Читать книгу Lagezentrum: Ein Luke Stone Thriller – Buch 3 - Джек Марс - Страница 9
KAPITEL FÜNF
Оглавление16. August
07:15 Uhr
Black-Rock-Damm, Great Smoky Mountains, North Carolina
Von Lukes Fenster aus war nichts Ungewöhnliches zu erkennen, als der elegante schwarze Hubschrauber tief über den Damm flog. Sie befanden sich über dem Black Rock Lake, der lang und malerisch unter ihnen lag und auf allen Seiten von dichter grüner Wildnis und steilen Hängen umgeben war. Eine schmale Fahrbahn erstreckte sich an einer Seite des Damms. Sie flogen an ihr vorbei und sahen den fünfzig Stockwerke hohen Abgrund, an dessen unterem Ende sich das Kraftwerk und die Schleusen befanden. Die Schleusentore schienen normal zu funktionieren. Nicht mehr als ein kleines Rinnsal floss aus ihnen heraus. Über eine Strecke von etwa 500 Metern spannten sich Stromtransformatoren, ein Spinnennetz aus Stahltürmen und Hochspannungsdrähten vom Damm weg. Sie schienen ebenfalls intakt zu sein.
„Es gibt nicht viel zu sehen“, sagte er in sein Headset.
Zu seiner Linken saß der große Ed Newsam und starrte aus dem Fenster auf der gegenüberliegenden Seite. Eds gebrochene Hüfte war geflickt, und es sah aus, als hätte er viel Zeit im Kraftraum verbracht. Seine ohnehin schon dicken Arme waren noch größer, als Luke sie in Erinnerung hatte, seine Brust und Schultern waren noch breiter, seine Beine sahen noch mehr aus wie Eichenstämme. Er trug Jeans, Arbeitsstiefel und ein einfaches blaues T-Shirt.
Im Sitz hinter ihnen saß Mark Swann. Er war groß und schlank, seine schlaksigen Beine waren ausgestreckt, seine Chuck-Taylor-Sneakers nur wenige Zentimeter von Lukes eigenen Füßen entfernt. Seine sandfarbenen Haare waren länger als zuvor und zu einem Pferdeschwanz gebunden, und er hatte irgendwann in den letzten zwei Monaten seine Fliegerbrille gegen eine runde John-Lennon-Brille getauscht. Er trug ein schwarzes T-Shirt mit dem Logo der Punkrock-Band The Ramones.
„Das Wasser läuft durch die Schleusen, genau wie es soll“, sagte der Hubschrauberpilot. Er war ein Mann mittleren Alters und trug eine schwarze Nylonjacke mit den Großbuchstaben FEMA in Weiß auf dem Rücken. „Es gab keine Schäden am Damm oder an den Einrichtungen und auch vom Dammpersonal ist niemand zu Schaden gekommen. Das einzige, was hier passiert ist, war, dass die Zufahrtsstraße weggespült wurde. Etwa fünf Kilometer südlich beginnt die eigentliche Katastrophe.“
Sie waren mit einem Secret Service Jet von Washington, DC aus zu einem kleinen städtischen Flughafen am Rande des Nationalparks geflogen. Sie waren kurz vor Sonnenaufgang angekommen, und der Hubschrauber hatte bereits auf sie gewartet. Auf dem Flug selbst hatten sie nicht viel geredet. Die Stimmung war angesichts der Umstände düster und Trudy Wellington als Geheimdienstlerin hätte normalerweise den größten Teil des Gesprächs geführt. Susan hatte Luke einen Ersatz angeboten, aber Luke hatte abgelehnt. Ihre Aufgabe war es sowieso, Informationen von ihrem Gefangenen zu erhalten. Sicher konnte er ihnen alles erzählen, was sie wissen mussten.
Luke wusste, dass sie alle gleichermaßen von Trudys Verlust betroffen und schockiert über ihren Verrat waren. Er wusste auch, oder vermutete es zumindest, dass seine ehemaligen Teammitglieder mit diesem Kapitel ihres Lebens abgeschlossen hatten. Sie alle hatten neue Aufgaben, neue Herausforderungen, neue Kollegen, auf die man sich freuen konnte. In zwei Monaten hatte sich viel geändert.
Das Special Response Team existierte nicht mehr. Luke hätte es bestimmt in irgendeiner Form retten können – nach dem Putschversuch und den Ebola-Angriffen hätte er den Erfolg genießen und das Team ausbauen können – aber er hatte sich dagegen entschieden. Jetzt war das SRT Vergangenheit und Luke Stones Rolle selbst ebenfalls. Er hatte sich zur Ruhe gesetzt. Nicht nur das, er war komplett untergetaucht und hatte sich nicht gerade Mühe gegeben, in Kontakt zu bleiben. Der Zusammenhalt eines Teams war ein wichtiger Bestandteil im Geheimdienst und unter Sondereinsatzkräften wie ihnen. Ohne Kontakt gab es keinen Zusammenhalt.
Was bedeutete, dass es im Moment auch kein Team gab.
Der Hubschrauber machte eine Kurve und flog nach Süden. Fast sofort wurde die Verwüstung deutlich. Das gesamte Gebiet unterhalb des Dammes war überflutet. Überall waren große Bäume ausgerissen und wie Streichhölzer herumgeschleudert worden. In wenigen Minuten erreichten sie das Gelände des ehemaligen Black Rock Resorts. Teile des Obergeschosses des Hauptgebäudes waren noch intakt und ragten aus dem Hochwasser heraus. Autos stapelten sich an der Außenwand des zerstörten Hotels, zusammen mit weiteren Bäumen, von denen einige ihre Äste zum Himmel streckten, wie Gläubige, die Gott um ein Wunder anflehen.
Die Autos, die Bäume und das Treibgut hatten sich zu einem Minidamm ineinandergeschoben, hinter dem sich ein breiter See gebildet hatte. Etwa ein Dutzend Zodiacs waren am Rande dieses Sees geparkt. Taucherteams in voller Montur bereiteten sich in mehreren Booten auf ihren Einsatz vor.
„Haben sie hier Überlebende gefunden?“, fragte Luke.
