Kuriertasche ab und zog leise seinen Mantel aus, bevor er vorsichtig auf Zehenspitzen durchs Foyer ging.

„Was um alles in der Welt geht hier vor sich?“, fragte er zur Begrüßung.

„Hallo, Daddy!“ Sara, seine vierzehn Jahre alte Tochter, wippte auf den Ballen ihrer Füße, während sie ihrer älteren Schwester Maya dabei zusah, wie sie ein verdächtiges Ritual über einer Auflaufform aus Glas vollführte. „Wir kochen Abendessen!“

„Ich koche das Abendessen“, murmelte Maya ohne aufzusehen. „Sie ist nur ein Zuschauer.“

Reid blinzelte überrascht. „Okay. Ich habe Fragen.“ Er schaute über Mayas Schulter, die eine leicht lilafarbene Glasur über einige ordentliche aufgereihte Schweinerippchen strich. „Beginnend mit … Hä?“

Maya sah noch immer nicht auf. „Schau mich nicht so an“, sagte sie, „wenn Hauswirtschaft zu einem Pflichtkurs gemacht wird, werde ich es eben nützlich anwenden.“ Endlich sah sie ihn an und lächelte leicht. „Und gewöhne dich nicht daran.“

Reid hob seine Hände abwehrend. „Auf keinen Fall.“

Maya war sechzehn und gefährlich klug. Sie hatte ganz klar ihren Intellekt von ihrer Mutter geerbt; sie würde im kommenden Schuljahr bereits eine Oberstufenschülerin sein, was daran lag, dass sie die achte Klasse übersprungen hatte. Sie hatte Reids dunkles Haar, sein nachdenkliches Lächeln und einen Hang zur Dramatik. Sara im Gegensatz dazu, hatte ihr gesamtes Aussehen von Kate. Während sie zu einem Teenager heranwuchs, schmerzte es Reid manchmal in ihr Gesicht zu sehen, obwohl er es nie zeigte. Sie hatte außerdem Kates feuriges Temperament geerbt. Meistens war Sara ein wirklicher Engel, aber ab und zu würde sie explodieren und die Auswirkungen waren verheerend.

Reid sah mit Staunen, wie die Mädchen den Tisch deckten und das Abendessen servierten. „Das sieht fantastisch aus Maya“, kommentierte er.

„Oh, warte. Noch eine Sache.“ Sie holte etwas aus dem Kühlschrank – eine braune Flasche. „Belgisches magst du am liebsten, richtig?“

Reid zog die Augen zusammen. „Wie hast du …?“

„Keine Sorge, Tante Linda hat es für mich gekauft.“ Sie öffnete die Flasche und goss das Bier in ein Glas. „Gut. Jetzt können wir essen.“

Reid war extrem dankbar, dass Kates Schwester Linda nur ein paar Minuten entfernt wohnte. Seine Professorenstelle zu halten, während er zwei Mädchen zu Teenagern aufzog, wäre ohne sie eine unmögliche Aufgabe gewesen. Es war eine der Hauptmotivationen für den Umzug nach New York gewesen, damit die Mädchen einen positiven weiblichen Einfluss in der Nähe hatten. (Obwohl er zugeben musste, dass er nicht wirklich begeistert war, dass Linda seiner Tochter Bier kaufte, egal für wen es war.)

„Maya, das ist großartig“, sagte er nach dem ersten Bissen.

„Dankeschön. Es ist Chipotle-Glasur.“

Er wischte sich seinen Mund ab, legte seine Serviette hin und fragte: „In Ordnung, es ist verdächtig. Was hast du angestellt?“

„Was? Nichts!“, bekräftigte sie.

„Was hast du kaputtgemacht?“

„Ich habe nichts …“

„Bist du suspendiert worden?“

„Dad, komm schon …“

Reid griff melodramatisch den Tisch mit beiden Händen. „Oh Gott, erzähl mir nicht, dass du schwanger bist. Ich besitze nicht einmal eine Waffe.“

Sara kicherte.

„Würdest du aufhören?“, schimpfte Maya. „Ich darf nett sein, weißt du.“ Sie aßen für eine Minute schweigend weiter, bevor sie beiläufig hinzufügte: „Aber da du es schon erwähnst …“

„Oh, Mann. Hier kommt es.“

Sie räusperte sich und sagte: „Ich habe eine Art Verabredung. Für den Valentinstag.“

Reid erstickte fast an seinem Rippchen.

Sara grinste. „Ich habe dir doch gesagt, dass er komisch darauf reagiert.“

Er fing sich und hielt seine Hand hoch. „Warte, warte. Ich bin nicht komisch. Ich dachte nur nicht … Ich wusste nicht, dass du … Gehst du mit jemandem aus?“

„Nein“, sagte Maya schnell. Dann zuckte sie mit den Schultern und sah hinunter auf ihren Teller. „Vielleicht. Ich weiß es noch nicht. Aber er ist ein netter Typ und er möchte mich in der Stadt zum Abendessen ausführen …“

„In der Stadt“, wiederholte Reid.

„Ja, Dad, in der Stadt. Und ich bräuchte ein Kleid. Es ist ein schicker Ort. Ich habe nicht wirklich etwas zum Anziehen.“

Es gab viele Zeiten, zu denen sich Reid verzweifelt wünschte, dass Kate da war, aber dieses Mal übertraf sie alle. Er war immer davon ausgegangen, dass seine Töchter irgendwann beginnen würden, Verabredung zu haben, aber er hatte gehofft, dass das nicht passierte, bis sie fünfundzwanzig waren. Es waren Zeiten wie diese, wenn er sich auf sein Lieblings-Elternakronym besann, WWKS – was würde Kate sagen? Als Künstlerin und selbstbestimmter Freigeist würde sie die Situation wahrscheinlich ganz anders handhaben, als er es würde und Reid versuchte, sich dies bewusst zu machen.

Er musste ganz besonders besorgt ausgesehen haben, weil Maya jetzt leicht lachte und ihre Hand auf seine legte. „Bist du in Ordnung, Dad? Es ist nur eine Verabredung. Nichts wird passieren. Es ist keine große Sache.“

„Jaaa“, sagte er langsam. „Du hast recht. Natürlich ist es keine große Sache. Vielleicht sehen wir, ob Tante Linda dich am Wochenende ins Einkaufszentrum mitnehmen kann und –“

„Ich möchte, dass du mit mir gehst.“

„Wirklich?“

Sie zuckte mit den Schultern. „Ich meine, ich würde nichts kaufen wollen, was dir nicht gefällt.“

Ein Kleid, Abendessen in der Stadt und irgendein Junge ... Darüber hatte er tatsächlich noch nie zuvor nachgedacht.

„Also gut“, sagte er. „Wir gehen am Samstag. Aber ich habe eine Bedingung – ich darf mir das heutige Spiel aussuchen.“

„Hmm“, sagte Maya. „Du bist ein harter Brocken. Lass mich mit meiner Kollegin beraten.“ Maya wandte sich an ihre Schwester.

Sara nickte. „Gut. Solange es nicht Risiko ist.“

Reid spottete. „Du weißt nicht, wovon du redest. Risiko ist das Beste.“

Nach dem Abendessen räumte Sara den Tisch ab, während Maya heiße Schokolade machte. Reid baute eins ihrer Lieblingsspiele auf, Zug um Zug, ein klassisches Spiel, in welchem man Eisenbahnstrecken durch Amerika bauen musste. Als er die Karten und Plastikzüge verteilte, kam er nicht umhin sich zu fragen, wann all dies passiert war. Wann war Maya so schnell erwachsen geworden? Für die letzten zwei Jahre, seitdem Kate gestorben war, hatte er die Rolle beider Elternteile gespielt (mit der sehr geschätzten Hilfe von ihrer Tante Linda). Sie beide brauchten ihn noch immer, zumindest erschien es so, aber es würde nicht mehr lange dauern, bis sie zum College gingen, ihre Karrieren begannen und dann …

„Dad?“, Sara kam ins Esszimmer und setzte sich ihm gegenüber. Als würde sie seine Gedanken lesen, sagte sie: „Vergiss nicht, ich habe nächsten Mittwochabend in der Schule eine Kunstvorführung. Du wirst da sein, oder?“

Er lächelte. „Natürlich, mein Schatz. Das lasse ich mir nicht entgehen.“ Er klatschte in die Hände. „Jetzt! Wer ist bereit, zunichtegemacht zu werden – ich meine, wer ist bereit, ein familienfreundliches Spiel zu spielen?“

„Versuch's doch mal, alter Mann“, rief Maya aus der Küche.