Der Pilot schüttelte den Kopf. „Keinen einzigen. Zumindest nach dem Stand heute Morgen. Allerdings fand man etwa hundert Leichen in der Cafeteria des Resorts. Sie bringen sie eine nach der anderen hoch. Ich glaube, sie haben noch nicht mit der Suche in den Zimmern begonnen. Vielleicht warten sie damit sogar, bis das Wasser abgesackt ist. Sich unter Wasser durch die Gänge zu bewegen ist gefährliche Arbeit und wahrscheinlich unnötig. Da unten lebt eh niemand mehr.“
Ed Newsam, der in seiner entspannten Art ausgestreckt dasaß, streckte sich und richtete sich nur einen Hauch auf. „Woher wollen Sie das wissen? Es könnte noch Luftblasen geben. Da unten könnten immer noch Leute sein, die auf Rettung warten.“
„Sie haben Unterwasser-Abhörgeräte auf den Booten“, sagte der Pilot. „Wenn da tatsächlich noch jemand am Leben ist, hat er gestern den ganzen Tag über keinen Mucks von sich gegeben.“
„Wenn ich das Sagen hätte, würden meine besten Taucher Raum für Raum durchgehen. Dass die Leute in der Cafeteria tot sind, wissen wir bereits. Und die Taucher wussten, dass ihr Job gefährlich ist. Die Zivilisten im Resort hatten jedoch keine Ahnung, was auf sie zukommt.“
Der Pilot zuckte die Achseln. „Wie dem auch sei, sie arbeiten so schnell sie können.“
Der Hubschrauber zog weiter nach Süden. Die Flut hatte eine Schneise durch das Tal geschnitten. Es sah aus, als wäre ein Riese durch den Wald gestapft und hätte die Bäume herausgerissen. Überall war Wasser. Das ursprüngliche Flussbett war nicht mehr zu erkennen.
Sie überquerten die Stadt Sargent, die immer noch mindestens zwei Meter hoch überschwemmt war. Die Verwüstung hier war allerdings nicht so verheerend. Es gab eine Menge leerer Grundstücke, wo vorher Häuser gestanden haben mussten – an anderen Ecken ragten Gebäude und Fastfood-Schilder noch wie Finger aus dem Wasser. Der Hubschrauber flog über ein Betongebäude, an dem sich ein Stapel von Autos und Geländewagen türmte. HONEST ABE'S GEBRAUCHTWAGEN besagte ein Schild, das halb aus dem Wasser ragte. Eines seiner Stützbalken war eingestürzt.
„Wie viele Tote gab es hier?“, fragte Luke.
„Fünfhundert“, sagte der Pilot. „Plus/minus ein paar Zerquetschte. Es fehlen immer noch 100 Menschen oder mehr. Es war früh am Morgen, und es gab keine große Vorwarnung. Viele Leute wurden noch in ihren Häusern weggefegt. Man liegt ruhig im Bett und auf einmal geht das alte Luftangriffssignal aus Zeiten des Kalten Kriegs los, was macht man da? Viele flohen anscheinend in ihre Keller. Das ist nicht gerade der Ort, an dem man sein sollte, wenn eine Flut kommt.“
„Niemand hat damit gerechnet, dass der Damm bricht?“, fragte Swann. Es war das erste, was er gesagt hatte, seit sie in den Hubschrauber gestiegen waren.
Der Pilot war mit seiner Steuerung beschäftigt. „Warum sollten man auch? Der Damm ist schließlich auch nicht gebrochen. Er wurde gebaut, um 1000 Jahre lang standzuhalten.“
„Okay“, sagte Luke. „Ich habe genug gesehen. Lasst uns mit dem Gefangenen reden.“
*
08:30 Uhr
Chattahoochee National Forest, Georgia
Das Lager erschien aus dem tiefen Wald wie eine Fata Morgana.
„Hübsch ist es ja nicht gerade“, sagte Ed Newsam.
Inmitten des Dunkelgrün des umliegenden Walds lag ein perfektes braun-graues Quadrat mit einer Seitenlänge von einem Kilometer. Als der Hubschrauber näher kam, konnte Luke Dutzende von Baracken ausmachen, die Reihe an Reihe standen, sowie ein großes, quadratisches Wasserreservoir in der Mitte des Lagers. Nebengebäude umgaben das Reservoir, das mit einem stählernen Laufsteg überquert werden konnte.
Der Hubschrauber begann seinen Landeanflug und Luke konnte zusehen, wie sich der Hubschrauberlandeplatz näherte. Er befand sich in einem Bereich in der äußersten westlichen Ecke des Lagers, mit einigen großen Verwaltungsgebäuden, einem Schwimmbad und ein paar Parkplätzen. Er konnte nun deutlich Betonflächen, eine Zufahrtsstraße, Straßen innerhalb des Lagers und eine Mauer mit Stacheldraht und Wachtürmen um den Rand des Lagers erkennen. Der Ort war wie eine offene Wunde inmitten des Waldes.
„Was ist das für ein Ort?“, fragte Luke in sein Headset.
Der Hubschrauberpilot war mit der Landung beschäftigt, aber nicht zu beschäftigt, um zu antworten. „Ich habe gehört, es heißt Camp Enduring Freedom“, sagte er. „Die Leute hier neigen dazu, es Camp Nirgendwo zu nennen. Offiziell gehört es zu uns, der Bundesagentur für Notfalleinsätze. Sie werden es auf keiner Karte finden. Ich schätze, es gibt keinen offiziellen Namen.“
„Also existiert es nicht?“, fragte Luke.
Der Hubschrauber flog jetzt tief, die grauen Gebäude des Lagers ragten um sie herum auf. Luke bemerkte, dass sich an den Gebäuden mit Stahldrähten verstärktes Glas befand.
Der Pilot schüttelte den Kopf lächelnd. „Was existiert nicht? Ich sehe hier nur unbewohnte Wildnis. Hier gibt es nichts als Wald.“
Ein Flugeinweiser in einer gelben Weste stand mit leuchtend orangefarbenen Stäben in der Hand seitlich des Hubschrauberlandeplatzes und winkte ihnen zu. Der Pilot setzte den Hubschrauber perfekt in der Mitte des Landeplatzes ab. Er schaltete den Motor ab und die Rotoren begannen sich sofort unter lautem Heulen zu verlangsamen.
„Wenn Sie den Chinesen sehen“, sagte der Pilot, „verpassen Sie ihm ein paar von mir.“
„So was machen wir nicht“, sagte Luke.
Der Pilot drehte sich um und lächelte. „Natürlich nicht. Ich fliege ständig Leute an solche Orte und zurück. Ich muss Leute wie Sie nur ansehen und weiß, wofür Sie hier sind, glauben Sie mir. Ein Blick hat mir gereicht und mir war klar, dass es für den Kerl langsam brenzlig wird.“
Er, Swann und Ed verließen den Hubschrauber mit eingezogenen Köpfen. Ein Mann wartete bereits auf dem Landeplatz, um sie zu begrüßen. Er trug einen grauen Geschäftsanzug und eine blaue Krawatte. Seine Haare wurden von den langsamen Rotorblättern des Hubschraubers umhergeblasen. Der Stoff seines Anzugs kräuselte sich. Seine schwarzen Schuhe waren auf Hochglanz poliert. Er sah aus, als sei er gerade aus einem Pendlerzug in Manhattan gestiegen. Er war so fehl am Platz, wie es nur möglich war.
Als Luke näher kam, betrachtete er sein Gesicht näher. Sein Alter war schwer zu schätzen – weder alt, noch jung, irgendetwas dazwischen. Er streckte seine Hand aus. Luke schüttelte sie.
„Agent Stone? Ich bin Pete Winn. Man sagte mir, die Präsidentin hätte Sie geschickt. Danke, dass Sie uns besuchen kommen.“
„Danke, Pete. Bitte nennen Sie mich Luke.“
Luke, Ed und Swann folgten Pete Winn vom Hubschrauber weg zu einer geriffelten Aluminiumhütte auf der anderen Seite des Platzes. Sogar der Hubschrauberlandeplatz war von Stacheldrahtzäunen umgeben. Der einzige Weg zum oder vom Hubschrauberlandeplatz war durch dieses Gebäude. Die Türen zum Gebäude waren kameragesteuert. Sie öffneten sich automatisch, als sich die Männer näherten.
„Was ist das hier für ein Ort?“, fragte Luke.
„Sie meinen unser bescheidenes Lager?“, fragte Winn.
„Ja.“
„Ah, nun ja. Lassen Sie mich Ihnen die Kurzpräsentation geben. Im Grunde ist es ein Internierungslager. Wir haben im Moment etwas über 250 Gefangene, darunter mehr als 70 Kinder. Die meisten sind illegale Einwanderer aus Mexiko und Mittelamerika, deren Leben durch Drogenkartelle oder kriminelle Banden gefährdet wäre, wenn sie nach Hause geschickt werden würden. Sie haben kein Asyl, also bleiben sie hier bei ihren Familien, bis die Einwanderungs- und Einbürgerungsbehörde entscheidet, was mit ihnen geschehen soll. Ihr Immigrationsstatus ist offiziell unbestimmt. Da dieser Ort quasi unsichtbar ist, haben die Banden keine Ahnung, wo sie sind.“
Sie gingen schnell durch das Gebäude. Es war im Grunde ein Pausenraum für Fluglotsen, Signalgeber und Piloten. Es gab ein paar Tische und Stühle, einige Funk- und Videoüberwachungsgeräte, einen Radarschirm, eine Kaffeemaschine und eine alte Schachtel mit abgestandenen Donuts auf dem Tisch.
„Also sitzen sie hier fest?“, fragte Swann.
„Nun ja, festsitzen ist etwas stark ausgedrückt“, sagte Winn. „Aber ja, die Familie, die am längsten hier ist, ist bereits seit sieben Jahren hier.“
Winn bemerkte ihre Blicke.
„Es ist nicht so schlimm, wie es sich anhört. Wirklich nicht. Alle Kinder gehen fünf Tage in der Woche zur Schule. Die Schule ist gleich hier auf dem Gelände. Es gibt jede Menge Aktivitäten, darunter zwei neue Filme an jedem Wochenende, die sowohl auf Englisch als auch auf Spanisch gezeigt werden. Es gibt Fußball und Basketball, und die Erwachsenen können Sprachunterricht und Berufstraining nehmen, zum Beispiel bei den Tischlermeistern, die wir hierher bringen.“
„Hört sich ja toll an“, sagte Swann. „Macht es euch was aus, wenn ich meinen Urlaub hier verbringe?“
„Sie wären überrascht“, sagte Winn. „Den Leuten gefällt es hier. Es ist viel besser, als nach Hause zu gehen und ermordet zu werden.“
Ein schwarzer Geländewagen wartete vor der Hütte auf sie. Sie fuhren durch das Lager und passierten einen weiteren Zaun, der mit Stacheldraht versehen war. Eine Handvoll Männer saßen auf Bänken auf der anderen Seite. Vier oder fünf von ihnen waren Weiße. Ein paar von ihnen waren schwarz. Sie trugen alle hellgelbe Overalls. Sie starrten durch den Zaun auf das vorbeifahrende Auto.
„Diese Typen sehen nicht wie Mexikaner aus“, sagte Ed Newsam.
Pete Winns Gesicht begann sich zu verändern. Zuvor war es freundlich, vielleicht sogar etwas nervös gewesen, Luke und sein Team zu treffen. Jetzt schien es fast abweisend.
„Nein, das tun sie nicht“, sagte er. „Wir haben hier auch ein paar waschechte Amerikaner.“
„Verstecken sie sich vor den Kartellen?“, fragte Swann,
Winn starrte geradeaus. „Meine Herren, ich bin sicher, es gibt Aspekte Ihrer Arbeit, die Sie nicht diskutieren dürfen. Das gilt auch für mich.“
Nach einigen Minuten waren sie am Hubschrauberlandeplatz und den Verwaltungsgebäuden vorbei auf die andere Seite des Lagers gefahren. Der Wagen hielt an. Es war niemand in der Nähe – keine Häftlinge, keine Arbeiter, überhaupt niemand. Eine kleine Hütte stand allein auf einem einsamen Stück Gelände.
Die Männer stiegen aus. Der Boden war unfruchtbare, harte Erde. Jegliches Gefühl von Geschäftigkeit, oder überhaupt irgendeiner Art von Leben war hier nicht mehr zu spüren.
Pete Winn gab Luke einen Schlüsselring. Es befand sich nur ein Schlüssel dran. Winns Gesicht verhärtete sich. Seine Augen waren stählern und kalt. Sein Verhalten hatte sich drastisch gerändert, von dem unsicheren Mann, der sie auf dem Hubschrauberlandeplatz begrüßt hatte, zu dem, was er jetzt war.