„Alter Mann?“, sagte Reid entrüstet. „Ich bin 38!“

„Ich bleibe dabei.“ Sie lachte, als sie ins Esszimmer kam. „Oh, das Spiel mit den Zügen.“ Ihr Grinsen wurde zu einem schmalen Lächeln. „Das war Moms Lieblingsspiel, nicht wahr?“

„Oh … ja.“ Reid zog eine Grimasse. „Das war es.“

„Ich bin blau!“, erklärte Sara und griff nach den Spielfiguren.

„Orange“, sagte Maya. „Dad, welche Farbe? Dad, hallo?“

„Oh.“ Reid wurde aus seinen Gedanken gerissen. „Entschuldige. Ähem, grün.“

Maya schob ein paar Spielfiguren in seine Richtung. Reid zwang sich zum Lächeln, obwohl seine Gedanken besorgt waren.

*

Nach zwei Spielrunden, die beide Maya gewonnen hatte, gingen die Mädchen ins Bett und Reid zog sich in sein Büro zurück, ein kleines Zimmer in der ersten Etage, welches vom Foyer abführte.

Riverdale war keine billige Gegend, aber es war Reid wichtig sicherzustellen, dass seine Mädchen in einer sicheren und glücklichen Umgebung aufwuchsen. Es gab nur zwei Schlafzimmer, also hatte er diesen kleinen Raum als Büro eingerichtet. Alle seine Bücher und Erinnerungsstücke waren in fast jeden möglichen Zentimeter des drei-mal-drei Meter Raumes gequetscht. Mit seinem Schreibtisch und dem Ledersessel darin konnte man nur noch ein ganz kleines Stück des abgetretenen Teppichs darunter sehen.

Er schlief oft in diesem Sessel ein, nach langen Abenden, an denen er Notizen machte, Vorlesungen vorbereitete und zum wiederholten Male Biografien las. Er begann deshalb Rückenprobleme zu bekommen. Wenn er mit sich selbst ehrlich war, fiel es ihm aber nicht leichter in seinem eigenen Bett zu schlafen. Der Ort mag sich verändert haben – er und die Mädchen sind, kurz nachdem Kate gestorben war, nach New York gezogen – aber er hatte noch immer die extra große Matratze mit Bettgestell, die ihre gewesen war, seine und Kates.

Er hätte gedacht, dass der Schmerz Kate zu verlieren, inzwischen etwas weniger geworden wäre, zumindest ein bisschen. Manchmal war es so, kurzzeitig, und dann kam er an ihrem Lieblingsrestaurant vorbei oder sah ein Stück eines ihrer Lieblingsfilme im Fernsehen und der Schmerz kam mit geballter Kraft zurück, so frisch, als wäre alles erst gestern passiert.

Sollten die Mädchen etwas Ähnliches fühlen, dann sprachen sie nicht darüber. In der Tat sprachen sie sehr oft offen über ihre Mutter, etwas was Reid selbst immer noch nicht konnte.

Es gab ein Bild von ihr auf einem seiner Bücherregale, welches bei der Hochzeit eines Freundes vor einem Jahrzehnt aufgenommen worden war. An den meisten Abenden war das Bild umgedreht, sonst würde er seine gesamte Zeit damit verbringen, es anzustarren.

Wie unglaublich unfair die Welt sein konnte. An einem Tag hatten sie alles – ein schönes Zuhause, wunderbare Kinder, großartige Karrieren. Sie lebten in McLean, Virginia; er arbeitete als außerordentlicher Professor an der nahegelegenen George Washington Universität. Wegen seiner Arbeit reiste er oft zu Seminaren und Gipfeltreffen und als Gastdozent für europäische Geschichte zu Schulen überall im Land verteilt. Kate arbeitete in der Restaurationsabteilung des Smithsonian American Art Museums. Ihre Mädchen gediehen prächtig. Das Leben war perfekt.

Aber wie Robert Frost berühmterweise gesagt hatte, kein Gold kann bleiben. An einem Winternachmittag fiel Kate auf Arbeit in Ohnmacht – oder zumindest ist es das, was ihre Kollegen dachten, als sie plötzlich schlaff wurde und von ihrem Stuhl rutschte. Sie riefen einen Krankenwagen, aber es war bereits zu spät. Sie wurde im Krankenhaus für tot erklärt. Eine Embolie, hatten sie gesagt. Ein Blutgerinnsel hatte sich in ihrem Gehirn gebildet und einen ischämischen Schlaganfall verursacht. Die Ärzte benutzten, so oft sie konnten, schwer verständliche medizinische Begriffe in ihrer Erklärung, so als würde es den Schock irgendwie abmildern.