„Die Existenz dieser Hütte ist streng geheim. Offiziell existiert sie nicht, ebenso wenig wie dieser Gefangene. Ihr Besuch hier hat nie stattgefunden. Die chinesische Regierung hat keine Nachforschungen über den Verbleib eines Mannes namens Li Quiangguo angestellt, weder offiziell noch durch die Hintertür. Meines Wissens haben die Chinesen so getan, als hätten sie nichts zu verbergen oder zu befürchten und haben sogar Hilfe angeboten, um die Quelle des Hacks in das Betriebssystem des Staudamms zu finden.“
Er gestikulierte mit dem Kopf zur Kabine.
„Die Wände der Kabine sind schalldicht. Der Schlüssel öffnet einen Geräteschrank im Hinterzimmer. Wenn Sie meinen, Sie brauchen Hilfsmittel, um Ihre Befragung zu erleichtern, werden Sie dort vielleicht fündig.“
Luke nickte, sagte aber nichts. Ihm gefiel die Annahme nicht, die diese Leute alle zu machen schienen, dass er hierher gerufen worden war, um den Gefangenen zu foltern.
Hatte er schon mal Menschen gefoltert? Je nach Definition des Wortes, ja. Aber niemand hatte ihn je dafür einberufen mit der expliziten Aufgabenstellung, jemanden zu foltern. Es gab Leute, die sich viel besser damit auskannten als Luke. Wenn er früher Leute gefoltert hatte, hatte es sich stets aus der Situation heraus ergeben und er hatte improvisieren müssen, um an kritische Informationen zu gelangen, die Luke sofort hatte erfahren müssen.
Pete Winn fuhr fort, wieder etwas entspannter.
„Wenn Sie etwas brauchen, Mittagessen, Bier, Abendessen, oder wenn Sie zurück zum Landeplatz wollen, nehmen Sie einfach das Telefon in der Kabine und wählen Sie die Null. Wir schicken Ihnen, was Sie brauchen. Wenn Sie möchten, können wir Sie auch heute Nacht hier unterbringen und Ihnen zur Verfügung stellen, was Sie an Pflegeartikeln brauchen. Seife, Shampoo, Rasierer – wir haben alles da. Wir können Ihnen auch Kleidung zum Wechseln besorgen, wenn Sie sie brauchen.“
„Danke“, sagte Luke.
„Ich lasse Sie jetzt in Ruhe“, sagte Winn. „Viel Glück.“
Als er gegangen war, hielt Luke an, um mit seinen Männern vor der Hütte zu reden. Vor dem Lagerzaun türmten sich grüne Berge um sie herum auf. Das Lager schien sich in einem Talkessel zu befinden.
„Swann, wie viele Jahre warst du in China?“
„Sechs.“
„In welchem Teil?“
„Überall. Ich habe hauptsächlich in Peking gelebt, aber ich habe auch Zeit in Shanghai und Chongqing verbracht, auch ein wenig im Süden, in Guangzhou und Hongkong.“
„Okay, ich möchte, dass du den Kerl genau beobachtest und herausfindest, was du nur kannst. Egal was. Woher er kommen könnte. Wie alt er sein könnte. Sein Bildungsstand. Wie gut er sich mit Computern auskennt. Ob er überhaupt aus China stammt. Susan Hopkins' Leute haben mir gesagt, dass der Kerl fließend Englisch spricht. Wie stehen die Chancen, dass er hier in den Staaten, in Kanada oder Hongkong geboren wurde? Oder irgendwo anders. Chinesen gibt es überall.“
Swann schüttelte den Kopf. „Wenn der Kerl ein Agent ist, werde ich ihm diese Dinge nicht ansehen können. Er wird zu gut darin sein, seine Herkunft zu verbergen.“
„Sag mir einfach, was du denkst“, sagte Luke. „Das ist keine Matheaufgabe. Es gibt keine richtigen oder falschen Antworten. Ich will nur deine Meinung hören.“
Swann nickte. „Verstanden.“
Luke schaute ihn etwas genauer an. „Wie zimperlich bist du?“
Er hatte sich noch nie Sorgen um Swanns Persönlichkeit gemacht, aber jetzt kam es ihn in den Sinn, dass er so etwas wie ein schwaches Glied sein könnte.
„Zimperlich? Wie meinst du das?“
„Ed und ich müssen da drin vielleicht etwas die Muskeln spielen lassen, wenn du verstehst.“
„Nun, sag mir einfach Bescheid und ich mache einen kleinen Spaziergang.“
„Wink den Scharfschützen zu, wenn du schon dabei bist“, sagte Ed Newsam.
Etwa hundert Meter entfernt stand ein dreistöckiger Wachturm. Luke und Swann warfen einen Blick darauf. Ein Mann mit einem Gewehr stand im obersten Stockwerk und zielte scheinbar auf sie. Aus dieser Entfernung sah es so aus, als hätte er das Gewehr direkt auf sie gerichtet und als hätte er sie mit seinem Zielfernrohr im Blick.
„Kann er uns von dort aus treffen?“, fragte Swann.
„Vermutlich im Schlaf“, erwiderte Luke.
„Er übt doch nur“, sagte Ed. „Ihm ist bestimmt todlangweilig.“
Sie betraten die Hütte.
*
Der Mann trug einen knallgelben Overall. Er saß auf einem Metallklappstuhl mitten in einem leeren Raum. Er war groß, hatte breite Schultern, dicke Armen und Beine und einen ausgeprägten Bauch.
Er trug eine schwarze Kapuze über dem Kopf. Seine Handgelenke waren hinter seinem Rücken gefesselt, seine Beine an den Knöcheln zusammengebunden. Er war nach vorne gebeugt, als würde er schlafen. Mit der Kapuze über dem Kopf war es unmöglich, das zu erkennen.
Luke zog die Kapuze vom Kopf des Mannes ab. Der Mann zuckte scheinbar überrascht zusammen und setzte sich auf. Sein tiefschwarzes Haar war zerzaust – es stand an einigen Stellen in Büscheln auf, an anderen war es flachgedrückt. Unter der Kapuze trug er eine Schlafmaske – die Art, die man sich auf langen Flügen zum Schlafen aufzieht.
Er gähnte, als würde er von einem Mittagsschlaf erwachen.
„Li Quiangguo“, sagte Luke. „Ni hui shuo yingyu ma?“
Auf Mandarin bedeutete das so viel wie Sprechen Sie Englisch?