Das Schlimmste von allem war, Reid war unterwegs gewesen, als es passierte. Er war bei einem Studentenseminar in Houston, Texas, gewesen, um Vorlesungen über das Mittelalter zu halten, als er den Anruf bekam.

Das war, wie er herausfand, dass seine Frau gestorben war. Ein Anruf vor der Tür eines Konferenzraums. Dann kam der Flug nach Hause, die Versuche seine Töchter inmitten seiner eigenen fürchterlichen Trauer zu trösten und irgendwann der Umzug nach New York.

Er drückte sich selbst aus dem Sessel hoch und drehte das Foto herum. Er mochte es nicht, über all das nachzudenken, das Ende und das Danach. Er wollte sie so in Erinnerung behalten wie in dem Foto, Kate, wie sie strahlte. Er wählte, sich nur daran zu erinnern.

Da war noch etwas anderes, etwas am Rande seines Bewusstseins – eine Art verschwommene Erinnerung, die versuchte an die Oberfläche zu kommen, als er das Bild anstarrte. Es fühlte sich fast wie ein Déjà-Vu an, nur nicht im jetzigen Moment. Es war, als würde sein Unterbewusstsein versuchen, irgendetwas an die Oberfläche zu bringen.

Ein plötzliches Klopfen an der Tür holte ihn in die Realität zurück. Reid zögerte und fragte sich, wer es sein könnte. Es war fast Mitternacht; die Mädchen waren bereits seit ein paar Stunden im Bett. Das kurze Klopfen erklang erneut. Aus Furcht es könnte die Kinder wecken, eilte er zu Tür. Schließlich lebte er in einer sicheren Nachbarschaft und hatte keinen Grund sich zu fürchten, die Tür zu öffnen, Mitternacht oder nicht.

Der raue Winterwind war nicht, was ihn auf der Stelle gefrieren ließ. Überrascht starrte er auf die drei Männer auf der anderen Seite. Sie waren eindeutig aus dem Nahen Osten, alle mit dunkler Haut, einem dunklen Bart und tiefliegenden Augen, gekleidet in dicken schwarzen Jacken und Stiefeln. Die zwei an jeder Seite des Ausgangs waren lang und großgewachsen; der dritte, hinter ihnen, war breitschultrig und massig, mit einem vermutlich andauernd finsterem Blick.

„Reid Lawson“, sagte der großgewachsene Mann auf der linken Seite. „Sind Sie das?“ Sein Akzent klang iranisch, war aber nicht sehr stark, was darauf schließen ließ, dass er bereits seit längerer Zeit in den Staaten lebte.

Reids Hals wurde trocken, als er über ihre Schultern hinweg bemerkte, dass dort am Straßenrand ein grauer Transporter mit laufendem Motor und ausgeschalteten Scheinwerfern stand. „Es tut mir leid“, sagte er zu ihm. „Sie müssen das falsche Haus haben.“

Der großgewachsene Mann auf der rechten Seite, der seine Augen nicht von Reid abwandte, hielt ein Telefon hoch, sodass seine zwei Kollegen es sehen konnten. Der Mann auf der linken Seite, der die Frage gestellt hatte, nickte einmal.

Ohne Vorwarnung sprang der massige Mann vorwärts, trügerisch schnell für seine Größe. Eine fleischige Hand griff nach Reids Hals. Reid wandte sich versehentlich ab, gerade außer Reichweite, indem er rückwärts stolperte und fast über seine eigenen Füße fiel. Er fing sich, als er mit den Fingerspitzen den gefliesten Fußboden berührte.

Als er rückwärts ging, um seine Balance wiederzufinden, kamen die drei Männer ins Haus. Er verfiel in Panik und dachte nur an die Mädchen, die in der oberen Etage in ihren Betten schliefen.

Er drehte sich herum und rannte durch das Foyer in die Küche und schlitterte um die Kücheninsel herum. Er blickte über seine Schulter – die Männer verfolgten ihn. Mobiltelefon, dachte er verzweifelt. Es lag auf seinem Schreibtisch im Büro und seine Angreifer versperrten ihm den Weg.