Der Mann lächelte breit. „Nennen Sie mich Johnny“, sagte er. „Bitte. Den Namen benutze ich hier im Westen. Und lassen Sie uns Englisch sprechen. Das macht es für alle einfacher, besonders für mich.“
Sein Englisch klang auf jeden Fall amerikanisch, jedoch vollkommen akzentfrei und mit kaum Anzeichen eines regionalen Dialektes. Luke glaubte, einen leichten Dialekt aus dem mittleren Westen feststellen zu können. Aber das war nur schwer zu beurteilen. Er hätte genauso gut von einem Raumschiff heruntergebeamt worden sein können.
„Warum macht es das einfacher für Sie?“, fragte Luke.
„Es schont meine Ohren. Dann muss ich nicht zuhören, wie Sie die schöne chinesische Sprache verunstalten.“
Jetzt lächelte Luke. „Sagen Sie mir, Li. Warum haben Sie sich nicht umgebracht, als Sie die Chance dazu hatten?“
Li sah übertrieben überrascht aus, fast angeekelt. „Warum sollte ich das tun? Ich liebe Amerika. Und man hat mich bis jetzt ziemlich gut behandelt.“
Es war interessant so etwas von einem Mann zu hören, der über Nacht an einen Metallstuhl gefesselt worden war, mit einer schwarzen Kapuze und Flugzeugblenden auf dem Kopf und sich in einem Gefangenenlager befand, das nicht existierte, ohne die Möglichkeit, mit der Außenwelt Kontakt aufzunehmen. Technisch gesehen war er nicht einmal verhaftet worden. Einen Anwalt hatte er auch nicht sehen dürfen. Man würde nicht gerade viele Leute finden, die ihm zustimmen würden, wenn er sagte, er wäre gut behandelt worden. Er war bis jetzt zwar nicht gefoltert wurden, doch die meisten würden ihre Messlatte wohl etwas höher ansetzen.
Li schien Lukes Gedanken lesen zu können. „Ich habe heute Morgen die Vögel draußen zwitschern hören. Daher wusste ich, dass es ein neuer Tag war.“
Luke griff zog dem Mann mit einer Hand seine Schlafmaske ab. „Vogelzwitschern am frühen Morgen. Wie schön. Es freut mich zu hören, dass Sie Ihren Aufenthalt bisher genossen haben. Leider werden sich die Dinge bald ändern.“
„Ah.“ Die Augen des Mannes blinzelten in der plötzlichen Helligkeit. Er blickte umher und sah Swann und Ed Newsam an. Seine Augen richteten sich auf Ed.
Ed war an die Wand gelehnt. Er schien entspannt und gleichzeitig bedrohlich. Sein Körper bewegte sich kaum. Es war so viel potentielle Energie in ihm gespeichert, dass er wie ein Sturm aussah, der jeden Moment losbrechen konnte. Seine Augen wichen denen des Chinesen nicht aus.
„Ich verstehe“, sagte Li.
Luke nickte.
Lis Gesicht verhärte sich. „Ich bin nur ein Tourist. Das ist alles nur eine schreckliche Verwechslung.“
„Wenn Sie ein Tourist sind“, sagte Ed, „dann möchten Sie uns vielleicht die Namen und Kontaktinformationen Ihrer Familie geben, damit wir sie wissen lassen können, wo Sie sind. Sie wissen schon, und ihnen sagen, dass es Ihnen gut geht.“
Li schüttelte den Kopf. „Ich würde gerne die chinesische Botschaft kontaktieren.“
„Unsere Vorgesetzten haben das bereits für Sie getan“, sagte Luke. Das stimmte nicht, soweit er wusste. Er bluffte, aber er hatte das Gefühl, dass der Bluff sich auszahlen würde.
„Es war keine offizielle Anfrage, wie Sie sich vielleicht aufgrund der Situation vorstellen können“, sagte er. „Vielleicht beunruhigt es Sie zu hören, dass die chinesische Regierung nichts von Ihrer Existenz zu wissen scheint. Es gibt keine Schulaufzeichnungen, keine Arbeitsaufzeichnungen, keine Heimatstadt oder Familienverhältnisse. Wir haben ihnen einen Scan von Ihrem Pass geschickt und sie haben uns gesagt, dass es sich um eine raffinierte Fälschung handelt.“
Li starrte geradeaus. Er reagierte nicht.
Luke pausierte einen Moment. Es gab keinen Grund, überflüssig Konversation zu führen. Er wusste, wie schnell Agenten weich wurden, wenn ihre Vorgesetzten sie im Stich ließen. Weich werden war vielleicht nicht das richtige Wort. Manchmal wechselten sie sogar ohne jeden Widerstand die Seiten.
„Li, haben Sie mich gehört? Sie werden Sie nicht beschützen. Sie werden nicht davonkommen. Sie haben die Pillen nicht genommen, als Sie die Chance dazu hatten und jetzt sind Sie hier. Es gibt keinen Ausweg. Laut Ihrer Regierung existieren Sie nicht und haben auch nie existiert. Die Einrichtung, in der Sie sich jetzt befinden, existiert ebenfalls nicht. Wir könnten Sie in einem Fass auf dem Meeresgrund versenken oder Sie in die Wüste schicken, wo Ihnen Geier die Augen aushacken… niemand würde es je erfahren.“
Der Mann hatte immer noch kein Wort gesagt. Er starrte einfach nur geradeaus.