Er musste sie vom Haus wegführen, weg von den Mädchen. Zu seiner Rechten war die Tür zum Garten. Er öffnete sie schnell und rannte hinaus auf die Terrasse. Einer der Männer fluchte in einer fremden Sprache – arabisch, wie er vermutete – als sie hinter ihm her rannten. Reid sprang über das Geländer der Terrasse und landete in seinem kleinen Garten. Ein stechender Schmerz schoss bei der Landung durch sein Fußgelenk, aber er ignorierte ihn. Er rannte um die Ecke des Hauses und presste sich gegen die Klinkerfassade, während er verzweifelt versuchte, sein heftiges Atmen unter Kontrolle zu bringen.

Die Mauer fühlte sich eisig an und die leichte Winterbrise schmerzte auf seiner Haut wie Messerstiche. Seine Zehen waren bereits taub – er war nur in Socken aus dem Haus gerannt. Gänsehaut machte sich auf allen seinen Gliedmaßen breit. Er konnte hören, wie sich die Männer zuflüsterten, heiser und drängend. Er zählte die einzelnen Stimmen – eine, zwei und dann drei. Sie hatten das Haus verlassen. Gut; das bedeutete, sie waren nur hinter ihm her und nicht hinter den Mädchen.

Er musste zu einem Telefon gelangen. Er konnte nicht zurück ins Haus gehen, ohne die Mädchen in Gefahr zu bringen. Ebensowenig konnte er einfach an der Tür des Nachbarn klopfen. Moment – es gab ein gelbes Notfalltelefon, das in einem Kasten am Ende des Blocks installiert war. Wenn er dorthin gelangen könnte …

Er atmete tief durch und sprintete durch den dunklen Garten, wobei er es wagte, den leichten Schein der Straßenlaternen zu betreten. Sein Fußgelenk pochte protestierend und der Schock der Kälte sandte stechende Schmerzen durch seine Füße. Aber er zwang sich, so schnell wie er nur konnte zu rennen.

Reid blickte über seine Schulter. Einer der großgewachsenen Männer hatte ihn entdeckt. Er rief seinen Kollegen etwas zu, rannte ihm aber nicht hinterher. Seltsam, dachte Reid, hielt aber nicht an, um darüber nachzudenken.

Er erreichte das gelbe Notfalltelefon, öffnete den Kasten und presste mit seinem Daumen hart gegen den roten Knopf, was einen Alarm an den lokalen Rettungsdienst senden würde. Wieder sah er über seine Schulter. Er konnte keinen von ihnen sehen.

„Hallo?“, zischte er in die Gegensprechanlage. „Kann mich irgendjemand hören?“ Wo war das Licht? Ein Licht sollte aufleuchten, wenn der Knopf für den Anruf gedrückt wurde. Funktionierte das überhaupt? „Mein Name ist Reid Lawson, da sind drei Männer hinter mir her, ich wohne –“

Eine starke Hand griff eine Faustvoll von Reids kurzen braunen Haaren und zog ihn ruckartig zurück. Seine Worte erstickten in seinem Hals und entflohen als nichts anderes als ein heiseres Keuchen.

Ehe er sich versah, spürte er raues Material über seinem Gesicht, er konnte nichts sehen – ein Sack über seinem Kopf – und im selben Moment wurden seine Arme hinter seinen Rücken gezwungen und in Handschellen gelegt. Er versuchte sich zu wehren, aber die starken Hände hielten ihn fest und verdrehten seine Handgelenke so sehr, dass sie fast brachen.

„Warten Sie!“, schaffte er es zu schreien. „Bitte …“ Ein Schlag traf seine Magengegend so hart, dass die Luft aus seinen Lungen gepresst wurde. Er konnte nicht atmen, geschweige denn sprechen. Schwindelerregende Farben verschwammen vor seinen Augen, als er fast ohnmächtig wurde.

Dann wurde er gezogen, seine Socken kratzten über das Pflaster des Gehwegs. Sie stießen ihn in den Transporter und schlossen die Schiebetür hinter ihm. Die drei Männer tauschen kehlige ausländische Worte miteinander, die vorwurfsvoll klangen.

„Warum?“, schaffte es Reid endlich herauszubringen.

Er fühlte das scharfe Stechen einer Nadel in seinem Oberarm und die Welt um ihn herum verschwand.

Agent Null

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