„Li, was wissen Sie über den Black-Rock-Damm und wie die Schleusen geöffnet wurden?“
„Ich weiß gar nichts.“
Luke wartete ein paar Sekunden ab, dann sprach er weiter. „Nun, lassen Sie mich Ihnen sagen, was ich weiß. Laut dem aktuellen Stand sind mehr als tausend Menschen gestorben. Wissen Sie, wie sehr mich das mitnimmt? Ich will mich für jeden einzelnen Tod rächen. Ich möchte einen Sündenbock finden und ihn dafür bezahlen lassen. Sie sind der ideale Sündenbock, wissen Sie das, Li? Ein Mann, um den sich niemand kümmert, an den sich niemand erinnert und den niemand vermissen wird. Ich sage Ihnen noch etwas. Ich weiß, dass Sie trainiert wurden, einem Verhör zu widerstehen. Das macht mich nur noch glücklicher. Das bedeutet, dass ich mir Zeit lassen kann. Wir können hier tagelang oder sogar wochenlang bleiben. Wir haben Leute, die den Vorfall genau untersuchen. Sie werden schon herausfinden, was passiert ist. Wir brauchen Ihre Informationen nicht. Ehrlich gesagt will ich sie auch gar nicht. Ich will Ihnen nur wehtun. Je mehr Sie nur hier sitzen und ins Leere starren, desto höher wird mein Verlangen danach.“
Nun kniete Luke sich nieder, um in Lis Gesicht zu blicken. Er war nur wenige Zentimeter entfernt, so nah, dass sein Atem Lis Wangen berührte. „Wir werden uns hier drin ziemlich gut kennen lernen, okay, Li? Irgendwann werde ich alles über dich wissen.“
Luke warf einen Blick auf Swann. Er stand in einer Ecke nahe des stahlverstärkten Fensters. Er hatte kein Wort gesagt, seit sie hier reingekommen waren. Er blickte hinaus auf das Betongelände und die grünen Hügel, die es umgaben. Swann war ein Analytiker, jemand, der sich mit Daten auskannte. Luke konnte sich gut vorstellen, dass er noch nie darüber nachgedacht hatte, wie man an diese Daten gelangte. Todesdrohungen wie die, die er gerade ausgesprochen hatte, waren erst der Anfang.
„Li, der Mann spricht mit Ihnen“, sagte Ed.
Li gelang es zu Lächeln. Es war ein kränkliches Lächeln. „Bitte“, sagte er. „Nennen Sie mich Johnny.“
* * *
Eine Stunde verging. Luke und Ed hatten abwechselnd mit Li geredet, aber ohne wirkliche Ergebnisse. Wenn überhaupt, dann wurde Li immer selbstbewusster. Offenbar war er überzeugt, dass ein paar Schläge von Ed das Schlimmste waren, was er zu befürchten hatte.
Luke blickte erneut zu Swann.
„Ok, Swann“, sagte er. „Jetzt wäre ein guter Zeitpunkt für dich, einen kleinen Spaziergang zu machen.“
Wenige Minuten zuvor hatte Luke den Schrank mit dem Schlüssel geöffnet, den Pete Winn ihm gegeben hatte. Der Schrank war eher ein kleiner Hauswirtschaftsraum als ein richtiger Schrank. Im Inneren befand sich ein ausklappbarer Tisch, etwas das aussah wie ein Bügelbrett, aber breiter und niedriger und viel stabiler. Es war etwa 2 Meter lang und 1,20 Meter breit.
Als Luke und Ed den Tisch aufbauten, machte sich eine deutliche Neigung bemerkbar. Auf der höheren Seite waren Handschellen für die Knöchel der Person, die darauf festgeschnallt werden würde. Am unteren Ende waren Lederriemen zum Festbinden der Handgelenke, in der Mitte einer für die Taille. Ganz unten befand sich außerdem ein Metallring, um den Kopf zu befestigen.
Es war eine Plattform für Waterboarding.
Als sie den Tisch herausbrachten, wurde Li sichtlich aufgeregt. Er wusste sofort, um was es sich handelte. Natürlich wusste er es. Jeder Geheimdienstagent hatte so etwas im Rahmen der Ausbildung schon einmal gesehen, egal ob Amerikaner oder Chinese. Luke hatte sogar schon einmal einer Live-Demonstration beigewohnt. Ein abgehärteter CIA-Agent, der vorher bei den Navy SEALs gewesen war und schon in zahlreichen Krisengebieten gedient hatte, war das Testsubjekt gewesen.
Wie sie diesen Mann davon überzeugt hatten, sich freiwillig zu melden, hatte Luke nie herausfinden können. Vielleicht hatte er einen ordentlichen Bonus bekommen. Der Agent hatte vor der Demonstration entspannt gewirkt. Er hatte gelacht und mit seinen späteren Folterern gewitzelt. Als die Prozedur begann, war er wie verwandelt. Es dauerte ganze vierundzwanzig Sekunden, bevor er das Sicherheitswort benutzt hatte, um den Vorgang abzubrechen.
„Das verstößt gegen die Genfer Konventionen“, sagte Li mit einem leichten Zittern in der Stimme. „Es ist gegen…“
„Soweit ich weiß, sind wir nicht in Genf“, sagte Luke. „Wir sind im Nirgendwo. Wie ich schon sagte, diese Einrichtung existiert nicht, genau so wenig wie jemand namens Li Quiangguo.“
Luke beschäftigte sich mit den anderen Utensilien, die er aus dem Schrank genommen hatte. Dazu gehörten zwei große Gießkannen, wie sie eine nette ältere Dame zur Bewässerung ihres Gartens verwenden würde. Außerdem gab es Schlösser für die Handfesseln und Lederriemen auf dem Brett. Und schließlich gab es eine Reihe von mittelgroßen schweren Stoffhandtüchern und eine Rolle Zellophan. Luke wusste zufällig, dass die CIA das Zellophan bevorzugte.
„Mann“, sagte Ed. „So etwas habe ich seit Afghanistan nicht mehr gemacht. Das ist mindestens fünf Jahre her.“
„Dann ist es bei dir noch nicht so lange her wie bei mir“, sagte Luke. „Du darfst gerne anfangen. Wie war es damals so?“
Ed zuckte die Achseln. „Beängstigend. Ein paar von denen sind uns weggestorben. Ganz anders, als andere Methoden, die ich kenne. Man kann Leute den ganzen Tag Elektroschocks verpassen, wenn die Spannung stimmt. Das tut weh, aber tötet nicht. Hier passiert das aber ganz leicht. Man kann ertrinken. Hirnschäden davontragen. Herzinfarkte erleiden. Ganz schön ätzend.“
„Hören Sie mir zu“, sagte Li. Inzwischen zitterte er am ganzen Körper. „Waterboarding verstößt gegen sämtliche Kriegsgesetze. Es wird von jedem internationalen Gremium als Folter anerkannt. Sie begehen hier eine Menschenrechtsverletzung.“
„Mann, plötzlich geht es dir nur noch um Regeln und Vorschriften“, sagte Ed. „Wenn jemand absichtlich tausende von Menschen überflutet und hunderte von ihnen umbringt, ist er für mich kein Mensch mehr. Ich würde sagen, du hast deine Menschenrechte verwirkt.“
„Jungs“, sagte Swann. „Ich fühle mich nicht wohl dabei.“
Luke sah ihn an. „Swann, ich habe dir doch gesagt, es ist ein guter Zeitpunkt, um zu gehen. Gib uns etwa 20 Minuten. Das sollte reichen.“
Swanns Gesicht wurde rot. „Luke, nach allem, was ich gehört habe, bekommt man vom Waterboarding nicht einmal vernünftige Informationen. Er wird euch nur anlügen, damit ihr aufhört.“
Swann hatte Luke noch nie in Frage gestellt. Er fragte sich, ob jetzt das erste Mal sein würde und schüttelte den Kopf.
„Swann, du darfst nicht alles glauben, was du liest. Ich habe selbst gesehen, wie man in nur wenigen Minuten verwertbare und genaue Informationen erhalten kann. Und da Herr Li hier noch länger unser Gast sein wird, können wir seine Behauptungen schnell überprüfen und sie auch noch einmal genauer miteinander besprechen, wenn sie nicht der Wahrheit entsprechen sollten. Man will diese Methode nur nicht anwenden, da sie, wie Herr Li so treffend gesagt hat, als Folter angesehen wird. Aber sie funktioniert, und unter den richtigen Umständen funktioniert sie sogar wirklich, wirklich gut.“
Luke breitete die Arme aus. „Und das sind die richtigen Umstände.“
Swann starrte ihn an. „Luke…“
Luke hob eine Hand. „Swann. Geh jetzt raus. Bitte.“ Er zeigte auf die Tür.
Swann schüttelte den Kopf. Sein Gesicht war rot geworden. Er schien jetzt auch zu zittern. „Warum hast du mich dafür überhaupt herbestellt?“, sagte er. „Ich arbeite nicht mehr für das FBI, und du auch nicht.“
Luke lächelte fast ein wenig. Er wusste nicht, was Swann wirklich dachte, aber er hätte selbst kein besseres Drehbuch schreiben können. Sie spielten guter Cop, böser Cop um das Hundertfache verstärkt.
„Früher oder später brauche ich dich noch“, sagte Luke. „Aber nicht hierfür. Und jetzt verschwinde. Bitte. Bis jetzt war ich noch höflich. In einer Minute kann ich für nichts mehr garantieren.“
„Ich werde eine formelle Beschwerde einreichen“, sagte Swann.
„Mach das. Du weißt, für wen ich arbeite. Deine Beschwerde wird direkt im Aktenvernichter landen. Das sollte dir klar sein. Aber tu dir keinen Zwang an.“
„Keine Sorge“, sagte Swann. Damit ging er zur Tür hinaus. Er zog sie fest hinter sich zu, ohne sie jedoch zuknallen zu lassen.
Luke seufzte. Er sah Ed an. „Ed, kannst du bitte die Gießkannen auffüllen? Wir werden sie gleich brauchen.“
Ed grinste teuflisch. „Mit Vergnügen.“
Als er die Gießkannen aufhob, starrte er Li an. Er demonstrierte seinen verrückten Blick mit weit aufgerissenen Augen, den er so gut beherrschte. Es war ein Blick, vor dem selbst Luke manchmal Angst hatte. Ed wirkte wie ein Psychopath, wenn er so aussah. Er sah aus wie jemand, dem nichts besser gefiel als Sadismus. Luke war sich manchmal nicht ganz sicher, wie Ed das schaffte. Um ehrlich zu sein, wollte er es auch nicht wissen.
„Oh, Bruder“, sagte Ed zu Li. „Das wird ein ganz schön langer Tag für dich.“
Während Ed sich in der winzigen Küche der Hütte vergnügte, schaute Luke Li genau an. Er zitterte jetzt. Sein ganzer Körper vibrierte, als würde ein schwacher Strom durch ihn fließen. Seine Augen waren groß und sahen verängstigt aus.
„Sie haben das schon einmal gesehen, nicht wahr?“, fragte Luke.
Li nickte. „Ja.“
„An Gefangenen?“
„Ja.“
„Es ist schlimm“, sagte Luke. „Es ist sehr schlimm. Niemand hält das aus.“
„Ich weiß“, sagte Li.
Luke warf einen Blick in die Küche. Ed ließ sich Zeit. „Und Ed… Sie müssen wissen, wie er ist. Er genießt so etwas.“
Li hatte keine Antwort darauf. Seine Gesichtsfarbe wandelte sich langsam von einem hellen in ein dunkles Rot. Es schien, als ob eine Explosion in ihm stattfand und er versuchte, sie einzudämmen. Er drückte seine Augen zu. Seine Zähne knirschten, dann fingen sie an zu klappern. Sein ganzer Körper begann zu zittern.
„Mir ist kalt“, sagte er. „Ich kann nicht mehr.“
In diesem Moment wurde Luke etwas klar.
„Sie haben es schon mal am eigenen Körper erfahren“, sagte er. „Von Ihren eigenen Leuten.“ Das war keine Frage. Er wusste es plötzlich instinktiv. Li war schon einmal Waterboarding ausgesetzt gewesen, und aller Wahrscheinlichkeit nach war es die chinesische Regierung gewesen, die es ihm angetan hatte.
Plötzlich öffnete sich Lis Mund wie zu einem Schrei. Es war ein stiller Schrei, seine Kiefer öffneten sich so weit es nur ging. Luke erinnerte die Grimasse an einen Werwolf, der unter brechenden Knochen die Verwandlung von einem Menschen zu einem Wolf durchmachte und vor Schmerzen heulte. Nur, dass kein Geräusch zu hören war. Fast nichts war von Li zu hören, außer ein leises, würgendes Geräusch tief in seiner Kehle.
Sein ganzer Körper war jetzt steif, jeder Muskel war angespannt, als ob er auf einem elektrischen Stuhl sitzen würde.
„Sie waren ein Verräter“, sagte Luke. „Ein Staatsfeind. Sie wurden im Gefängnis rehabilitiert. Sie haben Sie zu einem Agenten gemacht, aber nicht gerade zu einem besonders wertvollen. Jemand Entbehrliches. Darum waren Sie hier draußen im Einsatz, darum hatten Sie Zyanid-Pillen dabei. Sie sollten sich umbringen, wenn man Sie erwischt. Es stand so gut wie fest, dass man Sie schnappt, nicht wahr? Aber Sie haben es nicht getan, Li. Sie haben sich nicht umgebracht und jetzt sind wir die einzige Hoffnung, die Sie noch haben.“
„Bitte!“, schrie Li. „Bitte hören Sie auf!“
Der Körper des Mannes zitterte unkontrolliert. Mehr noch. Ein Geruch begann von ihm auszugehen. Ein dicker, feuchter Geruch nach Exkrementen.
„Oh mein Gott“, sagte er. „Oh mein Gott. Helfen Sie mir. Helfen Sie mir!“
„Was ist hier los?“, sagte Ed, als er mit den Gießkannen zurückkam. Er verzog das Gesicht, als der Geruch in seine Nase stieg. „Oh, Mann.“
Luke hob die Augenbrauen. Er hatte fast schon Mitleid mit diesem Mann. Dann dachte er an die mehr als tausend Toten und die vielen tausend, die ihr Zuhause verloren hatten. Nichts, keine noch so negative Lebenserfahrung konnte das rechtfertigen.
„Ja, Li ist ein Wrack“, sagte er. „Sieht nach einem Trauma aus. Das ist scheinbar nicht sein erstes Mal Waterboarding.“
Ed nickte. „Gut. Also weiß er schon, wie es läuft.“ Er sah auf Li herab. „Wir machen trotzdem weiter, hörst du, Kleiner? Der Geruch ist uns egal, also wenn das deine große Wette war, hat sie nicht funktioniert.“
Ed warf einen Blick auf Luke. „Ich habe das schon mal gesehen. Die Leute versuchen es, weil sie denken, dass der Geruch so übel ist, dass wir nicht weitermachen wollen. Oder dass wir vielleicht Mitleid mit ihnen haben. Was weiß ich.“
Er schüttelte den Kopf. „Der Geruch ist zwar ekelhaft, aber ich habe noch nie gesehen, dass es funktioniert. Wir wären nicht hier, wenn wir so sensibel wären, Li. Ich weiß wie Männer riechen, nachdem man sie ausweidet. Glauben Sie mir, das ist schlimmer als alles, was auf dem normalen Weg rauskommt.“
„Bitte“, sagte Li wieder. Er sprach leise, seine Stimme fast ein Flüstern. Sein Körper zitterte unkontrolliert. Er ließ den Kopf hängen und starrte auf den Boden. „Bitte tun Sie das nicht. Ich halte es nicht aus.“
„Erzählen Sie uns etwas“, sagte Luke. „Etwas Gutes, und dann sehen wir weiter. Sehen Sie mich an, Li.“
Der Kopf von Li hing jetzt noch tiefer. Er schüttelte ihn. „Ich kann nicht.“ Sein Gesicht verzog sich zu einer Grimasse. Dann fing er an zu weinen.
„Helfen Sie mir. Bitte helfen Sie mir.“
„Sie fangen besser an zu reden“, sagte Luke. „Sonst legen wir jetzt los.“
Luke stand drei Meter entfernt und beobachtete ihn. Li saß zusammengesunken da, mit hängendem Kopf, die Arme hinter dem Rücken und immer noch am ganzen Körper zitternd. Jedes Körperteil von ihm schien sich in einem anderen Rhythmus zu bewegen. Luke sah, dass Lis Overall nun auch im Schritt nass war. Er hatte sich in die Hose gemacht.
Luke seufzte tief. Er bedauerte denjenigen, der ihn nachher sauber machen musste.
„Li?“, sagte er.
Li blickte immer noch zu Boden. Seine Stimme klang, als käme sie vom Boden eines Brunnens. „Es gibt ein Lagerhaus. Ein kleines Lagerhaus, mit einem Büro. Import chinesischer Waren. Im Büro werden Sie alles finden, was Sie brauchen.“
„Wessen Büro ist das?“, fragte Luke.
„Meins.“
„Eine Scheinfirma?“, fragte Ed.
Li versuchte, die Achseln zu zucken. Sein Körper zitterte und bebte. Seine Zähne klapperten, während er sprach. „Größtenteils. Ein wenig Geschäft haben wir schon gehabt, sonst wären wir aufgeflogen.“
„Wo ist es?“
Li murmelte etwas vor sich hin.
„Wie bitte?“, fragte Luke. „Ich kann Sie nicht hören. Wenn Sie uns verarschen, können wir immer noch anders. Ed will immer noch loslegen. Überlegen Sie es sich gut.“
„In Atlanta“, sagte Li, jetzt klar und deutlich, als ob es eine Erleichterung gewesen wäre, das loszuwerden. „Das Lagerhaus ist in Atlanta. Das war unser Hauptquartier.“
Luke lächelte.
„Geben Sie uns die genaue Adresse und wir fliegen sofort vorbei. Wir sind in ein paar Stunden wieder da.“ Er legte seine Hand auf Lis Schulter. „Gott steh Ihnen bei, wenn Sie uns anlügen.“
*
„Gut gemacht, Swann“, sagte Luke. „Ich hätte das Drehbuch selbst nicht besser schreiben können.“
„Habe ich jemals erwähnt, dass ich in der Highschool im Theaterclub war? Ich habe ein Jahr lang Mackie Messer gespielt.“
„Du hast den Beruf verfehlt“, sagte Luke. „Du hättest nach Hollywood gehen können, wenn man nach dem geht, was ich da drin gesehen habe.“
Sie bewegten sich den Betonweg hinunter zu dem wartenden schwarzen SUV. Zwei Männer in FEMA-Overalls waren gerade ausgestiegen und gingen in die Kabine. Luke blickte sich um. Überall um sie herum waren Zäune und Stacheldraht. Hinter dem nächsten Wachturm erhob sich ein steiler grüner Hang in Richtung der nördlichen Berge von Georgia.
Swann lächelte. „Ich hab mein Bestes gegeben.“
„Also ich habe es dir abgekauft“, sagte Ed.
„Naja, es war schon echt. Ich brauchte nicht groß zu schauspielern. Ich bin wirklich nicht dafür, Leute zu foltern.“
„Wir auch nicht“, sagte Ed. „Jedenfalls nicht immer.“
„Habt ihr es durchgezogen?“, fragte Swann.
Luke lächelte. „Was denkst du?“
Swann schüttelte den Kopf. „Ich war erst zehn Minuten weg, als ihr rauskamt, also denke ich nicht.“
Ed klopfte ihm auf den Rücken. „Na dann ist ja gut, du alter Datenanalytiker.“
„Was denn nun, habt ihr, oder habt ihr nicht?“, fragte Swann. „Jungs?“
Innerhalb weniger Minuten saßen die drei wieder im Hubschrauber, stiegen über dem dichten Wald auf und flogen in Richtung Süden nach Atlanta.